Das Tal der letzten Träume - Max Schwarzenbach - E-Book

Das Tal der letzten Träume E-Book

Max Schwarzenbach

0,0

Beschreibung

Sebastian Bender, 86, ehemaliger Bauunternehmer und "schrulliger Alter" in der Seniorenresidenz, erinnert sich zurück an eine Zeit, als "Familie" nicht nur ein Wort für ihn war. Ohne große Ambitionen lebt er einsam vor sich hin und lässt niemanden an sich heran. Als ihn jedoch ein Brief seiner ältesten Tochter Kathrin erreicht, schöpft er neuen Mut. Ist es vielleicht doch noch nicht zu spät, sich zu ändern? Mit neugewonnenem Eifer versucht er, den Kontakt wiederherzustellen. Letzten Endes liegt es an beiden, die zerrütteten Verhältnisse wieder geradezubiegen. Doch auch Kathrin kämpft mit ihren eigenen Problemen und auf der Suche nach einem Ankerpunkt in ihrem Leben, droht sie, an den Herausforderungen zu zerbrechen. Wäre da nicht das Tal der letzten Träume, das ihr Anlass zur Hoffnung gibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 421

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Der schrullige Alte

Ein spezieller Tag

Eine bekümmerte Freundin und eine gute Seele

Neues Leben! Neues Glück?

Frau Billeters Erfolge

Zerreißproben

Zukunftspläne

Schwierige Entscheidung

Kompliziertes Wiedersehen

Ein überraschender Besuch

Neuer Tag, neue Hoffnung

Zukunftsaussichten

Annäherungen

Ein trauriges Ereignis

Das Leben geht weiter, irgendwie

Seelentröster Sebastian

Heimkehr ins Ungewisse

Der Umbruch

Eine unbekannte Situation

Aussprache

Schwierige Zeiten

Träge Fortschritte

Eine seltsame Bekanntschaft

Unerwartetes Zusammentreffen

Ungebetener Kontrolleur

Eine neue Belastungsprobe

Das Tal der letzten Träume

Schreckensmomente

Freudige Ereignisse

Veränderungen stehen an

Eine neue Aufgabe

Durchzogene Ferienfreuden

Unerwünschter Kontakt

Angriff ist die beste Verteidigung

Trautes Heim, Glück allein

Umstellen, einleben

Lichtblicke

Eine neue Familie

Um eine Erfahrung reicher

Der schrullige Alte

Ein leichtes Frösteln durchfuhr seinen Körper. Der Wind hatte aufgefrischt und verursachte in den Blättern der Bäume ein sanftes Säuseln. Wehmut beschlich Sebastian, wenn er daran dachte, dass dieselben Blätter schon bald unter seinen Füssen rascheln würden. Der Herbst war nicht mehr fern und der bange Gedanke beschlich ihn, ob er nächstes Jahr um diese Zeit wiederum hier sitzen dürfte.

Er kam oft zu diesem Felsen, der aus dem weichen, mit Tannennadeln und Laub gepolsterten Waldboden herausschaute, wie ein Kobold, seine Umgebung beobachtend und darüber wachend, dass nichts die Ruhe seines Reviers störte. Seine Oberfläche war mit dunkelgrünem, zartem Moos überzogen, das den Ruhenden immer wieder dazu verführte, mit sanften Bewegungen darüber zu streichen, während er seinen Gedanken nachhing. Gedanken, aus denen Bilder aufstiegen, oft glasklar, dann wieder verschwommen wie Wasserfarbe auf feuchtem Papier. Aber immer flüchtig. Es gelang ihm nicht, einen Gedanken, ein Bild für mehr als einige Sekunden festzuhalten. Das war das Dilemma seiner Versuche, die Erinnerung zu sortieren. Die Unfähigkeit, Wichtiges von Nebensächlichkeiten zu trennen, und was ihn oft in Zweifel verfallen ließ, ob es sich überhaupt lohnte, über Vergangenes nachzudenken. Warum konnte er nicht einfach sein jetziges Leben annehmen und dankbar sein, dass ihm seine Gesundheit noch erlaubte, hierherzukommen? Warum konnte er nicht einfach dasitzen und sich an dem, was ihm die Natur präsentierte, freuen, als verbissen zu versuchen, Gewesenes aufzuarbeiten?

Doch er wusste über den Grund seiner Unruhe Bescheid: Zu viel in seinem Leben war schiefgelaufen, war unerledigt, als Stückwerk liegen- und zurückgeblieben.

Der alte Mann hatte seinen Lieblingsplatz vor vielen Jahren per Zufall entdeckt, auf einem seiner Streifzüge weit ab von ausgetretenen Wanderwegen, bei seiner steten Suche nach verborgenen Zeugen einer von Menschenhand noch nicht beeinflussten Natur. Solche Plätze wurden immer seltener. Immer schneller, lauter und gedankenloser war der Mensch dabei, seine eigene Zukunft zu zerstören. Umso wertvoller erschien ihm dieser Zufall, der ihn eines Nachmittags hierhergeführt hatte, und er würde diese Entdeckung mit nichts und niemandem teilen.

Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, auf seinen regelmäßigen Ausflügen immer ein Kissen unter den Arm zu klemmen. Seine körpereigenen Polsterungen hatten sich im Laufe der Zeit zurückgebildet, sodass er es nicht mehr schaffte, ohne Sitzhilfe länger als eine Minute schmerzfrei auf seinem speziellen Sitzplatz zu verweilen. Seine Mitbewohner in der Seniorenresidenz hatten sich längst an diesen Tick des schrulligen Herrn Bender gewöhnt. Früher ja, da hatte man sich noch angestoßen, gelächelt und mit Kopfbewegungen in seine Richtung gedeutet, wenn er über den Park mit festem Schritt dem Torbogen am Ausgang zustrebte. Aber heute war das Getuschel in seinem Rücken keine belustigende Abwechslung mehr in den langen, stillen Tagen der Alten. Wenn man sich, wie er, von seiner Familie, Freunden und Bekannten zurückzog, musste man doch irgendwann zu einem seltsamen Menschen werden, zu einem, der das Sitzkissen aus seinem Zimmer mitnahm, wenn er spazieren ging. Viel weiter gingen die Überlegungen der Beobachter aber nicht, denn jeder war mit seinen eigenen, geistigen und körperlichen Mühsalen hinreichend ausgestattet.

