Das Stockholm Oktavo - Karen Engelmann - E-Book

Das Stockholm Oktavo E-Book

Karen Engelmann

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Beschreibung

Ein außergewöhnlicher Historienroman mit jeder Menge Spannung und einem Hauch Mystik! Europa im 18. Jahrhundert: der Kontinent befindet sich im Umbruch, blutige Revolutionen sind im Gange. In Schweden fürchtet König Gustav III. um seinen Thron, da er sogar am eigenen Hof von Feinden umgeben ist. Die ungewisse Zukunft des Königreiches beschäftigt auch die einflussreiche Wahrsagerin Sofia Sparv und ihren Freund Emil Larsson. Als Sofia Emil die Karten legt, offenbaren diese, dass sein Schicksal mit dem von acht weiteren Personen verknüpft ist. Diese geheimnisvolle Verbindung kann weitreichende Folgen für ganz Schweden haben...-

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Karen Engelmann

Das Stockholm Oktavo

Aus dem Amerikanischen von Gaby Wurster

Roman

Saga

Das Stockholm Oktavo

 

Übersezt von Gaby Wurster

 

Titel der Originalausgabe: The Stocholm Octavo

 

Originalsprache: Englisch

 

Coverbil/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2013, 2021 0 und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726922400

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Für Erik

Dramatis Personae

Emil Larsson

Sekretär des Zoll- und Steueramtes von Stockholm (»der« Stadt)

 

Sofia Sparv

Besitzerin eines Spielsalons in der Gråmunkegränd, wo sie auch die Kunst des Kartenlesens und Hellsehens ausübt.

 

König Gustav III.

Seit 1771 Herrscher und seit 1772 König von Schweden.

Gast, Kunde und Freund von Sofia Sparv.

 

Herzog Karl

Gustavs jüngerer Bruder, Anhänger der Patrioten, einer gegen

Gustav gerichteten Gruppierung.

 

General Karl Frederick Pechlin

Langjähriger Gegner Gustavs und Anführer der Patrioten.

 

Die Uzanne (Baroness Kristina Elisabeth Luisa Uzanne)

Fächersammlerin, Lehrerin, Liebling des Adels und Herzog Karls.

 

Carlotta Vingström

Mannbare Tochter eines wohlhabenden Weinhändlers und Uzannes Protégée.

 

Kapitän Hinken

Schmuggler.

 

Johanna Blom, geb. Grå

Apothekerlehrling und Ausreißerin nach Stockholm.

 

Meister Fredrik Lind

Bester Kalligraph der Stadt.

 

Christian Nordén

Schwedischer Fächerhersteller, in Frankreich ausgebildet, geflohen aus dem Paris der Revolution.

 

Margot Nordén

Christans französischstämmige Gattin.

 

Lars Nordén

Christians jüngerer Bruder.

 

Anna Maria Plomgren

Kriegerwitwe.

 

sowie

verschiedene und ganz unterschiedliche Bürger der Stadt Stockholm.

Vorwort

Das Stockholm-Oktavo wird nie in offiziellen Dokumenten auftauchen. Kartomantie ist kein Gegenstand für Staatsarchive – waren die Hauptbeteiligten doch Kartenspieler, Händler und Frauen – und kaum ein Thema für Gelehrte. Dennoch verdient sie Aufmerksamkeit, daher diese Niederschrift. Ich habe diese Geschichte aus Erinnerungsfetzen zusammengestellt, die meisten neigen dazu, dem Memoirenschreiber zu schmeicheln. Diese Fragmente wurden angereichert mit Informationen, zusammengetragen aus Regierungsunterlagen, Kirchenregistern, von unzuverlässigen Zeugen und unverhohlenen Lügnern sowie von Leuten, die alles mit den Augen der Dienerschaft oder der Bekanntschaft »sahen«, Leuten, die von der Familie als entfernte Cousins fünften Grades verflucht wurden und die Dinge aus dritter oder vierter Hand hörten. Der harte Kern meiner Quellen war jedoch bestrebt, offen zu sein, denn diese Menschen hatten nichts zu verbergen – und in gewissen Fällen rückten sie nachgerade bereitwillig mit der Wahrheit heraus, wenn diese dazu führte, einem Ruf zu schaden, der bekanntlich auf Täuschung gründete. Ich habe diese Informationen auf Überschneidungen und bestätigende Wiederholungen geprüft und konnte diese verdienstvollen Quellen herausarbeiten. Mitunter jedoch gab es keine Angaben, daher baut manches, was ich nun erzählen will, auf Spekulation und Hörensagen auf.

Man nennt es auch Geschichte.

Emil Larsson, 1793

TEIL I

Arte et Marte – »Friedens- und Kriegskunst«

Inschrift über dem Portal des Riddarhuset, des

Versammlungshauses des schwedischen Adels in Stockholm

KAPITEL 1

Stockholm 1789

Quellen: E. L., Polizeimeister X., Herr F., Baron G., Madame S.,

Archivar D. B. vom Riddarhuset

 

Stockholm wird das »Venedig des Nordens« genannt, aus gutem Grund. Reisende halten es für ebenso labyrinthisch, groß und geheimnisvoll wie seine Schwester im Süden. Im kalten Mälarsee und in den verschlungenen Wasserwegen der Ostsee spiegeln sich herrschaftliche Paläste, strohgelbe Stadthäuser, anmutige Brücken und wendige Skiffs, auf denen die Einwohner zwischen den vierzehn Inseln der Stadt unterwegs sind. Anders als Venedig jedoch, das sich in ein sonniges, hochentwickeltes Venetien hinein ausdehnen konnte, bilden die tiefen Wälder, die diesen glitzernden Archipel säumen, einen dunkelgrünen Saum voller Wölfe und anderer Wildheiten, der gleich hinter der Stadt in ein archaisches Land und in das rohe Leben der Bauern führt. Aber an der Schwelle zur letzten Dekade dieses Jahrhunderts, in den letzten Jahren der aufgeklärten Herrschaft Seiner Majestät König Gustavs III., dachte ich nur selten an das Hinterland und seine versprengten darbenden Bewohner. Die Stadt hatte so viel zu bieten, alle Möglichkeiten schienen offenzustehen.

Allerdings erschien diese Zeit auf den ersten Blick nicht als die beste. Vieh wurde oft mitten in den Häusern gehalten, baufällige Sodendächer moderten vor sich hin; Pockennarben, Schleimhusten und unzählige andere, nicht zu übersehende Symptome von Krankheiten, die die Bevölkerung heimsuchten, waren allgegenwärtig. Zu jeder Stunde schlug die Totenglocke, denn der Tod fühlte sich in Stockholm heimischer als in jeder anderen europäischen Stadt. Der Gestank offener Kloaken, verfaulter Nahrungsmittel und ungewaschener Leiber verpestete die Luft. Doch inmitten dieses düsteren Tableaus konnte man einen Blick auf ein wasserblaues Seidenwams mit goldgesticktem Vogelmuster erhaschen, man konnte das Rascheln einer Taftrobe und Verse aus der französischen Lyrik hören, konnte rosenduftende Pomade und Eau de Cologne riechen, herangetragen vom selben Wind, in dem auch eine Melodie von Bach, Bellman oder Kraus schwang – die wahren Kennzeichen der gustavianischen Zeit. Ich wünschte mir, diese goldene Ära würde ewig andauern.

Ihr Niedergang sollte unvergesslich werden, doch fast alle verpassten den Anfang vom Ende. Das war nicht sonderlich überraschend, rechneten die Menschen doch nur im Zusammenhang mit gewaltsamen Ausschreitungen mit einer Revolution – Amerika, Holland und Frankreich waren die jüngsten Beispiele dafür. In jener Februarnacht, in der unsere stille Revolution begann, war es jedoch ruhig in Stockholm, die Straßen waren so gut wie ausgestorben, und ich spielte Karten bei Madame Sparv.

Wie jeder andere in der Stadt liebte auch ich das Kartenspiel. Wo Menschen zusammenkamen, gab es auch Karten, und wer nicht mitspielte, galt nicht nur als unhöflich, sondern als tot. Man vergnügte sich bei allen möglichen Partien am Tisch, Boston Whist aber war unser Nationalspiel. Spielen war ein Beruf, dem, ähnlich der Prostitution, lediglich eine Zunft und ein Wappen fehlten, dennoch war er in der gesellschaftlichen Architektur der Stadt eine anerkannte Säule. Es schuf auch eine Art soziale Durchlässigkeit: Menschen, mit denen man sonst niemals Umgang pflegen würde, saßen einem am Kartentisch gegenüber, vor allem wenn man zu den eingefleischteren Spielern gehörte, die Zutritt zu Sofia Sparvs Spielsalon hatten.

Einlass in dieses Etablissement zu bekommen war sehr begehrt. Trotz der gemischten Gesellschaft – hochwohl und nieder geboren, Damen und Herren – bedurfte es dazu einer persönlichen Empfehlung, nach der die französischstämmige Madame Sparv ihre neuen Gäste mit Hilfe eines unergründlichen Systems eingehend prüfte: Spielgeschick, Charme, politische Haltung, ihre eigenen verborgenen Neigungen. Fiel man durch ihr Raster, hatte man für immer verspielt. Ich bekam eine Einladung über den Polizeispitzel in der Straße, mit dem ich einen intensiven, fruchtbaren Austausch von Informationen und Waren in meiner Eigenschaft als Angestellter der Zoll- und Steuerbehörde der Stadt pflegte. Ich hatte die Absicht, ein vertrauenswürdiger Stammgast von Madame Sparv zu werden und mein Glück in jeder Hinsicht zu machen. So wie unser König Gustav einen eisigen, provinziellen Landstrich übernommen und ihn in eine Hochburg der Kultur und Vornehmheit verwandelt hatte, so wollte ich vom Botenjungen zum geachteten rot livrierten Sekretär aufsteigen.

