Das Steinbett - Kjell Eriksson - E-Book
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Das Steinbett E-Book

Kjell Eriksson

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Beschreibung

"Mehr als nur ein spannender Krimi." Freundin.

Josefin Cederén und ihre Tochter Emily sind unterwegs in Uppsala-Näs, als beide von einem Auto erfasst werden. Sie sind sofort tot. Untersuchungen der Polizeit am Unfallort ergeben, dass die Tat geplant war. Unter dringendem Mordverdacht steht Sven-Erik Cederén, der Ehemann und Vater. Zwar schien die Ehe der Cederéns nicht besonders harmonisch gewesen zu sein, doch warum sollte der Mann seine Tochter umbringen, die er über alles liebte? Fieberhaft wird nach ihm gesucht - ohne Ergebnis. Hat sich Cederén nach der Tat ins Ausland abgesetzt? Können illegale Tierversuche, die von militanten jungen Tierschützern angeprangert werden, mit dem Fall in einem Zusammenhang stehen?

Ann Lindell, Mitte Dreißig, ein bisschen unordentlich und ziemlich forsch, ist mit den Ergebnissen der Untersuchungskommission unzufrieden. Sie beginnt noch einmal, die Ermittlungsakten zu sichten, und stößt auf widersprüchliche Details. Eine Spur führt zur Firma MedForsk in Uppsala, eine andere nach Málaga. Wenn sie doch bloß die geheimnisvolle Frau finden könnte, für die Cederén siebzig Tulpen gekauft hat ...

"Ein ausgereifter Erzähler, der zu fesseln weiß." Neue Osnabrücker Zeitung.

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Seitenzahl: 448

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Kjell Eriksson

Das Steinbett

Ein Fall für Ann Lindell

Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Inhaltsübersicht

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Informationen zum Buch

Über Kjell Eriksson

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Prolog

Eidechsen flitzten blitzschnell und rastlos über die Mauerkrone. Sie kündigten die Sonne an, die in einer halben Stunde über dem Meer aufgegangen sein würde. Eine Gewohnheit der Eidechsen.

Die Mauer hätte auch auf Irland stehen können. Es waren zwar andere Steine, aber sie war von gleicher Art. Stein auf Stein, scheinbar achtlos zusammengefügt, dennoch von schöner Zweckmäßigkeit. Anderthalb Meter hoch, umschloß sie den ganzen Garten und endete in einer Ecke des Grundstücks an einer Wand.

Die graue Fläche des Eternitdachs wurde von dunklem Grün umrahmt. Ein paar Palmen, ein Zitronenbaum und andere Gewächse, deren Namen er nicht kannte. Er hatte einige ihrer Samenkapseln aufgelesen, sie geschüttelt, gelauscht und dunkle Samenkörner herausgepult. Sie sahen giftig aus. Glänzend schwarz, fast metallisch, lagen sie in seiner Hand wie geheimnisvolle Botschaften, und einen Moment lang erwog er, sie sich mit einer schnellen Bewegung in den Rachen zu werfen.

Giftig? Na wennschon. Schön waren sie, und er hatte sie aufbewahrt, um sie auszusäen.

Plötzlich begann es zu regnen. In den Wellen des Eternits sammelten sich Tropfen. Es glitzerte, wenn sie vom Dach rollten und auf die Erde platschten. Im Moment des Fallens funkelten sie. Es erschien ihm wie Musik. Er, der vollkommen unmusikalisch war, wurde von der schönen Musik der Tropfen gefangen.

Reiß dich zusammen, dachte er, und im gleichen Moment hörte es auf zu regnen.

Wellen rollten an den Strand. Am Abend zuvor hatte er versucht, ein System in den unaufhörlichen Bewegungen der Wellen auszumachen. Gab es eine bestimmte Frequenz? Sieben kleine und eine große? Einmal war es vollkommen still geworden, ohrenbetäubend still, so als hielte das Meer den Atem an. Zwei, drei Sekunden, nicht länger.

Ableger von Blumen, die wie Ackerwinde aussahen, rankten sich um seine Füße. Er ließ Sand durch die Finger rieseln und blickte auf das Meer hinaus. In weiter Ferne stampfte ein Containerschiff vorbei. Er machte Pläne, war aber zu müde, um noch klar denken zu können, und zu fremd in dieser Landschaft, um sich in ihr geborgen zu fühlen. Ausgesetzt, dachte er, ich bin an diesem Strand ausgesetzt worden, und genau hier muß ich mich entscheiden.

Aber statt Beschlüsse zu fassen, ging er zu dem kleinen Geschäft, das zugleich eine Bar war – eine Hütte aus Brettern und Blech, die sich an einen Baum lehnte. Ramon, von allen nur »der Bäcker« genannt, reichte ihm über die Kaugummipackungen auf der Theke hinweg die Hand.

Ein älterer Mann, weißhaarig und mit tiefen Falten im Gesicht, beobachtete ihn aufmerksam. Dem alten Mann gegenüber saß eine Frau. Sie trug ein enganliegendes, grünes Kleid.

Er bestellte ein Bier, ließ sich an dem zweiten Tisch nieder, nickte dem Alten zu und setzte das kalte Bier an die Lippen. Laß alles so bleiben, wie es ist, dachte er, hier an diesem Tisch. Von den Bergen kam das Wasser und aus dem Meer das Salz.

