Das Signal 3 - Joshua Tree - E-Book

Das Signal 3 E-Book

Joshua Tree

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Beschreibung

Junes Mission war erfolgreich. Doch zu welchem Preis? Ein Jahr nachdem sie den Wurmlochgenerator in Frankreich zerstört und somit einer verbündeten KI den Weg zur Erde versperrt hat, lebt sie mit AcesAzrael in der Schweiz und kämpft an der Seite der letzten freien Menschen gegen das näher rückende Forum und seine unaufhaltsamen Truppen. Von Janika fehlt noch immer jede Spur, doch als die Schweizer kurz vor ihrer endgültigen Niederlage einen gefährlichen Plan schmieden, gibt es für June und Ace nur noch eine Hoffnung: Janika finden und das Geheimnis eines neuen, geheimnisvollen Ortes in der Metawelt lüften: Die Schwarze Festung ist ein Phänomen, in das man hineinfinden kann, aber nie wieder heraus. Sie ist der einzige Ausweg für die Zukunft der Menschheit und könnte gleichzeitig ihr Untergang sein.

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Das Signal 3

 

Joshua Tree und Philipp Tree

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Signal 3

 

 

Joshua Tree und Philipp Tree

 

 

Lektorat & Korrektorat: Gabriele Rögner

Cover: Elementi.Studio

 

Besonderer Dank: Viktoria M. Keller

 

1. Auflage, 2020

© Alle Rechte vorbehalten.

Joshua Tree Ltd.

Skoutari 25, App. 73

8560 Peyia

Zypern

 

[email protected]

www.weltenblume.de

[email protected]

www.philipptree.de

 

 

Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung Band 2 7

Kapitel 1: June 9

Kapitel 2: June 23

Kapitel 3: June 37

Kapitel 4: June 51

Kapitel 5: June 65

Kapitel 6: June 79

Kapitel 7: June 93

Kapitel 8: June 107

Kapitel 9: June 121

Kapitel 10: June 135

Kapitel 11: June 149

Kapitel 12: June 163

Kapitel 13: June 179

Kapitel 14: June 195

Kapitel 15: June 213

Kapitel 16: June 227

Kapitel 17: June 243

Kapitel 18: June 257

Kapitel 19: June 271

Kapitel 20: June 289

Kapitel 21: June 303

Kapitel 22: June 317

Kapitel 23: June 331

Kapitel 24: Janika 345

Kapitel 25: June 349

Kapitel 26: June 359

Kapitel 27: Janika 373

Kapitel 28: June 375

Kapitel 29: Epilog 387

Nachwort 395

 

Zusammenfassung Band 2

Steve Työpaikka wurde in der Metawelt von einem scheinbar übermächtigen Wesen ermordet. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem »Monster«, vor dem bald die gesamte Metawelt zittern sollte, um eine KI, die von außen in die virtuelle Umgebung gebracht worden war. Geschehen konnte das durch ein Mikrowurmloch, das mit Hilfe menschlicher Ingenieure in China gebaut worden war. Durch dieses Wurmloch sandten Außerirdische ein stetes Signal in die Metawelt und übernahmen an kritischen Stellen die Kontrolle oder zumindest weitgehenden Einfluss. Steve fand diese Wahrheit heraus und musste sterben. Vorher aber hatte er mehrere Face-Clones (Kopien) von sich angelegt und Janika einen Hinweis zukommen lassen. Während sie sich an die Brotkrumenspur in der Metawelt heftete und auf die Hilfe eines virtuellen Spielerteams um AcesAzrael zählen konnte, machte sich June in der realen Welt auf den Weg nach Frankreich. Der Widerstand hatte dank Janika herausgefunden, dass es dort einen zweiten Wurmlochgenerator geben musste, nachdem der chinesische Widerstand den dortigen zerstören konnte. June und ihrem Team gelang der Anschlag und sie überlebte als einzige. Kurz danach erhielt sie eine Nachricht von Janika, die die gesamte Wahrheit aufdecken konnte, welche Steve hinterlassen hatte: Eine Flotte der Außerirdischen war auf dem Weg zur Erde, um die zu kolonisieren. Die Menschheit sollte in ein virtuelles Reservat (die Metawelt) gesperrt und ihre Körper entfernt werden. Sie fand jedoch auch heraus, dass es bei den Aliens mindestens zwei Fraktionen geben musste, da ein neues Signal angekündigt worden war, mit dem eine weitere KI in die Metawelt geschleust werden sollte, um die Menschheit im Kampf gegen die Killer-KI zu unterstützen. June zerstörte jedoch planmäßig den Wurmlochgenerator, bevor die Unterstützung durch das Mikrowurmloch kommen konnte und erhielt Janikas Nachricht zu spät. Das Buch endete mit June, die im Exil in der Schweiz lebte, traumatisiert und in Therapie bei dem Psychiater Doktor Redsam.

Kapitel 1: June

Genf, 16.07.2040

 

June schreckte von ihrem Feldbett hoch und blinzelte mehrmals, um sich zu orientieren. Das dumpfe Kawumm der schweren Artillerie schwappte wie eine mächtige Welle über sie hinweg und hatte sie aus einem unruhigen Schlaf gerissen. Seufzend schob sie ihre Beine vom Bett und rieb mit beiden Händen durch das Gesicht. Sie war viel zu müde, um schon aufzustehen, doch wenn die Geschützstellungen oben auf dem La Dôle bereits schossen, musste es einen größeren Vorstoß der Forums-Truppen geben und an Schlaf war in dieser Nacht sicher nicht mehr zu denken. Ein Blick durch den Raum verriet ihr, dass ihre Mitstreiter wohl schon früher zur gleichen Überzeugung gelangt sein mussten, denn die anderen Feldbetten waren leer. Schnell zog sie Hose, Stiefel und Hemd an, um sich im Gefechtsstand nach der Lage zu erkunden. Ihr Blick verharrte kurz auf ihrem Spiegelbild, als sie sich in der kleinen Nische am Waschbecken säuberte. Was konkret machte sie hier? Sie wusste ganz genau, dass die Schweizer sie eh nicht kämpfen lassen würden und auch all die freundlichen Worte konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ihr nicht trauten – ihr nicht und Ace noch viel weniger. Zwar lobten sie sie und stellten sie als »Lady Fury« ins Zentrum ihrer Propaganda, doch unter dieser oberflächlichen Begeisterung lag kein echtes Interesse. Sie brauchten sie und die Geschichte von der erfolgreichen Vernichtung des Wurmlochgenerators, um etwas gegen die stetig sinkende Moral zu tun, doch das war es dann auch schon. Kurz meinte sie, in ihrem Spiegelbild wirklich die stilisierte Heldin zu sehen, die überall auf den Postern gezeigt wurde. Entsetzt und angewidert wandte sie ihren Blick ab – das war sie nicht, das wollte sie nie sein, und es hatte allen nur Tod und Verderben gebracht.

Mit Nachdruck zog sie ihren Gürtel stramm und prüfte den Sitz ihrer P99. Für einen winzigen Augenblick flackerten Erinnerungen in ihr auf, als ihre Finger die raue Oberfläche des Griffs berührten. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er ihr die Waffe erklärte, und spürte Wärme in sich aufsteigen, nur um im nächsten Moment ihre Hand zurückzuziehen, als plötzlich die Gesichter von Albert und Will vor ihr auftauchten, fast als würden sie streiten, wer von beiden als Stellvertreter für all jene Personen stehen durfte, die sie bei ihrem Kampf in den Tod geschickt hatte.

 

June verkrampfte sich kurz, als könnte sie die aufkommenden Selbstzweifel vertreiben und stürmte aus dem Raum.