Madame Sparv betrieb ihren Salon im zweiten Stockwerk eines alten Treppengiebelhauses in der Gråmunkegränd Nummer 35, verputzt im allbekannten Gelb der Stadt. Von der Straße betrat man es durch ein Steinportal, in dessen Scheitelstein ein aufmerksames Gesicht eingemeißelt war. Die Gäste behaupteten, die Augen würden sich bewegen, doch als ich in dem Haus war, bewegte sich nichts außer einer beachtlichen Geldsumme aus meiner Tasche heraus und in meine Tasche hinein. An diesem ersten Abend war mir vor Aufregung zugegebenermaßen ganz flau im Magen, aber als wir die gewundene Steintreppe hinaufstiegen und ins Foyer traten, fühlte ich mich ausgesprochen wohl. Die Atmosphäre war warm und gastlich, es gab hellen Kerzenschein und bequeme Stühle. Der Spitzel stellte mich Madame Sparv gebührend vor, ein Dienstmädchen reichte mir ein Glas Weinbrand von einem Tablett. Teppiche dämpften die Geräusche, die Fenster waren mit dunkelblauem Damast verhangen, sodass die Räume zu jeder Zeit in ein Dämmerlicht getaucht waren. Diese Stimmung kam sowohl den Spielern an den Tischen zugute als auch den Kunden, die auf eine Konsultation warteten, denn in einem privaten Gemach am Ende einer schmalen Stiege übte Madame Sparv auch die Kunst des Hellsehens aus. Sie beriete König Gustav, hieß es. Jedenfalls verhalf ihr dieses zweifache Geschick mit den Karten zu einem hübschen Einkommen und ihrer exklusiven Spielergemeinde zu einem zusätzlichen Schauder der Wonne.

Der Spitzel fand einen Tisch und einen dritten Mann, ich suchte gerade einen vierten Mitspieler, als ein grinsender Kerl mit fauligem Zahnfleisch ankam, dem Spitzel etwas ins Ohr flüsterte und dessen sonst steinigem Gesicht ein Lächeln abrang. Ich setzte mich, nahm eines von zwei Kartenspielen aus einer Schatulle und klopfte es ordentlich zusammen. »Gute Neuigkeiten?«, fragte ich.

»Kommt darauf an, für wen«, antwortete der Mann.

Der Spitzel setzte sich und klopfte auf den Stuhl neben sich. »Sie sind ein Königsfreund, nicht wahr, Herr Larsson?«

Ich nickte. Ich war ein glühender Royalist – genauso wie Madame Sparv, wenn man von den Porträts ausging, die im Foyer hingen: Gustav III. von Schweden und Ludwig XVI. von Frankreich.

Der Mann reichte mir die Hand, nannte mir seinen Namen, den ich gleich wieder vergaß, und schob seinen Stuhl an den Tisch. »Riddarhuset ist unter Waffen«, verkündete er. »König Gustav hat zwanzig führende Mitglieder der Patrioten verhaftet. General Pechlin, den alten von Fersen und sogar Henrik Uzanne.«

»Dann müssen sie ausnahmsweise ja mal etwas Bemerkenswertes getan haben«, sagte ich und mischte die Karten.

»Es geht um das, was sie nicht getan haben, Herr Larsson.« Der Mann mit dem fauligen Grinsen beugte sich vor und hob die Hand zum Zeichen, dass wir schweigen sollten. »Die Adelspartei hat die Unterzeichnung der königlichen Vereinigungs- und Sicherheitsakte verweigert. Sie ist empört über die Vorstellung, dass das gemeine Volk dieselben Rechte und Privilegien bekommen soll, die bislang dem Adel vorbehalten waren. Gustav hat der Adelspartei Einhalt geboten und verhindert, dass ihre ablehnende Haltung sich ausbreiten und der aufgeklärten Gesetzgebung ein Ende bereiten könnte. Die drei niederen Stände haben unterschrieben, Gustav hat unterschrieben. Die Akte ist nun Gesetz.«

Ich verharrte kurz mit den Karten in der Hand und beobachtete, wie die drei anderen Männer die Vision eines neuen Schwedens in ihren Köpfen wälzten.

»So eine Errungenschaft kommt anderswo nur durch blutige Revolutionen zustande«, sagte der Spitzel ehrfürchtig. »Gustav hat die Bedrohung mit dem Federkiel erstickt.«

»Erstickt?«, fragte der dritte Spieler und leerte sein Glas. »Der Adel wird sich zusammenschließen und mit Gewalt darauf antworten – so wie ’43, so wie überall. Es geht in diesem Gesetz um die Einheit.«

»Und wo ist die Sicherheit?«, fragte ich. Da keiner etwas sagte, hielt ich die Karten hoch: »Boston Whist?«

Madame Sparv, die unserem Gespräch aufmerksam gelauscht hatte, nickte mir mit billigendem Blick zu – sie wollte das Thema Politik also eindeutig vertagt wissen. Ich teilte die Karten an vier Hände aus, weiße Rückseiten auf grünem Billardtuch.

»Wurde auch der Bruder des Königs festgenommen?«, fragte der Spitzel neugierig. »Karl ist neuerdings de facto Anführer der Patrioten.«

»Karl – Anführer?« Der Mann verzog das Gesicht. »Herzog Karl wechselt die Seiten wie die Frauen. Und Gustav kann nicht glauben, dass Karl ein Komplott gegen den Thron schmiedet. Er hat ihm sogar die Gunst gewährt, es zu beweisen: Er hat seinen lieben Bruder zum Militärgouverneur von Stockholm ernannt.«

»Und deswegen schlafen wir heute Nacht alle besser«, sagte ich und fächerte meine Karten auf. »Aber jetzt müssen Sie Ihre Einsätze tätigen.«

Das Gespräch verstummte. Man hörte nur das Klatschen und Schleifen der Karten, das Klimpern von Münzen und das Rascheln von Banknoten. An den Tischen schlug ich mich in jener Nacht außerordentlich gut, Spielen war ein Talent, an dem ich ständig feilte. Auch dem Spitzel erging es gut, denn es war in Madame Sparvs Interesse, die Polizei zu schmieren, obschon ich nicht sagen konnte, wie sie die Partien manipulierte, denn er spielte nicht besonders geschickt.

Kurz vor drei Uhr stand ich auf und streckte mich. Madame Sparv kam zu mir und umfasste meine Hand. Sie hatte ihre Blütezeit lange hinter sich und war schlicht gekleidet, doch im weichen Schimmer des Kerzenscheins und des Alkoholdunstes erstrahlte sie in früherem Glanz. Sie hielt den Atem an und zog mit einem langen, schlanken Finger eine Linie auf meiner Handfläche nach. Ihre Hände waren kalt und zart, sie schienen über meinen zu schweben und sie gleichzeitig sanft zu wiegen. Mein einziger Gedanke in diesem Moment war, dass sie eine ausgezeichnete Taschendiebin abgeben würde, aber für Schnickschnack war sie nicht zu haben – ich prüfte danach meine Taschen –, und ihr Blick war warm und ruhig.

»Sie sind für die Karten wie geschaffen, Herr Larsson, und hier in meinem Salon werden Sie spielen und größten Nutzen daraus ziehen. Ich würde sagen, wir haben noch viele Partien vor uns.«

Die warme Woge dieser Anerkennung durchspülte mich von Kopf bis Fuß, und ich erinnere mich, dass ich ihre Hand an meine Lippen führte und unsere Verbindung mit einem Handkuss besiegelte.

In jener Nacht begann ein zwei Jahre andauerndes übermäßiges Glück im Spiel, und bald sollte ich das Oktavo kennenlernen, eine Kunst der Weissagung, die nur Madame Sparv beherrschte. Sie bestand darin, acht Karten eines alten, geheimnisvollen Kartendecks auszulegen – anders als jedes Blatt, das ich bisher gesehen hatte. Im Unterschied zu den vagen Andeutungen der Zigeunerinnen auf dem Marktplatz lagen Madame Sparvs exakten Voraussagen Visionen zugrunde, und die Karten standen für acht Personen, die das vorhergesehene Ereignis verursachen würden – ein Ereignis, das eine Veränderung, eine Wiedergeburt des Suchenden mit sich brachte. Wiedergeburt steht selbstverständlich auch für Tod, aber das wurde nie ausgesprochen, wenn die Karten gelegt wurden.

Der Abend endete mit einer Reihe betrunkener Toasts: auf König Gustav, auf Schweden, auf die Stadt, die ich liebte.

»Auf die Stadt!«, sagte Madame Sparv und stieß mit mir an, die bernsteinfarbene Flüssigkeit spritzte mir auf die Hand.

»Auf Stockholm«, antwortete ich mit einem sentimentalen Kloß im Hals, »und das gustavianische Zeitalter!«

KAPITEL 2

Zwei wundervolle Jahre und ein schrecklicher Tag

Quelle: E. L.

 

Binnen sechs Monaten seit meinem ersten Besuch stieg ich zu Madame Sparvs Partner auf. Sie sagte, sie kenne nur zwei andere Spieler meines Talents: Sie selbst, der andere war tot. Das war ein Kompliment, keine Warnung.

Madame Sparv betrog zwar gelegentlich, wie alle, aber sie betrieb nicht die übliche Falschspielerei mit gezinkten Karten, sie bewarb ihr Haus auch nicht über die Maßen, damit die Spieler es für vornehmer und vertrauenswürdiger hielten als andere Etablissements. Sie konnte Karten so mischen, dass es nicht nachvollziehbar war, und ihr sekundenschnelles einhändiges Abheben vollführte sie mit der Unschuld eines Milchmädchens. Nur für ganz dringliche Situationen hatte sie ein vorgeordnetes Deck, außerdem konnte sie im Nu eine Karte in der Hand verschwinden lassen und sie durch eine andere ersetzen.

