Das Signal 2 - Joshua Tree - E-Book

Das Signal 2 E-Book

Joshua Tree

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Beschreibung

Die Welt hat sich verändert, in der Metawelt geht ein Killer um und der noch junge Widerstand droht zu zerbrechen. Der Widerstand stemmt sich verzweifelt gegen den Einfluss des Forums und der Implantatträger. Während die Menschheit immer mehr Zeit in der künstlich geschaffenen Metawelt verbringt, stößt Steve Työpaikkaa auf eine entsetzliche Wahrheit, die an den Fundamenten der Zukunft rüttelt. Derweil begibt sich seine Tochter June auf eine gefährliche Reise, nachdem der Widerstand auf die Quelle eines neuen Signals stößt. Sie muss zerstört werden, wenn der Widerstand überleben will - doch der Erfolg könnte einen Preis erfordern, den June nicht zahlen kann.

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Das Signal 2

 

von Joshua Tree und Philipp Tree

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Signal 2

 

von Joshua Tree und Philipp Tree

 

Lektorat: Gabriele Rögner

Coverdesign: Elementi.Studio

Besonderer Dank: Viktoria M. Keller

 

1. Auflage, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

© Joshua Tree Ltd.

Kronou 70, App. 202

1026 Nicosia

Zypern

 

[email protected]

www.philipptree.de

 

[email protected]

www.weltenblume.de

Inhaltsverzeichnis

1. Was bisher geschah8

2. Prolog11

3. Janika16

4. June31

5. Janika47

6. Janika68

7. June91

8. June109

9. Janika122

10. June149

11. Janika165

12. June182

13. Janika197

14. June209

15. Janika223

16. June238

17. Janika251

18. June264

19. Janika277

20. June291

21. Janika305

22. June322

23. Janika341

24. June356

25. June370

26. Janika385

27. June397

28. Epilog410

29. Nachwort417

30. Glossar420

31. Personenverzeichnis430

 

1. Was bisher geschah

Zwei finnische Hobbyastronomen finden in den endlosen Wäldern an der Grenze zu Russland einen Mann am Straßenrand, der ein seltsames Implantat hinter dem Ohr trägt. Als er auf dem OP-Tisch des Neurologen Bill Portit landet, kann er nicht mehr gerettet werden. Portit, der mit seinem Freund und Informatiker Steve Työpaikkaa ein Tech-Startup betreibt, stiehlt das Implantat und hofft auf den lange ersehnten Durchbruch, als er bei der Obduktion das Potenzial des High-Tech-Geräts erkennt. Gemeinsam untersuchen und reproduzieren die beiden das Implantat, das sich mit feinen Nanofilamenten im Gehirn ausbreitet und seinem Träger eine Fülle neuer Möglichkeiten bietet. Unter anderem ermöglicht es die Steuerung von elektronischen Prothesen, die Bills Schwester Janika helfen sollen, welche aufgrund eines amputierten Beins in eine tiefe Depression verfallen ist.

Obwohl die beiden einen Teil des Datenspeichers nicht entschlüsseln können, funktioniert ihr Implantat und schlägt bald international Wellen. Während Steve sich um die Herkunft des Geräts Sorgen macht, peitscht Bill die Entwicklung voran, um seine Schwester nicht zu enttäuschen, und verkauft die Firma ohne Steves Wissen an Alphabet. Selbst ein Entführungsversuch kann Bill nicht stoppen. Es kommt zum offenen Streit, Steve löst seine Anteile ein und verschwindet.

Zehn Jahre später lebt Steve mit seiner Tochter June in den Bergen Montanas in einem von mehreren Unterschlupfen, die er in Nordamerika angelegt hat. Seine Frau ist neun Jahre vorher gestorben und er tut alles, um mit June, die wie er kein Implantat besitzt, unbemerkt zu bleiben. Ihr Alltag ist geprägt von Entbehrungen und Steve hin und her gerissen zwischen seiner Pflicht, June auf die Härte ihres Alltags einzuschwören und gleichzeitig seine väterliche Liebe zu zeigen, die er für sie empfindet. Die Natur, in der sie sich verstecken, hat sich über die Jahre verändert: Fremde Pflanzen und Tiere sind immer mehr zu sehen und die Zusammensetzung der Atmosphäre verändert sich minimal. Eines Tages werden sie von einem Sucher – einer Art Agent der neuen Regierung, die »Das Forum« genannt wird – entdeckt. Der Sucher tötet June beinahe, während Steve in seinem geheimen Keller Experimente an einer gefangenen Implantatträgerin vornimmt und immer noch versucht, die Black-Box, den verschlüsselten Datenkern des Implantats, zu knacken. Er kann den Eindringling überwältigen und June in letzter Minute retten. Da ihre Position kompromittiert wurde, implantiert er sich das Implantat seiner Gefangenen und flieht mit June in das Nachbartal, wo er eine Gruppe Agrararbeiter trifft. Da er das Signal entschlüsselt hat, blockiert er deren Datenkerne und damit die Verbindung mit der »Stimme in ihrem Kopf«, die sich als unterschwellig manipulativ herausstellt. Zwei der »Befreiten« wollen sich ihm nicht anschließen und werden von June erschossen. Die dritte, Barbara, hilft ihnen, nach Norden zu fliehen, wo sie sich in einem Lagerhaus verstecken. Sie informiert Steve, dass es eine Art virtuelle Welt gibt, in der sich die Menschen vorwiegend aufhalten – die Metawelt. Steve hinterlässt eine Nachricht für Bill, der mittlerweile zur Ikone der »neuen Welt« aufgestiegen ist, und die beiden treffen sich. Steve trennt auch ihn von seiner Black-Box und der Freund informiert ihn, dass das Implantat offenbar außerirdischen Ursprungs ist. Seine Ingenieure haben ein mikroskopisch kleines Wurmloch geschaffen, durch das die Außerirdischen ein beständiges Signal über das menschliche Satellitennetzwerk teilen. Es wird deutlich, dass die Träger des Implantats nicht kontrolliert werden, aber Dinge wissen, die sie vorher nicht wissen konnten. Bill übergibt Steve eine Datei mit Informationen, als die Sicherheitskräfte der Metawelt auftauchen.

Ein Kampf entbrennt und Bill opfert sich, damit Steve fliehen kann. Er soll sich an Janika wenden, weil allein sie ihm helfen könne.

2. Prolog

Gefährlich ist, wenn meine Position verraten wird. Gefährlich ist, wenn die Umstände mich zu Fehlern zwingen. Gefährlich ist, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, und gefährlich ist die Nacht. Steves Blick verlor sich in der endlosen Sehnsucht des falschen Sternenhimmels. Der Metanexus war durch ein kleines Bullauge sichtbar, das er selbst programmiert hatte. Jeder Lichtpunkt stand in diesem Moment, der ausschließlich ihm gehörte, für eine verpasste Gelegenheit. Er hatte June nun schon so viele Jahre nicht mehr gesehen und klammerte sich nach wie vor an die gedanklichen Wiederholungen seiner Überlebensregeln, die ihn wie eine unsichtbare Nabelschnur mit seiner Tochter verbanden. Trotz allem, was geschehen war, konnte er nicht glauben, dass es bereits sechs Jahre waren, die seit ihrer Flucht aus Montana vergangen waren. Und es waren keine guten Jahre gewesen. Nicht für ihn, nicht für den Widerstand und nicht für die Menschheit im Ganzen – auch wenn noch immer ein überwältigender Großteil etwas anderes sagen würde.

June ... Andere Väter denken wohl an das erste Mal, als ihr Kind mit dem Fahrrad fahren oder schwimmen konnte, dachte er und sein Herz wurde schwer vor Melancholie. Ich habe nur unbarmherzige Regeln, die alles und jeden gefährlich erscheinen lassen.

Sie lebten tatsächlich in einer so bedrohlichen Welt, dass die Unschuld ihr als Erstes hatte zum Opfer fallen müssen.

Oh Bill, was haben wir nur angerichtet? Hättest du damals doch auf mich gehört!

Steve wischte mit einer Hand über das Bullauge, eine lange Codeabfolge legte sich darüber und es verschwand. Zurück blieb die Ziertapete mit Blumen, die zu seinem alten Zimmer im Studentenwohnheim gehörte, das er während seines Studienjahres am MIT so sehr lieben gelernt hatte. Alles sah aus, wie er es in Erinnerung hatte – natürlich, denn jede Codezeile, die von der Metawelt in das lebensechte Sinnerleben übersetzt wurde, entstammte seinem Gehirn und damit seiner Erinnerung. Vielleicht hatten die bunten Tulpen auf der Tapete nie so strahlend ausgesehen, vielleicht war die Struktur rauer und das Licht etwas schwächer gewesen. Er würde den Unterschied nicht mehr erfahren können, so viel stand fest. Das hier war jetzt sein zuhause, wie lange, wusste er nicht.

Was weiß ich überhaupt?, dachte er und raufte seine unechten Haare. Er hatte sie etwas voller und kräftiger gemacht, dafür schämte er sich nicht.