»Lecker«, sagte er und wußte, daß er sich betrinken würde. Solange er trank, würde der Bäcker seinen Laden offenhalten.

Er gab dem Bäcker einen Wink, auch dem alten Mann und der Frau ein Bier zu servieren.

Wir sind die neuen Konquistadoren, dachte er und seufzte.

»Probleme?«

Sven-Erik Cederén nickte und hob die Flasche. Er war fünf- oder sechsmal in diesem Land gewesen, aber bislang niemals allein. Mit jedem neuen Besuch hatte sich seine Perspektive verschoben. Die ersten Male hatte er die üblichen Touristenlokale besucht, Rum getrunken und die Frauen beobachtet, jedoch nie die Initiative ergriffen. Jetzt ging er zum Bäcker, saß meistens schweigend an seinem Tisch und trank Presidente.

»Wie lange werden Sie bleiben?« fragte der Bäcker.

Das Paar am anderen Tisch drehte sich um und beobachtete ihn neugierig, so als wäre seine Antwort äußerst wichtig.

»Noch eine Woche.«

Der alte Mann hob seine Flasche.

»Ich werde Land kaufen. Gleich hinter Gaspar Hernandez.«

»Das ist ein Dorf voller Idioten«, meinte der Alte.

»Wie sieht Ihr Land aus?« fragte die Frau.

Er gab die üblichen Antworten, erzählte von der Kälte, dem Schnee, von den Wäldern und dem Eis auf den Seen, verstummte dann jedoch. Es gab noch etwas anderes, was er gerne sagen würde.

»Wir leben …«, begann er zögernd, »wir leben ein ziemlich gutes Leben.«

Er fing an, von seiner Tochter zu erzählen, und bestellte noch ein Bier. Der Bäcker öffnete eine Flasche Rum und schenkte ihm ein Glas ein. Seine Arme ruhten auf der Theke. Sven-Erik Cederén sah zu ihm hinüber, und sie lächelten sich an.

»Fehlt sie Ihnen?«

»Natürlich.«

»Ihnen fehlt noch etwas anderes«, sagte der Bäcker.

»Sein Land fehlt einem immer«, meinte der alte Mann.

Der Schwede schüttelte den Kopf.

»Ihnen fehlt eine Frau.«

»Schon möglich.«

Was hatte er nur getan? Ließ es sich wieder in Ordnung bringen? Nein. Er konnte nur notdürftig flicken. Er war der Bekehrte, dessen Bekehrung zu spät kam. Fast vierzig Jahre lang war er im Gleichschritt marschiert. Jetzt tanzte er aus der Reihe. Er hatte Angst. Wenn er doch nur in diesem baufälligen Geschäft sitzen bleiben, Bier trinken und mit den Menschen reden könnte, die zufällig vorbeischauten. Der Bäcker und sein Laden würden ihm Absolution erteilen.

Er hatte Angst, aber nicht um seine eigene Haut. Lügner! Natürlich hatte er Angst vor dem Urteil. Er floh in einen Schuppen voller Bier, Pringles und Kaugummi.

Er erzählte weiter von seinem Land. Was hätte er sonst sagen sollen? Was wußte er eigentlich über Schweden? Hätte er von seinem Leben in Uppsala-Näs erzählen sollen, dem Golfplatz Edenhof, von den Arbeitskollegen, den Vorträgen beim Arbeitgeberverband, den rundum gekachelten Badezimmern und dem Bootsanleger, der für hunderttausend Kronen erneuert worden war?

Während er sprach, schaute er verstohlen zu der Frau hinüber. Sie war zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Ihr Arm lag unmittelbar neben seinem. Er könnte … Mit dem Bündel Geldscheine, das steif in seiner Tasche steckte. Mit dem Schwanz, der in seiner Hose steif wurde.

Er trank noch einen Schluck Bier. Der Bäcker sah ihn an und nickte ihm zu.

1

»Komm auf die Straße! Du machst dir sonst die Schuhe schmutzig.«

Das Mädchen riß noch einen Blumenstengel ab und reichte ihrer Mutter eine Handvoll Kleeblumen.

»Vierblättrige bringen Glück«, sagte das Kind.

»Wir setzen sie aufs Grab.«

Die Frau ordnete die Blumen und zupfte ein welkes Blatt ab.

»Großmutter mochte Klee«, sagte sie nachdenklich, sah zur Kirche hinüber und dann ihre Tochter an, die neben ihr ging. Ein Tag, dachte sie, ein einziger gemeinsamer Tag auf der Welt war euch beiden vergönnt.

Vor sechs Jahren und einem Tag war Emily geboren worden, und am nächsten Tag starb ihre Großmutter. An jedem Todestag spazierten sie nun zur Kirche und legten Blumen auf das Grab. Anschließend setzten sie sich stets noch ein wenig auf die Friedhofsmauer. Die Frau trank Kaffee und ihre Tochter Saft.

Bis zum Friedhof war es eine halbe Stunde zu Fuß. Sie hätten das Auto nehmen können, zogen es aber vor zu gehen. Wenn man sich dem Friedhof langsam nähert, hat man Zeit zum Nachdenken. Sie hatte ihre Mutter über alles in der Welt geliebt, und es kam ihr so vor, als hätte Emily die Großmutter abgelöst. Eine Liebe hörte auf, eine andere begann.