 

Sie trat in den grauen Gang, der nichts anderes als ein mit Beton ausgekleideter Stollen war, von dem unregelmäßig Türen links und rechts abgingen. Die vereinzelten Deckenlampen kämpften einen steten Wettstreit gegen die Dunkelheit unter Tage, ohne sehr erfolgreich zu sein. June schaute kurz nach links, wo der Gang weiter in die Tiefe führte, und als sie niemanden erspähte, wandte sie sich nach rechts, Richtung Gefechtsstand. Sie verfiel in leichten Trab und ignorierte die wenigen Personen, denen sie begegnete, wobei die zumeist von ihr ebenfalls kaum Notiz nahmen und sehr in Eile waren. So genau June auch wusste, wie wichtig eine schnelles und effizientes Arbeiten in solchen Krisensituationen war – immerhin hatte sie sich beim Widerstand auch ständig über zu lange dauernde Prozeduren beschwert, so sehr verstärkte nun die Geschäftigkeit der anderen ihr Gefühl von Überflüssigkeit – Wasser auf die Mühlen ihrer Selbstzweifel. Es fühlte sich falsch an, dass alle außer ihr etwas zu tun hatten. Dabei wusste sie doch viel besser als die ganzen unerfahrenen Jungen und Mädchen, die man mittlerweile in die Armee eingezogen hatte, wie man gegen den Feind kämpfte.

 

Als sie vor dem massiven Sicherheitsschott des Gefechtsstandes angekommen war, salutierte der junge Wachhabende und ließ sie eintreten. Sie trat in eine Welt des geordneten Chaos und der konzentrierten Anspannung. In der Mitte des fensterlosen Raumes stand ein riesiger Tisch, dessen gesamte Fläche aus einem Display bestand, auf welchem eine hochauflösende Karte der Umgebung zu sehen war, zusammen mit unzähligen Informationen über Truppenbewegungen, Gefechte etc. June wusste, dass das System früher sehr viel leistungsfähiger gewesen war, doch aufgrund der massiven Skepsis, mit welcher die Schweizer seit Einführung der Implantate nun aller Computer-Technik gegenüberstanden, hatte das taktische Display immer nur die Informationen zur Verfügung, die manuell eingespielt wurden. Die direkten Satellitenverbindungen hatte man alle gekappt, aus Angst, dem Forum oder der KI ein Eintrittstor zu bieten. Tatsächlich glich es einem Wunder, dass das Display überhaupt noch mit einem Computer verbunden war, denn in den letzten zwei Jahren hatten die Erwachten, allen voran ihr Anführer Ruedi Geber, alles daran gesetzt, möglichst jede Form von Computer-Technik verschwinden zu lassen. Sie hatten auch ein komplettes Verbot von Computer-Technik in Privatbesitz durchgesetzt. June konnte über soviel Irrsinn nur den Kopf schütteln, während sie daran dachte, zu welch massiven Komplikationen dieses Verbot geführt hatte und noch immer führte. Nur gut, dass die Progressiven im Militär noch immer die Mehrheit stellten und damit zumindest den Totalverzicht in den Reihen des Militärs hatten abwenden können. Sie hatten zwar wenig Begeisterung für ihre grundlegenden Pläne wecken können – die gezielte Nutzung von Forums-Technik, doch ihre Argumentation bezüglich der zwingenden Notwendigkeit von Computern beim Militär war derart offensichtlich gewesen, dass die Regierung ihren Argumenten gefolgt war und sich gegen die Pläne der Erwachten gestellt hatte – etwas, was in letzter Zeit immer seltener vorkam, denn die Erwachten gewannen immer mehr Einfluss bei der Bevölkerung und damit auch in der Regierung. Auch wenn June den Erwachten nicht traute, musste sie gestehen, dass insbesondere ihr Anführer Ruedi Geber so charismatisch war, dass man ihm gerne zuhörte, und selbst sie sich manchmal erwischte, bei einigen seiner Punkte nur zustimmend nicken zu können, denn immerhin hatte sie all die Gräuel des Forums erlebt. Doch hinter all seinen Worten steckte immer reiner und purer Hass gegenüber allen Implantatträgern, egal ob sie befreite Kämpfer des Widerstandes waren oder Anhänger des Forums. Dieser Hass erstreckte sich auf alle Menschen, die nicht seiner zurück zu vortechnischen Zeiten Ideologie folgten. Sie konnte zwar nachvollziehen, dass man sich mit Haut und Haaren dem Kampf gegen das Forum verschrieb, doch genau da fing das Problem mit Geber und dessen Anhängern an – die meisten hatten nie wirklich gegen das Forum gekämpft, sondern nur gegen die Schweizer, die anderer Meinung waren als sie. Das verachtete June zutiefst, denn sie wusste, dass nur Taten zählten und Worte allein nichts wert waren.

Egal, mahnte sich June und ging auf den Tisch in der Mitte zu, an dem Brigadier Wyss und seine Hauptleute standen. Als June sich ihnen näherte, blickten alle kurz zu ihr, wandten sich aber gleich wieder der Karte zu. Nur Vreni, die als einziger weiblicher Hauptmann anwesend war, schenkte June die Andeutung eines Lächelns. Sie hatten einander in den letzten Wochen besser kennengelernt und June schätzte Vrenis freundliche, aber direkte Art und Weise Dinge anzusprechen.

Ohne auf eine Aufforderung oder Einladung zu warten, stellte sich June an den Tisch und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Es sah nicht gut aus, das zumindest erkannte sie sofort anhand der vielen roten und grauen Markierungen entlang der bisherigen Grenze. Rot zeigte immer die feindlichen Truppen und Grau stand für aufgegebene oder ausgelöschte eigene Stellungen. Wie es auf der Karte aussah, hatten die Forums-Truppen fast die Hälfte der Grenzposten eliminiert und waren sehr schnell in das Schweizer Territorium vorgedrungen. June legte die Stirn in Falten. Ein so vehementes und massives Vordringen sah ihnen gar nicht ähnlich. Was ist hier los?

»Wir müssen sie mit aller Macht zurückschlagen und dafür kommt nur ein verstärkter Einsatz der Artillerie in Frage!«, sagte Hauptmann Moser mit rauer Stimme und schlug mit der Faust auf den Tisch, was June aus ihren Gedanken riss. Irritiert blickte sie in das kantige und vernarbte Gesicht des älteren Mannes.

Ein Blick zurück auf die Karte ließ June sofort die wahrscheinlichen Konsequenzen seines Vorschlags erkennen und ihr gefror das Blut in den Adern.

Das kann er unmöglich ernst meinen, schoss ihr durch den Kopf.

»Moser, das ist das allerletzte, was ich autorisieren werde! Wir haben noch hunderte Leute dort unten, Zivilisten und Soldaten. Wenn wir nun die Artillerie einsetzen, richten wir ein Blutbad unter unseren eigenen Leuten an«, erwiderte Brigadier Wyss.

Seine Stimme war wie immer vollkommen eintönig und June vermochte auch an seiner Mimik nicht abzulesen, welche Emotionen den Mann gerade bewegten. In Junes Augen machte ihn das komischerweise noch unheimlicher als den kaltherzigen Moser, bei dem sie zumindest wusste, was von ihm zu erwarten war.

»Ich möchte andere Vorschläge hören«, sagte der Brigadier und blickte in die Runde seiner Untergebenen, die alle gebannt auf die Karte starrten, als ob es noch irgendetwas zu entdecken gäbe, was sie nicht schon gesehen hatten.

June räusperte sich und alle Blicke wandten sich ihr zu.

»Ja?« fragend blickte Wyss sie an.

»Was haben die Bodentruppen gemeldet? Wie sind die Forums-Truppen vorgedrungen?«, fragte June niemand bestimmten.