»Du weißt, dass du nicht viel Zeit hast«, antwortete er sich selbst laut und ging zu der abgewetzten Couch, die er damals mit Bill bei einem Garagenverkauf für elf Dollar erworben und die mehrere Dutzend Parties überstanden hatte. Ihr gegenüber stand ein Röhrenfernseher von Loewe, der damals schon alt gewesen war, in dieser Umgebung aber als geradezu antiquiert gelten musste.

Er ließ sich neben den Whiskyfleck fallen, den eine Krankenschwester zu verantworten hatte, an der er damals sehr interessiert gewesen war. Am Ende hatte sie sich wie die meisten hübschen Damen im Umfeld des Campus aber für Luke aus dem Wasserballteam entschieden. Zurück blieb nur Inhalt aus ihrem Glas auf seinem Sofa, keine erotische Erinnerung, wie ein Student sie sich gewünscht hätte.

Es war ernüchternd, wie sehr man sich in einer Situation wie seiner, in der es kein Vor und kein Zurück gab, nach den einfachsten Dingen sehnte. In Zeiten der existenziellen Not wurden selbst Dinge wie Blumengießen, das Bellen eines Hundes in der Nachbarschaft oder das Einräumen einer Spülmaschine zu dem Stoff, aus dem Träume sind. Was hätte er dafür gegeben, jetzt wieder in seiner Studienzeit eine Abfuhr von der Krankenschülerin zu bekommen, einfach nur weil es so normal war.

Was würde ich dafür geben, June noch einmal zu sehen? Sie nur anzusehen ...

Mit einem langgezogenen Seufzen griff er nach der Fernbedienung und tippte nacheinander die Zahlen 1337 ein. Der Fernseher erwachte zum Leben und ein knappes Dutzend Datenwürfel kamen vom Glas auf ihn zugeflogen. Jeder Einzelne hatte eine besondere Farbe. Mit den Händen ordnete er sie korrekt an und betrachtete die kleinen Hologramme, die aus ihnen emporwuchsen und ihren echten Aufenthaltsort, ihren Inhalt und die logischen Verknüpfungen zeigten, die sie miteinander verbanden. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles war, wie er es sich vorgestellt hatte, breitete er die Hände aus und ließ sie mit einem Klatschen zusammenfallen.

Die Würfel zerbarsten unter seiner virtuellen Kraft in unendlich viele Codefetzen, die sich in Gestalt kleiner Staubkörner in eine durchscheinende Wolke verwandelten.

Beinahe hätte er es aufgrund des Klatschgeräusches nicht gehört, aber ein zweiter Laut gesellte sich hinzu. Er klang unangenehm.

Steve sah auf und bemerkte, dass der rote Lichtpunkt am Rauchmelder an der Decke, passend zu dem schrecklichen Jaulen des Feueralarms, aufleuchtete.

»Das ging noch schneller als befürchtet«, sagte er und sein Mund fühlte sich plötzlich an wie mit einem rauen Lappen bearbeitet. Er schmeckte Angst auf der Zunge und sie schmeckte nach Bitterkeit.

Hastig lief er zu der Wand mit den vielen Bildern, Artikeln und Videoausschnitten, die sich den Platz mit lauter Formeln und roten Verbindungsfäden teilten. Der Anblick hätte in jeden Psychothriller als Höhle des psychopathischen Mörders gepasst, auch wenn er hier an genau dem Gegenteil gearbeitet hatte.

»Hänsel und Gretel«, murmelte er, während er mit dem Finger über einige nicht eingezeichnete Punkte fuhr, und dabei einem klaren, für ihn verständlichen Muster folgte, das er sich lange eingeprägt hatte. »Ihre Mutter wollte sie im Wald aussetzen, aber Hänsel hat sie belauscht. Er legt eine Spur aus kleinen weißen Steinen, damit sie den Weg zurück nach Hause finden, nachdem ihr Vater sie ausgesetzt hat.« Steves Finger fuhr über eine leichte Erhebung und er wusste, dass gerade in diesem Moment ein weiteres Programm in den Weiten der Metawelt aktiv wurde. »Beim zweiten Mal haben Hänsel und Gretel nur Brot dabei und Vögel picken die Krumen auf. Sie verirren sich. Sie finden ein Haus aus Brot und Zucker.« Sein Blick fuhr über den komplexen Code, aus dem sein Zimmer aus purer Nostalgie bestand. »Es gehört einer bösen Hexe, die die Kinder fressen will. Gretel wird zur Dienstmagd und Hänsel gemästet, um gefressen zu werden.«

Der Alarm wurde immer drängender und er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, bis seine persönliche Hexe durch die Tür kam. Hastig fuhr er mit seinem Finger weiter und widerstand dem Drang, sich zur Tür umzublicken. Er musste sich konzentrieren.

»Als die Hexe Gretel befiehlt, in den Ofen zu sehen, ob er schon heiß sei, überlistet sie die Hexe und sagt, diese müsse selbst hineinsehen, weil sie zu klein sei. Die Hexe sieht hinein und Gretel stößt sie in die Flammen. Gretel befreit ihren Bruder und sie finden die Spur zurück zu den Eltern, denn die Steinchen vom Anfang haben Abdrücke hinterlassen.« Steves Finger berührten den letzten Punkt, ein Lambda in einer langen Gleichung und er atmete erleichtert aus. Es war vollbracht.

»Findet die Spur, Hänsel und Gretel. Werft die Hexe ins Feuer und findet euer Zuhause.«

Sein Finger glitt von der Formel und er wandte sich von der Wand ab, um sich der Tür zuzuwenden, die in diesem Moment aus den Angeln flog und das Zimmer mit tausenden scharfkantigen Holzsplittern flutete wie ein Orkan aus winzigen Messern.

»Ich habe dich erwartet«, sagte Steve, ohne sein Gesicht zu schützen, und atmete tief ein. »Aber du kommst zu spät.«

Er hoffte, dass er recht behalten würde.

Seine letzten Herzschläge galten seiner kleinen June und etwas tief in seiner Seele zerbrach, als er gleichzeitig wusste, dass es kein echtes Herz mehr gab, das noch für sie hätte schlagen können.

3. Janika

Gedanken zu Code, Code zu Logik und Logik zu Realität.

Aus: »Die Gesetze der Metawelt«

 

Janika hielt die Augen geschlossen. Nur einen Moment. Sie spürte ihrem Atem nach, wie er sanft und ruhig durch ihre Nasenflügel den Hals hinab in ihre Lungen glitt. Damit ging ein intensives Gefühl für die Lebendigkeit ihres Körpers einher. Sie wusste, dass es nicht echt war und doch fühlte es sich an, als könne sie das Leben in jeder Zelle ihres Körpers spüren. Dieser Moment war durch seine Intensität zugleich unendlich und doch im Bruchteil einer Sekunde wieder vergangen. Es war ein Paradoxon, das sie jedes Mal aufs Neue genoss. Neurologisch betrachtet, durfte es diesen Moment gar nicht geben, denn die objektive Zeit, die ihr BrainWiz benötigte, um ihr Bewusstsein von der physischen Welt in die Metawelt wechseln zu lassen, war so kurz, dass selbst mit den modernsten Messmethoden keine Verzögerung nachweisbar war. Und doch gab es diesen Moment jedes Mal, wenn sie in die Metawelt wechselte. Dann wartete dort dieser eine Augenblick auf sie, der ihr verdeutlichte, dass sie eine neue Welt betreten hatte: ihre Welt. Sie war so viel mehr ihr Zuhause geworden, als es die alte Welt es jemals gewesen war, dass sie sich immer wieder wünschte, nur noch hier zu sein. Dank ihres BrainWiz und der Prothese konnte sie zwar mittlerweile ein im alltäglichen Sinne ganz normales Leben führen, doch seit dem Verschwinden ihres Bruders gab es kaum etwas in der alten, der angeblich realen Welt, das sie noch interessierte, und auch wenn es nach so vielen Jahren wirklich unwahrscheinlich erschien, dass ihre Suche etwas zutage fördern würde, hatte sie die Hoffnung nicht vollständig aufgegeben, dass irgendwo in der Metawelt ein Hinweis auf Bills Schicksal zu finden sein würde.

»Können wir los?«, ertönte die tiefe, melodische Stimme von Jack. Janika öffnete die Augen und drehte den Kopf nach rechts, um in das ernste Gesicht ihres Partners zu schauen. Sie mochte ihn wirklich gern, doch manchmal schien Jack Tage zu haben, an denen er mit dem falschen Fuß aufgestanden war. Dann fiel es ihm schwer, entspannt zu bleiben. Heute war so ein Tag, das konnte Janika nicht nur dem gereizten Unterton in seiner Stimme entnehmen, sondern auch der Art und Weise mit der er sie ansah. Er hatte die linke Augenbraue ganz leicht gehoben und fixierte sie mit einem Blick, der viel zu hart wirkte im Vergleich zu seinem aufgesetzten Lächeln.