Gleich nach der Entbindung war sie zusammen mit dem Baby durch die Gänge der Universitätsklinik zu der Station geschoben worden, auf der die Großmutter lag und zwischen Wachsein und Schlaf schwebte.

Man hatte das kleine Mädchen auf die Brust der Großmutter hinübergehoben. Anfangs schien es fast, als würde sie glauben, ihrem geplagten Körper wäre eine weitere Bürde auferlegt worden.

Die junge Mutter vermutete, daß die Großmutter durch den Duft des Babys zum Leben erweckt wurde, denn plötzlich weiteten sich ihre Nasenlöcher. Eine magere und von Nadeln zerstochene Hand betastete das kleine Bündel auf der Brust, und sie schlug die vom Morphium dunklen Augen auf.

»Ich will das letzte Stück rennen«, sagte das Mädchen.

»Nein, wir gehen zusammen«, antwortete die Frau; und kurz bevor sie starb, wurde ihr noch klar, daß das Leben der Tochter vielleicht gerettet worden wäre, wenn sie das Mädchen hätte rennen lassen.

Das Auto traf die beiden mit voller Wucht. Das Kind wurde zehn Meter durch die Luft geschleudert und war auf der Stelle tot. Seine Mutter wurde umgerissen, und das linke Vorderrad des Wagens überrollte ihren Körper. Sie lebte noch lange genug, um zu begreifen, was geschehen war. Sie nahm auch noch wahr, wie das Auto etwas ins Schleudern geriet, als der Fahrer Gas gab und Richtung Kirche verschwand.

»Warum tötest du uns«, murmelte sie.

2

Ann Lindell genoß die Heiterkeit ihres Kollegen. Sammy Nilsson hatte mit todernster Miene ihr Horoskop für diesen Tag vorgelesen, aber als er zur letzten Zeile kam, »… und warum nicht einer Einladung zur Liebe nachgeben, die Sie heute erhalten werden«, mußte er laut lachen.

»Eine Einladung zur Liebe«, meinte Lindell, »wie das klingt.«

»Vielleicht lädt dich Ottosson zu einer Tasse Kaffee ein«, erwiderte Sammy Nilsson. »Ich glaube, er ist scharf auf dich.«

Ottosson war der Leiter des Kriminalkommissariats für Gewaltdelikte. Er hatte für halb zehn eine Besprechung einberufen, und Lindell und Sammy Nilsson ahnten, daß es um die Neuorganisation der örtlichen Polizei gehen würde.

Alles sollte wieder einmal über den Haufen geworfen werden. Die lokalen Polizeiwachen, die man mit viel Geschrei eingeführt hatte, konnten jeden Moment abgewickelt werden. Es war im Gespräch, die Wachen in Gottsunda und anderen Vororten zu schließen und in das zentraler gelegene Industriegebiet Fyrislund zu verlegen. Das Wort »lokal« würde plötzlich eine ganz neue Bedeutung bekommen, wenn Polizeipräsident Lindberg seinen Willen durchsetzte.

»Wie steht’s? Man hört, daß du ausgegangen bist?«

Lindell sah schnell auf. Sammy Nilsson hatte das Gefühl, daß ihr Blick fast etwas Ängstliches hatte.

»Ausgehen? Nie im Leben.«

»Hast du dich nicht mit einem Mann getroffen?«

»Wir waren aus und haben ein bißchen gefeiert, die Mädels und ich, du weißt schon.«

»Ich habe da aber etwas anderes gehört.«

Lindell lächelte.

»Du darfst nicht alles glauben, was du hörst.«

Ola Haver trat zu ihnen. Lindell sah ihm an, daß etwas passiert war, aber er setzte sich erst, bevor er zu sprechen begann.

»Wir haben einen Fall von Fahrerflucht«, sagte er. »Zwei Tote.«

»Wo?« fragte Sammy Nilsson.

»Uppsala-Näs.«

»Irgendwelche Zeugen?« erkundigte sich Lindell.

Haver schüttelte den Kopf.

»Ein Fuhrunternehmer, der am Unfallort vorbeikam, hat angerufen. Das eine Opfer ist ein Kind, ein Mädchen.«

Havers Gesicht war blaß.

»Verdammter Mist«, sagte Sammy Nilsson.

»Ungefähr sechs Jahre alt.«

Lindell sah auf die Uhr: 9:12.

»Ich rufe Ottosson an«, sagte sie und stand auf.

Einladung zur Liebe, dachte Lindell, als sie in Sammys Wagen stieg, wir bekommen eher Einladungen wie diese hier.

Sie schielte zu Sammy Nilsson hinüber, als er in die Salagatan einbog. Er fluchte leise über den Verkehr, fuhr auf die St. Olofsgatan und starrte wütend einen Autofahrer an, der von rechts kam und ihn zum Anhalten zwang.

Haver telefonierte auf dem Rücksitz, und Lindell nahm wahr, daß er von der Streife vor Ort genauere Informationen erhielt.

Mittwoch, der 14. Juni. Einer dieser Tage, die so viel Gutes für den Sommer verhießen. Auf den Heuwiesen stand das Gras hoch. Auf manchen wurde bereits die erste Ernte eingefahren. Bei Högby hatte ein Mann seinen Traktor am Straßenrand stehenlassen und ging mit gemessenen Schritten durch Klee und Thimoteegras, das ihm bis zur Hüfte reichte. Ann Lindell dachte für einen Moment an Edvard. Das hätte auch er sein können, der dort über das Feld ging und mit der Hand über die Halme strich. Das Bild war im nächsten Moment schon wieder verschwunden und blieb dennoch haften. Er war dort. In der Landschaft. Nach einem halben Jahr war Edvard Risberg noch immer wie ein Schatten gegenwärtig. Sie hörte seine Worte und spürte seine Hände. Niemand hatte sie je so angefaßt wie er.