Sie zeigte auf zwei der roten Punkte, die am weitesten auf das Schweizer Territorium vorgedrungen waren. »Wie alt sind diese Informationen? Wie lange haben sie bis hier«, June tippte doppelt auf die Position des vordersten roten Punktes, »gebraucht?«

»Etwa dreißig Minuten haben die Truppen gebraucht und die Information erreichte uns vor circa acht Minuten. Genaueres wissen wir nicht, da diese Information von unserem verdeckten Observator im Pontet stammt, dessen Verbindung jedoch abgebrochen ist, sodass wir keine weiteren Details erfragen können«, antwortete Vreni sofort und blickte June mit leicht geneigtem Kopf an, während sie sich mit beiden Händen auf den Tisch stützte.

June überschlug in Gedanken kurz die Entfernung zwischen der Grenze und dem markierten Punkt. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Man würde die Stellungen auf dem La Dôle verlieren, sobald die Forums-Truppen sich aus dem Tal begeben würden. Wenn sie am Pontet bereits vorbei waren, würden sie bald nach Saint-Cergue vorstoßen und von dort mit den Verteidigern auf dem La Dôle kurzen Prozess machen. Das wäre ein so massiver Verlust, dass die Schweizer ihn wahrscheinlich nicht würden kompensieren können, so dass man früher oder später die gesamte Region bis Lausanne oder darüber hinaus verlieren würde. Das wiederum würde zweifelsfrei auch den Verlust dieser Basis bedeuten.

»Wir müssen sie unbedingt vor Saint-Cergue stoppen, wir dürfen sie nicht auf den Berg kommen lassen, sonst ist hier alles verloren!« platzte es aus June.

»Fräulein Fury ...« Hauptmann Mosers Stimme klang, als belehrte er ein Kind und June musste seine hochgezogene linke Augenbraue nicht sehen, um zu wissen, dass er sie geringschätzig betrachtete.

»... dieser Tatsache sind wir uns sehr wohl bewusst, nur fehlt es uns an den geeigneten Mitteln, es umzusetzen. Es sei denn,« nun wanderte sein Blick wieder zu Brigadier Wyss, »wir setzen die Artillerie ein und nehmen das Risiko in Kauf, dass wir eigene Leute treffen.« Dann schaute er erneut zu June und fixierte sie mit den Augen. »Wenn Sie also nichts Relevantes beizutragen haben, dann schlage ich vor, dass Sie sich eine sinnvolle Beschäftigung suchen.«

June biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich mit aller Macht, ihm keine ausfallende Antwort an den Kopf zu werfen. Gerade, als sie drohte an diesem Vorhaben zu scheitern, durchbrach eine zackige Stimme die Geräuschkulisse des Raumes.

»Brigadier Wyss, in den Technik-Zellen gab es einen Zwischenfall. Leutnant Senner bittet um Ihre Anwesenheit.« Die Augen des jungen Soldaten weiteten sich kurz, als sich die Blicke sämtlicher Offiziere ihm zuwandten.

»Was genau meinen Sie mit einem Zwischenfall, Soldat?«, hakte der Brigadier nach und June spürte, wie sich ihr Magen unwillkürlich zusammenzog.

Noch bevor der Soldat eine Antwort formulieren konnte, rannte June zur Tür und ignorierte die Rufe der aufgebrachten Wachposten dort, als sie an ihnen vorbeistürmte. Ace war in den Technik-Zellen!

 

Schon beim Anblick der offenen Stahltür im Eingangsbereich war June klar, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Diese massive Sicherheitstür war der äußere Teil einer Schleuse und normalerweise so schwer bewacht, dass sie niemals offen stand. In all ihrer Paranoia hatten die Schweizer ein absolut abgeschottetes System entwickelt, um auf jeden Fall sicherzustellen, dass niemand mit einem Implantat diesen Bereich verlassen und auch niemand ohne die entsprechende Erlaubnis diesen Trakt betreten konnte. Und jetzt stand die Tür offen?

Ohne ihren Lauf zu verlangsamen, rannte sie durch.

»Ace? Ace wo bist du?«

Wie zur Antwort trat eine Soldatin durch die Tür am Ende des Ganges und streckte ihr beide Hände entgegen.

»Halt, Sie dürfen hier nicht herein! Ich habe ausdrücklichen Befehl, niemanden herein zu lassen!«

June hielt vor der jungen Frau an und versuchte, an ihr vorbei einen Blick in den Raum zu erhaschen, doch die Soldatin hatte sich so weit in den Flur gestellt, dass sie nichts erkennen konnte.

»Ich muss da hinein und nach meinem Freund schauen! Was ist hier los? Warum soll der Brigadier kommen?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, schob sie sich an der Soldatin vorbei und wehrte deren Versuch, sie festzuhalten, mühelos ab.

Kaum war sie an ihr vorbei und durch die Tür getreten, blieb sie sofort wieder stehen. Der Kloß der Ungewissheit, der sich in den letzten Minuten hartnäckig in ihrem Bauch verankert hatte, wuchs plötzlich zu kalter Gewissheit an und schnürte ihr die Kehle zu.

Die drei Sicherheitskammern an der Rückseite des Raumes waren geöffnet und leer. Vor einer Kammer lag ein Mann auf dem Boden und war von einigen Sanitätssoldaten umgeben, die mit vollem Einsatz eine Wiederbelebung durchführten. Ein anderer Mann lag auf dem Bauch, die Hände auf den Rücken gefesselt und zwei Soldaten, die ihn unten hielten, standen über ihm. »Ace!«, entfuhr es June und sie stürzte auf ihn zu. »Was ist hier los? Warum halten Sie ihn gefangen?«, schrie sie die beiden Soldaten an.

»June«, erklang Aces Stimme gepresst und sichtlich angestrengt, doch dann drückte einer der Soldaten das Knie so heftig in seinen Rücken, dass jedes weitere Wort in Husten und Röcheln unterging.

»Weil ich das befohlen habe«, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr und June drehte sich reflexhaft um. Dort stand Leutnant Senner und blickte sie ausdruckslos an, doch June entging nicht, dass seine rechte Hand auf dem Griff seiner Pistole am Gürtel ruhte. »Ihr Freund hat versucht, den Gefreiten Walter umzubringen« nach einem kurzen Blick nach links, zu der Gruppe der Sanitätssoldaten, fügte er noch hinzu: »und es wahrscheinlich auch geschafft.«

»Das würde er nie tun«, erwiderte June sofort und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Und falls doch, wird er einen sehr guten Grund gehabt haben.«

»Das ist mir vollkommen egal! Ihr Freund stellt ein Sicherheitsrisiko dar. Entweder hat er sich entschieden, den Gefreiten umzubringen, oder er wurde von der KI übernommen und diese hat seine Handlung gelenkt – in beiden Fällen muss ich ihn festsetzen und als potentielle Gefahr einstufen!«

»Aber ...«

»Sperrt ihn in die Sicherheitskammer und trennt das Antennenmodul ab!«, befahl der Leutnant den beiden Soldaten, die Ace festhielten, und ignorierte Junes Einwände.

Fassungslos beobachtete June, wie ihr einziger Freund aus der Zeit des Widerstandes in die monströse Kammer geschliffen und auf der dort befindlichen Liege festgebunden wurde. Bevor die Tür sich schloss, hob Ace den Blick und fixierte June.

»Verschwinde« formte er lautlos mit den Lippen und starrte sie so intensiv an, als wollte er sie mit all seiner Willenskraft aus dem Raum drängen. Dann schloss sich die Tür und surrend fuhren die Riegel in Position.