»Hey Jack, entspann dich! Wenn du schlecht gelaunt bist, entgleitet dir dein Schauspieler-Charme!«, erwiderte Janika mit einem Augenzwinkern. »Das wäre doch wirklich schade, wenn man bedenkt wieviel Zeit und Mühe du in dein attraktiver alternder Schauspieler Face gesteckt hast ...«

»Das sagt die Richtige!«, konterte Jack und zog seine Mundwinkel nach oben, um seine strahlend weißen Zähne zu zeigen. »Wer von uns hat denn eine Karriere als Metaposer hinter sich? Du oder ich?«

»Och komm schon, das ist nicht fair! Nur weil ich die Erste war, die den weit gefassten Rahmen der Metawelt etwas ausgekostet hat, muss man mir das nicht noch hundert Jahre später nachtragen.« Sie machte einen Schritt zurück und vollführte eine sich präsentierende Geste mit beiden Händen. Es sah beinahe aus wie die Bewegung einer anmutigen Balletttänzerin nach ihrem Auftritt. Zumindest hoffte sie das. »Wie auch deine altersschwachen Routinen feststellen sollten, ist mein aktuelles Face kein Metaposer-Modell – ich habe mich schon lange von diesem Kiddie-Unsinn verabschiedet!«

»Aber die ganzen Freaks verehren dich noch immer als ihre Schöpferin.«

»Müssen wir das weiter diskutieren oder können wir endlich anfangen, deinen Job zu erledigen? Wofür bezahle ich dich überhaupt?«, fragte Janika mit etwas mehr Schärfe in ihrer Stimme, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte.

Ohne auf eine Antwort von Jack zu warten, wechselte sie aus ihrem Büro im Gefüge der HumanIT-Globule in die Weite des Metanexus. Dieser Ort war ihr wirklich vertraut, auch wenn er jedes Mal etwas anders aussah. Das ständige Entstehen neuer Globulen und das genauso häufige Verschwinden alter Globulen sorgten dafür, dass der Anblick, der sich einem von der Ebene des Metanexus bot, immer unterschiedlich war. Aber er war bei jedem neuen Eintritt beeindruckend, der Blick auf eine Galaxie voller Globulen, mit all den Usern und Datenströmen, die sich in den unterschiedlichsten Visualisierungen dazwischen bewegten. Ganz zu Beginn, als gerade der Wechsel vom NeuroNet zur Metawelt vollzogen wurde, war der Metanexus zwar auch schon unendlich groß gewesen, doch waren damals so wenige Globulen online gewesen, dass er irgendwie überschaubar wirkte. Nun, viele Jahre später, gab es so viele Quadranten mit so vielen neuen Schöpfungen, dass man sich im Nexus vorkam, als wäre man mitten in einem Galaxienhaufen, bestehend aus unzähligen Globulen, die wie Planeten aussahen.

Einen Herzschlag später tauchte Jack neben ihr auf, die Hände entspannt hinter dem Oberkörper verschränkt. Er würdigte sie keines Blickes, sondern brachte nur ein »Tsss« hervor, um seine Missbilligung auszudrücken.

»Wonach genau suchst du?«, fragte Janika, während sie eine Suchroutine aktivierte, die in Form einer Biene vor ihr erschien.

»Nach einer unregistrierten Globule mit Hinweisen auf Hallu-Aktivität.«

»Verstehe.« Janika nickte und machte sich an die Arbeit. Sie kannte die Effekte der Hallus auf die Strukturen des Core-Codes. Nicht, dass sie es hätte aufschreiben oder konkret erzählen können, dafür war das System der Metawelt viel zu komplex. Fakt war, dass Hallu-Programme Sicherheitssperren aufhoben, um ihren Nutzern die irrsinnigsten Halluzinationen zu ermöglichen, die gegen Globulenregeln verstießen. Sie waren nicht per se gefährlich für die Integrität der Metawelt, aber doch lästig. Sie hatte ein klares Semicon, wie die Codeabweichungen der Hallus aussahen. Semicons oder Semi-Consciousness waren seit den Anfängen der Metawelt der Begriff schlechthin für die menschliche Befähigung, etwas so Komplexes noch zu verarbeiten. Der Code war so unvorstellbar kompliziert und verflochten, dass niemand ihn mehr durchschaute, eine Art Singularität der Informatik, die sich verselbstständigt hatte. Trotzdem hatte auch hier die menschliche Fähigkeit zur Adaption eingesetzt, ausgerechnet hier, am realitätsfernsten Ort, den ein Gehirn besuchen konnte: Sie hatte ein Gefühl für den Code entwickelt, spürte instinktiv Abweichungen in dem sonst perfekten Muster. So entstanden aus halbbewussten Denkvorgängen Anweisungen für sich daraus speisende, selbstprogrammierende Programme: Semicons. Sie konnten selbstständig Aufgaben übernehmen – zum Beispiel die Suche nach Hallus.

»Ich habe wirklich keine Ahnung, warum es immer wieder Idioten gibt, die freiwillig Hallus nutzen. Früher gab es auch Junkies, klar, die haben sich halt mit Chemie statt Code die Birne weggebraten«, sagte Janika mehr zu sich selbst. »Mein Semicon sollte präzise genug sein, um sämtliche bekannten und die meisten unbekannten Hallus zu bemerken. Ich starte die Suche.«

Janika konzentrierte sich kurz auf ihre Suchroutine und spürte, dass diese ihr Semicon vollständig erfasst hatte. Sie fügte noch ein zweites Semicon hinzu, das ihrer Routine die Möglichkeit geben würde, sich der Logik jeder Globule anzupassen.

»Dann mal los, meine fleißigen Helfer«, sprach Janika zu der vor ihr schwebenden Suchroutine in Gestalt einer Biene, die sich daraufhin in einen riesigen Bienenschwarm verwandelte, der sich sofort zerstreute, als jede Biene auf eine andere Globule zusteuerte.

»Danke Janika, es ist immer wieder beeindruckend, wie du das machst.« Jack klang ehrlich bewundernd und zugleich versuchte er offenbar, zu analysieren, wie Janikas Semicon genau aussah. Es war eines der noch ungelösten Geheimnisse der Metawelt, warum man Semicons auf Routinen überspielen konnte, nicht aber an andere Menschen. Egal, was Janika oder die anderen Entwickler versucht hatten, es war ihnen bisher nicht gelungen.

»Okay Jack, kein Problem, wie immer schuldest du mir etwas, und nein, bevor du auch nur fragst, ich werde weder in der neuen noch in der alten Welt mit dir ausgehen.« Sie grinste ihn jovial an. Er zuckte mit den Schultern und spielte wie immer den tief verletzten Macho.

»Irgendwann wirst du schon noch mit mir ausgehen«, erwiderte er mit etwas zu viel Pathos in der Stimme, blickte ihr tief in die Augen und hielt plötzlich einen Strauß roter Rosen in der Hand, den er ihr entgegenstreckte.

Janika lachte auf, schüttelte den Kopf und deutete auf den Strauß, der plötzlich alle Blüten verlor, als sich eine Horde Ungeziefer darüber hermachte.

Langsam und irritiert folgte Jack ihrer Hand und ließ seinen Blick auf die kümmerlichen Reste der eben noch strahlenden Blumen sinken, nur um die welken Stängel angewidert fallen zu lassen.

»Wie hast du das gemacht? Ich habe diesmal an alle Realitätsdefinitionen gedacht – die Blumen waren frisch, die Temperatur optimal, es steckte ausreichend Feuchtigkeit in jeder Blume und ein feiner Draht um jeden einzelnen Stiel stabilisierte sie zusätzlich, damit sie nicht abknicken. Wie hast du es jetzt geschafft?« Jack klang frustriert und neugierig zugleich, und Janika fragte sich kurz, ob sie zu gemein zu ihm war. In Wirklichkeit war er ein ziemlich feiner Kerl und auch wenn er älter war als sie, gab er auch in der alten Welt eine gute Figur ab. Doch sie hatte kein Interesse an einer Beziehung und diese Blumennummer war mittlerweile zu einer Art sportlicher Herausforderung zwischen ihnen geworden.

»Es war die Schwachstelle! Alle Punkte, die du aufgezählt hast, habe ich schnell gecheckt, aber du hattest keine Logik gegen Ungeziefer eingebaut, deshalb war es einfach.«

»Mist«, war alles, was Jack dazu einfiel.