Die Überbauung war erst kürzlich zur Seniorenresidenz erweitert, und den neusten Erkenntnissen über Pflege und Unterkunft betagter Menschen angepasst worden. Vor dem Umbau war es ein Altersheim gewesen, aber dieser diskriminierende Ausdruck wollte dem Gemeinderat nicht mehr gefallen. Man sollte schließlich so wahrgenommen werden, dass man sich um seine Bürger und Einwohner in einer Weise sorgte, welche Achtung verdiente, und außerdem: Die nächsten Gemeinderatswahlen waren nicht mehr weit. Also hatte man sich sehr viel Geld von den Stimmberechtigten bewilligen lassen, damit das Gebäude innen und außen umfassend renoviert und auf den neuesten Stand der Geriatrie gebracht werden konnte.

Da saß er nun also, der seltsame Bewohner der Seniorenresidenz, der mit dem Kissen, und beobachtete leichten Herzens, mit offenen Augen und Ohren, was um ihn herum geschah. Kein Gedanke an früher sollte diesmal seine Sinne trüben. Er empfand es als Sonderrecht, dieses Zeugnis der Natur bestaunen zu dürfen. Es erinnerte ihn an weit zurückliegende Tage, als seine Tochter noch klein war und er oft ganze Nachmittage mit ihr draußen verbracht hatte. «Komm, mein Mädchen, wir wollen ein wenig an die Luft gehen», hatte er dann gesagt, und sie unter den Arm genommen, wo sie zappelnd und lachend versuchte, sich zu befreien.

Und plötzlich war da wieder die kleine Bank am Ufer des Weihers, und das fröhliche, kleine Mädchen mit den großen, dunklen Augen und dem kastanienbraunen Haar, das ihm mit seinen zarten Händchen etwas entgegenstreckte.

»Schau mal, Papa, was für einen schönen Pilz ich gefunden habe.«

Er nahm ihn aus ihrer Hand und legte ihn auf den Waldboden.

»Ja, ein sehr schöner Pilz, Prinzessin, aber leider auch sehr giftig. Geh, wasch dir die Hände im Weiher.«

Als seine Tochter wieder herangehüpft kam, schloss er sie in seine Arme und erklärte ihr:

»Du sollst keine Pflanze ausreißen, nur weil sie dir gefällt. Sogar Pilze, auch wenn sie giftig sind, gehören zum Kreislauf der Natur, und sind deshalb wertvoll.«

»Alle Pflanzen gehören zum Kreislauf der Natur, Papa?«, fragte sie.

»Alle Pflanzen, Prinzessin.«

»Und auch alle Tiere?«

»Auch alle Tiere.«

»Und auch alle Menschen?«

Sebastian Bender überlegte einen kurzen Moment und antwortete dann leise, während sich sein Blick weit empor, hinauf in die leicht wiegenden Wipfel der Bäume hob:

»Nein, der Mensch nicht. Nicht mehr», antwortete er leise.« »Der Mensch hat diesen Anspruch verloren. Er ist zum Rivalen verkommen.«

»Aber, was ist denn der Unterschied zwischen einem Kreislauf und einem Rivalen?«

»Das wirst du vielleicht später selbst noch herausfinden, wenn du dich dann noch an unser Gespräch erinnern solltest.«

Ein Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken. Eine hübsche Haselmaus huschte durch das trockene Laub und er fühlte, dass Tränen über seine Wangen liefen. Seine Hand strich abermals langsam und zärtlich über das Moos, während salziges Nass seine Lippen erreichte.

Ein spezieller Tag

Heute war sein Geburtstag. Sein sechsundachtzigster. Er wusste es, weil ihn der Heim-, pardon, der Residenzleiter, Herr Samuel Schmocker, gestern gefragt hatte, ob er sich ein spezielles Menü zur Feier des Tages wünsche. Er hätte seinen Geburtstag sonst schlicht vergessen und antwortete deshalb, dass er nicht wüsste, was es dabei zu feiern gäbe, und, nein, er wünsche sich kein spezielles Menü. »Dass dann alle sich verpflichtet fühlen, mir auch noch zu gratulieren? Nein danke, auf diese Ehre kann ich gern verzichten, und verkneifen Sie sich eine Ansprache vor versammeltem Mittagstisch. Man hat mich in diese Welt gesetzt, ohne zu fragen, ob ich das auch wollte. Man hat mir ein Leben vor die Füße geworfen, und gesagt: ›Da, mach was draus.‹ Man konnte mir nie erklären, warum etwas falsch und das Gleiche am nächsten Tag aber richtig ist. Man hat meine Bedenken lachend weggewischt und mir Unrecht für Recht verkauft. Und man hat meine Liebe ignoriert und meine Wünsche und Träume zertreten wie lästiges Ungeziefer. Was bitte möchten Sie also feiern?«

Samuel Schmocker schluckte einmal leer. So hatte er Sebastian Bender noch nie erlebt. Während der ganzen acht Jahre, da er nun bei ihnen wohnte, war es noch nie geschehen, dass dieser Mann so viele Worte, ohne abzusetzen, aneinandergereiht hatte. Bender war immer das ruhige, klärende Element der Gemeinschaft gewesen.

Auch diesmal klang er nicht wütend oder enttäuscht, viel eher traurig, desillusioniert. Die ganze Anklage kam mehr als Selbstgespräch daher. Leise, abwesend, als hätte er mit diesen wenigen Sätzen sein ganzes Leben zusammengefasst, so wie: ›Das war’s, mehr gibt es nicht zu sagen, und nun lassen Sie mich in Ruhe.‹

»Es tut mir leid …«, setzte Samuel Schmocker verwirrt an, und eigentlich wusste er gar nicht, was er sagen wollte, aber Bender erlöste ihn.

»Es braucht Ihnen nicht leidzutun, Sie waren ja nicht dabei.«

»Möchten Sie vielleicht mit unserem Betriebspsychologen …?«

»Hören Sie zu, Herr Schmocker, ich bin zwar gerade im Begriff, sechsundachtzig zu werden, aber das heißt nicht, dass ich nicht mehr imstande wäre, mir über meine Worte und Taten selbst Rechenschaft abzulegen. Und Ihren unterbeschäftigten Seelenklempner brauche ich schon gar nicht.«

Damit drehte er sich um und schaute aus dem Fenster, beobachtete die sich ständig ändernden Wolkenbilder und machte den Eindruck, schon wieder weit, weit weg zu sein.