Nun gab es für Ace keine Möglichkeit mehr, mit der Außenwelt zu kommunizieren, es sei denn, jemand würde von außen das Interkom der Kammer aktivieren. Die Schweizer hatten diese Sicherheitskammern entwickelt, damit die wenigen Implantatträger der Armee sich in das Signal der Metawelt einloggen konnten, obwohl sie sich in den gegen jede Form von Signalwellen abgeschirmten Technik-Zellen befanden. Nur durch die angeschlossenen Antennen konnten Signale mit der Außenwelt ausgetauscht werden und diese Signale leitete man über so viele Relais, dass man hoffte, eine Verfolgung zur Basis wäre nicht möglich. June wusste nicht, ob das stimmte, aber sie hatte beim Widerstand mit eigenen Augen gesehen, was passieren konnte, wenn Implantatträger zu Verrätern oder von der KI übernommen wurden. Daher konnte sie die grundsätzliche Skepsis der Schweizer durchaus nachvollziehen und doch waren diese Maßnahmen wirklich massiv. Sie hatte Ace immer bewundert, dass er diese ganzen Einschränkungen mit den Technik-Zellen und den Sicherheitskammern so klaglos mitgemacht hatte. Umso mehr ärgerte es sie nun, dass man ihn so schlecht behandelte.

»Achtung!«, ertönte es von der Tür und alle anwesenden Soldaten nahmen Haltung an, während Brigadier Wyss und mit ihm Hauptmann Brunner und Hauptmann Moser in den Raum eilten.

»Leutnant Senner, was ist so wichtig, dass Sie mich hierher bitten?« Wyss‘ monotone Stimme ließ nichts erkennen, doch als sein Blick auf den am Boden liegenden Gefreiten und die Reanimationsbemühungen fiel, zog er kurz die Augenbrauen zusammen.

»Brigadier, ich bitte vielmals um Entschuldigung, doch die Situation erscheint mir sehr dringend. Der Amerikaner hat versucht, den Gefreiten Walter umzubringen, und schrie, dass die KI den übernommen hätte. Außerdem seien die Forums-Truppen auf dem Weg hierher und wir müssten sofort die Basis evakuieren. Ich kann keine seiner Aussagen verifizieren und dachte, dass Sie sich vielleicht selbst ein Bild machen wollten.«

Wyss nickte nur und schritt auf die Sanitätssoldaten zu, die noch immer mit der Reanimation beschäftigt waren. »Wird er überleben?«

»Es sieht nicht gut aus, Brigadier«, antwortete die Soldatin, die den Gefreiten mit einem Beutel beatmete, ohne zu jenem aufzublicken.

»Sie versuchen nun schon seit über zehn Minuten, den Gefreiten Walter zu reanimieren«, ergänzte Leutnant Senner, der hinter den Brigadier getreten war. Dieser nickte nur still, drehte sich leicht nach rechts und zeigte auf die einzige geschlossene Sicherheitskammer.

»Ich nehme an, Sie haben den Amerikaner dort einsperrt?«

»Jawohl, Brigadier«, erklang sofort die Antwort des Leutnants hinter ihm. »Dort erscheint er mir am sichersten untergebracht, da er keinerlei Signal senden oder empfangen kann. Mit Verlaub, Brigadier, ich würde dringend empfehlen, den Amerikaner dort auch nicht herauszulassen, bis wir ganz genau wissen, was geschehen ist.«

Der alte Brigadier nickte zur Bestätigung und blickte June an. »Lady Fury, können Sie vielleicht etwas Licht ins Dunkel bringen? Warum sollte Ihr Freund so etwas tun und wie können wir herausfinden, ob er von der KI übernommen wurde oder nicht?«

»Brigadier, Sie wissen genauso gut wie ich, dass es keinen sicheren Weg gibt, um das zu ermitteln, doch ich kann Ihnen versichern, dass Ace eher gestorben wäre als sich von der KI übernehmen zu lassen. Und wenn er eine Warnung für uns hat, dann sollten wir uns diese anhören und sie sehr ernst nehmen!«.

Noch bevor der Brigadier antworten konnte, erschütterten ein mächtiger Knall und ein starkes Beben die ganze Anlage, sodass alle im Raum Schwierigkeiten hatten, stehen zu bleiben. Kleine Steine rieselten von der Decke und Sirenen jaulten auf.

»Wir werden angegriffen!« Sprach June ihren ersten Gedanken laut aus.

 

 

Kapitel 2: June

Genf, 16.07.2040

 

June wischte den Schweiß vom Gesicht und atmete dreimal tief ein und aus, um sich wieder zu sammeln.

»Haben wir alle rausgeholt?«

»Wen wir jetzt nicht rausgeholt haben, werden wir wohl auch nicht mehr rausholen. Alle, die in den Ebenen sechs und tiefer waren, müssen versuchen, sich zu den Notschächten und geheimen Ausgängen im Tal durchzuschlagen, da kommen wir von hier oben nicht hin. Die ganze Ebene fünf ist komplett eingestürzt und hat alle Gänge unter sich begraben.« Die Stimme von Hauptmann Vreni Brunner klang in Junes Ohren hohl und weit entfernt, als sei sie gar nicht ganz anwesend.

»Dann lass uns verschwinden, wir können nicht bleiben und je schneller wir von hier verschwinden umso besser! Die Geschützstellungen auf dem La Dôle feuern schon seit einigen Minuten nicht mehr. Entweder haben sie keine Munition mehr oder sie wurden ausgeschaltet, beides ist schlecht für uns und erhöht die Chancen, dass die Forums-Truppen bald hier sein werden. Du hast nun das Kommando und musst den Rückzug anordnen, Vreni!« June versuchte, sowohl Zuneigung als auch Nachdruck in ihre Stimme zu legen, doch selbst in ihren Ohren klangen ihre Worte eher erschöpft und hohl.

Neben ihr klopfte Vreni den Staub von ihrer Uniform, setzte den Gefechtshelm auf und drückte den Rücken durch.

»AUFBRUCH IN DREI MINUTEN!«, brüllte sie und ließ ihren Blick über die versprengten Ansammlungen von Soldaten schweifen, die sich rund um den im Wald versteckten Notausgang geschart hatten. »Ich möchte, dass alles Material auf die Duros verladen wird. Waffen und Munition haben Vorrang. Nur die Verletzten fahren mit, der Rest marschiert. AUF GEHT‘S!« Dann nickte sie June zu und verschwand im aufkommenden Tumult. Brüllend gab sie weitere Befehle.

June schnappte ihren Rucksack, prüfte die Munitionstaschen an ihrer Gefechtskoppel und schulterte ihr Sturmgewehr. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse und ließ ihren Blick über das gesamte Umfeld schweifen. Alle Schweizer um sie waren beschäftigt, die Transporter zu beladen und schenkten ihr keinerlei Aufmerksamkeit. Sie schlüpfte durch den Notausgang und stand wieder in dem breiten Fluchttunnel, durch den sie in den letzten Minuten so viele Menschen und Material wie möglich aus dem Berg gerettet hatten. Schnell schritt sie auf die erste Tür in der Wand zu, über der noch schwach der Schriftzug Wachstube zu erkennen war und betrat den kleinen Raum in dem außer einem Schreibtisch und einem kleinen Schrank nichts stand.

»Ace?«, flüsterte sie.

»June? Hol mich hier raus! Ich scheiß auf die Schweizer, aber ich bin keine Minute länger bereit, mich vor diesen Idioten zu verstecken, wenn das bedeutet, dass ich in irgendwelchen kleinen und engen Räumen eingesperrt bin!«, erklang ein wenig blechern Aces Stimme hinter dem Lüftungsgitter an der rechten Wand.

»Nöle nicht rum«, herrsche June ihn an. Doch dann erinnerte sie sich an die Worte von Doktor Retsam: »Sie brauchen Freunde, June! Also seien Sie freundlich! Sie kämpfen gegen Maschinen, also brauchen Sie ein Herz, damit Sie sich von ihnen unterscheiden.« Kurz zuckte sie zusammen. Zwar konnte sie Schwäche noch immer nicht ausstehen, aber sie hatte in den letzten zwei Jahren erkannt, dass Doktor Retsam recht hatte, und Ace war der einzige Mensch, der ihr wirklich als Freund geblieben war. Wenn sie es auch sonst gegenüber niemandem schaffen sollte – ihm gegenüber musste sie Herz haben.