Ein Rehbock äugte nervös vom Waldsaum zur Straße hinauf. Die Sonne schien Lindell direkt ins Gesicht, aber sie klappte die Sonnenblende des Wagens nicht herunter, sondern ließ die Strahlen ihr Gesicht wärmen.

Einen Kilometer weiter lagen eine Frau und ihre Tochter am Straßenrand.

Haver sagte etwas, das Lindell nicht verstand.

»Das ist bestimmt Ryde«, meinte Sammy Nilsson. »Nur er fährt einen so verrosteten Mazda.«

Er hatte recht. Eskil Ryde von der Spurensicherung war bereits am Tatort eingetroffen. Er stand über den Straßengraben gebeugt. Mit der einen Hand fuhr er sich durch das schüttere Haar, mit der anderen gestikulierte er.

Einer der uniformierten Kollegen winkte einen Kleinbus vorbei. Lindell erahnte etwas im Straßengraben, als sie aus dem Wagen stieg. Das Kind, dachte sie und schaute hastig zu Sammy Nilsson hinüber. Sie sahen sich einen Moment an. Ryde hob die graue Decke an. Das Stirnbein des Mädchens war gebrochen. Åke Jansson, der zweite uniformierte Kollege, schluchzte. Haver legte seinen Arm um ihn, und Åke ballte seine Hände zu Fäusten. Lindell berührte ihn flüchtig an der Schulter, ehe sie sich über den Körper des Kindes beugte. Sie sah im Grunde nichts, obwohl sie die dünnen Beine registrierte, die rechte Hand, deren Nägel hellrosa lackiert waren, das Muster des roten Kleides und die hellen Haare, die jetzt genauso rot waren wie das Kleid.

Lindell richtete sich so schnell wieder auf, daß ihr schwarz vor Augen wurde.

»Wissen wir, wer die beiden sind?« fragte sie, ohne jemanden direkt anzusprechen.

»Nein«, erwiderte Åke Jansson. »Ich habe nach einem Portemonnaie, einer Tasche oder etwas Ähnlichem Ausschau gehalten, aber sie hatten nichts dergleichen dabei. Sie haben bestimmt in der Nähe gewohnt. Der LKW-Fahrer, der als erster hier war, glaubt, die beiden schon einmal gesehen zu haben. Er befährt die Straße jeden Tag.«

Lindell hatte den Lastwagen registriert, der ungefähr dreißig Meter entfernt stand.

»Du sollst doch keine Leichen anrühren«, schimpfte Ryde.

»Ich wollte ja bloß wissen, wer sie waren«, sagte Jansson beleidigt.

»Vielleicht wollten sie zur Kirche«, überlegte Haver.

»Das Mädchen hat Blumen gepflückt«, meinte Ryde.

»Woher weißt du das?«

»Die Hände«, sagte Ryde.

Vier Polizisten um einen Kinderkörper. Ryde deckte ihn behutsam wieder zu.

»Wir schauen uns mal die Frau an«, sagte er.

Sie war eine schöne Frau gewesen. Ihre Haare, im gleichen Farbton wie die des Mädchens, waren kurzgeschnitten und gaben dem Gesicht einen strengen Rahmen. Von dieser Strenge war nicht mehr viel geblieben, aber Lindell begriff, daß sie eine Frau gewesen war, nach der man sich umsah, der man zuhörte. Sie glaubte, Selbstbewußtsein und Willenskraft in ihren Zügen zu erkennen, auch wenn sich ein scharfer Stein in ihr Kinn gebohrt hatte.

In den Ohrläppchen Gold, am linken Ringfinger ein schwerer Goldring und an der rechten Hand ein silberner Ring mit eingefaßten Steinen. Mit ihren gepflegten Fingernägeln hatte sie zwischen dem üppigen Grün des Straßengrabens und dem schwarzen, gesprungenen Asphalt Muster in den Schotter geritzt.

Ihr Kleid war khakifarben und sommerlich leicht. Auf dem schmalen Rücken war der Abdruck eines Autoreifens zu erkennen.

Sie hatte blaue Augen, aber ihr Blick war gebrochen.

Lindell schaute auf und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Es war vollkommen windstill, und vom See schallte das Geräusch eines Motorboots herüber. Auf der Weidenallee, die zum Gut Ytternäs hinaufführte, näherte sich ihnen ein Mann. Er ging langsam, aber Lindell sah, daß er die Gruppe von Autos, die am Straßenrand parkten, bemerkt hatte. Da kommt der erste Schaulustige, dachte sie und drehte sich schnell um.

»Die Identifizierung ist im Moment das wichtigste. Wer ist hier der Pfarrer?« sagte Lindell und sah Sammy Nilsson an, der den Kopf schüttelte.

»Keine Ahnung«, antwortete er. »Ich geh mal zur Kirche. Vielleicht gibt es dort ein Schwarzes Brett.«

Lindell ging zu dem Lastwagen hinüber. Åke Jansson zufolge saß der Fahrer in der Fahrerkabine; als sie näher kam, erblickte sie sein Gesicht im Rückspiegel. Er öffnete die Tür und glitt mit einer geübten, aber dennoch steifen und ungelenken Bewegung vom Sitz herab.