Manchmal ging es bei unseren Schwindeleien nicht um Gewinn, sondern darum, einen unwillkommenen Spieler dazu zu bewegen, das Lokal aus freien Stücken zu verlassen. Unsere Taktik nannte sie »Schubs«: Sie machte mich auf den entsprechenden Spieler aufmerksam, ich setzte ordentliche Summen und spielte meine Karten so, dass der Gegner unterlag, ungeachtet des Ausgangs für mich. Ich verlor sehr viel mehr, als ich gewann, und niemand würde einen Verlierer des Betrugs bezichtigen. Nach einer, höchstens zwei Nächten hatten die Gauner den Wink verstanden und kamen nicht wieder. Bei den Spitzeln dauerte es länger, weil sie keine Spieler waren, aber am Ende schlichen auch sie sich davon. Madame Sparv belohnte meine diskrete Mithilfe, indem sie meine Verluste mehr als nur ausglich und mit mir ihre exklusiven Flaschen aus dem Keller teilte.

Genau wie sie es am ersten Abend vorausgesagt hatte, hatte ich nach einem Jahr in ihrer liebevollen Schule ausreichend Geld gemacht, um mir auf dem Zoll- und Steueramt eine Position zu erkaufen – ein fast unmöglicher Aufstieg für jemanden, der mit nichts begonnen hatte. Ich entstammte einer Familie roher und frömmelnder Bauern in Småland, doch unsere Wege hatten sich schon vor langer Zeit endgültig getrennt. Die einzige Gemeinschaft, der ich angehörte, war eine nichtamtliche Bruderschaft, in der Stadt als »Orden zum Ruhme Bacchi« bekannt, ein freimütiger, seelenvoller Haufen, der genauso schnell heulte wie lachte und dem Liedgut frönte, auch wenn er zu besoffen war, um zu stehen, und zu arm, um die Zeche zu bezahlen. Die Mitgliedschaft erforderte viel Zeit in den siebenhundert Stockholmer Schänken, und man musste dafür vom Hohen Priester des Ordens, dem Genie und Komponisten Carl Michael Bellman, mindestens zweimal betrunken aus der Gosse gezogen werden. Doch die Bruderschaft erwies sich sowohl für mein Wesen als auch für meinen Geldbeutel als viel zu beschwerlich, und so verbrachte ich meine Nächte beim Kartenspiel. Wenn ich nicht am Spieltisch saß, dann zu Hause vor dem Spiegel, um mich darin zu üben. Meine Hingabe verband mich engstens mit Madame Sparv, und mein Vermögen wuchs stetig.

Im Frühjahr 1791 hatte ich den Eindruck, jeden in der Stadt zu kennen, zumindest vom Sehen, angefangen bei den Huren in der Baggensgatan bis zu den Adligen, die diese freiten. Sie hingegen kannten mich nicht, dafür trug ich stets Sorge. Es lag in meinem persönlichen und beruflichen Interesse, dass man mich sofort wieder vergaß; so entkam ich Zwistigkeiten, Verpflichtungen und gelegentlichem Rachedurst. Mein roter Beamtenrock öffnete mir Türen und Geldbörsen und eine ansehnliche Zahl weicher, weißer Schenkel. Neben meinem Salär bezog ich Provisionen aus allen beschlagnahmten Waren und konnte mir einen ausgezeichneten Weinkeller »importieren« sowie hochelegante italienische Stiefel und Hausrat für die neue Wohnung, die ich in der Skräddargränd mitten in der Stadt gemietet hatte. Ich erschien gegen Mittag im Büro, machte die Ablage und empfing Anweisungen, um drei Uhr trank ich mit meinen Kollegen Kaffee in der Schwarzen Katze, danach ging ich nach Hause, nahm ein kleines Abendessen ein und hielt ein Schläfchen, bevor ich loszog. Meine Hauptaufgabe bestand darin, Schmuggler zu entlarven und verdächtige Ladungen zu kontrollieren, was meist nachts an den Docks und in den Lagerhäusern geschah. Ich verbrachte viel Zeit damit, Informationen in Kaffeehäusern, Wirtschaften und Schänken zu sammeln, die die Stadt übersäten wie heitere Laternen. Dabei kam ich mit Damen und Herren jeder Provenienz in Kontakt. Meine Befragungsmethoden wurden als andächtige Begeisterung interpretiert. Für einen Junggesellen war es der ideale Beruf, noch besser für einen Kartenspieler, der sich bestens darauf verstand, Gesichter und Gesten zu lesen und einen Bluff zu wittern.

Dann tat sich ein Riss in meinem perfekten Leben auf.

Es war an einem schönen Junitag, am Pfingstmontag. Mein Vorgesetzter, ein überaus gottesfürchtiger Mann mit Mundgeruch, rief mich gleich am Morgen zu sich. Ich ging zwar sonntags zum Gottesdienst – ansonsten konnte man bestraft werden –, er fand dies jedoch nicht ausreichend für einen Mann, der seine Zeit in Gesellschaft von Trunkenbolden, Dieben, Spielern und leichten Mädchen verbrachte. Ich führte an, dies gehöre zu meinen Pflichten und der Heiland selbst habe solchen Umgang gepflegt. Mein Vorgesetzter runzelte die Stirn. »Aber dies war nicht Seine ausschließliche Gesellschaft«, sagte er und faltete die Hände auf dem Schreibtisch. »Es gibt ein menschliches Antidot zu dem Gift, das Sie umgibt, Herr Larsson.«

Ich war völlig verdutzt. »Jünger?«, fragte ich.

Er wurde absonderlich rot. »Nein, Herr Larsson, den Ehestand.« Er stand auf, beugte sich über den Schreibtisch und reichte mir eine billige Broschüre mit dem Titel Was für die heiligen Bande spricht. »Die Regierung ermutigt junge Mädchen mit der Jungfrauen-Lotterie dazu. Ich selbst will meinen Teil durch neue Auflagen für Sekretäre beitragen: Heirat. Bischof Celsius billigt es zu hundert Prozent. Sie, Herr Larsson, sind der einzige Sekretär, der noch nicht einmal eine Heirat ins Auge gefasst hat. Ich verlange von Ihnen, dass Sie bis Mittsommer das Aufgebot bestellen.«

Ich schlug die Broschüre auf und gab vor zu lesen. Ich profitierte zwar vom Kartenspiel, aber eine hitzige Hand konnte allen Gewinn wieder verspielen, und auf den Falschspieler, der leichtsinnig wurde – und das wurden sie alle irgendwann –, wartete das Gefängnis. Nein, ich würde meinen roten Rock, meinen Titel, meine neu entdeckte Behaglichkeit, meine Räumlichkeiten im Herzen der Stadt nicht aufgeben. Mit ein bisschen Glück würde ich zusätzlich zu einer stattlichen Mitgift eine ständige Haushälterin bekommen. Zuallermindest würde die Ehe mir weiterhin das Leben ermöglichen, das ich schätzte.

KAPITEL 3

Das Oktavo

Quellen: E. L., Madame S., A. Vingström,

die Damen N. und C. Kallingbad

 

In jeder Straße gab es Kuppler und Wichtigtuer, die ein Dutzend heiratsfähiger Mädchen nennen konnten – die aber waren entweder arm oder schon alte Jungfern. Pflichtschuldig stellte ich eine Liste zusammen, die ich meinem Vorgesetzten zeigen konnte, schindete aber Zeit, indem ich erklärte, vor einer Heirat ohne echte Gefühle zurückzuschrecken. Er bot an, sich für mich in seinen »höheren« Kreisen umzuhören, doch ich hegte keinerlei Zweifel, dass diese Mädchen so tugendhaft wie unattraktiv und stumpfsinnig waren. Und gerade als ich kurz davorstand, aus diesem erbärmlichen Grüppchen eine Frau wählen zu müssen, tauchte Carlotta Vingström auf. Wir trafen zufällig zusammen, als ich geschäftlich mit ihrem Vater zu tun hatte, einem erfolgreichen Weinhändler, der ein konfisziertes Schiff aus Spanien auslösen wollte. Carlottas Haar war honigblond, ihre Haut von warmem Pfirsichrosa, und sie hatte üppige Rundungen, die auf eine üppige Küche schließen ließen. Carlottas Anblick inmitten all dieser Flaschen und Fässer verleitete mich dazu, ihr noch am selben Tag ein Sträußchen zu kaufen. Mit ihr könnte ich meinen roten Rock behalten und nebenbei das Eheglück finden!

Carlottas Mutter hatte ihre Tochter zweifelsohne darauf vorbereitet, ein, zwei Sprossen auf der sozialen Leiter hinaufzuklettern, Carlotta jedoch schenkte mir, binnen weniger Minuten nachdem wir einander vorgestellt worden waren, einen koketten Blick. Ich eilte nach Hause und schrieb einen Brief, doch es kam keine Ant-wort. Ich hatte eben keine Ahnung, wie man um eine Frau warb! Also spazierte ich an jenem Sommerabend zu einer Partie Boston Whist und einem schönen Portwein zu Sofias Haus und hoffte, die Karten würden mir weiterhelfen. Es war ein Sonntag, der Abend war beliebt für Bälle und Feste, in der Ferne hörte ich, wie ein Waldhorn geblasen wurde – Auftakt zu einem Gelage. Der Klang hob meine Stimmung, und ich stieg die gewundene Steintreppe zwei Stufen auf einmal hinauf. Katarina, Madame Sparvs Hausmädchen, begrüßte mich mit der spröden Sachlichkeit, die gegenüber Spielern angebracht war, und ich gesellte mich an einen Tisch voller reicher, unerfahrener Spieler. Gerade wollte ich meinen Stich mit der Dame einstreichen, da beugte sich Madame Sparv zu mir und flüsterte: »Ganz kurz, Herr Larsson, es ist wichtig.« Wie die Höflichkeit es gebot, stand ich auf und folgte ihr durch den Saal.