»Nun, dann lasse ich Sie jetzt mal wieder allein, Herr Bender«, sagte Schmocker etwas kleinlaut und verwirrt. Dann wandte er sich zum Gehen und glaubte, unter der Tür noch undeutlich Benders Worte zu vernehmen: »Ja, tun Sie das. Damit kenne ich mich aus.«

Dieses Gespräch hatte gestern Abend in seinem schönen, hellen Zimmer stattgefunden. Denn schöner war es geworden nach dem Umbau. Alles war schöner geworden, und heller. Das musste er sich eingestehen, wenn er ehrlich sein wollte. Wenn auch mit einigen Unannehmlichkeiten verbunden, wie kurzzeitiger Zimmerwechsel oder Störungen durch Handwerker, weil nach dem Wiederbezug noch dies und das fertiggestellt oder angepasst werden musste. Dafür hatte er jedoch, aufgrund seiner eigenen Berufserfahrung, absolut Verständnis, und wenn er sich heute in seiner veränderten Umgebung umsah, war er durchaus zufrieden.

Als Sebastian Bender damals in das Altersheim eintrat, war es seine eigene Entscheidung, wie fast alles, was in seinem Leben geschah, oder nicht geschah, seine Entscheidung war. Die fundamentalen Ereignisse allerdings konnte nicht einmal der unbeugsame Sebastian Bender beeinflussen, und er brauchte jeweils viel Zeit, sich das Unabänderliche einzugestehen.

Die Bitterkeit, die das Unabwendbare in ihm ausgelöst hatte, war mit den Jahren weitgehend gewichen. Nur selten noch fiel er, wie gestern im Gespräch mit Herrn Schmocker, in alte, oft ungerechte Gedankenmuster zurück, und jedes Mal ärgerte, ja schämte er sich dann darüber, dass er sich hatte verleiten lassen, mit billigen Rechtfertigungen dem Schicksal die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Zwar hatte ihm seine Position als Baumeister täglich und oft auch heikle Entscheidungen abverlangt, die er in den allermeisten Fällen souverän zu lösen wusste, aber in Momenten, wo es um ihn selbst, um seine eigenen, privaten Dinge ging, tat er sich nach wie vor schwer.

Die Haselmaus war in ihrem Versteck verschwunden, und um ihn herum breitete sich wieder Stille aus. Nur das beruhigende Rauschen des Windes drang angenehm zu ihm durch, wenn eine leichte Böe in die Baumkronen wehte.

»Solltest du nicht versuchen, mit dir und deinem Leben endlich ins Reine zu kommen, Sebastian?«, fragte jetzt das Rauschen in den Blättern der behäbigen Buche.

»Ich mit meinem Leben ins Reine kommen? Machst du Witze? Es müsste doch wohl eher umgekehrt sein.«

Nun mischte sich auch der Wind in den Zweigen der majestätischen Rottanne ein.

»Ich finde auch, dass der Zeitpunkt langsam naht, reinen Tisch zu machen. Du weißt ja nicht, wie lange du noch Gelegenheit dazu haben wirst. Du bist sechsundachtzig.«

»Ich weiß, wie alt ich bin, ihr Nörgler, und ich werde noch lange nicht abkratzen«, schnauzte Sebastian zurück.

»Woher willst du das wissen, alter Mann?«, glaubte jetzt auch die knorrige Eiche ihren lästigen Kommentar abgeben zu müssen.

»Was erwartet ihr denn von mir? Soll ich vielleicht hingehen und mich entschuldigen, dass ich stillgehalten habe, als man mir wehtat?«

»Warum erwähnst du immer nur, was die anderen getan haben? Warum hast du nie dein eigenes Tun hinterfragt?«, meldete sich die Buche wieder.

»Wer hat denn hier wen hintergangen? Wer hat sich denn von wem abgewendet? Wer hat denn mit wem die Beziehungen abgebrochen, he? Soll ich noch weiter aufzählen? Soll ich vielleicht zu Kreuze kriechen und jeden um Verständnis und Entschuldigung bitten, dass ich seiner törichten Meinung nicht zugestimmt habe?«

Die Tanne meldete sich wieder: »Waren die Meinungen der anderen wirklich nur töricht? Oder waren sie einfach nur töricht, weil es nicht deine eigenen Meinungen waren?«

»So ein Unsinn. Ich habe immer alle angehört, die etwas zu sagen hatten.«

»Ja«, brummte die Eiche, »du hast sie angehört, aber du hast ihnen nie zugehört, geschweige denn, auf sie gehört.«

»Was wisst ihr denn von meinem Leben? Und überhaupt, wollt ihr mir vielleicht sagen, ich trage an allem die Schuld in diesem ganzen Desaster?«

»Nicht an allem, aber an vielem, Seb«, hörte er aus dem Geäst der Tanne. Aber es war nur noch ein verwehendes Flüstern.

»Ach, hört doch auf.« Plötzlich wurde er sich bewusst, dass er laut gesprochen und dabei sogar gestikuliert hatte. Verunsichert sah er sich um, ob vielleicht ein Ungebetener zugehört hatte. Aber da war immer noch nur er und der Wald. »Du wirst alt, mein Lieber. Nun sprichst du schon mit den Bäumen« knurrte er vor sich hin. Ein schräges Lächeln verzog seinen Mund.

Sebastian Bender schüttelte den Kopf und stand auf, klemmte sich sein Kissen unter den Arm und stapfte in Richtung Waldrand. Er war aufgewühlt und verunsichert. Hatte ihm sein Unterbewusstsein eben einen Streich gespielt? Seit wann ließ er sich denn von seinem Gewissen reinreden?

Das Abendessen in der Residenz fand ohne Sebastian Bender statt. Er wollte heute niemanden mehr sehen oder hören. Bereits um zwanzig Uhr schluckte er zwei Schlaftabletten und verabschiedete sich vom heutigen, unbefriedigenden Tag. Aber wann hatte denn auch letztmals ein Tag für ihn befriedigend geendet? Er blieb sich die Antwort schuldig.

Eine bekümmerte Freundin und eine gute Seele

Während des Frühstücks blieb er einsilbig wie immer. Heute vielleicht nur noch ein wenig mehr als an anderen Morgen. Alle Insassen, die das zweifelhafte Glück hatten, den Tisch mit Sebastian Bender zu teilen, wussten von seiner zurückhaltenden Art und vermieden es deshalb, ihn anzusprechen. Nur Frau Billeter kümmerte dies nicht.

»Wir haben Sie gestern Abend vermisst, Herr Bender. Ging es Ihnen nicht gut?«

»Doch, ich war nur müde«, antwortete er etwas ungehalten.

Frau Billeter überging den abweisenden Unterton. »Da bin ich aber froh. In Ihrem Alter muss man doch besonders auf eine gesunde Ernährung achten, nicht wahr?«

Frau Billeter war erst achtzig.