»Die Luft ist rein. Du kannst rauskommen«, fügte sie mit deutlich weicherer Stimme zu. Sie griff nach dem Lüftungsgitter und zog es von dem Schachtende. Dahinter blickte sie in Aces angespanntes Gesicht, der mit angelegten Armen im Schacht steckte und diesen vollständig ausfüllte.

»Du musst mich herausziehen. Ich kann mich nur mit den Füßen nach vorne schieben und das bringt nicht viel«, knurrte er und blickte June erwartungsvoll an.

June packte seine Jacke an beiden Schultern, stemmte sich gegen die Wand und zog ihn nach vorne, bis er aus dem Schacht plumpste. »Autsch, das war ziemlich würdelos«, quittierte Ace seinen kleinen Sturz und rappelte sich auf.

»Zieh das hier an«, sagte June und reichte ihm die Kampfmontur, die sie aus ihrem Rucksack gezogen hatte. Ace ergriff danach und wechselte schnell die Kleidung.

Anschließend griff June nach der Tarnschminke und einem Schal, womit sie insbesondere das Implantat abdeckte.

»Okay, das wird einer Kontrolle nicht standhalten, aber im Moment sind alle so sehr mit der Flucht beschäftigt, dass es reichen wird, um eiligen Blicken zu entgehen. Jetzt schnell raus und schnapp dir dort die Ausrüstung, die ich für dich deponiert habe. Ich hoffe, du weißt noch, wie man mit einer echten Waffe umgeht.«

»Hör mal, June, ich bin Amerikaner, natürlich weiß ich, wie man mit einer Waffe umgeht«, antwortete Ace mit einem schrägen Lächeln, welches durch die Tarnschminke in seinem Gesicht irgendwie grotesk wirkte.

»Auf geht‘s!« erwiderte June.

Sie schultere ihren Rucksack, nahm das Sturmgewehr und eilte aus der Wachstube und durch den Notausgang. Die geländegängigen Transporter der Schweizer schienen fast vollständig beladen und June sah, wie Hauptmann Vreni bereits die ersten Soldaten losschickte, um die Vorhut zu bilden.

June gab Ace ein Zeichen, sich im Notausgang zu verstecken und eilte auf Vreni zu.

 

»Vreni, ich kann euren Rückzug decken. Ich habe Erfahrung, mich alleine durchzuschlagen, und weiß, wie man den Forums-Truppen entgehen kann.«

»Das ist eine scheiß Idee, June. Wenn du alleine den Rückzug deckst, wirst du das wahrscheinlich nicht überleben und außerdem brauche ich ein paar mehr Augen und Ohren in unserem Rücken als nur deine«, erwiderte Vreni direkt und ohne zu zögern.

June hielt einen Seufzer zurück und drückte stattdessen die Schultern durch. »Dann teile mich wenigstens der Nachhut zu, damit ich diese unterstützen kann.«

»Okay, Leutnant Hügli führt die Nachhut an und dort kannst du mitlaufen. Er steht da drüben und brieft seine Leute«, sagte Vreni und zeigt auf eine kleine Gruppe Soldaten, die um einen jungen Leutnant , der gerade eine Ansprache zu halten schien, standen oder hockten.

June nickte und wandte sich bereits zum Gehen, um kurz innezuhalten.

»Pass auf dich auf, Vreni. Ich weiß nicht, was genau schiefgelaufen ist, aber es ist sicherlich noch nicht vorbei.«

»Pass du auch auf dich auf, Lady Fury«, sagte Vreni und salutierte zum Abschied, bevor sie sich wegdrehte und die ganze Truppe abkommandierte. »ABMARSCH! Wir verlegen uns zurück zum Graben!«

 

June ging zu Leutnant Hügli und meldete sich bei ihm als Unterstützung an. Sie kannte den jungen Leutnant nicht, aber er erkannte sie sofort und nickte ihr begeistert zu. Mit einiger Anstrengung unterband June eine Belehrung des jungen Soldaten, dass sie nicht die unsterbliche Amazone war, als welche die Schweizer Propaganda sie dargestellt hatte. Vielleicht würde sich diese überzogene Bewunderung noch als nützlich herausstellen.

Sie bot an, die linke hintere Flanke zu übernehmen, und teilte dem jungen Offizier mit, dass sie noch einen Soldaten dabei haben würde, der ihr von Hauptmann Brunner unterstellt worden sei, um ihre Ausrüstung zu transportieren. Damit würde sie Aces Anwesenheit für die nächsten Stunden erklären können. Wie es in der nächsten Basis, dem Graben, mit Ace weitergehen würde, würde sie dann entscheiden. Im Moment musste es reichen.

Leutnant Hügli hatte weder Einwände noch Fragen und so begab sich June zurück zu Ace und sie starteten den Marsch.

 

»So wie es aussieht, werden wir hier eine Weile ausharren müssen.« June lehnte sich an einen Felsbrocken und rutschte langsam zu Boden, um sich zu setzen.

»Wird auch Zeit«, schnaubte Ace, der schwer atmend neben ihr stand und seinen Rucksack auf den Boden warf, bevor er sich ebenfalls setzte. »Da lobe ich mir doch die Metawelt, da friert man nicht, läuft sich keine Blasen und schwitzt nicht. Außerdem kann man sich in Gedankenschnelle fortbewegen und muss nicht im Schneckentempo marschieren.«

»Willkommen im echten Leben, Bytehead«, kommentierte June trocken und reichte ihm ihre Feldflasche.

»Hm, fühlt sich nicht wirklich willkommen an, aber was soll es, machen wir das Beste daraus, immerhin hat bisher noch niemand versucht, uns umzubringen, damit ist das echte Leben gerade deutlich besser als das Leben in der Metawelt.«

»Apropos Metawelt«, hakte June nach und schaute sich ein letztes Mal um, damit ihnen auch sicher niemand zuhörte.

»Was war heute Morgen los? Warum hast du versucht, den Schweizer Bytehead um die Ecke zu bringen?«

Auch Ace blickte sich um, bevor er zögernd zu berichten begann: »Er hieß Jerome. Wir waren zusammen in der Metawelt und haben versucht, die Pläne der Forums-Truppen abzufangen, dabei müssen wir einen stillen Alarm getriggert haben, denn plötzlich brach die Hölle über uns ein! Die KI hat uns entdeckt und richtig hart zugesetzt. Jerome hat noch während unserer Flucht ein Datenpaket kopiert, das alle aktuellen Truppenbewegungen zu enthalten schien, doch er war zu übermütig und entpackte es während der Flucht, damit die Infos auf jeden Fall durchkommen würden, auch wenn die KI uns erwischen sollte. Dabei hat er wohl den Code nicht genau genug analysiert, denn als er die Daten entpackte, wurde er direkt von der KI übernommen. Die muss einen Backdoor-Code in dem Datenpaket versteckt gehabt haben. Dann ging alles sehr schnell, Jerome, also die KI in Jerome, loggte sich sofort aus und funkte die Koordinaten unserer Basis an die Forums-Truppen. Das musste ich unterbinden und der einzige Weg war sein Tod. Es gibt keine Heilung, wenn du erst einmal von der KI besessen bist, das wissen alle! Das weißt auch du.« Er blickte June in die Augen und suchte offensichtlich nach einer Bestätigung für sein Verhalten.

June nickte lediglich zustimmend und signalisierte ihm, weiter zu erzählen. Ace seufzte. »Ich wollte ihn nicht töten, ich mochte ihn gerne, er war ein wirklich feiner Kerl, aber dann war er nicht mehr er, sie hatte ihn bereits getötet, nur sein Köper war noch da. Also habe ich getan, was getan werden musste, bevor die KI noch Schlimmeres anrichten konnte. Es hätte schließlich keinen Weg gegeben, um den Schweizern zu beweisen, dass er die KI war und nicht ich.«

June nickte lediglich und ließ ihren Blick über das kleine Tal schweifen, das sie gerade durchquert hatten.