»Was ist passiert?«, fragte ich leise. Mir fiel auf, dass sie die Hände rang.

»Nichts ist passiert. Ich hatte eine Vision. Und wenn sie einen anderen Menschen betrifft, stehe ich unter Schwur, sofort davon zu berichten.« Sie hielt inne, nahm meine Hand und starrte auf meine Handfläche. »Hier sind die gleichen Hinweise.« Sie blickte lächelnd auf. »Liebe und Verbundenheit.«

»Wirklich wahr?«, fragte ich bass erstaunt.

»In meinen Visionen sehe ich die Wahrheit. Sie ist aber nicht immer so zart. Kommen Sie.«

Sie ging zur Treppe, und ich folgte ihr in ihr Zimmer im Oberstock. Wie in den Spielsälen gab es auch hier schwere Vorhänge und einen dicken Teppich, aber es roch weniger nach Tabakrauch und mehr nach Lavendel, die Temperatur wurde absichtlich kühl gehalten. Der Raum war gemütlich und schlicht eingerichtet – nur ein runder Holztisch mit vier Stühlen, eine Anrichte mit Weinbrand und Wasser und zwei Ohrensessel neben einem Ofen mit moosgrünen Kacheln. Ich hatte schon einigen Kartenlege-Sitzungen beiwohnen dürfen, für gewöhnlich wenn ein einsamer, schüchterner Kunde wünschte, einen anderen Normalsterblichen an seiner Seite zu haben. Bis auf eine Sitzung fand ich alle unseriös. Doch jenes eine Mal hatte Madame Sparv erklärt, sie habe eine Vision, und uns gebeten, sie nicht anzusehen. Ich machte meine Augen fest zu, doch ich spürte solch eine Energie in diesem Raum und eine solche Feierlichkeit in ihrer Stimme, dass ich vor Aufregung Gänsehaut bekam. Eine gewisse Dame N. wurde in den markerschütterndsten biblischen Worten über ihr Schicksal aufgeklärt. Als die Dame das Zimmer verließ, war sie blass und zitterte, und sie kam nie wieder. Ich redete mir ein, alles sei Theater gewesen, doch kurz darauf wurden die düsteren Prophezeiungen wahr. Daraufhin zeigte ich mich bezüglich Madame Sparvs Gabe wachsamer – und war weniger geneigt, an ihren Sitzungen teilzunehmen. Eine Vision von Liebe und Verbundenheit war jedoch ein unleugbar gutes Omen. »Was genau haben Sie in Ihrer Vision gesehen?«, fragte ich.

»Sie, Herr Larsson. Die Vision hatte ich heute Nachmittag.« Sie nahm einen Schluck Wasser aus einem Glas von der Anrichte. »Ich weiß nie, wann eine Vision kommt, aber nach all den Jahren kenne ich die Hinweise, die sie ankündigen. Ich habe dann einen merkwürdigen metallischen Geschmack im Rachen, der wie eine Schlange meine Zunge hinaufkriecht.«

Wir setzten uns an den Tisch, sie legte die Hände flach auf ihre Schenkel, schloss kurz die Augen, schlug sie dann wieder auf und lächelte. »Ich sah eine Weite aus glitzerndem Gold wie Münzen, die zu einer himmlischen Musik tanzten. Dann verschmolzen alle miteinander und bildeten einen goldenen Weg. Und auf diesem Weg wanderten Sie.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Sie haben Glück, Herr Larsson – Liebe und Verbundenheit kommen nur zu wenigen.«

Ich verspürte diese angenehme Spannung, die mit der Übereinstimmung von Fragen und Antworten einhergeht, und erzählte ihr von dem Dekret meines Vorgesetzten: dass ich ein achtbarer Ehemann werden müsste, um meinen Posten beim Amt zu behalten.

»Dann war diese Vision kein Zufall«, sagte sie.

»Und dennoch steht mir nicht der Sinn nach einer ernsthaften Bindung.«

Sie langte über den Tisch hinweg und legte ihre Hand auf meine. »Man kann sie schwerlich vermeiden. Menschen treten in unser Leben, ohne dass wir sie darum gebeten hätten, und sie bleiben, ohne eingeladen zu sein. Sie übermitteln uns Erkenntnisse, die wir nicht erbeten haben, und schenken uns Dinge, die wir nicht wollen. Dennoch brauchen wir sie.« Sie beugte sich zu einer schmalen Schublade unter der Tischplatte hinunter und zog ein Kartendeck sowie ein zusammengerolltes Musselin-Tuch hervor. »Diese Karten benutze ich für die höchste Form der Weissagung, das Oktavo. Da Sie in meiner Vision so deutlich in Erscheinung traten, möchte ich diese Legetechnik bei Ihnen anwenden.«

Sie mischte ausführlich, hob drei Stapel ab und legte sie wieder aufeinander. Ich frage Madame Sparv, warum sie Karten brauchte – ihre Vision sei doch sicherlich ausreichend. Mit einer einzigen Bewegung kippte sie den Stapel und fächerte die Karten in einem weiten Bogen auf dem Tisch auf.

»Karten sind geerdet, aber sie sprechen die Sprache des Unbekannten. Sie dienen mir als Übersetzer und Führer und können uns zeigen, wie man eine Vision wahr macht.« Sie beugte sich zu mir vor und flüsterte: »In meinem eigenen Leben und während meiner Sitzungen begann ich Muster zu sehen, die die Zahl Acht beinhalteten. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass wir von Zahlen regiert werden, Herr Larsson. Ich glaube nicht, dass Gott ein Vater ist, sondern dass Er eine unendliche Zahl ist, und die drückt sich am besten in der Acht aus. Die Acht ist das alte Symbol der Ewigkeit. Liegend ist sie das Zeichen, das Mathematiker Lemniskate nennen. Stehend ist sie ein Mensch, dessen Schicksal es ist, wiederum in die Unendlichkeit zu fallen. Mathematisch wird diese Philosophie ›Göttliche Geometrie‹ genannt.«

Sie entrollte das Tuch. In der Mitte war ein rotes Quadrat dargestellt, umgeben von acht exakt spielkartengroßen Rechtecken, die ein Oktogon bildeten. Das Quadrat und die Rechtecke waren nummeriert und benannt. Über diesem Diagramm waren hauchdünne geometrische Formen, Kreise und Linien gezogen. Madame Sparv fuhr mit dem Zeigefinger das zentrale Quadrat und den mittleren Kreis nach. »Der mittlere Kreis ist der Himmel, das Quadrat darin die Erde. Geteilt werden sie durch das Kreuz, das die vier Elemente bilden. Die Schnittpunkte ergeben das Achteck, die heilige Form.«

»Woraus leitet sich diese Geometrie ab?«, fragte ich. Mathematik und Magie waren sehr en vogue.

»Das finden Sie nicht in der Broschüre eines billigen Orakels vom Markt. Das ist das Wissen von Geheimgesellschaften, uraltes Wissen, das einer Elite vorbehalten ist. Ich darf Ihnen meine Quelle nicht nennen, aber es gibt da den einen oder anderen Herrn, der bereit ist, eine Dame darin zu unterweisen. Ich habe niemals mehr erhalten als elementare Anleitungen, diese Philosophie aber steht überall für uns geschrieben. Gehen Sie zur Katharinenkirche auf Södermalm, ihr Turm übermittelt eine bedeutende Botschaft. Gehen Sie in jede beliebige Kirche, Herr Larsson – das Taufbecken ist fast immer achteckig. Diese Form steht für den achten Tag nach der Schöpfung, wenn der Lebenszyklus von neuem beginnt. Es ist der achte Tag nach dem Einzug Jesu in Jerusalem. Das Oktavo ist die Kartenverteilung der Wiederauferstehung.«

»Und was ist das kleine Quadrat ganz in der Mitte?«, fragte ich. »Es steht für Ihre Seele, die auf ihre Wiedergeburt wartet. Ein Ereignis, das ein Oktavo nahelegt, wird Sie unweigerlich grundlegend verändern.« Sie fasste über den Tisch hinweg und drückte zwei Finger mitten auf meine Brust. Ich spürte die beiden miteinander verbundenen Kreise auf meinem Brustbein. »Sie müssen die Ringe der Acht durchlaufen, um zum Ende zu gelangen«, sagte sie.

 

Mein Mund war plötzlich staubtrocken. »Aber die Acht hat kein Ende.«

Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln und zog ihre Hand zurück. »So, wie auch die Seele kein Ende hat.«

Sie fuhr fort: »Die ausgelegten Karten stehen für acht Menschen.« Sie berührte jedes Rechteck auf dem Tuch. »Jedes Ereignis, das dem Suchenden widerfahren könnte, und zwar ausnahmslos jedes, kann mit einem Kreis von acht Personen in Beziehung gesetzt werden. Und diese acht müssen zur Stelle sein, wenn das Ereignis eintreten soll.«

»Mehr als drei Menschen zugleich halte ich nicht aus, Madame Sparv, und das auch nur, wenn diese mir am Spieltisch gegenübersitzen«, sagte ich.