»Mach‘s gut, Jack, bis zum nächsten Mal. Wenn die Routine etwas gefunden hat, lasse ich es dich wissen. Ich muss noch ein paar Frischlinge der Samurai trainieren.«

»Na gut, danke für die Hilfe, ich werde auch noch eine Routine auf die Suche schicken, vielleicht habe ich ja Glück.«

Janika verschwand, indem sie sich in ihre private Globule zurückdachte. Ohne merklichen Zeitverlust war sie dort. Sie hätte natürlich auch in ihr offizielles Büro in der Forums-Globule zurückkehren können, doch wie im echten Forum verbrachte sie dort möglichst wenig Zeit. Wenn sie es trotzdem einmal tat, wollte irgendjemand etwas von ihr, und sie blieb lieber in ihrer eigenen Welt oder besuchte eine der unzähligen spannenden Globulen der Metawelt, in denen man wirklich abgefahrene Dinge erleben konnte. Da man sie jedoch als Schwester von Bill Portit, dem Schöpfer, kannte und wusste, dass sie eine der sogenannten Apostel war, hatte sie sich etwas einfallen lassen müssen, um nicht ständig erkannt und gestört zu werden. Sie wollte unentdeckt durch die Metawelt und die Communities der Metas wandeln können. Daher hatte sie sich ihr Wissen über die schwarzen Samurai zunutze gemacht. In den Anfängen der Metawelt war ziemlich schnell klar geworden, dass die bloße Tatsache, nahezu alles tun zu können, dazu führte, dass die User auch wirklich alles taten – auch Dinge, die anderen schadeten oder gegen die Gesetze der Metawelt verstießen. Deshalb war ihr Bruder irgendwann mit der Idee um die Ecke gekommen, dass man eine Art Polizei benötigen würde, und sie hatten gemeinsam mit dem Rest des ursprünglichen Administratorenteams die Samurai entwickelt. Bill hatte auf der Samurai-Nummer bestanden, da er diese geehrten und gefürchteten Kämpfer des alten Japans als perfekte Vorbilder für unbestechliche und ehrenhafte Krieger sah. Im Grunde genommen hatten sie nichts anderes gemacht als spezielle Perma-Semicons zu schaffen, welche wie Samurai-Rüstungen aussahen und die Face eines Users so veränderten, dass der überall automatisch Administratorenrechte bekam. Das hatte damals eine direkte Verankerung im Primärcode der Metawelt benötigt, ein Unterfangen, das heute gar nicht mehr möglich war, da sich der Primärode über die Jahre weiterentwickelt hatte und damit immer komplexer geworden war. Alle Neuerungen, die sie als Administratoren etablierten, wirkten nur noch auf der Oberfläche.

Dieses exponentielle Wachstum des Codes und die fehlende Nachvollziehbarkeit sämtlicher Interaktionen verschiedener Codes, machten Janika schon seit geraumer Zeit Sorgen. Kaum jemand verstand so viel von der Metawelt wie sie, niemand sonst war wirklich von der ersten Idee an dabei gewesen – außer natürlich ihr Bruder Bill. In dem Moment, als ihre Gedanken zu ihrem Bruder drifteten, kamen wieder die Erinnerungen hoch. Sie hatte seit über sechs Jahren nichts von ihm gehört, niemand hatte etwas mitbekommen. Er war verschwunden. Das war wirklich seltsam für Bill, aber vermutlich hatte er seine Gründe und ließ es sich irgendwo gutgehen – fernab vom Stress des Forums.

In der alten Welt hatte sie die Suche längst aufgegeben. Sie wusste mittlerweile zu wenig über diese Welt da draußen, fühlte sich dort fremd. Hier in der Metawelt war es anders, hier hatte sie Suchroutinen, die fortlaufend Spuren seines Face suchen konnten – bisher jedoch ohne Erfolg. Ein vernünftiger und rationaler Teil von ihr wusste, dass es nach so langer Zeit gar keine Aussicht auf Erfolg mehr geben konnte, doch da war noch dieser andere Teil, derjenige, der für Rationalität nicht zugänglich war, und dieser Teil fütterte noch immer ihre Hoffnung und hielt sie am Leben. Allerdings war dieser Teil nicht besorgt, eher verwundert, weil Bill sich normalerweise nicht so aus dem Staub machen würde. Also verbrachte sie einiges ihrer freien Zeit mit der Suche nach Hinweisen, mehr aus Neugierde, denn aus Sorge. Sie wollte ihm zeigen, was sie konnte, damit er stolz sein konnte, was sein Mitgefühl für sie am Ende erreicht hatte.

Mit einem komplexen Gedankenbefehl ließ Janika vor sich eine komplexe Holomatrix entstehen, die sämtliche Ergebnisse ihrer Suchroutinen aufführte. Die holografische Darstellung der gesamten Ergebnisse in Form von Bildern, Strukturen, Videos und Linien war derart überbordend, dass sie eine Vereinfachung einfließen ließ. Sie überlegte zunächst, sämtliche Ergebnisse, die sie schon einmal ausgeschlossen hatte, erneut auszuschließen und aus der Anzeige auszublenden. Plötzlich schrumpfte der Inhalt der Holomatrix um mehr als zwei Drittel. Anschließend ließ sie alle Ergebnisse ausblenden, die auf bereits ausgeschlossene Ergebnisse als Quelle verwiesen. Erneut reduzierte sich die Datenmenge drastisch. Übrig blieben einige Hundert Ergebnisse, in denen in irgend einer Art Hinweise auf Bill zu finden waren. Auf diese setzte sie eine weitere Semicon an, die sie bereits seit einigen Jahren nutzte – sie würde die Ergebnisse auf einen konkreten Bezug zu Bill Portit, seinem Verschwinden oder auch ihr selbst durchsuchen. Dabei würde diese spezielle und sehr komplexe Semicon auf Dateiroutinen zurückgreifen, die über reine Mustererkennung weit hinaus gingen und auch die Dechiffrierung von Schrift-, Bild- und Tonmaterialien beherrschten.

Selbst mit der unglaublich hohen Rechenleistung der Metawelt, die in ihrem jetzigen Ausmaß noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen war, würde dieser Prozess einige Minuten in Anspruch nehmen. Janika dachte sich einen riesigen Sitzsack herbei, in den sie sich locker zurücksinken ließ. Sie starrte auf die Holomatrix, als ob ihr kontinuierliches Beobachten der Daten einen Erfolg der Suche forcieren könnte.

Chizz, Janika, was bist du doch manchmal für ein närrisches Mädchen, dachte sie und schämte sich für ihr magisches Denken, hörte jedoch nicht damit auf.

Plötzlich riss der Klang einer Glocke sie aus ihren Gedanken und Janika sprang aus dem Sitzsack. All die Jahre war die Arbeit ihres Auto-Semicons, das sie mit der Suche beauftragt hatte, erfolglos geblieben, sodass sie im ersten Moment gar nicht realisierte, was dieser Glockenschlag bedeutete. Erst als sie die Veränderung auf der Holomatrix sah, verstand sie wirklich.

»Bei allen Göttern der Metawelt, das darf doch nicht wahr sein! Ein Ergebnis!« Aufgeregt und mit zitternden Händen zog Janika die projizierte Holomatrix näher heran und betrachtete die einzelnen Textfragmente, die ihr Programm ausgeschnitten und nebeneinander aufgereiht hatte. Faktisch waren keine Texte mehr notwendig. Die Metawelt brachte sämtliche Möglichkeiten mit, um wirklich alle Informationen audiovisuell darzustellen, zu animieren, oder auch frei von einer in die andere Form überführen zu lassen. Doch irgendwie kamen die meisten Menschen nicht schnell genug mit. Vielen Usern war das Lesen von Informationen so in Fleisch und Blut übergangen, dass es immer noch Globulen gab, in denen klassischer Informationsaustausch via Text erfolgte. Old school, aber noch immer vorhanden.

Kurz überblickte Janika das Ganze und stellte fest, dass es sich um verschiedene Suche/Biete-Anzeigen handelte. Alle waren von demselben Verfasser, einem User mit dem Face-Nick Hinkebein2020 verfasst worden. Ihr Auto-Semicon hatte herausgefunden, dass jede dieser Anzeigen an dritter, siebenundzwanzigster oder einundachtzigster Stelle eines ihrer Suchkriterien enthielt. Es war immer wieder beeindruckend, was ein autonomes Semicon alles leisten konnte. Der künstlichen Intelligenz fehlte zwar das Bewusstsein, ihre Entscheidungen in einen kognitiven Zusammenhang zu stellen, aber gleichzeitig war sie deutlich effizienter als ein Gehirn. Hier hatte es wirklich ganze Arbeit geleistet und das vollkommen ohne Janikas Zutun.

Nachdem das Semicon sämtliche Nachrichten dieses Users herausgesucht, und die Begriffe an der dritten, siebenundzwanzigsten und einundachtzigsten Stelle aussortiert hatte, war ein Text entstanden, der Janika erstarren ließ.

 

Janika, ich weiß um Bill Portits Verbleib. Du musst alleine kommen! Globule Veritate x345 y652 z193.

Hinkebein

 

Zwei Dinge ließen Janika innehalten und ernsthaft nachdenken, dieser Nachricht tatsächlich nachzugehen. Zunächst hatte eine kurze Anfrage an das Zentralregister ergeben, dass es an dieser Koordinate gar keine Globule gab, was dafür sprach, dass irgendjemand einen guten Grund hatte, eine nicht registrierte Globule zu erstellen und so zu betreiben, dass sie nicht entdeckt wurde. Solange man selbst gemerged, in der Metawelt eingeklinkt, war, stellte eine private Globule kein Problem dar. Doch sobald man sich ausloggte, verschwand die Globule, da sie vom jeweiligen Kontrollstern sofort gelöscht wurde. Um das zu verhindern, gab es nur drei Möglichkeiten: Entweder man registrierte die Globule oder man übergab die Adminrechte an eine andere Person, oder man musste tief in den Code eingreifen, um sie zu verstecken. Die dritte Möglichkeit sollte nicht bestehen, doch Janika wusste es besser. Wenn man wirklich tief in den Code eintauchte und mit der Metawelt so vertraut war, dass man mit ihren innersten Zusammenhängen quasi per Du war, konnte man es schaffen, eine unregistrierte Globule bestehen zu lassen. Hier hatte also nicht einfach irgend ein abgehalfterter Bytehead einen kleinen Scherz gemacht, sondern hier war jemand mit viel Sachverstand und Motivation am Werk gewesen.