»Aber genug davon, June, ich habe etwas viel Wichtigeres mitzuteilen, ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, wie wir das Forum stoppen können!«, er blickte sie an und seine Augen schienen zu strahlen, als er das sagte.

»Welchen?«, fragte June und ärgerte sich über sich, dass es ihr nicht gelungen war, die Skepsis aus ihrer Stimme zu halten.

»Nun ja«, antwortete Ace und sackte etwas in sich zusammen. »Wie du vielleicht weißt, senden die Implantate alle eine Face, also eine individuelle ID wenn man so will, und diese wird dauerhaft und immer wieder über die Metawelt abgeglichen. Klar soweit?«

June nickte lediglich zur Antwort.

»Dabei kann es in seltenen Fällen zu Übertragungsfehlern kommen und dann wird ein Abgleich mit der zentralen Forums-Globule vorgenommen und quasi eine intensivere Überprüfung durchgeführt. Bei dieser werden auch die zentralen Prozesse des Datenkerns abgefragt, weshalb bei uns Befreiten eine solche Überprüfung immer zu einem Fehler und quasi zwangsläufig zur Enttarnung führt, da das ...«

»Ace, komm auf den Punkt«, unterbrach June ihn. »Ich war noch nie in der Metawelt und habe von dem ganzen Scheiß keinen Plan. Gib mir die Kurzform in zwei Sätzen bitte.«

Ace nickte, schluckte kurz und startete erneut: »Okay, okay, also kurz gesagt glaube ich, dass es eine Möglichkeit gibt, alle Implantate zu überprüfen und ihnen einen neuen Code, also unseren Befreiungscode zuzuspielen.«

»Du glaubst es oder du weißt es?«

»Ich bin sehr sicher.«

»Warum sind mein Vater oder Janika noch nicht darauf gekommen? Die waren doch echte Profis auf dem Gebiet.«

»Nun ja, ich bin ziemlich sicher, dass sie die Idee mit einem Virus auch schon hatten, doch diese Korrekturfunktion gibt es erst seit ein paar Monaten, seitdem das Forum die Sicherheitsmaßnahmen drastisch erhöht hatte. Außerdem ist es ein verdammt heikles Unterfangen und da setzen unsere Probleme mit dem Plan ein – entweder wir heben eine Armee von Widerstands-Byteheads aus oder wir brauchen deinen Vater oder Janika oder am besten beide.«

»Aber mein Vater ist tot«, June musste unwillkürlich schlucken, als sie diese bittere Wahrheit aussprach »und Janika ist in der Metawelt verschwunden oder auch tot, wenn ich dich richtig verstanden habe. Das klingt nicht, als ob wir auf ihre Hilfe bauen könnten. Und die Schweizer? Die werden einen Teufel tun und mehr Byteheads einsetzen. Wenn Geber und seine Erwachten weiter an Macht gewinnen, werden sie eher alle Byteheads hinrichten, als einen Plan unterstützen, der irgendeine Technik oberhalb eines Hammers benötigt!«

Ace schüttelte zunehmend vehementer den Kopf, während June sprach.

»Schon klar, June, dass wir von Geber und den anderen Trotteln nichts erwarten können, aber in puncto Janika irrst du dich. Ich habe viel recherchiert und glaube nicht, dass man in der Metawelt wirklich sterben kann, wenn man erst einmal sein Bewusstsein dorthin transferiert hat. Dann ist alles Code und der verschwindet nicht einfach so. Als Janika verloren ging, hat niemand ihren Code aktiv gelöscht, sondern sie hat sich, also ihren Code, aufgespalten. Wenn es uns gelingen sollte, diese aufgespalteten Teile zu finden, können wir sie zurückbringen!« Er strahlte sie an und wirkte auf June wie ein kleiner Junge, der sich über seine bahnbrechende Erkenntnis freute.

»Und du weißt, wie das geht?«, frage June und konnte die Skepsis nicht aus ihrer Stimme verdrängen. »Wie willst du diese Teile von Janika finden?«

Aces Strahlen erlosch so schnell, wie es gekommen war. »Nun ja, das ist leider ein Problem, an dem ich noch arbeite. Ich habe eine gewisse Spur: Janika muss ihren Code-Teilen ja irgendeine Richtung gegeben haben, am wahrscheinlichsten zu Globulen, die ihr irgendwie vertraut waren. Doch das hilft mir leider nur bedingt weiter, da ich zum einen nicht alle Globulen kenne, in denen sie gewesen ist, und zum anderen habe ich keinen konkreten Anhalt, wie ich ihren Code dort entdecken sollte. Ich kenne aber jemanden, der es wissen könnte.« Ace unterbrach seine Schilderung und wirkte nun etwas angespannt. »Und, wer ist es?«, stellte June die offensichtliche Frage.

»Nun ja, ein Face-Clone deines Vaters.«

June musste schlucken. »Was soll das sein? Ein Face-Clone meines Vaters?«

»Eine Art Kopie des Bewusstseins deines Vaters zu einem Zeitpunkt X.«

Unwillkürlich zog June eine Augenbraue hoch und fixierte Aces Blick. »Eine Kopie meines Vaters? Wie kann es eine Kopie meines Vaters geben? Woher weißt du, dass es nicht mein echter Vater ist?«

»Weil das Face-Clone es weiß und mir gesagt hat. Und eine solche Kopie kann es von jedem versierten Face in der Metawelt geben, doch wenn man sein Bewusstsein vollständig in die Metawelt transferiert hat, wie es dein Vater getan hat, dann geht das sogar noch viel einfacher und vor allem sehr viel vollständiger. Zumindest theoretisch, denn soviel ich weiß, haben bisher nur zwei Menschen jemals ihr Bewusstsein vollständig in die Metawelt übertragen: dein Vater und Janika. Aber zurück zu deiner Frage: Es gibt kaum einen Unterschied zwischen dem Face-Clone und dem echten Bewusstsein, außer den Einschränkungen, die der Schöpfer seiner Kopie mit auf den Weg gibt.«

Ace schwieg und auch June sagte eine Weile nichts, denn diese Informationen musste sie erst einmal sacken lassen. Es gibt in der Metawelt ein Ding, das quasi eine Kopie des Bewusstseins meines Vaters ist – kann ich dort all die Fragen stellen, die ich ihm noch hatte stellen wollen, ihm aber nicht mehr stellen konnte? Sie unterdrückte die aufkommenden Tränen und schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen, June, konzentriere dich auf die echte Welt und halte deinen Kopf klar! Ehre ihn, indem du seine Lektionen umsetzt und nicht irgendwelchen Hirngespinsten nacheilst, instruierte sie sich und stand auf.

»Dann benutze diese Kopie meines Vaters und setze den Plan um, Ace, ich kann dir nicht helfen.« June wollte gerade losgehen und Leutnant Hügli suchen, um zu klären, wann es weiter ginge, doch Aces Räuspern ließ sie innehalten.

»Da liegt das Problem, June. Der Face-Clone traut mir nicht. Es ist nur bereit, mit Janika zu kommunizieren oder mit dir. Beides kann ich nicht realisieren.«

»Kannst du ihm nicht eine Nachricht von mir übermitteln? Irgendetwas, das ihm klarmacht, dass du mit mir in Verbindung stehst? Versuche es, Ace, und dann schauen wir weiter. Jetzt komm hoch. Leutnant Hügli hat zum Aufbruch gewunken.«

June nahm ihr Sturmgewehr in Anschlag und ging los, ohne auf Ace zu warten. Sie brauchte einen Moment für sich, denn in ihr regte sich etwas, was dort gar nicht sein sollte. Ein kleiner Störenfried, der immer wieder die gleiche Frage stellte: Hätte ich meinen Vater retten können, wenn ich ein Implantat gehabt hätte? Und nun kam noch eine viel schlimmere Frage hinzu: Könnte ich meinen Vater wiedersehen, wenn ich ein Implantat hätte? Clone hin oder her, es war das Bewusstsein ihres Vaters.