»Ja, ja.«

»Sehen Sie. Und gestern Abend gab es etwas besonders Gesundes. Ratatouille mit gebratenen Kartoffelscheiben. Wirklich schade, dass Sie nicht da waren.«

Sie sah ihn tadelnd an und klopfte sanft auf seine Hand. Er zog seine Hand zurück.

»Sie haben doch sicher für mich mitgegessen«, sagte Bender zweideutig.

»Wo denken Sie hin. Mein Magen würde das nicht mehr mitmachen. Ich muss mich zurückhalten.«

Frau Billeter war meistens die Letzte, die den Esstisch verließ. Nicht nur weil sie besonders langsam aß, sondern weil sie besonders viel besonders langsam aß. Eigenartigerweise schien das aber ihrer Figur nichts anhaben zu können. Sie war eine angenehme Erscheinung; nicht zu dünn, nicht zu rund. Gepflegt und immer guter Laune. Er hatte sich auch schon dabei ertappt, wie er sie aus der Distanz verstohlen taxierte und dabei fand, dass sie eigentlich ein ganz apartes Wesen war.

Sebastian ›Seb‹ Bender verabschiedete sich bei der nächsten guten Gelegenheit dennoch und fuhr mit dem Aufzug zu seinem Zimmer im dritten Stock.

Dort nahm er sich Zeit, seine Zeitung ausführlich zu lesen, und versank danach in fruchtlosen Grübeleien. Dann stellte er sich ans Fenster und schaute hinauf zum Wald. Versuchte mit zusammengekniffenen Augen, den ungefähren Punkt auszumachen, wo seine schwatzhaften Freunde standen. Der Kobold und die Bäume. Er wusste, dass sie auf ihn warteten, sich nicht von der Stelle rührten. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Weit über seine Zeit hinaus.

Wie ein Blitz durchfuhr ihn dieser Gedanke. Wie weit reichte denn seine Zeit?

Unerklärliche Hektik hatte ihn augenblicklich erfasst. Wo hatte er denn gestern seine Wanderschuhe hingestellt? Ach ja, in die Badewanne. Er wollte sie verbotenerweise im Zimmer noch reinigen, war aber dazu einfach nicht mehr in der Lage gewesen. Was soll’s, er zog sie schmutzig an, klemmte das Kissen unter den Arm, vergewisserte sich in der Halle unten, dass weder Schmocker noch Frau Billeter anwesend waren, und hetzte aus dem Haus, dem Walde zu. Schon nach wenigen Metern allerdings wurde ihm klar, dass er zusammenbrechen würde, bevor er seine Freunde erreicht hätte, sollte er dieses Tempo beibehalten wollen. Er konnte sich auch nicht erklären, warum dieses plötzliche Gefühl der Angst, zu spät zu kommen, in ihm aufgestiegen war. Vielleicht weil er sich in den letzten Wochen gewahr wurde, dass es ihm jedes Mal ein ganz klein wenig schwerer fiel, seinen geheimen Lieblingsplatz aufzusuchen.

Sebastian Bender musste öfter stehen bleiben, um durchzuatmen, als noch vor zwei, drei Monaten, obwohl der Weg nicht stark anstieg. Er musste den deprimierenden Gedanken zulassen, vielleicht schon bald auch von seinem, wie er ihn nannte, letzten Ort der Freude und Besinnung, Abschied zu nehmen. In absehbarer Zeit würde auch diese Klause nur noch glückliche Erinnerung sein.

Zudem war heute ein unfreundlicher, grauer Tag, der auch nicht zu hoffnungsvollen Überlegungen einlud. Regenschwere Wolken wälzten sich drohend über den Himmel, und ein bissiger Nordwind hatte aufgefrischt. Obwohl der Sommer, rein meteorologisch, noch anhalten sollte – es war Mitte August –, war es in den letzten Tagen merklich kühler geworden.

»Im Wald werde ich den Wind nicht mehr spüren«, überlegte Bender. Ein prüfender Blick zum Himmel ließ kurzfristig den Gedanken aufkommen, heute besser den Ausflug abzubrechen, aber er schob ihn beiseite und ging weiter. Diesmal aber deutlich gemächlicher.

Die Wolkendecke hielt das Tageslicht zurück und ließ den Wald dunkel und feindlich erscheinen. Es war gerade neun Uhr dreißig, als Sebastian Bender den Felsenkobold erreichte, sein Kissen ablegte und sich, ein wenig außer Atem, darauf niederließ. Auch die Farbe des Mooses war verändert, als habe man dem Grün noch etwas Schwarz beigemischt. Die Baumwipfel wurden vom stärker werdenden Wind gebogen und zerzaust, und von Zeit zu Zeit war sogar ein warnendes, schwaches Pfeifen oder Heulen in das Rauschen eingebettet.

Sebastian Bender lauschte, ob seine Freunde mit ihrem Flüstern auch heute wieder in seine Gedanken dringen würden. Aber so sehr er sich auch konzentrierte, seine Fragen wollte niemand beantworten.

»Warum redet ihr denn nicht mit mir?«, fragte er in die Düsterkeit des Waldes hinein.

»Was willst du denn noch hören, was nicht gestern schon gesagt worden wäre?«, krächzte es aus einem nahen Stechpalmenstrauch. »Die Welt um dich wird immer stiller, Sebastian. Wer soll denn mit dir reden, wenn du zwar Fragen stellst, aber keine Antworten hören willst?« Bender schloss die Augen, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und vergrub sein Gesicht in den Händen.

»Sebastian, Schatz, wir werden Eltern. Nun ist es definitiv. Ich war heute bei meinem Arzt, und der hat mir bestätigt, dass ich im zweiten Monat schwanger bin. Ich bin ja so glücklich.«

Er war kaum richtig zur Tür hereingekommen, als ihn seine Frau Andrea an sich drückte, als käme er von einer langen Reise zurück.

»He, he, erstick mich nicht. Das ist doch wunderbar«, keuchte Sebastian.

»Wir werden eine richtige, kleine Familie, Liebling. Eine richtige, kleine Familie, Seb.«

Sie löste sich von ihm, nahm dafür seine Hände, und gemeinsam schwebten sie lachend, sich im Kreis drehend, über den Flur ins Wohnzimmer, während sie ihr Lied sangen, bei dem sie sich vor zwei Jahren, beim Tanz, anschließend an eine Theatervorführung des Turnvereins kennengelernt hatten: ›Love Letters In The Sand‹, von Pat Boone.