Eine Herausforderung. Interessant.

Der zweite Punkt war jedoch der noch viel wichtigere: Hinkebein, so hatte jemand sie genannt, lange vor dem BrainWiz und dem Forum, lange vor der Metawelt. Nur ein einziger Mann hatte sie so gerufen: Steve, der beste Freund und Geschäftspartner ihres Bruders. Niemand war so frech und zugleich so herzensgut gewesen, dass er Janika so hätte anreden können.

Und niemand kann wissen, dass ich mal so genannt wurde.

 

***

 

Zwei MWE von den genannten Koordinaten entfernt, tauchte Janika im Veritate Metanexus auf. Der Veritate Quadrant war einer der ganz neuen Quadranten, die erst vor einigen Monaten hinzugefügt worden waren, in der mittlerweile dreiundzwanzigsten Erweiterungswelle. Es leuchtete Janika ein, dass der ominöse Hinkebein einen der ganz neuen Quadranten ausgewählt hatte, um eine unregistrierte Globule zu verankern. In den älteren und extrem überfüllten Quadranten waren der Code und die Abhängigkeiten der Globulen untereinander derart komplex, dass es unmöglich war, dort eine Globule so zu integrieren, dass es zu keinen Unstimmigkeiten oder fehlenden Verknüpfungen kam. Das führte unweigerlich dazu, dass die Samurai oder deren Suchroutinen darauf aufmerksam wurden. Es war wie bei einem berühmten Gemälde, wenn man auch nur einen Pinselstrich hinzufügte, würde es sofort auffallen. Ein neuer Quadrant hingegen war wie eine weiße Leinwand, auf der erst ein kleiner Teil gestaltet war, dort konnte man noch relativ einfach etwas integrieren, ohne dass es auffiel. Zumindest nicht sofort. Es war in gewisser Weise wie im Wilden Westen der ehemaligen USA.

Nun blickte Janika auf die Globule vor ihr, die nichts anderes als eine graue Planetenkugel darstellte. Wer auch immer diese Globule geschaffen hatte, war offensichtlich nicht von der kreativen Sorte gewesen, sondern hatte sich mit der Default-Maske begnügt. Sie spürte, wie Anspannung und Unruhe in ihr wuchsen. War sie wirklich auf der Spur ihres Bruders? Oder handelte es sich um eine der vielen Sackgassen? Janika war sich nicht sicher, wie viele Enttäuschungen sie noch verkraften würde. Mühsam riss sie sich zusammen, um nicht Hals über Kopf in die Globule einzutauchen. Sie musste vorsichtig bleiben.

Ein Gedanke ließ ihre Holomatrix erscheinen und zeigte die Realitätsvorschau der Globule an. Das kostete zwar Zeit, doch auch wenn Janika so aufgeregt war wie seit vielen Jahren nicht mehr, studierte sie kurz die wichtigsten Informationen. Sie wollte sich nicht plötzlich in irgendeiner abgedrehten Hallu-Horror-Globule wiederfinden, die ihren Verstand binnen Sekunden in Brei verwandeln würde. Wer eine unregistrierte Globule etablieren konnte, war sicherlich auch in der Lage, die Sicherheitslimitierungen zu umgehen.

Auf den ersten Blick sahen die Realitätsparameter jedoch vollkommen normal aus, als hätte jemand eine physikalisch unmodifizierte Echtwelt erstellt.

Hilfe holen oder keine Hilfe holen? Diese Frage hatte sie noch immer nicht für sich geklärt. Natürlich hatte dieser ominöse Hinkebein gefordert, dass sie alleine kam, doch andererseits wusste sie nicht, ob es wirklich ihr Bruder oder Steve waren, die diese Nachricht geschickt hatten, oder vielleicht doch irgend ein kranker Idiot, der eine der »Apostel« reinlegen wollte.

Sie könnte Jack Bescheid sagen, er war ein ziemlich guter Samurai und würde ihr sicherlich keine Bitte ausschlagen. Außerdem schuldete er ihr noch eine Menge Gefallen, doch irgendwie hatte sie kein gutes Gefühl dabei. Sollte sie hier wirklich Bill treffen, wollte sie auf gar keinen Fall irgendjemanden dabeihaben, sondern zunächst mit ihrem Bruder alleine sein. Und schließlich war sie alles andere als wehrlos. In der Metawelt gab es nichts, gegen das sie sich nicht zur Wehr setzen konnte.

Ohne weiter nachzudenken, streckte sie ihre Hand aus und tauchte mit einem tiefen Atemzug in die Globule ein.

Sie stand in einer großen Halle, in der offensichtlich ein schrecklicher Kampf getobt hatte.

4. June

Vermont, Oktober 2037

 

June strich mit ihren Händen über die feuchten, hüfthohen Grashalme, die sie im kühlen Herbstwind umwehten wie ein Meer unruhiger Kinder. Der Morgentau kitzelte zwischen den Schwielen ihrer Handflächen, wenn er sich von den Halmen löste und an ihrer Haut hinab rann. Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss das Gefühl von Lebendigkeit in ihren Fingern, die Sonne, die ihr Gesicht wärmte. Sie war noch schwach so früh am Morgen und würde zu dieser Jahreszeit auch nicht mehr zu sommerlicher Stärke zurückfinden und doch war der gelb leuchtende Stern ein Symbol der Hoffnung. Wie die Menschheit verblasste sie, doch solange sie noch zu sehen war, bestand die Chance, dass es wieder Frühling werden und sie zu alter Stärke zurückfinden würde.

Langsam und jede Nuance erspürend sog sie die frische Luft durch ihre Nasenlöcher ein. Sie roch den Duft von nassem Gras und welkem Laub, das unter ihren Schuhen seinen langen Prozess des Sterbens angetreten hatte, um zu Dünger für neues Leben zu werden, das im Frühling sprießen würde. Als Nächstes wanderte ihre Aufmerksamkeit zu dem Gezwitscher der Vögel – hier Gesang, dort protestierendes Schimpfen. Es war wunderschön und doch hatte es einen Makel: den Makel der Vergänglichkeit. Als sie vor vier Jahren das erste Mal an genau dieser Stelle unter der alten Eiche gestanden und in das weite Tal geschaut hatte, das sie in der Ferne umschmeichelte wie ein gezeichneter Traum in Pastellfarben, waren die Vogelstimmen noch deutlich zahlreicher gewesen – zumindest jene, die sie erkannt hatte als die von Spatzen, Rotkehlchen, Goldzeisigen, vorbeiziehenden Kanadagänsen oder Wanderdrosseln. Jetzt hörte sie bloß noch Spatzen und ab und an ein Rotkehlchen. Die anderen, seltsameren Vogelrufe gehörten kleineren Arten, die in keinem Biologiebuch vorkamen, sie hatten Flügel in strahlendem Aquamarin, übergroße Augen und gebogene Schnäbel. Andere, viel größere Vertreter waren noch ein wenig umfangreicher als Adler, welche sie schon lange vertrieben hatten, und ihre Köpfe waren so schmal und langgezogen, dass es June jedes Mal kalt den Rücken hinab lief, wenn sie einen dieser großen Schatten am Himmel sah.

Schatten, die hier nicht hergehören, dachte sie düster und fuhr herum, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, war die Kalaschnikow von ihrem Rücken in ihre Hände geschnappt und sie zielte mit der schmalen Kimme direkt auf das Gesicht von ...

»Albert?« Sie runzelte die Stirn und ließ das Sturmgewehr langsam sinken.

»Ich habe doch gesagt, du sollst mich Alby nennen«, gab ihr Gegenüber kopfschüttelnd zurück und lächelte erleichtert, als die Mündung nicht mehr auf seine Stirn zeigte. Albert war einige Jahre älter als sie, sah aber noch erstaunlich jung aus für jemanden, der mit zwölf Jahren das erste Mal einen Menschen erschossen hatte. Er war eines jener Gesichter des immer jünger werdenden Widerstands, welcher sich aus dem Nachwuchs rekrutierte, der noch in der Lage war, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen. Gegebenheiten wie der, dass sich die ganze Menschheit in die Metawelt flüchtete und die reale, wirkliche Welt hier draußen kaum noch wiederzuerkennen war. Unwillkürlich wanderte ihr Blick über seine breiten Schultern zu der Eiche, die von gelblich schimmernden Schlingpflanzen übersät war, die den einst stolzen Stamm fest in ihrem Griff hatten.

»Weißt du, was passiert, wenn Leute sich mit Spitznamen anreden? Sie sterben«, erwiderte sie kühl.