»Weniger geht nicht, und mehr finden Sie nicht. Diese acht Menschen können rückblickend ohne Schwierigkeiten ausgemacht werden, aber während man das Oktavo legt, erkennt man sie erst, kurz bevor das Ereignis eintritt. Der Suchende kann es dann in die Richtung beeinflussen, die er wählt. Sie müssen die acht nur antippen. Nehmen Sie es als Schicksal hin, als freiwillige Bindung.«

»Und aufgrund welches bevorstehenden Ereignisses wollten Sie nun ein Oktavo legen?«

»Es ist ein Ereignis von herausragender Bedeutung, ein Wendepunkt. Die meisten Menschen haben ein oder zwei solche Momente in ihrem Leben, aber ich kenne auch einige, die hatten vier. Liebe und Verbundenheit, die ich für Sie gesehen habe, stehen für solch ein Ereignis. Eine Vision ist oft der Katalysator dafür.«

»Das gibt mir die Hoffnung, dass ich wirklich diesen goldenen Weg einschlagen könnte! Aber ich durfte ja schon bei Ihren Sitzungen zugegen sein und habe Sie nie zuvor ein Achteck legen sehen.«

»Richtig, Herr Larsson, das ist nicht für jedermann. Ich muss das Oktavo anbieten, und der Suchende muss es akzeptieren. Er muss einen Eid leisten, dass er den Weg bis zum Ende geht.«

»Waren diese Suchenden denn in der Lage, die Ereignisse zu beeinflussen, die ihnen vorhergesagt wurden?«

»Nur diejenigen, die dem Eid, den sie geschworen hatten, auch gefolgt sind. Für jeden von ihnen hat sich die Welt verändert, und ich würde sagen, zu ihren Gunsten. Die anderen gingen im Sturm zugrunde, den sie nicht sehen wollten. Ich kann Ihnen versichern, dass mir das Wissen, das ich aus meinem letzten Oktavo gezogen hatte, große Sicherheit und Annehmlichkeiten geschenkt hat.«

»Sicherheit und Annehmlichkeiten …« Ich deutete auf den Weinbrand, der auf Madame Sparvs Anrichte stand. Sie nickte, ich goss mir ein Glas ein. Ich könnte das Oktavo dazu nutzen, Carlotta Vingström in mein Hochzeitsbett zu bekommen. Das würde mir meine Position im Amt sichern und mir zweifellos eine großzügige Mitgift bescheren, ganz zu schweigen von den Freuden, die Herrn Vingströms exzellenter Weinkeller bietet. Ein goldener Weg, in der Tat! Ich setzte mich wieder und rieb mir die Hände, um sie zu wärmen, wie ich es vor jeder Partie tat. »Dann sollte ich dieses Spiel der Acht also aufnehmen«, sagte ich.

»Wollen Sie? Es ist kein Spiel.«

»Ja«, sagte ich und faltete meine Hände im Schoß.

»Und Sie schwören, es zu vollenden?«

Ich nahm noch einen Schluck Weinbrand und stellte das Glas ab. »Ich schwöre.«

Auf einmal wurde es totenstill. Madame Sparv drückte das Kartendeck zusammen und reichte es mir. »Wählen Sie Ihre Karte – diejenige, der Sie am ähnlichsten sind.«

So begannen all ihre Sitzungen: Wenn der Suchende ein Anliegen hatte, bat sie ihn, eine Karte zu wählen, die ihn im Lichte seiner Frage am besten repräsentierte. Dass meist Könige, Damen und der eine oder andere Bube gewählt wurden, muss nicht betont werden; während einer normalen Sitzung konnte man bei der Dunkelheit, den flackernden Kerzen und dem ablenkenden schweren Atem des Suchenden die Karten auch kaum erkennen. Aber dieses hier war nicht das Standarddeck. Die Karten waren alt, aber nicht übermäßig abgenutzt, sie waren schwarz bedruckt und handbemalt. Es waren deutsche Karten, und statt der üblichen Farben Karo, Herz, Pik und Kreuz zeigten sie Kelche, Bücher, Weingefäße und etwas, das aussah wie ein Pilz, tatsächlich aber ein Stempelkissen war. Die Bildkarten bestanden aus zwei Buben, dem Unter und dem Ober, sowie dem König; die Dame war zur Zehn herabgestuft. Bild- und Augenkarten waren gleichermaßen mit einer verschlungenen Ornamentik aus Flora, Fauna und menschlichen Figuren aus jedem Lebensabschnitt verziert. Ich war versucht, die Karte zu ziehen, auf der drei Männer fröhlich in einem riesigen Weinfass schwelgten, denn ich dachte voller Zuneigung an den Bacchus-Orden.

 

»Denken Sie daran, Herr Larsson: In diesem Spiel sollen Sie sich weder schmeicheln noch selbst kritisieren. Lassen Sie sich Zeit, bis Sie sich gefunden haben.«

Dreimal sah ich das ganze Blatt durch, bevor ich meine Wahl traf. Die Karte zeigte einen jungen Mann auf einem Weg, aber er blickte über seine Schulter zurück, als würde ihm jemand oder etwas folgen. Vor ihm auf dem Boden lag ein Buch, aber er achtete nicht darauf. Am Wegrain blühte eine Blume, doch auch sie fand keine Beachtung. Dass er einen roten Rock, wie ein Sekretär, trug, war mir gleich aufgefallen. Madame Sparv nahm die Karte und legte sie lächelnd in die Mitte des Diagramms.

 

»Der Unter der Bücher. Das halte ich für eine gute Wahl. Bücher sind das Zeichen für Strebsamkeit, und ich weiß, dass Sie hart für Ihren Rock gearbeitet haben. Diesem Mann stehen zwar alle Möglichkeiten offen – das Buch, das Schwert, die Blume –, er aber nutzt sie nicht. Noch nicht.« Ich spürte ein Kribbeln im Nacken. Madame Sparv nickte zu dem Diagramm hin. »Die graphische Darstellung zeigt die Rollen, die Ihre acht Personen spielen werden. Es kann sein, dass sie nicht in der genauen Reihenfolge vorkommen, und ihre Rollen sind auf den ersten Blick auch nicht immer ersichtlich: Der Lehrmeister kann wie ein Hanswurst daherkommen, und der Gefangene scheint nicht befreit werden zu müssen. Beim Oktavo muss man einen dritten oder auch vierten Blick auf die Menschen um einen herum werfen und sich vor überstürzten Urteilen hüten.« Sie mischte noch einmal und bat mich, abzuheben, dann schloss sie die Augen und drückte das Deck wieder zwischen ihren Handflächen zusammen. Vorsichtig legte sie eine Karte halblinks unter den Suchenden. »Karte 1. Der Gefährte.« Dann legte sie im Uhrzeigersinn sieben weitere Karten zu einem Achteck aus:

Sie blickte lange auf die Karten und murmelte die Namen aller acht.

»Wer ist das nun?«, fragte ich schließlich, und mein Blick wurde von der liebreizenden Dame der Weingefäße angezogen. Carlotta?

»Das weiß ich noch nicht. Wir wiederholen das Legen, bis eine Karte zweimal vorkommt; das ist das Zeichen, dass sie bleiben will. Sie kommt dann an die erste freie Stelle im Diagramm.« Sie ließ mir kurz Zeit, damit ich mir die Lage der Karten einprägen konnte, dann sammelte sie alle bis auf den Unter der Bücher wieder ein und mischte. »Zweiter Durchgang. Aufgepasst!« Sie legte weitere acht Karten aus.

Ich wartete gespannt auf die Dame, aber diesmal lag dort ein ganz anderes Grüppchen. »Wo ist meine Liebeskönigin?«, fragte ich.

Sie schob die acht Karten zurück in den Stapel und begann wieder von neuem.

»Wenn bei dieser Runde keine wiederkommt, mache ich mir ein Kreidezeichen auf einer Schiefertafel.«

Dieses Mal drückte Madame Sparv die Karten lange in den Händen, bevor sie sie legte. Ich beobachtete alles sehr genau, konnte aber nichts Merkwürdiges feststellen, außer dass es mir in diesem Zimmer übermäßig warm vorkam. »Kann ich das Fenster einen Spalt öffnen?«, fragte ich leise.

 

»Schsch!«, zischte sie mich an, dann legte sie die dritte Runde.

»Da ist sie!« Ich spürte das Prickeln, das alle Spieler kennen, wenn die Karte kommt, auf die sie gewartet haben.

 

»Ihr Gefährte.« Madame Sparv legte die Dame der Weingefäße auf die erste Position im Diagramm und lehnte sich zurück. Sie lächelte nicht mehr wie ein Mädchen auf der Suche nach einer Liebschaft. »Der Gefährte, in diesem Fall eine Sie, ist von entscheidender Bedeutung, denn die acht anderen kreisen auf ihrer Bahn. Sie wird in Ihrem Leben, in Ihren Gesprächen, Ihren Träumen auftauchen. Sie wird von Ihnen angezogen und Sie von ihr. Sie können zusammenarbeiten oder Widersacher sein.«

»Ich bin sicher, dass wir ein harmonisches Paar werden«, sagte ich.

»Die Dame der Weingefäße ist eine Frau mit Macht und Möglichkeiten, die Weingefäße stehen für Überfluss. In der Regel für Geld. Allerdings kann jeder Karte die Rolle eines Wohltäters oder aber eines Gegners innewohnen. Sehen Sie den nicht passenden Ärmel? Die abgestreiften Handschuhe? Dort ist der rankende Wein der Verstrickungen. Mit anderen Worten: Seien Sie vorsichtig!«

»Ich fühle mich ziemlich sicher, Madame Sparv. Denn könnte der Ärmel nicht einfach nur modisch sein, und könnte sie die Handschuhe nicht abgestreift haben, damit ich ihre warme Hand ergreife? Der rankende Wein ist die reiche Ernte, das Gefäß bringt einen berauschenden Wein an meinen Tisch, wahrscheinlich aus Vingströms Kellerei«, sagte ich und sah Carlottas vollen, weichen Mund vor mir.