»Guten Tag, Ann Lindell von der Polizei. Sie waren als erster vor Ort?«

Der Mann nickte und ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

»Sie haben die beiden schon einmal gesehen?«

»Ich denke schon.«

»Entschuldigung, wie heißen Sie eigentlich? Ich habe vergessen zu fragen.«

»Lindberg, Janne Lindberg. Ich wohne da drüben«, sagte er.

»Sie haben die beiden also wiedererkannt?«

»Ja, sie gehen regelmäßig auf dieser Straße. Ich glaube, sie wohnen drüben bei Vreta udde, aber ich kenne die Frau nicht persönlich.«

»Sie war eine schöne Frau.«

Janne Lindberg nickte.

»Sie kamen von zu Hause und wollten in die Stadt? Wann war das?«

»Ungefähr um neun.«

»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.«

»Als erstes habe ich die Mutter gesehen, dann das Mädchen.«

»Sind Sie Brillenträger?«

»Nein, wieso?«

»Sie kneifen die Augen so zusammen.«

»Das ist wegen der Sonne.«

»Was haben Sie dann getan?«

»Ich hab nachgesehen, ob sie noch leben.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Dann habe ich angerufen.«

»Sie haben die beiden also nicht überfahren?«

Die Frage ließ den Fahrer zusammenzucken, und er starrte Lindell an. »Was zum Teufel«, brachte er hervor. »Glauben Sie, ich überfahre eine Mutter mit Kind! Ich bin LKW-Fahrer.«

»Das ist alles schon vorgekommen. Darf ich mal einen Blick auf Ihr Handy werfen?«

»Warum denn das?«

»Ich möchte sehen, wann Sie uns angerufen haben.«

Er seufzte und reichte ihr das Handy. Lindell drückte auf die Speichertaste und stellte fest, daß Lindberg um 9:08 angerufen hatte. Davor hatte er zuletzt um 8:26 telefoniert. Anschließend ging sie auch noch die eingegangenen Anrufe durch, um zu prüfen, ob vielleicht jemand Lindberg angerufen hatte, bevor er die Polizei alarmierte. Tatsächlich. Um 8:47 hatte er einen Anruf erhalten.

»Kurz bevor Sie die 112 gewählt haben, sind Sie selber angerufen worden. Wer war am Apparat?«

»Einer von den Straßenarbeitern. Ich fahre Asphalt, aber heute morgen hatte ich Probleme mit dem Wagen. Er rief an, um zu hören, ob ich schon unterwegs war.«

»Sie hatten es heute morgen also eilig?«

»Ja, ich hätte schon kurz nach sechs am Werk sein sollen.«

»Waren Sie vielleicht abgehetzt, bekamen einen Anruf, wurden abgelenkt und konnten dann nicht mehr ausweichen?«

»Ach Unsinn! Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen überfahren!«

»Können wir den Mann anrufen, der mit Ihnen telefoniert hat?«

Janne Lindberg nickte. »Ich muß immer an das arme Mädchen denken«, sagte er.

Der Mann, den Lindell in der Allee gesehen hatte, war nun fast bis zu dem Lastwagen gelangt, und sie beschloß, auf ihn zu warten. Er hinkte ein wenig. »Was ist passiert?« fragte er. »Hat es einen Wildunfall gegeben?«

»Nein«, erwiderte Lindell. »Es geht um einen Unfall mit Fahrerflucht.«

Der Mann blieb stehen. »Sind das etwa Josefin und Emily?«

Die Stimme versagte ihm. »Ich habe sie auf der Straße gehen gesehen. Sind es die beiden?«

»Wir wissen noch nicht, wer sie sind. Könnten Sie uns vielleicht weiterhelfen?«

Der Mann schluchzte: »Ich sah sie auf der Straße. Ich wußte, daß sie heute vorbeikommen würden.«

»Es handelt sich um eine Frau und ein kleines Mädchen. Könnten das die beiden sein?«

Der Mann nickte.

»Möchten Sie uns vielleicht helfen?«

Lindell trat einen Schritt näher an den Mann heran. Seine unverhüllte Verzweiflung und seine Tränen rührten sie so sehr, daß sie selber dem Weinen nahe war.

»Das ist sie«, sagte der Mann, als Lindell die graue Decke lüftete.

Er war ganz fahl im Gesicht geworden, und Lindell befürchtete, daß er in Ohnmacht fallen könnte.

»Kommen Sie, wir setzen uns in den Wagen, dann können Sie mir erzählen, was Sie wissen.«

»Kannst du mal kommen?« rief Ryde. Er hockte neben der Frau.

»Sprich du mit dem Mann«, sagte Lindell zu Sammy Nilsson, der neben ihr stand, und ging zu Ryde.

»Ich glaube nicht, daß sie sofort tot war«, meinte Ryde. »Sie hat versucht, sich auf der Straße zu ihrem Kind zu schleppen. Siehst du, hier«, sagte er und zeigte auf die Fahrbahn. Dort war eine schwache Blutspur zu erkennen. »Sie wollte zu ihrer Tochter.«

Lindell kniete sich hin und starrte angestrengt auf die Fahrbahn. Die Hand der Frau war schmal. Die Steine des Silberrings funkelten in der Sonne. Lindell bemerkte, daß am Zeigefinger Haut abgeschürft war.