Das darfst du gar nicht erst denken! Du bist Lady Fury, du bist frei geboren und wirst frei sterben! Allein der Gedanke an das Implantat entehrt alles, wofür dein Vater gekämpft hat – hielt eine andere Stimme in ihr dagegen.

 

»Ace, warte, ich suche ein Versteck in der Basis, aber das kann eine Weile dauern, also bleib hier und verhalte dich so unauffällig wie möglich, okay? Geh nicht in die Metawelt, sonst stolpert noch jemand über dich, ohne dass du es merkst.«

Ace hob nur anklagend eine Augenbraue und starrte sie an. Die letzten vier Stunden Marsch bis zur Basis Graben hatten ihn sichtlich alle Kraft gekostet, sodass June davon ausging, er würde eher einschlafen als in die Metawelt zu wechseln, aber sie wollte auf Nummer sicher gehen.

Sie holte ein Tarnnetz aus ihrem Rucksack und zeigte auf die kleine Höhle, die sich im bewaldeten Hang oberhalb des Eingangs zum Graben befand. »Dort bist du erst einmal sicher. Warte hier, bis ich zurück bin, okay?«

»Geht klar, ich mache es mir als Caveman gemütlich, während Lady Fury das Schloss bezieht«, merkte er lakonisch an und kroch durch den schmalen Höhleneingang.

June wusste sofort, dass das nicht lange gutgehen würde, sie müsste sich irgendetwas einfallen lassen, damit Ace sich wieder halbwegs frei bewegen konnte. Schon die Zeit in den Technik-Zellen war für ihn hart gewesen, doch zum Nichtstun verdammt zu sein, würde er nicht lange aushalten.

Gründlich tarnte sie den Eingang zur Höhle und prägte sich die Umgebung gut ein, damit sie ihn wiederfand. Dann ging sie in einem weiten Bogen auf den Zutritt des Grabens zu und beobachtete genau die Stellungen der Wachtposten, die im Bogen um den Eingang in ihren Stellungen lagen. Da die Schweizer keiner Technik mehr trauten, setzten sie neben einigen festverdrahteten Kameras und Infrarotsensoren vor allem auf Wachposten, die das gesamte Areal in Auge behielten. Diese erkannten June jedoch und bereiteten ihr keinerlei Schwierigkeiten.

Am sehr unscheinbaren Eingang der Basis standen keine Wachen. Hier blockierte zunächst ein massives Stahltor den Zutritt. June klopfte.

„Sonnenlicht“, rief sie die Parole und langsam kroch das Stahltor zur Seite.

Nun dann, wollen wir mal eine Unterkunft für mich und eine Bleibe für Ace finden ...

Kapitel 3: June

Der Graben, 18.07.2040

 

Schnell schob June die Luke im Boden zu und blickte sich in dem kleinen Wartungsgang um – es war noch immer niemand zu sehen. Gut, dass die Einheit hier so schlecht besetzt war, dass sie einen großen Teil der Einrichtung gar nicht benutzten. Wäre der ganze Graben vollständig besetzt gewesen, hätte sie Ace wahrscheinlich nicht verstecken können, doch jetzt hatte sie ihn in einer verlassenen Kammer in dem nie vollkommen fertiggestellten unteren Stockwerk unterbringen können. Von dort konnte er sogar seine Arbeit in der Metawelt fortsetzen, auch wenn June das noch immer für ein unnötiges Sicherheitsrisiko hielt, hatte Ace wahrscheinlich recht, wenn er sagte, dass heutzutage jeder ein Risiko tragen musste, wenn sie nicht sofort kapitulieren wollten.

 

Langsam schlich June zur Schleusentür, die den Wartungsgang vom Korridor trennte, und lauschte angestrengt, ob auf der anderen Seite jemand war. Nachdem sie sicher war, nichts zu hören, öffnete sie vorsichtig die Tür und spähte in den tristen, grauen Korridor, der von einigen LED-Streifen notdürftig beleuchtet wurde. Wie überall war auch hier Strom kostbar und selbst die sparsamen LEDs wurden nur eingeschränkt benutzt. June schob sich durch den schmalen Spalt der Tür und schloss diese lautlos hinter sich. Kurz streckte sie ihre Glieder und schlenderte in Richtung der Kantine. Das Knurren ihres Magens war mittlerweile von unangenehm laut zu bestialisch angewachsen, womit ihr Hunger hoffentlich groß genug war, um die Militärverpflegung essen zu können.

 

In der Kantine angekommen entdeckte June Hauptmann Vreni an einem der langen Tische. Sie saß über ihr Tablett gebeugt und starrte in den Eintopf, als müsste sie ihm ein Geheimnis entlocken.

Wahrscheinlich muss sie die Frage klären, ob es wirklich Essen ist oder doch nur warmer Abfall,dachte June und ein kurzer Blick auf die braune, dampfende Masse in ihrer Schüssel ließ sie ebenfalls an der Genießbarkeit zweifeln. Wahrscheinlich spiegelte die Qualität des Essens eins zu eins die Moral der Truppe wieder, denn die befand sich seit dem Verlust des vorgezogenen Hauptquartiers auf einem so dramatischen Tiefpunkt, dass June sich immer wieder wunderte, dass bisher so wenige Schweizer desertiert waren.

Sie trug ihr Tablett zu Vreni und setzte sich ihr gegenüber auf die Holzbank. Als sie nicht reagierte, räusperte sich June leise. »Ähm, Vreni, ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mich zu dir setze – oder stört das dein inniges Zwiegespräch mit dem Eintopf?«

Vreni hob ruckartig den Kopf und brauchte einen Moment, um June zu fokussieren.

»Wow, da war aber jemand in Gedanken wirklich weit weg«, kommentierte June die Reaktion.

»Tja ..., also ...«, begann Vreni stotternd, bevor sie sich gefangen hatte und sich zunächst verstohlen umschaute, bevor sie flüsternd fortfuhr: »Ich war wirklich in Gedanken. Ich war eben bei einer Strategiebesprechung. Also die war geheim und wahrscheinlich sollte ich gar nicht mit dir darüber reden, aber was soll‘s, in ein paar Stunden werden es eh alle wissen und im Grunde hätte man dich mit deiner Erfahrung am besten eingeladen. Wobei ich nicht glaube, dass man dir wirklich zugehört hätte. Die ganzen hohen Tiere sind viel zu sehr mit Kämpfen und Intrigen untereinander beschäftigt, um wirklich klare Gedanken fassen zu können oder gar in der Lage zu sein, anderen Ideen auch nur eine Chance zu geben.« Vreni schüttelte den Kopf und aß gedankenverloren einen Löffel des Eintopfs, was sie sofort angewidert den Mund verziehen ließ.

»Obergruusig!«, rief sie aus.

June konnte ein Lachen nicht verkneifen und erntete einen gespielt bösen Blick von ihrer Gegenüber. Aus Solidarität aß auch sie den ersten Löffel und konnte Vrenis Reaktion sofort verstehen, wobei sie während ihrer Zeit beim Widerstand und auf der »Reise« Schlimmeres gegessen hatte. So lange es ihren Körper am Leben und Funktionieren hielt, musste es reichen.

»Was war denn nun bei der Besprechung?«, hakte June mit leiser Stimme nach und lenkte sich damit von dem ekligen Geschmack in ihrem Mund ab.