»Nicht so übermütig, Herr Larsson«, schnaubte Madame Sparv. »Das hier hat nichts mit den Kartenspielen zu tun, die Sie kennen. Der Gefährte kann Sie zur Liebe führen, ohne zwingend selbst der Liebende zu sein. Wir müssen noch weitere sieben Personen treffen.«

»Aber sie könnte es sein.«

»Ja, sie könnte es sein«, sagte sie widerwillig. Sie nahm das ganze Deck und setzte es mit dem Bild nach unten mitten auf das Diagramm.

»Sind wir etwa schon fertig?«, fragte ich zu laut für dieses intime Beisammensein.

»Das Ritual schreibt vor, die Karten bis zum folgenden Tag ruhen zu lassen, sobald eine Position ausgefüllt ist.«

»Aber es ist Ihre Erfindung. Sie können das Ritual ändern, wenn es Ihnen beliebt.«

»Das Ritual kommt durch mich, nicht von mir. Es kommt vom Göttlichen. Oder vielleicht von den Karten selbst. Ich weiß es nicht. Das Oktavo erfordert acht aufeinanderfolgende Nächte. Morgen und in den sechs kommenden Nächten treffen wir uns wieder.« Sie nahm Feder und Tinte aus der Tischschublade und notierte sich meine persönliche Karte und die meines Gefährten in einer dünnen, ledergebundenen Kladde. »Kommen Sie gegen elf Uhr«, sagte sie und löschte die Tinte mit Sand aus einem Streuer.

»Ich soll wirklich jede Nacht kommen?«, fragte ich.

»Ja, Herr Larsson, Sie haben einen Schwur geleistet.«

»Ihre Stammbesucher haben sicherlich keine Geduld für ein so langwieriges Spiel …«

Sie lachte und ging zu ihrer Tonpfeife und dem Zündstein auf der Anrichte. »Für jemand, der nur neugierig ist, würde ich das Oktavo niemals legen. Das wäre so, als verlangte man von einer Schankwirtin, wie ein Alchimist zu denken. Die Sache ist viel zu ernst. Und es steht zu viel auf dem Spiel.«

»Und was steht auf dem Spiel?«

Sie zündete mit dem Zündstein eine Kerze an, hielt sie an ihre Pfeife und saugte am Mundstück, um die Flamme in den Pfeifenkopf zu ziehen. Sie sog den Rauch ein, blies aber nur einen einzelnen Ring wieder aus. »Liebe, Herr Larsson«, sagte sie mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen. »Liebe und Verbundenheit.«

KAPITEL 4

Die beste Empfehlung

Quellen: E. L., Madame S., Katarina E.

 

Nachdem die Dame der Weingefäße erschienen war, fühlte ich mich ermutigt, Carlotta am nächsten Morgen einen Brief zu schreiben; die Antwort kam mit der Nachmittagspost. Sie schrieb, sie finde meine geheimnisvolle Geschichte mit den Acht verlockend und meine Feder energisch und wolle mir bald Zeit und Ort nennen, wo wir uns treffen könnten. Bereits ein Fortschritt auf dem goldenen Weg! Meinem Vorgesetzen und den Kollegen auf dem Amt berichtete ich, dass ich einen ehelichen Fang am Haken hätte und wir dies bald mit einem kräftigen Punsch feiern würden. Als der Abend kam, konnte es für mich nicht früh genug elf Uhr schlagen, und so ging ich beizeiten in die Gråmunkegränd, um mir die Zeit beim Whist zu vertreiben. Ich klopfte bei Madame Sparv an, und nach einiger Zeit öffnete Katarina die Tür einen Spaltbreit.

»Sekretär! Madame Sparv sagte, Sie würden um elf kommen.«

Ich lugte über ihre Schulter. Der Flur war leer, die Spielsäle waren dunkel. »Wo sind die Spieler?«

»Sie müssen noch warten.« Katarina führte mich in den Warteraum der Suchenden, eine kleine Kammer neben der Treppe, die in den Oberstock hinaufführte. Eine einzelne Kerze in einem Wandleuchter aus Glas beleuchtete den Raum, drei Holzstühle standen an der Wand. Ich wartete fast eine Stunde, bis ich endlich Schritte auf der Treppe hörte. Ich trat in den Flur, um zu sehen, wer die Stille an den Spieltischen zu verantworten hatte, und hörte Madame Sparvs dringliche Stimme: »Nein, Gustav, diese Vision war eine Warnung an Euch!«

Dann stimmte es also! Ich wich wieder in den Warteraum zurück und beobachtete meinen König hinter der Tür. Das erste Mal hatte ich König Gustav bei seiner Krönung gesehen, damals war ich acht Jahre alt und er ein sechsundzwanzigjähriger Held voller Jugend. Als Gustav an diesem schönen Maimorgen vorbeigeritten war, glitzerte es golden vor dem hellblauen Himmel, und ich fing eine der Münzen auf, die er geworfen hatte, ganz sicher nur für mich. In den folgenden zwei Jahrzehnten hatte König Gustav einen schillernden Hof, das Königliche Theater, die Oper und die Schwedische Akademie begründet. Voltaire hatte ihn den »aufgeklärten Monarchen« genannt.

Jetzt zog der König weiße Lederhandschuhe mit Paspeln aus Silberfäden an, die im Licht der einsam brennenden Wandleuchte glänzten. »Ich finde Ihre Vision gar nicht so düster, Sofia.«

Madame Sparv schnaufte ärgerlich, König Gustav drehte sich um, und ich konnte endlich sein Gesicht sehen. Er hatte einen dicken Bauch bekommen, und er ging gebeugt, als würde das Gewicht der Jahre ihn langsam niederdrücken. Er sah aus wie jeder andere Mann seines Alters, und er suchte Antworten wie jeder andere Suchende auch.

»Das war unhöflich, Sofia, und Sie wissen, dass ich es nicht despektierlich meine. Verraten Sie mir noch einmal Ihre Vision, und ich sage Ihnen, was ich daraus ersehe.«

Madame Sparv schloss die Augen. »Die Sonne geht unter, der Himmel färbt sich von Blau zu einem feurigen Orangerot im Westen, Wolkenbänke reichen weit in den Himmel hinauf. Da steht ein stattliches, schönes Haus wie ein Palast, davor wartet eine große schwarze Reisekutsche, die Pferde blähen die Nüstern und bäumen sich auf, sie wollen unbedingt fort. Wind kommt auf, ein tosender Sturm. Die Kutsche, die Pferde und der schöne Palast werden hinweggefegt wie Sand und schweben über Stockholm wie Diamanten, wie Sterne, dann fallen sie in die tintenblauen Tiefen des Riddarfjärden und sind weg. Alles verloren, Gustav. Alles.« Sie packte ihn am Arm: »Diesen Wind finde ich bedrohlich. Er kann nicht aufgehalten werden.«

»Wir können den Wind nicht aufhalten, teure Freundin, und ich will mit ihm segeln.« König Gustav nahm Madame Sparvs Hand und hielt sie. »Ich bin begeistert von dieser Vision, Sofia, Sie haben die Bedeutung missverstanden, nicht weil Ihnen die Gabe dazu fehlt, sondern die Information. Versuchen Sie, es von meiner Warte aus zu sehen: Ein feuriger Sonnenuntergang, ein majestätisches, aber leeres Haus, das von einem Sturm hinfortgeweht wird – das deutet auf die Revolution in Frankreich hin, auf den König und die Königin, die zu Unrecht und gegen ihren Willen festgehalten werden.« Gustav dämpfte die Stimme, aber seine Erregung klang durch: »Diese Vision bestätigt den Erfolg eines Rettungsplans, der gerade in die Tat umgesetzt wird. Der junge Graf von Fersen ist in Paris und sorgt für die Durchführung, und eine schwarze Reisekutsche spielt dabei eine zentrale Rolle – genauso wie Sie es geschildert haben. Die Königsfamilie wird getarnt zu einer Burg nahe der luxemburgischen Grenze fahren. Gegen Mittsommer geht die Fahrt los, das Haus wird gerettet, die revolutionären Verräter werden wie Staub in der Seine zerstieben.«

»Ihr kennt meine Gefühle für Frankreich. Ich wäre überglücklich über Euren Erfolg«, sagte Madame Sparv. »Aber diese Vision betrifft Euch! Und der Wind … der Wind ist ein schreckliches Zeichen. Ihr müsst Euch um Euer eigenes Haus kümmern.«

»Ja, mein Haus wirkt leer.« Der König ließ ihre Hand los und zupfte an einem losen Faden seines Handschuhs. »Seit ich den Bürgerlichen einige Privilegien eingeräumt habe, hat sich gezeigt, wer die wahren Getreuen an meinem Hof sind. Aber ich muss die Monarchien in allen Ländern unterstützen, wenn der Adelsstand an sich überleben soll.« Der König winkte, und ein Offizier tauchte aus dem dunklen Flur auf. »Ich bin zum Regieren geboren so wie Sie zum Hellsehen. Wir können uns dem nicht entziehen, sosehr wir es auch wünschten.«

»Bitte bleibt. Wir könnten heute Nacht mit dem Oktavo beginnen«, sagte sie.

»Ich habe keine acht Nächte für Sie, selbst wenn ich es wollte. In wenigen Stunden breche ich nach Aix la Chapelle auf. Dort werde ich die Familie des französischen Königs empfangen.« Er nahm einen blauen Seidenrock, den der Offizier ihm reichte, und gab Madame Sparv einen Lederbeutel. »Danke für Ihre Anteilnahme, Sofia.«

»Wir sind alte Freunde, Gustav«, sagte sie liebevoll.