»Es war kein Zufall, daß die beiden überfahren wurden«, sagte Ryde und stand mühsam auf.

»Glaubst du wirklich?«

Ryde sah sich um, ehe er antwortete: »Es war hell, die Straße ist gerade und ziemlich breit.«

»Du meinst, es war Mord?«

Ryde antwortete nicht, sondern fischte sein Handy aus der Tasche. Lindell blieb stehen. Das Mädchen hat Blumen gepflückt, dachte sie. Sie schaute zu der grauen Decke hinüber, mit der die Kleine zugedeckt war. Ihre Mutter hat sie nicht mehr erreicht. Wie viele Meter fehlten? Sieben, acht?

Ein Auto näherte sich. Haver hielt es an, während Lindell ihr Telefon herausholte.

3

Es war kurz nach sechs, als man sich im Polizeipräsidium von Uppsala zu einer ersten Lagebesprechung traf. Etwa ein Dutzend Kriminalbeamte waren anwesend: aus dem Kommissariat für Gewaltdelikte, ein paar von der Fahndungskommission und zwei von der Spurensicherung. Sammy Nilsson leitete die Besprechung.

»Was wissen wir bis jetzt? Josefin Cederén, zweiunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Vreta. Ein Kind, sechs Jahre alt. Es hatte gestern Geburtstag. Wir wissen, daß sie auf dem Weg zu der Kirche waren, an der Josefins Mutter begraben liegt. Sie gehen jedes Jahr an diesem Tag dorthin. Das haben mehrere Zeugen übereinstimmend ausgesagt. Ryde, was sagen die Pathologen?«

»Es war ein PKW. Den Ärzten zufolge sprechen die Verletzungen dafür. Der Tod muß auf der Stelle eingetreten sein, zumindest bei dem Mädchen. Sie wurde weggeschleudert und dürfte beim Aufprall auf die Erde gestorben sein. Bei ihrer Mutter gibt es Anzeichen dafür, daß sie noch kurze Zeit danach gelebt hat.«

»Okay«, sagte Sammy. »Wie ihr wißt, ist ihr Ehemann, Sven-Erik Cederén, wie vom Erdboden verschluckt. Das gleiche gilt für sein Auto. Es handelt sich um einen blauen BMW, Baujahr ’99, mit Schiebedach und Sonderausstattung. Haver hat das bei Novation ermittelt, wo er das Auto gekauft und übrigens bar bezahlt hat.«

»Wo arbeitet er?« fragte Lundin.

»Bei einer Firma namens MedForsk, in der Medikamente entwickelt werden. Forschung auf hohem Niveau. Ein relativ junges Unternehmen, das aus dem Pharmacia-Konzern hervorgegangen ist. Sven-Erik Cederén ist heute nicht zur Arbeit erschienen. MedForsk beschäftigt insgesamt zehn Angestellte, die alle verhört worden sind. Niemand hat ihn gesehen.«

»Aber wir wissen, daß er sein Haus wie gewöhnlich verlassen hat«, ergänzte Norrman, der die Befragung der Nachbarschaft in Vreta geleitet hatte. »Er ist kurz nach acht weggefahren. Wir haben mit etwa zwanzig Anwohnern gesprochen. Der Nachbar gegenüber hat gegen sieben ein paar Worte mit Cederén gewechselt. Sie waren beide draußen, um die Zeitung zu holen.«

»Dabei soll er einen ganz normalen Eindruck gemacht haben«, warf Berglund ein. »Sie haben ein wenig über das Übliche geplaudert, das Wetter und den Wind. Laut Aussage des Nachbarn konnte man nach Cederén die Uhr stellen.«

»Wo ist Lindell?« fragte Beatrice.

»Bei Josefins Vater«, antwortete Ottosson.

»Wohnt er hier in der Stadt?«

Ottosson nickte. »Er wohnt ebenfalls in Vreta. Josefin Cederén ist dort geboren worden.«

»Ansonsten wohnen da vor allem zugezogene Idioten«, meinte Haver.

»Wieso Idioten?« fragte der Leiter des Führungs- und Lagedienstes.

»Okay«, sagte Sammy Nilsson, »wir wissen, daß er Uppsala-Näs wie jeden Morgen verlassen hat, aber auf der Arbeit ist er nie angekommen. Wo ist er hin?«

»Wochenendhaus«, schlug Lundin vor.

»Sie haben keins.«

»Der Flughafen«, sagte Haver. »Er wußte, daß seine Frau und die Tochter zur Kirche spazieren würden, lauerte ihnen auf, überfuhr sie und hat zugesehen, daß er außer Landes kommt.«

»Wir haben das überprüft«, erwiderte Sixten Wende. »Keine Person namens Cederén hat über den Flughafen Arlanda das Land verlassen.«

»Bei einer Geliebten«, meinte Beatrice.

»Wir haben die Fahndung nach ihm und seinem Auto eingeleitet. Ich bin mir ziemlich sicher, daß wir in den nächsten vierundzwanzig Stunden zumindest herausfinden werden, was aus dem Auto geworden ist. Das ist keine Allerweltskarre«, sagte Ottosson. Seine Zuversicht gründete sich auf fünfunddreißig Jahre Erfahrung als Polizeibeamter, von denen er die letzten zwanzig im Kriminalkommissariat für Gewaltdelikte gearbeitet hatte. Autos tauchten immer wieder auf. Bei Menschen, die verschwanden, war das etwas anderes.