Andrea war zu jener Zeit Kassiererin im Vorstand der Damenriege gewesen. Hübsch, grazil und ein wenig schüchtern. Er hatte sie an diesem Abend intensiver als sonst betrachtete, wenn man sich mal zufällig über den Weg lief, sich aber gleichzeitig gesorgt, dass ihn einer seiner Kameraden, oder, noch unangenehmer, eine ihrer Freundinnen, dabei ertappen könnte.

Seltsam, dachte Sebastian, wieso liegt mein Interesse gerade heute so ungeteilt bei ihr? Eine Stimme in seinem Innern, die er bisher nie beachtet hatte, ließ sich dieses Mal nicht zum Schweigen bringen: Vorwärts, gib dir einen Stoß. Was kann denn schon passieren? Sie kann doch höchstens Nein sagen, und das wäre auch kein Weltuntergang. Aber er kannte Andrea doch nur von einigen wenigen Begegnungen innerhalb des Turnbetriebes. Und wer sagte denn, dass sie nicht schon längst in festen Händen war? Du willst doch nur tanzen, Angsthase! Wirklich? Wie kam er als Tanzmuffel überhaupt dazu, solchen Appellen Beachtung zu schenken? Aber den Angsthasen wollte er dann doch nicht auf sich sitzen lassen.

Es dauerte zwei Gläser Weißwein, bis Sebastian den Mut fand, sie zum Tanz zu bitten.

Bei den ersten Tanzschritten hatte sie auf seine Fragen meistens nur knapp mit ja oder Nein geantwortet, wo dies möglich war, und ansonsten hielt sie ihre Antworten kurz. Erst mit der Zeit, mit fortgeschrittenem Abend, taute sie etwas auf und wurde gesprächiger. Sebastian hatte, zu seinem großen Erstaunen, auf einmal Gefallen am Tanzen gefunden. Immer wieder schritt er lächelnd auf Andrea zu, welche gegen Ende des Abends schon aufstand, bevor er bei ihr angelangt war. Es sollte aber mehrere Rendezvous bei Kaffee und Schwarzwälder Torte, die sie liebte, dauern, bis sie zaghaft und häppchenweise Persönliches von sich preisgab.

Sebastian war jetzt achtundzwanzig Jahre alt, Andrea ein Jahr älter.

Er, erfolgreicher Geschäftsführer einer mittleren Baufirma in der Agglomeration Aarau, mit der Aussicht auf baldige Selbstständigkeit, weil der jetzige, greise Inhaber seinen Rücktritt vorbereitete. Bender hatte schon seine Lehre als Hochbauzeichner in diesem Betrieb abgeschlossen, kurz danach die Ausbildung zum Bauführer hinter sich gebracht, und war dann zwei Jahre in die USA übergesiedelt, wo er an diversen Großbauprojekten mitgearbeitet hatte. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz kehrte er wieder in seine Lehrfirma zurück und war nach kurzer Zeit zum Geschäftsführer aufgestiegen.

Sie, Andrea, Assistentin in einer orthopädischen Praxis in Lenzburg, mit 50 Prozent-Pensum, aber einer Unmenge von Überstunden. Nach ihrer Ausbildung zur Pflegefachfrau im Spital Aarau fand sie bald – ihrem Wunsch entsprechend – eine Arbeit als Assistentin in einer Hausarztpraxis, die sie aber nach zwei Jahren wieder aufgab, zugunsten eines zwölfmonatigen Sprachaufenthaltes in London. Zurück in der Heimat, konnte sie ihre Englischkenntnisse bei einem Carunternehmen, als Begleiterin von asiatischen Gästen, einsetzen. Es langweilte sie aber zusehends, immer dieselben Fragen zu beantworten, immer die gleichen Sehenswürdigkeiten vorzustellen. Und so zog es sie bald wieder in ihre angestammte Berufswelt zurück.

»Wollen wir wissen, was es wird? Lausbub oder Lausmädchen?«, fragte sie.

»Lass uns besser darüber reden, wenn wir wieder klar denken können. Im Moment sind wir zu aufgewühlt, um über derart wichtige Fragen zu befinden«, antwortete er.

»Du und deine Vernunft. Aber wahrscheinlich hast du recht.«

»Komm, ich lade dich zu einem feinen Nachtessen ein.« Sebastian nahm seine Frau bei der Hand, und eine Viertelstunde später waren sie unterwegs zum Restaurant Waage, wo sie als Stammgäste oft den Abend verbrachten.

Sebastian Bender schreckte auf. Während seiner Rückblende hatte er die Zeit vollkommen vergessen. Das Gewitter hatte sich sachte herangeschlichen und kündigte jetzt wie mit einem Kanonenschuss und nachhallendem Grollen lautstark seinen Besuch an. Fast gleichzeitig prasselte der Regen in dicken Tropfen in den Wald.

Er stand eilends, mit pochendem Herzen auf und schlüpfte in seine wollene Jacke, die wohl ein wenig wärmen konnte, aber gegen Regen vollkommen untauglich war. Ein kurzer Blick nach oben, als ob er sich verabschieden wollte, und schon hastete er, so schnell, wie es seine Konstitution zuließ, seinem letzten Zuhause entgegen.

Völlig durchnässt, schlotternd vor Kälte und erschöpft, erreichte er die Residenz kurz vor Mittag und wie selbstverständlich empfing ihn da Frau Billeter, als hätte sie auf ihn gewartet. Oder hatte sie am Ende tatsächlich auf ihn gewartet?

»Mein Gott, Herr Bender, was gehen Sie auch nach draußen bei diesem Wetter?«, tadelte sie ihn unnötigerweise auch noch. »Und dann noch ohne Regenschirm. Soll ich Ihnen ein heißes Bad einlaufen lassen?«

Bender schaute sie erschrocken an, schüttelte heftig den Kopf und flüchtete auf sein Zimmer. Das mit dem Bad war keine schlechte Idee, aber bitte ohne Mitwirkung von Frau Billeter.

Als Sebastian Bender am Morgen danach erwachte, fror er, als würde er nackt im Schneetreiben stehen. Kalter Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper und sein schöner, neuer Schlafanzug klebte an seinem Körper, als wäre er gestern damit in die Badewanne gestiegen.

Stöhnend griff er nach dem Telefon und rief Herrn Schmocker an.

»Ich komme heute nicht zum Frühstück. Es sieht so aus, als hätte ich mir gestern eine ausgewachsene Erkältung eingehandelt«, hauchte er in den Hörer.