»Ich baue auf die wenigen, die mir bleiben«, sagte er. »Der Polizeichef ist verfügbar, wenn Sie ihn brauchen. Und Bischof Celsius tut Buße; er und seine Klerisei werden Sie nicht länger belästigen.« Der König beugte sich vor und küsste Madame Sparv auf die Wange. »Ich melde mich, sobald der französische König in Sicherheit ist. Dann müssen Sie mich dafür bezahlen, dass ich die Zeichen richtig gedeutet habe!«

Sie lachte, und ich hörte, wie sich die Schritte der beiden entfernten. Draußen stand keine Kutsche, es war ein kurzer, feuchter Fußmarsch von der Gråmunkegränd zur Sankt-Nikolai-Kirche, der Storkyrkan, gleich dahinter lag das königliche Schloss.

»Madame Sparv!«, flüsterte ich aus dem Warteraum heraus. Erschrocken fuhr sie herum. »Ich bin’s – Larsson.«

Ihre Schultern entspannten sich, aber ihre Stimme war barsch: »Gustav sieht nicht gern Spione, die nicht in seinen Diensten stehen.«

»Katarina hat mich hereingelassen«, sagte ich, immer noch verblüfft darüber, meinem König so nah gekommen zu sein. »Ist er oft bei Ihnen zu Gast?«

»Nicht so oft, wie ich es mir wünschen würde. Wir sind seit über zwanzig Jahren befreundet, Herr Larsson.«

»Wie sind Sie dem König denn begegnet? Sie müssen damals noch sehr jung gewesen sein.«

»Gustav ging mit seinem jüngsten Bruder Fredrik Adolf nach Frankreich – Herzog Karl war nicht eingeladen. Die Mutter fand ihn unwürdig.«

»Und die Prinzen brauchten eine Hellseherin?«

Sie lachte und setzte sich auf einen der Stühle im Wartezimmer. »Sie brauchten eine Wäscherin mit ausgezeichneten Französischkenntnissen. Mein Vater war Handwerksmeister, er arbeitete auf Schloss Drottningholm. Er hatte von der bevorstehenden Reise gehört und meine Dienste angeboten, weil er fand, das wäre meine Chance, dem Königshaus zu dienen und eine sichere Stelle zu bekommen – Freier mieden Mädchen mit der Gabe der Hellsichtigkeit, und so war dies unsere große Hoffnung für meine Zukunft. Außerdem wollte Vater unbedingt, dass ich meine Heimat kennenlernte – er hatte Angst, ich könnte sie vergessen. Mein Französisch war tadellos, und meine Mutter hatte mir die Geheimnisse des Bleichens und Stärkens gut vermittelt. Ich begleitete diese fröhliche Entourage als Dienerin, doch meine Hellsichtigkeit weckte das Interesse des Kronprinzen, und ich wurde gut behandelt. Gustav und sein kleiner Bruder Fredrik eroberten Paris im Sturm – Bälle und Jagdgesellschaften mit König Ludwig und Marie Antoinette, sie trafen die Brüder Montgolfier mit ihrem Riesenballon und verkehrten in den exklusivsten Salons. Karl ist darüber bis heute verärgert.«

»Haben Sie König Gustav in Paris die Karten gelegt?«

»Das konnte ich damals noch nicht, ich verließ mich auf meine Visionen. Ich sah, dass die Krone für ihn greifbar war, und sagte es ihm. Einige verspotteten mich, sie schimpften mich eine Hure des Teufels und Schlimmeres. Aber Gustav war mein getreuer Beschützer. Der alte König starb, während wir in Paris waren, Gustav wurde im Mai 1772 gekrönt. Noch immer schätzt er intuitives Wissen und sucht oft die Nähe von Menschen, die sich auf diese Kunst verstehen: Magier, Astrologen, Geomanten. Jüngst hat er einen Alchimisten angestellt, der die königlichen Schatullen füllen soll.«

 

Ich saß auf dem Stuhl neben ihr. »Und welches Bedürfnis erfüllen Sie?«

»Sein Bedürfnis nach echter Freundschaft und Wahrheit. Nichts weiter.« Sie sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Das wagen nur wenige zu bieten, und noch weniger wird deren Rat befolgt, wie Sie gesehen haben. Aber er ist ein großartiger König, Herr Larsson.«

»Ein großartiger König«, wiederholte ich. »Und er hat ganz sicher recht, Madame Sparv. In Bezug auf die Vision, meine ich. Sein Verständnis der Welt übersteigt Ihres bei Weitem.«

»Dennoch ist er ein Mann. Er sieht, was er sehen will.« Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, als wollte sie gleich einschlafen. »Doch kommen wir jetzt am besten wieder zu Ihnen«, nuschelte sie und rieb sich die Augen. Wir gingen die Stiege hinauf und setzten uns an den Tisch. Sommerregen prasselte gegen die Scheiben, im Zimmer war es kühler als in der Nacht zuvor. Sie nahm die beiden bekannten Karten aus dem Stapel, mischte lange und legte das Deck dann in die Mitte des Tischs.

Ich hob ab, sie legte aus. Nach vier Runden tauchte die zweite Karte meines Oktavos auf: Der Gefangene war das Ass der Stempelkissen. Wir beugten uns vor und studierten die Karte.

In der Mitte am oberen Rand eines Wappenschildes war das Antlitz eines Cherubs zu sehen. Direkt unter seinem Kinn schwebte ein Vogel. Zwei Löwen standen sich in getrennten Feldern gegenüber, einer hielt eine keimende Saat oder einen Wurzelstock in den Tatzen.

»Das Ass ist ein junger Mensch oder einer mit begrenzter Erfahrung und formbarem Geist. Es steht für einen Neubeginn und kann weiblich oder männlich sein«, sagte sie.

 

»Rohrkolben. Die stehen auf jeden Fall für Armut«, sagte ich, als ich die zwei Pflanzen sah, die zu beiden Seiten des Stempelkissens über dem Engelskopf in die Höhe ragten. Ich dachte an meine verarmten Cousins; alle Rohrkolben, die sie nicht aßen, verwendeten sie als Kerzen, indem sie sie in Wachs tauchten und den Stiel wie einen Docht anzündeten.

»Nicht notgedrungen. Das Stempelkissen steht für Handel und Wandel, es kann also jemand sein, der aus wenigen Mitteln etwas machen kann. Er steht in enger Verbindung mit Ihrem Gefährten – und die Königin der Weingefäße symbolisiert Reichtum –, also kann er von der Freundschaft mit ihr profitieren. Jedenfalls ist das Ihr Gefangener.«

Ich sah den hübschen Cherub an. »Könnte das Carlotta sein?«

»Vielleicht. Aber die Karten verraten ihre lebenden Pendants erst, wenn alle acht an ihrem Platz sind.«

»Ich kann nicht warten, Madame Sparv!«

»Das müssen Sie aber. Noch weitere sechs Tage.« Sie lächelte über meine Ungeduld. »Sie sind ja nicht zusammen mit Gustav im Aufbruch zur französischen Königsfamilie begriffen, oder, Herr Larsson?«

»Meine Königin ist hier in der Stadt.«

»Wenn Sie sich sicher sind, können Sie Ihren Gefangenen halten oder freilassen, je nachdem, was am besten zu Ihrem wahren Ziel führt, was auch immer es sei.«

»Ich kenne mein wahres Ziel.«

KAPITEL 5

Glücksspiel

Quellen: E. L., Madame S., Katarina E., Dame C. Kallingbad,

Hausmeister E., A. Nordell u. a.

 

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass beim Kartenspiel alle verlieren. Interessant ist, wie und was sie verlieren und was daraus folgt. Graf Oxenstierna verhielt sich wie ein perfekter Gentleman, als er bei dem Spiel La Belle zwei große Grundstücke verlor. Die Mitspieler waren erstaunt über seine Contenance, doch der Sturm, der daraufhin bei ihm zu Hause losbrach, war monatelang ein ergiebiges Gesprächsthema, das seine Gattin, seine erwachsenen Kinder, ein Teil der Bediensteten und die Irischen Wolfshunde umfasste. Doch versteckte Andeutungen und Gerüchte sind nur eine kärgliche Labsal, verglichen mit dem mitreißenden Festmahl eines großen Verlustes, dessen Augenzeuge man wird. So war es, als ich zwei wohlhabende Damen kostbarste Faltfächer am Spieltisch setzen sah. Deutlich hörte ich eine Kartenspielerin, die auf einen Bluff hereinfiel, und in diesem Moment schenkte ich meine Aufmerksamkeit dem Spiel, statt mich mit jeder Faser meines Seins auf Carlotta Vingströms schöne Brüste zu konzentrieren. Bei der Spielerin, die das Wagnis eingegangen war, handelte es sich um die Baroness, allen bekannt als »die Uzanne«, eine Frau, die nie verlor.