»Vielleicht ist er ja auch überfahren worden«, sagte der Leiter des Führungs- und Lagedienstes. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er seine Familie mit dem Auto niedermäht und anschließend verschwindet.«

»Es sind schon schlimmere Dinge passiert«, widersprach Wende.

»Das weiß ich auch, aber sein eigenes Kind zu überfahren, das geht doch wirklich zu weit.«

»Vielleicht war er nicht ganz bei Sinnen«, sagte Sammy.

»Beatrice wird sich um die finanziellen Verhältnisse der Familie kümmern, Einnahmen und Schulden, Versicherungen und so weiter. Morgen möchte ich einen vollständigen Bericht vorliegen haben. Sixten soll dabei helfen«, bestimmte Ottosson. Wenn Ann Lindell nicht anwesend war, herrschte stets eine gewisse Unsicherheit darüber, wer die Besprechung leiten sollte. Sammy Nilsson eignete sich psychologisch gesehen am besten dafür, da er mit Lindell eng zusammenarbeitete, aber auf der anderen Seite war Ottosson ihr Chef. Meistens saß er bei Besprechungen jedoch nur stumm dabei und verließ sich vorbehaltlos auf Lindells Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen und die Arbeitsaufgaben sinnvoll zu verteilen.

»Wo ist das Motiv?« fragte der Leiter des für Analysen zuständigen Führungs- und Lagedienstes, der als eine Art Motor agierte, die einzelnen Argumente abwog, Gegenfragen stellte und seine Kollegen zwang, gründlicher nachzudenken.

»Eifersucht«, schlug Haver vor. »Vielleicht hatte Josefin einen anderen.«

»Ich glaube, sie war schwanger«, meinte Beatrice plötzlich.

Alle Augen richteten sich auf sie. »Als Ann und ich sie uns angesehen haben, kam es mir jedenfalls so vor.«

»Woran hast du das gesehen?«

»Am Bauch, an ihren Brüsten. Vor allem an den Brüsten. Sie sah ganz einfach wie eine schwangere Frau aus.«

»Was meint Lindell dazu?«

»Sie hat keine Kinder«, erwiderte Beatrice.

»Wir werden bald wissen, wie es sich verhält«, sagte Ottosson und wandte sich an Beatrice. »Fragst du bitte mal nach, ob es dazu schon Informationen gibt?«

Widerwillig stand sie auf und verließ den Raum. Gleichzeitig kam Riis herein. Die beiden begegneten sich an der Tür, ohne sich eines Blickes zu würdigen.

Riis hatte nur wenige Freunde, und die wenigen, die ihm noch geblieben waren, dachten auch darüber nach, ob sie sich weiterhin die Mühe machen sollten, freundlich zu dem mürrischen Kriminalbeamten zu sein. Beatrice hatte als eine der ersten den Gedanken aufgegeben, eine Art kollegialer Freundschaft oder auch nur Zusammenarbeit mit ihm aufrechtzuerhalten. »Riis ist ein griesgrämiger Stinkstiefel in den Wechseljahren«, pflegte sie zu sagen. »Er haßt uns.«

Riis setzte sich, und alle warteten darauf, was er ihnen zu sagen hatte.

»Und?« fragte Ottosson schließlich.

Riis schlug mit einer schwungvollen Bewegung seinen Notizblock auf.

»Cederén ist ein Mann mit Visionen«, sagte er und blickte auf. »Er will etwas aus seinem Leben machen. Er ist erfolgreich mit Betonung auf reich, mit Sicherheit unglücklich und sehr tot.«

»Tot?«

»Mental tot«, sagte Riis und seufzte.

»Bist du etwa neidisch auf seinen Reichtum?« fragte Haver ruhig.

Riis schaute flüchtig zu ihm hin, lächelte und fuhr fort: »Er hat gerade ein Haus in der Dominikanischen Republik gekauft, falls jemand von euch weiß, wo das ist. Das ist ein Land in der Sonne, und da will Herr Cederén hin. Er will nicht mehr in Uppsala-Näs wohnen. Außerdem spielt er Golf. Erster Platz beim letzten Turnier in Edenhof.«

»Komm zur Sache«, ermahnte ihn Ottosson.

»Ich glaube, er hat seine Familie totgefahren und ist abgehauen. Er will in der Karibik Golf spielen.«

»Ich kann hinfahren und der Sache nachgehen«, sagte Wende.

»Zwei Menschen sind umgekommen, und ihr sitzt hier rum und macht Witze«, bemerkte Haver, überzeugt, daß Riis mehr als froh darüber war, in drei Tagen Urlaub zu haben. Er überließ seinen Kollegen nur zu gern die Arbeit an einem Sommermord.

»Meiner Meinung nach«, ergriff Riis wieder das Wort, »war das Ehepaar Cederén wohlhabend, wohlangepaßt, wohlerzogen und umgänglich. Keiner der beiden hat jemals mit der Polizei zu tun gehabt. Nichts in ihrem Haus deutet auf etwas Unnormales hin. An den Wänden hängt gute Kunst, oder zumindest sind es Werke, von denen ich glaube, daß sie gut sind, sie stellen nämlich nicht das geringste dar. Wie es sich gehört, mit anderen Worten.«

»Die klassische Frage: Hatten sie einen Anrufbeantworter?«

Ottosson beugte sich vor, um Riis prüfend anzuschauen, der bequem zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß.