»Oh je, Sie hören sich aber nicht gut an. Ich schicke Ihnen Gabi vorbei.«

Fünf Minuten später klopfte Gabi an seine Tür und streckte gleich darauf ihren Lockenkopf durch den Spalt. Er mochte diese Pflegerin sehr. Eigentlich war sie die Krankenschwester des Hauses, kümmerte sich aber auch um allgemeine Pflegeaufgaben. Sie war nie um eine Antwort verlegen, wenn sie von Bewohnern wegen ihrer quirligen Art gehänselt wurde. »Schau mal, da kommt Miss Quecksilber« oder: »Der arme Mann, ob der je zur Ruhe kommt bei so viel Temperament?« Auch vielsagendes Augenzwinkern von den männlichen Bewohnern war nicht selten. Gabis Reaktionen blieben zwar stets respektvoll, aber deutlich genug, um die Grenzen unmissverständlich abzustecken. Das schätzte er an ihr, und ihre Art, die Menschen in diesem Hause nicht wie geistig Zurückgebliebene zu behandeln, sondern als mündig und gleichwertig.

»Ich habe fast vermutet, dass Ihr gestriges Abenteuer Folgen haben würde, als mir Frau Billeter davon erzählte.«

»Frau Billeter, immer und überall, wie? Bald werde ich noch von Frau Billeter träumen«, knurrte Bender vor sich hin. Gabi überhörte seinen Kommentar und holte den Fiebermesser aus ihrer Erste-Hilfe-Tasche.

»Leihen Sie mir doch bitte mal Ihr Ohr.« Ein leises Piepsen. »Neununddreißig vier. Das gefällt mir gar nicht, aber wir kriegen das schon wieder hin. Ich gebe Ihnen hier etwas Fiebersenkendes und schaue dann gegen Mittag nochmals vorbei. Versuchen Sie, inzwischen zu schlafen.«

»Mit Fieberträumen von Frau Billeter, der Unvermeidlichen«, knurrte Sebastian. Gabi überhörte erneut, schmunzelte aber belustigt vor sich hin.

Mit dem Geräusch der ins Schloss fallenden Tür, wälzte sich Bender keuchend aus dem Bett. Er musste dringend mal und wollte auch in einen trockenen Schlafanzug schlüpfen.

Danach fiel er in unruhigen Schlaf voller unzusammenhängender Träume, die aber alle eines gemeinsam hatten: Er wollte an etwas oder jemanden seine Hand legen. Kurz bevor er es aber berühren konnte, löste es sich mit einem hohlen Lachen in Nichts auf. Leichtes Unbehagen erfasste ihn ob diesen seltsamen, sich immer wiederholenden Bildern, aber er war noch zu angeschlagen, um sich tiefer mit ihnen zu beschäftigen.

Wie versprochen, meldete sich Gabi vor Mittag wieder zur Stelle. Nach dem Fiebermessen, es war um vier Zehntel gesunken, und ein paar Fragen zum allgemeinen Befinden informierte sie Bender, dass für den nächsten Tag Arztvisite angesagt sei.

»Wollen Sie, dass der Arzt bei Ihnen vorbeischaut?«

»Bloß nicht! Morgen bin ich wieder der Alte.«

Sebastian Bender hatte eine nicht glaubhaft zu begründende Aversion gegen alles, was den Zusatz ›Doktor‹ oder ›Professor‹ im Namen trug.

»Nur weil sie gescheit daherreden können, oder es verstehen, mit Standardfragen den Eindruck zu erwecken, es läge Ihnen persönlich etwas am Wohl Ihres Gegenübers, ist das für mich noch lange kein Grund, denen zu vertrauen.«

Das waren früher seine Worte gewesen. Inzwischen hatte sich diese Ansicht infolge einiger prägender Ereignisse im Leben von Bender zwar stark relativiert, eine gewisse Zurückhaltung im Umgang mit titelgeschmückten Mitmenschen war aber geblieben. Er war immer noch der Meinung, dass Anerkennung an den Leistungen zu messen sei und nicht an Titeln, gestand aber ein, dass dem Erreichen eines solchen auch eine gewisse Leistung zugrunde liegen müsse. Wenigstens den rechtmäßig Erworbenen. Mit diesen Argumenten gelang es ihm, seine überholten Ansichten abzumildern, ohne gleich zugeben zu müssen, dass er im Irrtum war.

»Wie Sie wollen«, erwiderte Gabi. »Der neue Praktikant wird Ihnen dann noch einen Teller Suppe und Brot heraufbringen. Ist das in Ordnung so? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Danke, alles bestens. Ich warte dann mal auf mein Gefängnismenü.«

Gabi konnte ein erneutes Schmunzeln nicht verbergen. »Dann bis heute Abend, Herr Bender. Ich lasse Ihnen noch einige Beutel Kamillentee hier. Sie müssen viel trinken.« Damit verließ sie den Patienten, nicht ohne noch einen kurzen Blick zurück, um Sebastian gerade noch brummeln zu hören: «Kamillentee, mpf …!»

Am nächsten Tag fühlte sich Sebastian tatsächlich wieder ganz passabel, sodass er, zur großen Freude von Frau Billeter, die Mahlzeiten wieder im Speisesaal einnehmen konnte.

»Ich hätte Ihnen gestern gern einen Krankenbesuch abgestattet, aber Gabi meinte, dass Sie im Moment noch viel Ruhe bräuchten.«

»Danke, Gabi«, brummte Bender vor sich hin.

»Wie bitte?«

»Ich sagte: ›Ja, die Gabi‹, wenn wir die nicht hätten.«

Frau Billeter warf ihm einen seltsamen Blick zu. Hätte man ihr Alter nicht berücksichtigt, man hätte tatsächlich meinen können, so etwas wie Eifersucht darin auszumachen.

Nach dem Frühstück verabschiedete sich Bender von seinen Tischgenossen mit dem Hinweis, dass er noch etwas schlafen müsse, leerte seinen Briefkasten und zog sich auf sein Zimmer zurück.

Zwischen Tageszeitung und einem dreiseitigen Mitteilungsblatt der Regierung über geplante Verkehrsberuhigungen in der Innenstadt fiel ein Brief heraus, und rutschte, bevor er ihn festhalten konnte, über die Tischkante zu Boden.

Ächzend und schimpfend bückte er sich. Beim Wiederaufrichten wurde ihm schwindlig. Er musste sich erst mal eine Minute hinsetzen. Der Normumschlag trug ein am Computer ausgedrucktes, weißes Etikett. Keinen Absender. Auf der Rückseite lediglich die Initialen K. H. Handelsübliche Briefmarke. Der gerade noch knapp lesbare Poststempel des Aufgabeortes Aarburg lieferte auch keinen klärenden Hinweis über den Absender. Die Art des Umschlages machte aber auch nicht den Eindruck der üblichen Massensendungen, mit denen gewisse Firmen die Empfänger zu ärgern verstehen.