»Die Leute sterben sowieso andauernd.«

»Eben. Also machen wir es uns nicht schwerer als es sein muss, indem wir uns Kosenamen geben und so tun, als wären wir Freunde.«

»Sind wir das denn nicht?« Albert klang ein wenig enttäuscht und das Sturmgewehr, dessen Lederriemen an seiner abgewetzten Lederjacke knarzende Geräusche machte, schien seine Schulter mit einem Mal hinunterzuziehen.

»Nein, Albert, wir sind Kameraden im Krieg, das ist etwas anderes.« Als sich eine unangenehme Stille auszubreiten drohte, seufzte sie. Ihr Moment der Ruhe fernab aller Probleme war vorbei. »Was gibt’s?«

»Die Lieutenants sind versammelt und warten auf dich.« Albert deutete mit ausgestrecktem Daumen hinter sich, ohne sich umzudrehen.

»Ist gut.« June ging an ihm vorbei und bedeutete ihm, mitzukommen. Sie verließen mit nassen Hosen das hohe Wildgras und traten unter die ersten Baumreihen, in denen phosphoreszierende Bodenpflanzen ein bläuliches Schimmern durch das ansonsten dunkle Unterholz sandten. Die Tannen sorgten normalerweise sogar an hellen Tagen für ewiges Dämmerlicht, doch die fremden Pflanzen hatten auch diese Regel in unzuverlässige Erinnerungen verwandelt. Die Zeit, in der sie mit ihrem Vater durch die Wälder Montanas gestreift war, kam ihr jetzt wie ein anderes Leben vor. Damals hatte sie noch große Augen gemacht, wenn sie einen von den blauen Leuchtstängeln gesehen hatte, die so auffällig und eindeutig fehl am Platz gewesen waren, dass sie sich ihr förmlich aufgedrängt hatten. Mittlerweile war es so, dass sie kaum noch unterscheiden konnte, was heimische und was neue Pflanzen und Tiere waren – zumindest aus der Ferne. Alles war anders und doch vertraut, als befände sie sich in einer Umgebung, die immer mehr zu Schemen verblasste, die gerade noch bekannte Konturen offenbarten.

Vater, dachte sie verbittert und spürte, wie ihre Unterlippe zu zittern begann, bevor sie die Zähne aufeinanderbiss und das Kinn vorreckte.

Mit Albert im Schlepptau passierte sie beide Sicherheitszonen. Die Selbstschussanlagen waren gut versteckt, sodass nicht einmal sie sie sehen konnte, was bedeutete, dass der kleine Annäherungssender in ihrer Tasche funktionierte – sonst hätte sie nämlich ein Mündungsfeuer gesehen, bevor sie von den Kugeln zerfetzt worden wäre. Der Wald ging in eine schroffe Felswand über, deren nasser grauer Stein wie zerklüftetes Pappmaché bis in die regenschweren Wolken reichte. Sie hielten sich links und mussten wie gewohnt zweimal hinsehen, um das graue Tarnnetz zu erkennen, das den Eingang zu dem alten Bergwerksstollen verdeckte. Noch bevor ihre Hand das Netz berührte, wurde es von innen beiseitegeschoben und die beiden Wachen dahinter nickten ihr respektvoll zu. Doch in ihren müden Augen stand noch mehr als Respekt geschrieben: Ehrfurcht, und diesen Ausdruck hasste June. Er war überladen mit Erwartungen und Hoffnungen, die ihr wie ein bleierner Mantel auf den Schultern lasteten.

»Fury«, sagten die beiden jungen Männer, als sie an ihnen vorbei ging und glätteten ihre schmutzige Tarnkleidung.

June ignorierte sie und ging durch den feuchten Tunnel mit den staubigen Wänden zur nächsten Gabelung, an der zwei weitere Wachen warteten – diesmal zwei junge Frauen, die gerade erst volljährig zu sein schienen – und hielt sich links. Sie sah auf ihre Armbanduhr mit dem zersplitterten Glas und bemerkte, dass sie über eine Viertelstunde zu spät kommen würde. Es interessierte sie nicht. Der Kommandant und die Lieutenants redeten in ihren Augen ohnehin zu viel. Die meiste Zeit langweilte sie sich bei den Treffen zu Tode und fragte sich jedes Mal, was sie dort verloren hatte. Sie gehörte nach draußen in die Ausbildung der Neuen, wo sie ihre Überlebensfähigkeiten sinnvoll einsetzen konnte. Oder auf den Schießstand, oder in die Taktikschulungen – irgendwohin, nur nicht in das Palaver alter Männer, die sich etwas auf ihre militärische Ausbildung einbildeten, obwohl die heute kaum noch nützlich war. Sie würden nie wieder in großen Verbänden kämpfen, ganze Züge in die Schlacht führen oder Fahrzeugkolonnen koordinieren können. Diese Zeit war wegen der heutigen Dichte an Aufklärungsdrohnen und Luftschiffen vorbei. Was heute zählte, waren handfeste Überlebensfähigkeiten: Zu wissen, welche Kleintiere und Insekten man essen konnte, welche Wildkräuter und Wurzeln, wie man sein Feuer verbarg, wie man möglichst schnell ein Loch aushob oder eine Wunde versorgte, damit sie sich nicht sofort entzündete.

Durch den linken Gang erreichten sie nach einigen hundert Metern den Lastenaufzug, einen ausladenden Käfig aus Metall, der gegen jeden ihrer Schritte klappernd protestierte. June schnappte die an einem Kabel hängende Steuerung und drückte den Knopf mit dem Pfeil nach unten. Eine einzige Lampe verströmte kühles Weißlicht und ließ auf den grob gehauenen Wänden des Schachts bizarre Schatten tanzen.

»Was hältst du von den neuen Rekruten?«, fragte Albert nach kurzer Zeit. Wie immer schien es ihm beinahe körperliche Schmerzen zu bereiten, die Stille auszuhalten, die sich zwischen ihnen ausbreitete.

»Was meinst du?« Sie dachte an die Gruppe der zehn Teenager, die gestern aus Boston eingetroffen waren. Ein Schleuser hatte sie aus einem ihrer Safe Houses hergebracht. Ihre Gesichter waren verwelkt gewesen wie Laub, das gerade vom Ast gefallen war und zu verdorren begann. Genau so musste es sich für sie auch anfühlen. June hatte nie ein Implantat getragen und wusste nicht, wie es sich anfühlte, aus der Metawelt in die reale Welt zu kommen, abgeschnitten vom bisherigen Leben. Aber sie hatte eine Vorstellung. Der schon apathisch anmutenden Depression nach zu urteilen, die sich in den meisten Gesichtern ablesen ließ, brauchte sie sich nur zu erinnern, wie sie sich gefühlt hatte, als sie von der Verhaftung ihres Vaters gehört hatte. Auch damals vor drei Jahren war ihr ihre bisherige Welt entrissen worden.

»Na, die sind doch noch total grün hinter den Ohren!«, meinte Albert und grinste, als habe er einen Scherz gemacht. June grinste nicht.

»Ich bin gestern Siebzehn geworden und du bist gerade mal was - zwei Jahre älter?«, schnaubte sie und zog mit einem kräftigen Ruck das Gitter hoch, als sie zweihundert Meter tiefer zum Stoppen kamen.

»Das stimmt, aber ich kämpfe seit sieben Jahren und du ...« Albert folgte ihr aus dem Aufzug in den kurzen Gang und deutete auf die schwere Stahltür vor ihnen. »Du bist Lady Fury.«

June betrachtete das riesige Poster, das die gesamte Panzertür bedeckte und verzog das Gesicht. Sie sah eine blonde junge Frau mit einer tiefen Narbe auf der Stirn, gekleidet in Militärtarn und Panzerweste, die wild feuernd auf einem rauchenden Panzer stand. Ihr Mund war zu einem endlosen Schrei geöffnet und die Augen wütend zusammengekniffen. Darüber stand Lady Fury geschrieben, darunter in martialischer Blockschrift: geboren in Freiheit, getauft in Feuer.

»Lady«, höhnte sie. »Ich bin nicht einmal in Europa volljährig. Außerdem stand ich noch nie auf einem ausgebrannten Panzer. Dieses Foto ist in Kanada entstanden, und in Wirklichkeit stand ich auf einem kleinen Felsvorsprung.«

»Und hast vier Sicherheitsleute der Anderen abgeknallt, die sich dem Flüchtlingstreck genähert hatten.«

»Jeder hätte das getan, das waren immerhin fünfzig Frauen und Kinder.« June winkte ab und wollte den Türgriff packen, als er ihr sanft eine Hand auf den ausgestreckten Unterarm legte. Sie hob eine Augenbraue und sah in sein schmutziges Gesicht.