»Keine Nachrichten«, antwortete Riis.

»Ein Kalender oder ein Adreßbuch?«

»Bis jetzt haben wir nichts dergleichen gefunden. Er trägt ihn wahrscheinlich bei sich.«

»Was wissen wir über seine Arbeit?«

Ottosson versuchte, nach Riis’ Tiraden wieder die Initiative zu ergreifen.

»Nur eines war komisch«, sagte Riis, der den Themenwechsel einfach ignorierte. »Es gab keine Blumen. Keine einzige Topfpflanze. Könnt ihr euch das vorstellen?«

»Allergiker?«

»Wer ist denn allergisch gegen Pflanzen?«

Eine seltsame Stille breitete sich im Raum aus, so als würden alle versuchen, sich ein Zuhause ohne Pflanzen vorzustellen.

Was für eine Truppe, dachte Norrman, hier sitzen wir und schwitzen zusammen mit Ottosson, der mit seinem Bart und seinem sanften Blick wie Jesus aussieht. Wer ist Judas? Wer ist Petrus? Und wer ist Thomas?

»Wir sind dreizehn am Tisch«, brach er das Schweigen.

Alle sahen sich zu ihm um.

»Was ist mit seiner Arbeit«, wiederholte Ottosson.

»MedForsk ist ein High-Tech-Unternehmen, das hochspezialisierte Forschung betreibt. Alle, mit denen wir gesprochen haben, sind natürlich schockiert, aber hinter dem Gefühl von Unwirklichkeit und Besorgnis spürte man ein ungeheures Selbstbewußtsein, nicht wahr, Ola?«

Ola Haver nickte.

»Ja, alle waren vom Gefühl des eigenen Erfolgs erfüllt wie eine Fußballmannschaft, die so oft gewonnen hat, daß sie sich für unschlagbar hält. Ein Team, das ins Finale gekommen ist und fest daran glaubt, es auch zu gewinnen. Ohne jeden Zweifel.«

»Ungefähr wie wir«, meinte Riis. »A winning team.«

»Sie wollen an die Börse gehen. Was bedeutet das? Viel Geld? Es steht sicher einiges auf dem Spiel, aber da kenne ich mich nicht besonders gut aus«, sagte Sammy Nilsson.

»Ausgerechnet jetzt, ist einem der Angestellten rausgerutscht«, sagte Haver.

»Könnte es einen Zusammenhang mit der Firma geben, oder geht es um ein reines Familiendrama?«

Die Frage des Leiters vom Führungs- und Lagedienst blieb unbeantwortet.

»Hatte Josefin Cederén Verbindung zu dem Unternehmen?«

»Das sind ganz schön viele Fragen«, meinte Wende, der in letzter Zeit etwas mutiger geworden war. Früher hatte er bei den Besprechungen die meiste Zeit geschwiegen und immer nur dann gesprochen, wenn eine Frage direkt an ihn gerichtet wurde. Ottosson wollte zwar frische Stimmen hören, aber gleichzeitig irritierte ihn Wendes neue Rolle ein wenig. Ich vermisse Ann, dachte er, so einfach ist das.

»Wir werden einer Frage nach der anderen nachgehen, oder besser noch, allen gleichzeitig«, sagte Sammy Nilsson. »Ich glaube, es ist allen einigermaßen klargeworden, wie die Arbeitsaufgaben verteilt sind. Heute ist Mittwoch. Molin sitzt bei MedForsk und wühlt sich durch Cederéns Computer und Papiere. Fredriksson ist draußen in Vreta. Im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden werden wir über die finanziellen und privaten Verhältnisse von Familie Cederén Bescheid wissen, wir werden Sven-Erik Cederéns Weg am heutigen Tag rekonstruiert und zumindest das Auto gefunden haben.«

Sie brachen auf. Ottosson blieb allein im Besprechungszimmer zurück. Schweigend saß er am Tisch, studierte die Fotos der Spurensicherung, eins nach dem anderen. Er murmelte etwas Unverständliches. Kann man wirklich seine Tochter überfahren? fragte er sich. Nach den Sommerferien wäre sie in die Schule gekommen.

Als er das Bild in die Hand nahm, auf dem die ausgestreckte Hand der Frau und die Furchen, die ihre Finger in den Schotter gegraben hatten, zu sehen waren, stellte er sich vor, wie sie gekämpft haben mußte.

Ottosson spürte, daß er Kopfschmerzen bekam. Nicht nur sein Kopf, sein ganzer Körper war schwer. Am Morgen hatte er sich noch über das schöne Wetter gefreut, über den beginnenden Sommer und auf die morgendliche Besprechung mit Sammy Nilsson und Lindell, denn er hatte soeben die Genehmigung erhalten, die Gehälter der beiden zu erhöhen.

4

Auf dem äußersten Rand des Bootsstegs hockte eine Möwe. Es sah fast aus, als betrachte sie ihr Spiegelbild im Wasser und bewundere ihr weißes Gefieder, die sanfte Biegung des Schnabels und den Glanz der Augen. Ihr Kopf drehte sich ein wenig, so als hätte sie Edvards Schritte gehört oder als wolle sie eine andere Perspektive auf ihr Spiegelbild bekommen.

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