Er legte ihn erst einmal beiseite und widmete sich der Tageszeitung. Weit kam er damit allerdings nicht. Immer wieder glitt sein Blick hinüber zum Brief, und nach weniger als zwei Zeitungsseiten konnte er die Neugier nicht mehr zähmen. Er entnahm ein fein säuberlich gefaltetes Blatt Papier.

›Hallo Vater‹, stand da. Seine Tochter hatte ihm geschrieben!

Diese Tatsache allein genügte, um ihn in ein Gefühlschaos zu stürzen, von dem er inständig gehofft hatte, es nicht noch einmal erdulden zu müssen. Ohne weiterzulesen, ließ er das Blatt auf den Tisch zurücksinken und schloss die Augen.

Seine Tochter! Kathrin! Wie lange war das her, seit sie zum letzten Mal Kontakt hatten? Sehr, sehr lange. Viele Jahre. Er hatte längst aufgegeben, sie zu zählen. Eine hässliche Szene hatte zum Bruch zwischen ihm und seiner älteren Tochter geführt, und er hatte sich damals geschworen, sich nie, nie wieder an diesen Augenblick erinnern zu wollen. Und nun war mit einem einzigen Wort diese endgültig verheilt geglaubte Wunde wieder aufgerissen worden: ›Vater‹! Mit aller Gewalt stürzte diese düsteren Bilder wieder auf ihn herab und machte ihm in aller Deutlichkeit klar, dass noch kein Augenblick davon verarbeitet war. Verdrängt, ja, ausgeblendet, ja, aber verarbeitet? Nein!

Sebastian Bender, der Ruhige, der Zurückgezogene, war drauf und dran, laut aufzuschreien. Beide Hände zu Fäusten geballt vor dem Gesicht, Lippen und Augen zusammengepresst, der ganze Körper eine einzige schmerzhafte Verspannung. So saß er minutenlang vor dem Blatt Papier, unfähig, sich zu rühren, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen.

Es klopfte. Der Lockenkopf schaute durch den Türspalt.

»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Bender. Ich wollte nur nachfragen, ob ich noch etwas für Sie tun kann.«

Bender nahm die Fäuste vom Gesicht. Beide Hände und den Kopf gleichzeitig heftig schüttelnd, verneinte er, ohne den Blick zur Tür zu wenden. Gabis Stirn legte sich in Falten. Sie bemerkte den Brief auf dem Tisch und zog ihre Schlüsse. Es war wohl das Beste, Herrn Bender in diesem Moment sich selbst zu überlassen. Sie nahm sich aber vor, ihn im Auge zu behalten.

»Na, dann weiterhin gute Besserung.« Gabi zog die Tür leise zu. Der alte Mann antwortete nicht.

»Sabine, Sabine, immer nur Sabine. Sabine hätte, Sabine würde. Sabine ist tot, Papa! Hörst du? Tot! Aber ich lebe, ich bin hier und bin auch deine Tochter. Hör endlich auf, einem Phantom nachzurennen. Du bist im Begriff, uns, deine ganze Familie zu zerstören. Merkst du das denn nicht? Wach endlich auf aus deinen Träumen. Akzeptiere endlich, dass deine über alle Maßen geliebte Sabine nicht mehr bei uns ist.«

Mutter presste beide Hände an die Ohren, sprang auf, rannte in die Küche und warf die Tür zu.

Kathrin hatte ihn angeschrien. Sie war den Tränen nahe, und der Auslöser dieser Auseinandersetzung war dem Umstand geschuldet, dass Kathrin zu spät zum Nachtessen kam, und Vater ihr in zynischer Weise zu verstehen gab, dass sich Sabine solches nie erlaubt hätte.

Jahrelang hatte sie darunter leiden müssen, dass ihre jüngere Schwester von ihrem Vater vergöttert wurde, sie selbst aber nur so eine Art geduldetes Wesen war, das zwar irgendwie dazugehörte, aber nicht wirklich wahrgenommen wurde. Unbedeutend, ungeliebt, unbeachtet.

Ihre Mutter, Andrea, litt mit ihr unter diesen unausgesprochenen Erniedrigungen, aber sie konnte nichts ausrichten bei ihrem Ehemann. Wenn sie einmal das Thema anschnitt, stand ihr Mann auf, winkte mit beiden Händen ab, und verließ den Raum.

Dabei waren sie so überglücklich bei der Geburt von Kathrin gewesen. Das war jetzt zweiundzwanzig Jahre her. Viereinhalb Jahre später kam Sabine zur Welt. Das Familienleben schien sich ganz normal zu entwickeln. Mal alles in Rosa, mal dunkle Wolken. Wie in einer normalen Familie eben.

Bis zu dem Zeitpunkt, als Mutter und Kathrin fast gleichzeitig feststellten, dass sich Papas Aufmerksamkeit immer öfter und intensiver der kleinen Sabine zuwandte. Ihre jüngere Schwester war damals gerade acht Jahre alt, und genoss natürlich die liebevolle Zuneigung ihres Vaters. Sie war noch zu jung, um zu realisieren, wie vor allem Kathrin darunter litt, dass sich Papa immer mehr von ihrer Schwester abwandte, und sich fast ausschließlich mit ihr beschäftigte. Und wenn Kathrin sich doch einmal traute, die ungleiche Behandlung anzusprechen, wurde sie darauf hingewiesen, dass ihre kleine Schwester noch Hilfe brauche, sie aber alt genug sei, für sich selbst zu sorgen. Damit war das Thema beendet, und wehe Kathrin insistierte weiter. Dann war der Hausfrieden dahin und selbst Sabine verzog sich dann verängstigt in ihr Zimmer.

»Was fällt dir ein, so mit mir zu reden! Du hast wohl vergessen, wem du das alles hier, das du so selbstverständlich für dich beanspruchst, zu verdanken hast. Aber bitte, du kannst gern gehen, wenn du dich bei uns schlecht behandelt fühlst. Vielleicht wird dann unser Haus wieder etwas friedlicher.«

Am nächsten Tag war Kathrin ausgezogen. Sie hatte sich nicht verabschiedet, von niemandem, und von diesem Moment an hatte Sebastian nur noch selten von ihr gehört, bis eines Tages der Kontakt gänzlich abbrach.