»Brigadier Wyss und Brigadier Aebischer haben über das weitere Vorgehen gestritten. Offensichtlich ist es Geber und seinen Politiklakaien gelungen, noch mehr politische Macht zu gewinnen und nun machen sie Druck auf das Militär, dass alle Implantatträger aus ihren Verwendungen abgezogen und explantiert werden sollen. Außerdem sollen alle Forschungen der Progressiven an sauberen, freien Implantaten nicht nur eingestellt, sondern auch sämtliche bisherigen Ergebnisse und Prototypen vernichtet werden. Und als wäre das nicht wahnsinnig genug, sollen auch im militärischen Bereich sämtliche Computer und elektronischen Geräte verboten werden. Zwar handelt es sich noch nicht um Gesetze und die oberste Heeresführung hat auch noch keine entsprechenden Befehle erteilt, doch Aebischer vertritt die Position, dass man bereits jetzt alle Implantatträger von ihren Implantaten trennen und die Technik-Zellen schließen sollte. Das würde uns zwar noch blinder machen als wir ohnehin schon sind und wir hätten keinerlei Möglichkeit mehr, Kämpfer des Gegners zu befreien und zu befragen, doch das scheint ihm egal zu sein. Brigadier Wyss hat sich für seine Verhältnisse über die Maßen echauffiert und Aebischer sogar einen Narren genannt, wenn der glauben würde, dass die Pläne der Erwachten etwas anderes bewirken würden als aus allen Schweizern wieder Höhlenmenschen zu machen.«

June blickte Vreni mit weit aufgerissenen Augen an und versuchte, das eben Gehörte zu verdauen. Hatten die Schweizer denn vollkommen den Verstand verloren?

»Vreni, das darf nicht passieren! Wir müssen so viele Menschen mit Implantat befreien wie möglich, damit sie uns im Kampf unterstützen! Wir dürfen sie nicht einfach umbringen! Und das meine ich sowohl aus ethischer als auch rein praktischer Überlegung. Wen wollen wir denn retten, wenn wir alle umbringen? Und wer soll uns die so dringend benötigten Informationen beschaffen? So sehr ich auch den Wunsch unterstütze, dass kein Mensch auf diesem Planeten ein Implantat trägt – noch sind auf wir auf eigene Implantatträger angewiesen!«, erwiderte June mit zunehmender Härte in der Stimme.

»Ich weiß June, mir musst du das nicht sagen. Aber offensichtlich stehen wir mit dem Rücken an der Wand und wenn es uns hier schon schlecht geht, schau dich mal in den Städten und Dörfern um! Die Menschen haben keinerlei Hoffnung mehr und folgen den Parolen von Geber und dessen Blendern, weil es ihnen einfach und logisch erscheint, dass die Lösung für ein komplexes Problem darin liegt, das Problem, also die Implantate und die fortschrittliche Technik, zu verbieten. Sie haben zu viel Angst, um klar zu denken. Niemand redet offen darüber, aber immer mehr Bürger und auch Soldaten laufen über! Das Forum ist mittlerweile dazu übergegangen, Implantate über den großen Ballungsregionen abzuwerfen. Es handelt sich offensichtlich um neue Modelle, die man sich problemlos selbst implantieren kann. Und immer mehr Leute wählen den Weg in die Freiheit des Forums, obwohl sie wissen, dass sie sich in die totale Manipulation begeben. Und ich befürchte, dass wir bald alle Kontrolle verlieren werden. Wenn es uns nicht gelingt, einen Erfolg vorzuweisen, der den Menschen wieder Hoffnung gibt und ihnen deutlich macht, dass es doch noch einen Ausweg gibt, werden sich alle abwenden«, erläuterte Vreni wundersam monoton. Sie hatte eine Grimasse gezogen, die sehr deutlich machte, was sie von der Idee hielt, dass man sich in die Hände des Forums begab, doch ansonsten regte sich nichts in ihrem Gesicht. Sie wirkte auf June schrecklich erschöpft und resigniert. Die hängenden Schultern, der leere Blick, die tiefen Augenringe, all das passte nicht zu der toughen Frau, die sie in den letzten Wochen schätzen gelernt hatte.

»Also, was ist dein Plan?«, fragte June. Sie musste Vreni auf konstruktivere Gedanken bringen - man durfte in so einer Situation nicht resignieren, das hatte ihr Vater ihr früh beigebracht. Was auch immer schief geht, du musst weiterkämpfen, solange du atmest!, erklangen in June die Worte ihres Vaters.

»Mein Plan? June, ich bin nur Hauptmann, ich kann froh sein, wenn ich bei den Besprechungen dabeisein darf. Niemand fragt nach meiner Meinung, geschweige denn würde jemand mir erlauben, einen Plan auszuhecken. Außerdem weiß Aebischer, dass ich zu den Progressiven tendiere und klar hinter Wyss stehe, das macht es noch schwieriger, denn egal, was ich sage, er wird es ablehnen.«

»Okay, verstehe, aber was ist dann der Plan? Was können wir tun? Und vor allem, was kann ich tun? Ich will nicht nutzlos sein!« Gerade der letzte Punkt war June wichtig, denn sie merkte immer wieder, dass sie nicht fürs Nichtstun geeignet war. Viele Soldaten schienen sehr gut zu sein, nichts zu tun, und sie schienen es sogar zu genießen, doch nicht June. Sie verabscheute die Drückeberger und Nichtsnutze, auch wenn sie gelernt hatte, es möglichst zu verbergen. Das war noch so ein Ratschlag von Dr. Retsam gewesen.

Ihr war die Ausbildung ihres Vaters in Fleisch und Blut übergegangen und sie hatte früh gelernt, dass es besser war, zuerst zu handeln und nicht so lange zu warten, bis man nur noch reagieren konnte. Doch genau so fühlte es sich seit einigen Wochen an – sie war zum Nichtstun verdammt und konnte, wenn überhaupt, nur reagieren.

»Nun ja, es gibt einen ziemlich verzweifelten Plan«, flüsterte Vreni mit noch leiserer Stimme und warf einen schnellen Blick über die Schulter, bevor sie sich näher zu June beugte.

»Es gibt die Idee, mit ein paar Spezialkräften nach Frankreich vorzudringen und dort auf dem Stützpunkt in Toulon die Le Terrible zu stehlen. Nach unseren Kenntnissen liegt dieses alte Atom-U-Boot in dem ehemaligen Miliärhafen und an Bord lagern noch immer atomare Interkontinentalraketen, auch wenn man die nationalen Armeen vor drei Jahren abgeschafft hat. Wahrscheinlich wusste niemand, was man mit den Dingern machen sollte und deshalb lässt man sie einfach dort.«

»Und dann? Was wollt ihr damit machen? Auf die angreifenden Forums-Truppen abwerfen? Das ist Wahnsinn. Die sind doch schon auf eurem Land, wenn ihr sie hier angreift, sterben wir alle an den Folgen!«, erwiderte June, durch zusammengebissene Zähne flüsternd.

»Rede keinen Unsinn, June, natürlich wollen wir die Dinger nicht hier abwerfen und auch sonst nirgends auf der Erde. Die Progressiven wollen sie in den Orbit schießen und das Satellitennetzwerk des Forums zerstören, sodass das Signal zwischen allen Implantatträgern abreißt. Wenn ich es richtig verstanden habe, müssen wir nur einige Satelliten treffen und der ganze entstehende Schrott wird ein sogenanntes Kessler-Syndrom auslösen – eine Art Kettenreaktion, bei der die Trümmerteile immer weitere Zerstörung anrichten, und so langsam, aber sicher sämtliche Satelliten im Orbit der Erde vernichtet werden. Dann wird es auch keinen Weg mehr geben, neue Satelliten hochzuschicken, weil die Erde von einer Hülle kleinster Trümmer umgeben sein wird, die schneller als Gewehrkugeln durch die Gegend rasen und alles zerstören würden, was das Forum hinaufschicken könnte.

---ENDE DER LESEPROBE---