»Du warst vierzehn, Fury. Vierzehn. Also selbst noch ein Kind«, sagte er und der mitfühlende Tonfall in seiner Stimme gefiel ihr ganz und gar nicht. Albert schien es nicht zu bemerken. »Kein Kind hätte sich das getraut, ganz zu schweigen, dass kein anderes Kind das geschafft hätte.«

»Ich war kein Kind, sondern ein Teenager«, korrigierte sie ihn und zog mit einem wütenden Ruck die Panzertür auf. Albert schluckte hörbar, als er ihr zusah. »Außerdem«, knurrte sie, »war das der Tag, an dem die Anderen meinen Vater geschnappt haben. Ich war nicht besonders mutig, sondern hätte es in Kauf genommen, von ihren Kugeln zerfetzt zu werden.«

Ohne ein weiteres Wort ging sie durch den offenen Spalt und wurde sofort von dem lauten Stimmengewirr der Hauptkaverne umweht. Die ovale Höhle war so groß wie ein Fußballfeld und besaß eine hohe Decke, die irgendwann in den siebziger Jahren, als hier eine Goldader gefunden worden war, erweitert worden war. Jetzt wuselten am Boden unter der kleinen Treppenplattform hunderte Männer, Frauen und vor allem Jugendliche zwischen Tischen, Maschinen und Suppenküchen umher. An Kartentischen wurden kleinere Überfälle geplant, in einer Ecke Waffen und Ausrüstung repariert. Weiter hinten saß eine große Gruppe Kinder vor einer Tafel, an der eine Lehrerin stand und etwas erklärte. Die Tafel war zu weit weg, um etwas zu erkennen, doch June wusste, dass dort keine Mathematik unterrichtet wurde, sondern die schnellste Methode, eine Handfeuerwaffe zusammenzubauen, aus welchen Beeren man Gift oder Salbe herstellen konnte und wie man Fallen für Kleintiere oder Menschen improvisierte.

Sie machte sich an den Abstieg über die exakt hundertzehn Treppenstufen, von denen keine einzige knarzte, und hielt sich dicht an der linken Kavernenwand, um möglichst wenigen Menschen zu begegnen. Natürlich war es unmöglich, nicht gesehen zu werden, aber sie wollte keine Zeit verlieren und schon gar nicht mit den Erwartungen der Anwesenden konfrontiert werden. Sie schienen jeden Tag die Hoffnung zu hegen, dass sie ganz allein genau heute den Krieg beenden würde.

Vereinzelte »Fury«-Rufe quittierte sie mit einem flüchtigen, freudlosen Lächeln, hielt aber den Blick fest geradeaus gerichtet und seufzte dankbar, als sie die kleine Seitentür erreichte, die zum Kommandoraum führte. Sie wimmelte einige Kinder ab, die um sie herumtollten, als wäre sie eine Heilige und ließ auch Albert hinter sich, der von den beiden Türwachen zurückgehalten wurde.

»Der Kommandant wartet auf dich«, sagte einer der Männer, ohne June anzusehen. Sie erkannte sein hartes, dunkelhäutiges Gesicht. Es war Murphy, der ehemalige Navy SEAL, der letzte Woche mit ihr die Maisfarm überfallen hatte. Er war diszipliniert und umsichtig – von seiner Sorte hatten sie viel zu wenige in ihren Reihen.

Sie zog die Tür auf und ging hinein. Es war totenstill, als sie auf dem Absatz stehenblieb und sich umschaute. Zwölf Männer und Frauen in abgenutzter Kleidung standen um einen langen Kartentisch und drehten gleichzeitig die Köpfe in ihre Richtung.

»Ich bin zu spät, tut mir leid«, sagte sie laut, ohne dass es ihr wirklich leidgetan hätte. Am liebsten wäre ihr gewesen, wenn man sie von den Kommandositzungen ausschließen würde. Sie hatte ohnehin nicht viel beizusteuern und schätzte, dass sie eher für die Moral der anwesenden Lieutenants dabei sein sollte. Warum auch immer es diese viel erfahreneren und älteren Kämpfer in ihrer Überzeugung bestärken sollte, wenn ein Teenager anwesend war, der nicht einmal wusste, was ein Footballspiel gewesen war oder das Internet oder Fernsehen oder irgendetwas von alldem, wofür sie kämpften. Was sie anging, waren sie nicht einmal in derselben Welt aufgewachsen, auch nicht im selben Wertesystem. Ihre wichtigsten Maßstäbe waren, keine Fehler zu machen, niemandem zu trauen und nicht entdeckt zu werden. Aber das, worüber die Lieutenants immer redeten, waren Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung, Sicherheit. Keinen einzigen kannte sie, außer als Vokabel.

»Kein Problem«, sagte der Kommandant, Owen O’Hare, ein rothaariger ehemaliger Colonel irischer Abstammung, der sie mit seinen wilden Locken an einen raubeinigen Piraten erinnerte, obwohl er in ihren Augen ganz im Gegenteil eher zu weich war. Er riskierte zu viel, um Einzelne zu retten. O’Hare deutete auf einen freien Platz an dem Tisch und sie schob resigniert die Kalaschnikow auf ihren Rücken, bevor sie sich artig mit ihren Fahrradhandschuhen auf der Holzplatte abstützte und auf die Karte des Nordostens der USA schaute.

»Also gut. Lieutenant Wilson, welche neuen Informationen gibt es?«, fragte der Kommandant und sah die brünette Offizierin an, die irgendwo rechts von June stehen musste und von anderen Lieutenants verdeckt war.

»Unsere Spitzel aus der Metawelt haben herausgefunden, dass das letzte große Versteck des chinesischen Widerstands in der Provinz Gansu ausgelöscht wurde. Sämtliche Kontakte sind offline«, berichtete Wilson mit düsterer Stimme.

»Das ist ...« O’Hare machte eine Pause, sah zu Boden und schüttelte den Kopf, bevor er wieder aufsah. »Wir haben unseren chinesischen Brüdern und Schwestern viel zu verdanken. Hätten sie den Wurmlochgenerator nicht zerstört, stünde es heute vermutlich noch viel schlimmer um uns.«

»Aber zu welchem Preis?«, fragte jemand anders, schwieg jedoch, als O’Hare eine Hand hob.

»Wir wollen ihren Heldenmut und ihre Verdienste nicht beschmutzen, indem wir hinterfragen, was sie für uns alle getan haben, verstanden?« Der Kommandant ballte seine Hände zu Fäusten, bevor er Wilson bedeutete, fortzufahren.

»Es gibt drei weitere Entwicklungen, die uns große Sorgen bereiten. Die erste ist, dass es Gerüchte über ein ... Monster gibt, das angeblich in der Metawelt umgeht und dizzt.«

»Ein Monster?«, fragten mehrere Lieutenants gleichzeitig, teilweise spottend, teilweise besorgt.

»Ja, eine Erscheinung, die für einen sofortigen Dizz sorgt ...«

»Bitte, Lieutenant«, ermahnte O’Hare sie, »nicht jeder hier am Tisch weiß diesen Metaslang zu schätzen.«

»Entschuldigung. Dieses Monster sorgt dafür, dass Menschen gegen ihren Willen aus der Metawelt geworfen werden und zwar ohne Logout. Normalerweise reichen die Folgen von Übelkeit, Desorientierung und Schwindel zu Ohnmachtsanfällen oder Krämpfen, aber es gibt Gerüchte, dass die erzwungenen Logouts Folgen eines Todes in der Metawelt sind, der für ein Ableben in der realen Welt sorgt. Wir haben mehrere Berichte erhalten, dass die Bewegungen zwischen den einzelnen Globulen stark abgenommen haben, weil sich Angst breit macht.«

»Ist das überhaupt möglich? Ein Dizz, meine ich? Das sind doch nur Spukgeschichten über die Entwickler«, fragte Lieutenant Dearing, mit dem June schon einige Male auf Missionen gewesen war. Hauptsächlich Sabotage und kleinere Überfälle, meist zur Beschaffung von Lebensmitteln und medizinischen Gütern.

»Nein, zumindest nicht dass ich wüsste. Aber die vereinzelten Berichte, die meine Informanten aufgeschnappt haben ...«

»... sind vereinzelte Gerüchte«, fiel Dearing ihr ins Wort. June beobachtete ihn gelassen, wie er sich seinen graumelierten Schnäuzer glattstrich, bevor er den Kopf schüttelte. »Wir haben genug Probleme vor der Brust, da müssen wir uns nicht auch noch die Verschwörungstheorien von irgendwelchen Byteheads anhören, die zu viele VRs gucken.«

»Dem stimme ich zu«, gab Wilson zu Junes Überraschung zurück und auch Dearing runzelte überrascht die Stirn. »Zumindest vorerst sollten wir unsere Ressourcen nicht auf unbestätigte Gerüchte verschwenden.«

»Gut, was ist der zweite Punkt?« O’Hare wedelte auffordernd mit einer Hand in ihre Richtung.

»Wir haben Kontakt zu einigen Faces aufgenommen, die sich von den Philippinen und Indonesien eingeloggt haben.«

»Aber die sind doch beide gar nicht an die Metawelt angeschlossen, weil es dort keine Implantatträger gibt!« Es war erneut Dearing, der sich einmischte. Entweder hatte er Wilson aus einem June unbekannten Grund gefressen oder er war tatsächlich besonders misstrauisch heute.