 

Ich will Ihnen von der Uzanne erzählen. Getauft war sie auf die Namen Kristina Elisabeth Luisa Gyllenpalm, die zwar alle einen majestätischen Anklang hatten, aber nie benutzt wurden. Als Kind war sie das Junge Fräulein, nach ihrer Heirat eine Madame. Doch im Gespräch hieß sie immer nur die Uzanne, vielleicht weil es nur eine geben konnte. Die Uzanne sammelte Faltfächer. Diese Begeisterung hatte sie mit fünfzehn Jahren entwickelt, als sie beobachtet hatte, wie eine gleichaltrige Cousine, die weder reicher noch hübscher war als sie, einen ganzen Salon mit ihrem kunstvollen Gewedel in Bann schlug. Die Uzanne, damals noch das Junge Fräulein, konnte ihre Cousine überreden, sie in diese fesselnde Sprache einzuführen. Männer und Frauen kannten die Zeichen des Fächers gleichermaßen, und wie in jeder Sprache konnte man desto mehr ausdrücken, je geübter man war. Bald war die Schülerin darin geschickter als die Lehrerin. Zuschnappen, sinken lassen, Drehungen des Handgelenks, kleine Schläge, Fächeln und sehnsüchtiges Streicheln füllten die Lücken, die unaussprechliche Worte des Verlangens hinterließen. Die Uzanne wusste, in welchem Winkel sie den Fächer über ihre Brust halten musste, wenn sie als Kurtisane betrachtet werden wollte oder auch nicht, und wie sie mit einem Blick über einen halbgeschlossenen Fächer jeden Mann auf ihre Seite ziehen konnte. Die Gesellschaft riss sich um die Anwesenheit der Uzanne auf Bällen und in Salons. Die eifersüchtige Cousine sann auf Rache und gab ihr beim jährlichen Figurentanz einen bürgerlichen Tölpel an die Seite. Die Uzanne zog die Maske der fürsorglichen Kupplerin auf und machte einen epileptischen finnischen Grafen, der die leere Mulde in seinem Hochzeitsbett gern füllen wollte, auf die Cousine als erwartungsvolle Jungfrau aufmerksam. Die Uzanne vergoss die herrlichsten Krokodilstränen, als sie ihrer Cousine zum Abschied winkte, die sich nach Åbo einschiffte, einem scheußlichen Kaff, das sich als Finnlands Hauptstadt bezeichnete.

Die Uzanne hatte ihre Waffe gefunden. Jahrelang praktizierte sie ohne Unterlass, sie reiste nach Paris und Wien, um von Konkubinen und Königinnen zu lernen, die hinter dem Thron die Fäden zogen, und sie besuchte Fächerhersteller, von denen sie Tipps und Tricks bezog. Mit neunzehn Jahren feierte sie ihren größten Triumph, als sie den reichen jungen Baron Henrik Uzanne erst in ihre Arme und dann in ihr Bett fächelte. Nach drei Monaten vermählten sie sich. Nur ihre ältere Schwester, die mit besagtem Edelmann verlobt gewesen war, schien völlig am Ende. Stolz nahm das junge Fräulein den alten französischen Familiennamen an, der ein Jahrhundert zuvor Einzug in Schweden gehalten hatte. Dass der Name Uzanne damals einen ehrgeizigen Landsknecht verkörperte, der sich seinen Weg nach oben mit dem Säbel erkämpft hatte, erwähnte sie nie.

Henrik war die perfekte Eroberung: hochbegehrt, aristokratisch, gutaussehend, eine angenehme Gesellschaft und mit ausreichend eigenem Vermögen ausgestattet, um ihren Wünschen nachzukommen. Mit der Zeit fand die Uzanne heraus, dass Henrik mehr war als nur eine Trophäe, die sie mit ihrem beispielhaften Talent gewonnen hatte. Er liebte sie, und mit ihm fand sie die Leidenschaft ihres Lebens. Henrik war politisch sehr engagiert und führte die Uzanne in die Spiele der Regierenden ein, was sehr viel verlockender war als die Tändelspielchen und Intrigen bei Hof. Erst weckte Henrik ihr Interesse, dann fand er in ihr eine scharfsinnige Beobachterin und Analytikerin. Die Uzanne und ihr Henrik verschworen sich mit den Patrioten zugunsten einer Wiedereinsetzung der Herrschaft des Adels mit Herzog Karl als Strohmann auf dem Thron. Ihr Komplott schweißte sie enger zusammen als viele andere Ehepaare, und keiner konnte verstehen, warum sie sich nicht mitunter zu einem Stelldichein trafen. Henrik war betrübt über ihre Kinderlosigkeit, aber die Uzanne hatte nicht vor, schon bald Mutter zu werden. Abgesehen von ihrer Eitelkeit und den Risiken einer Geburt hielt sie Kinder für die größte Unannehmlichkeit, die sie sich vorstellen konnte. Sie ließ Henrik freie Hand bei ihren Zofen, mit denen er ein paar süße Bastarde zeugte, und so war diese kleine Unstimmigkeit beseitigt. Als sie es schließlich für angebracht hielt, einen Erben zu produzieren, war es leider zu spät.

Henrik gab auch ihrer Leidenschaft für Fächer nach, und bald besaß die Uzanne eine Sammlung, die ohnegleichen war. Sie umfasste alle Farben, alle Länder, alle Arten. Italienisches Sandelholz, spanische Spitze, russisches Pergament, englisches Silber, japanische Seide und alles, was aus Frankreich kam. Und die Uzanne würde alles geben für einen Fächer, den sie einen »Charakter« oder eine »Novität« nannte. Charaktervolle Fächer übermittelten ein bestimmtes Gefühl; ihre Sammlung beinhaltete Sehnsucht, Melancholie, Wut, Langeweile, Lust, Verliebtheit und verschiedene Formen des Wahnsinns. Novitäten waren Teleskopfächer, double-entente, die sich in beide Richtungen öffnen ließen und zwei verschiedene Ansichten hatten (Henrik mochte vor allem die pornographische Variante), Cabriolet-Fächer, Surprise-Fächer mit Vexierbildern, Blätter mit Gucklöchern aller Art, Deckstäbe mit Uhr, Stäbe mit Thermometer und sogar einen Fächer mit einer Gemme am Dorn, die eine Prise Schnupftabak oder Arsen enthielt. Als Henrik seiner Frau den Fächer »Kassiopeia« zum Geburtstag schenkte, wurde er zum Kronjuwel ihrer Sammlung. Kassiopeia vereinte auf sich den Charakter unwiderstehlicher Autorität und das Novum eines geheimen Schaftes im exquisit gearbeiteten Mittelstab sowie Schönheit und die geheimnisvollen Bande einer Künstlerin mit ihrem Instrument. Die Uzanne und Kassiopeia passten zusammen wie eingeschworene Liebende auf einem zu kleinen Diwan, die wissen, wie sie sich bewegen müssen, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen.

Mit der Zeit baten die Damen der Stadt die Baroness, ihnen ihre Geheimnisse zu enthüllen; die Uzanne aber wusste, dass Wissen wertvoll war. Schon bald bezahlten die Töchter aus den Adelshäusern von nah und fern teuer für ihren Unterricht. Unter ihrer Anleitung konnten Mütter zusehen, wie ihre Töchter sich allmählich als raffiniert und schlau erwiesen und selbst in der schillerndsten Gesellschaft auf dem Kontinent in der Lage waren, zu brillieren. Nicht selten wurde ihnen die Ehe angetragen. Die Mädchen sahen sich einer langen Schlange von Freiern gegenüber, Offiziere drückten sich in ihren dunkelblauen Uniformen und nach Kölnischwasser duftend an sie, Diplomaten flüsterten ihnen unübersetzbare Worte ins Ohr, Edelleute wagten es, ihre Hände, Brüste, Schenkel zu berühren und ihre Lippen mit der Zunge zu teilen, sie zu öffnen wie einen Fächer von der Hand einer Expertin: langsam, ganz langsam, bis er so weit offen ist, dass er zu reißen droht. Doch ein Regiment Freier war gar nichts – die Uzanne wusste, dass der Fächer weitaus größere Macht hatte.

Nach vielen Jahren des Studiums und der Übung war sie in der Lage, den Informationsfluss in jedem beliebigen Raum mit dem Fächer zu steuern. Sie konnte einem unbeabsichtigten Ohr eine Nachricht zukommen lassen oder sich selbst eine zufächeln, sie konnte die Aufmerksamkeit eines Einzelnen oder vieler mit einer leichten Veränderung des Winkels, der Geschwindigkeit und des Vorsatzes durch den Äther hindurch wecken. Es war eine umwerfende Kombination aus Kunstfertigkeit und Können, die als Visitenkarte, soziales Band und Statusanzeige fungierte. Doch es war auch ein perfektes Werkzeug für eine Frau, die an Spielen teilnehmen wollte, die normalerweise mächtigen Männern vorbehalten waren. Denn einen Fächer würde man niemals für eine Waffe halten.

1789 waren die politischen Ziele von Henrik und der Uzanne in Reichweite. Nach Gustavs verheerendem Krieg mit Russland lag Schweden danieder, der Reichsrat stand im Verdacht des Ämterkaufs, und die Angst vor einer Revolution fachte den weitverbreiteten Wunsch nach einer Rückkehr zur Tradition an. Doch die Vereinigungs- und Sicherheitsakte – Staatsstreich und unblutige Revolution in einem – sahen die Uzanne und Henrik nicht voraus. Als Gustav die Führer der Adelspartei verhaften ließ, war alles verloren. Henrik erholte sich nie wieder von dieser Prüfung, obwohl er während seines Arrests auf Schloss Fredrikshof standesgemäß behandelt wurde. Im November desselben Jahres starb er an einer Lungenentzündung, und die Uzanne dachte, ihr Leben sei zu Ende. Fast einen Monat lang hütete sie das Bett, dann konnte Herzog Karl sie überreden, mit ihm und der jungen Herzogin zur Christmette zu gehen. Ein Jahr lang trug sie Schwarz, sie empfing nur wenige Besucher, weigerte sich, bei Hof zu erscheinen, und gab den Unterricht für die jungen Damen für immer auf. Doch in ihrer wachsenden Verdrossenheit über König Gustavs scheinbare Unbesiegbarkeit sowie über Herzog Karls unentwegte Ambivalenz gegenüber seinem Bruder, dazu in einem plötzlichen, unstillbaren Rachedurst begriffen, begab sich die Uzanne im Dienste ihrer Nation schließlich wieder aus ihrer Isolation heraus.