»Das stimmte auch. Bis heute. Offenbar hat das Forum seine Vorgehensweise geändert und übernimmt gezielt Länder der Dritten Welt, die sich bisher keinen flächendeckenden Einsatz der Implantate leisten konnten oder ihn nicht wollten. Offiziell heißt es wohl, dass man die Umweltzerstörung in den entsprechenden Ländern unterbinden wolle, doch es scheint klar, dass das nur ein Vorwand für eine Invasion war. Vielleicht nicht militärisch, aber bestimmt mit sogenannten Förderprogrammen und Subventionen. Jedenfalls sind beide Länder jetzt angeschlossen und immer mehr Faces von dort tauchen in der Metawelt auf. Es wurden bereits mehrere tausend neue Globulen gegründet, allein in den letzten zweiundsiebzig Stunden.«

»So viel zum Thema Frieden und Wohlstand für alle«, murrte jemand links von June.

»Das ist besorgniserregend.« O’Hare klang ehrlich niedergeschlagen. June konnte es ihm nicht verübeln, sahen viele Anwesende die ehemalige Dritte Welt heute als so etwas wie ein archaisches Paradies, wo die Menschen ohne Hochtechnologie lebten und aufgrund ihrer Armut von den Fesseln der Implantate befreit geblieben waren. Die meisten sehnten sich in vertraulichen Gesprächen sogar danach, irgendwo in Afrika oder Südasien in einer Hütte zu leben und einfach nur ein Feld zu bestellen.

»Die dritte Sache ist aber noch besorgniserregender. Die Rückfallquoten haben im laufenden Jahr über zehn Prozent erreicht und die Zahlen steigen weiter«, fuhr Wilson fort und ein Raunen ging um den Tisch, das bei June nicht aufhörte. Im Gegenteil, sie atmete heftig aus und krallte ihre Finger so hart in den aus Pressspanplatten improvisierten Tisch, dass ihre Nägel schmerzten.

Rückfallquoten war ein beschönigendes Wort für Verräter, die ihre Implantate freiwillig wieder aktivierten, indem sie die Firewalls löschten und so die Kommunikation mit dem Datenkern wiederherstellten. Das bedeutete, dass die schwarzen Samurai Zugriff erhielten, die rund um die Uhr die Metawelt nach Widerständlern absuchten. June verachtete nicht einmal die Anderen so sehr wie diese Verräter. Sie zogen es vor, in der ihnen bekannten Unterdrückung zu leben, statt ein schwieriges Leben im Widerstand zu führen, das ihnen immerhin die Kontrolle über ihre Gedanken ließ. Offensichtlich war für Menschen nichts so schwer, wie ihre Gewohnheiten zu ändern. Eine Zwangsjacke war wenigstens warm und man konnte sich an das Gefühl gewöhnen, von ihr eingeschränkt zu werden. Nackt in den kalten Wald zu laufen auf der Suche nach Wärme war allerdings ein Gedanke, an den sich offenbar niemand gewöhnen wollte. Sie verachtete diese Faulheit gegenüber den Herausforderungen des Lebens zutiefst und empfand es als Schande, dass Menschen das Geschenk zurückwiesen, das ihr Vater, Steve Työpaikkaa den Menschen hinterlassen hatte, als er die Firewall geschaffen hatte, die das Signal zwischen Datenkern und Datenspeicher blockierte. Freiheit war nichts, was Menschen wirklich wollten, egal wie viel die Lieutenants darüber sinnierten und davon schwärmten. Sie wollten Sicherheit und Einfachheit, ein überschaubares System, in dem sie ihren niederen Bedürfnissen ungestört nachgehen konnten.

»Wie machen die das?«, fragte gerade jemand und ließ June aus ihren finsteren Grübeleien auftauchen.

»Ich meine, wie machen die das, im Ernst? Die kehren zurück in die Metawelt, schleichen sich davon, verraten womöglich noch andere und leben wie ein Schaf in einer Herde weiter, die von Wölfen zusammengehalten wird? Die können doch nicht alles vergessen und sich vormachen, sie wüssten nichts von den Wölfen?«

»Der Datenkern.« O’Hare tippte hinter die Schläfe, wo sein Implantat blinkte. »Er ist mit deinem gesamten Gehirn vernetzt und wenn du ihn bittest, dir Erinnerungen zu nehmen, wird er es tun. Das weißt du so gut wie ich.«

»Unwissenheit ist ein Segen«, seufzte jemand und fügte schnell hinzu: »Denken sie wahrscheinlich.«

»Damit haben sie auch recht«, schaltete sich June zum ersten Mal ein und gab sich keine Mühe, ihre Wut zu verbergen. »Ich würde auch viel dafür geben, alles zu vergessen und ein normales Leben leben zu können. Aber ich tue es nicht. Vielleicht bin ich zu wütend oder zu stolz, ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist eines: Jeder Verräter, der mir vor das Gewehr kommt, kann zur Hölle fahren und wird das auch tun.«

»Gefährlich ist, wenn meine Position verraten wird«, rezitierte sie grimmig die erste Regel ihres Vaters, die mittlerweile auf unzähligen Postern und Flugblättern im Widerstand zu lesen war.

Zustimmendes Gemurmel erhob sich und wieder waren da diese von Erwartungen und Hoffnungen überlaufenden Blicke der Erwachsenen, die auf ihr hafteten wie Harz, dem sie nicht entkommen konnte.

5. Janika

Erstes Gesetz: Das Gesetz der Logik. Die Logik innerhalb einer Globule ist bindend.

Aus: »Die Gesetze der Metawelt«

 

 

Janika ließ ihren Blick durch die staubige Halle schweifen und sog den faulig-modrigen Geruch ein. Dieser Ort fühlte sich düster an. Zwei große Tische, die wahrscheinlich einmal in der Mitte des Raumes gestanden hatten, lagen nun vollkommen zerstört an der rechten Wand, wo sie einige ramponierte Stühle und diverse Bücher unter sich begruben. Außerdem gab es noch einige zerschlissene Wälzer in einem Regal und einen Rollstuhl, der irgendwie fehl am Platz wirkte, umgeworfen in einer anderen Ecke des Raumes liegend.

Komisch, was macht ein Rollstuhl hier? Niemand braucht heutzutage mehr einen Rollstuhl, vor allem nicht in der Metawelt!

Irritiert schaute sie sich weiter um. Die Fenster an der gegenüberliegenden Seite ließen diffuses Licht herein, waren jedoch so milchig, dass sie nicht hindurchsehen konnte. In der Mitte des Raumes war der Boden aufgerissen und ein kleiner Krater zu sehen. Es wirkte, als hätte jemand eine Abrisskugel auf den Boden geschmettert, jedoch wies das Dach keinerlei Beschädigungen auf, sodass irgendetwas anderes mit großer Kraft aufgeschlagen sein musste. Da sich Janika mit den Realitätsparametern der Globule beschäftigt hatte, wusste sie, dass hier das System die normalen physikalischen Gesetzmäßigkeiten der alten Welt verwendete, sodass also entweder etwas extrem Schweres auf den Boden gekracht sein musste, oder aber jemand war in der Lage gewesen, die Limitierungen der Globule zu umgehen – beides waren keine angenehmen Gedanken. Und wo kam dieser faulige Geruch her? In dem Raum gab es nichts, das aussah, als ob es für diesen Geruch verantwortlich sein könnte.

Irgendetwas muss die Globule veranlasst haben, diesen Geruch entstehen zu lassen, und es muss ihrer Logik folgen, dass er noch immer im Raum wahrzunehmen ist, obwohl die ursprüngliche Quelle nicht mehr da ist. Oder ist die Quelle des Gestanks doch noch hier?

Janika machte sich ein weiteres Mal daran, den ganzen Raum zu durchsuchen, doch auch diesmal fand sie nichts.

Sie atmete ein paarmal tief ein und aus und fokussierte sich auf ihre Wahrnehmung. Sie wollte die Realitätsebene unter dem oben aufliegenden VAKOG-Layer, also der mit den Sinnen erfahrbaren Metawelt, betrachten. Die reinen Sinneseindrücke brachten sie offensichtlich nicht weiter. Was sie analysieren wollte, lag eine Ebene unter dem Sinnlichen. Sie wollte den Code-Layer betrachten, der die wesentlichen sinnlichen Wahrnehmungen erzeugte. Theoretisch gab es auch eine noch tiefere Ebene, den Logik-Layer, doch dessen Komplexität war der normalen menschlichen Wahrnehmung nicht mehr zugänglich. Im Grunde genommen hatten ihr Bruder, sie und die anderen Entwickler einen selbstlernenden und sich eigenständig weiterentwickelnden Logik-Layer kreiert, und schon wenige Stunden nach seiner Aktivierung hatte er sich durch die Interaktion mit den ersten Usern der Metawelt derart verändert, dass er kaum mehr nachzuvollziehen war. Dort herrschte der mächtige Algorithmus, das selbstlernende, künstliche neuronale Netz. Janika musste sich also mit der Verlagerung ihrer Wahrnehmung auf den Code-Layer zufriedengeben.

Nachdem ihr dies gelungen war, verschwand die reale Halle samt ihrem Inhalt und dem von außen kommenden Licht. Stattdessen erblickte sie den CLC der Globule, den Central Logic Core, der die logische Steuereinheit bildete. Von ihm gingen die unterschiedlichen Code-Elemente aus. Er sah aus wie eine undurchdringliche und vollkommen chaotisch wirkende Codewolke.

---ENDE DER LESEPROBE---