Mutter hatte die jähe Trennung von ihrer älteren Tochter nie verwunden. Sie war nach und nach bis in schwere Depressionen abgerutscht und wurde nach ihrem zweiten, erfolglosen Suizidversuch, in eine Klinik eingewiesen. Dort erhielt sie zwar ab und zu Besuch von Sebastian und Kathrin, aber nie gleichzeitig, außer an dem Tag, als sie erstmals Besuch empfangen durfte, und nach jedem Besuch fühlte sie sich elend. Sie gab sich die Schuld dafür, dass ihre einst so stolze, glückliche Familie zerbrochen war. Ihr war bewusst geworden, dass sie sich viel energischer für ein harmonisches Zusammenleben hätte einsetzen müssen. Stattdessen hatte sie sich zurückgezogen, und sich ihre eigene, persönliche Welt aufgebaut, mit allen zwangsläufigen Konsequenzen wie Einsamkeit und unerfüllter Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe. Immer häufiger war sie überzeugt, auch schon früher bei Kathrin Anzeichen in Gesten und Blicken ausgemacht zu haben, dass diese genauso dachte, und sie verantwortlich machte für diesen traurigen Scherbenhaufen, vor dem sie alle nun standen.

Sebastian Bender griff mit zitternden Händen erneut zu diesem bedeutungsvollen Blatt Papier, das ihn so sehr aufwühlte, noch bevor er wusste, was drinstand, und las:

›Hallo Vater,

die Gemeinde hat mir deine neue Adresse vermittelt.

Wo ist denn dein Stolz geblieben, dass du freiwillig ins Altersheim gehst?

Aber deshalb schreibe ich dir nicht.

Ich dachte nur, dass es dich vielleicht interessieren könnte, dass deine Schwester Martha gestorben ist.

Die Beerdigung findet am nächsten Freitag statt. Friedhof Rosengarten in Aarau. Fünfzehn Uhr.

Mach dir keine Sorgen, ich werde nicht da sein.

Kathrin.‹

Seine fleckigen Hände zitterten immer noch, als er das Schreiben beiseitelegte und verloren aus dem Fenster schaute. Das schlechte Wetter hatte sich eingenistet, wie ein ungebetener Gast, dem es egal ist, was man von ihm hält. Der Wald stand schwarz und abweisend. Immer wieder zogen Regenschauer vorbei und sorgten dafür, dass Sebastians Stimmung gedrückt blieb, insbesondere, da seine Erkältung noch nicht ausgeheilt war.

Wie sollte er dieses Ereignis einordnen? Was war für ihn in diesen Minuten wichtiger, der Tod seiner Schwester, oder die ›Wiedergeburt‹ seiner älteren Tochter?

Er entschied, dass das überraschende Lebenszeichen seiner Tochter als wichtiger einzustufen war als der Tod seiner Schwester, denn auch Martha hatte sich damals, nach dem Vorkommnis mit Kathrin, gänzlich zurückgezogen und jeden Kontakt mit ihm verweigert. Sie war eine verbitterte, alte, einsame Frau geworden. »Beinahe wie du, Sebastian«, murmelte er vor sich hin. Nur, er war nicht verbittert, einsam ja, aber nicht verbittert. Er hatte sich sein verbleibendes Leben eingerichtet. Klar und voraussehbar. Mit sich im Reinen. Im Reinen? Nein, das war wohl nach dem Verlauf der letzten Tage, und dem vollkommen überraschenden, schmerzhaften Rückschlag in Form eines kurzen, auf das Wesentliche beschränkten Briefes seiner verschollenen Tochter definitiv nicht mehr zutreffend.

»Solltest du nicht versuchen, mit dir und deinem Leben endlich ins Reine zu kommen, Seb?«

Seltsam, waren die kürzlichen Zwiegespräche auf seinem Felsen durch eine unbewusste Vorahnung gesteuert? Hatte ihn sein Unterbewusstsein auf eine bevorstehende Konfrontation mit der Vergangenheit vorbereitet? Unsinn, dachte er und schüttelte gereizt den Kopf, was ihm sofort erneute Kopfschmerzen einbrachte. Was sollte dieser esoterische Quatsch? Und doch, es fügte sich doch alles so erschreckend passend ineinander.

Der restliche Tag verlief für Sebastian wie ein Traum in einer Endlosschlaufe. Er passierte einfach, ohne dass der alte Mann etwas dazu beitrug.

Frau Billeter beschwerte sich bei Gabi: »Das verstehe ich nicht. Er redet kein Wort mit mir. Ich habe ihm doch nichts getan.«

»Er ist heute ein wenig durcheinander. Geben Sie ihm etwas Zeit, das gibt sich schon wieder«, beruhigte Gabi die arme Frau. »Hoffentlich«, fügte sie beim Weggehen so leise hinzu, dass Frau Billeter es nicht hören konnte.

Nach dem Nachtessen wartete Bender den Moment ab, wo er ungestört mit Gabi ein paar Worte wechseln konnte.

»Verzeihen Sie, ich möchte nicht als Ihr Privatpatient erscheinen, aber dürfte ich Sie bitten, mich heute Abend auf meinem Zimmer zu besuchen? Ich brauche eine Antwort, die ich mir selbst nicht geben kann.«

»Es ist zwar nicht üblich, aber wenn ich Ihnen helfen kann, mache ich gern mal eine Ausnahme. Ich muss es allerdings Herrn Schmocker melden, sonst bekomme ich eventuell später Schwierigkeiten.«

»Einverstanden, aber er soll nachher keine Fragen stellen, die ihn nichts angehen.«

Es ging bereits auf zwanzig Uhr zu, als sie sich endlich Zeit nehmen konnte, Benders Wunsch nachzukommen.

»Ich mag Sie und ich vertraue Ihnen, Gabi, und um ehrlich zu sein, ich wüsste nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte«, eröffnete er das Gespräch. »Sind Sie verheiratet?«

»Es hat sich noch nichts Passendes ergeben. Warum?«

»Ach, unwichtig, war bloß so eine Frage. Ich will Sie auch nicht lange hinhalten. Im Moment habe ich allerdings ein größeres Problem mit einem Teil meiner wieder auferstehenden Familie.«

»Die Erfahrung hat mich gelehrt, mich von fremden Familienangelegenheiten fernzuhalten. Über kurz oder lang macht man sich dabei unbeliebt.«

»Ich bitte Sie ja nur um Ihre Meinung. Sie sollen mir keine guten Ratschläge erteilen.«

Gabi zuckte mit den Schultern und nickte kurz.

Seine Stimme war unsicher und brüchig, als er ihr von dem Brief erzählte, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, welche Rolle die Vergangenheit dabei spielte, dass ihn dieses kurze Schreiben dermaßen erschütterte.

»… und nun sagen Sie mir bitte, was Sie an meiner Stelle tun würden. Erstens: der Beerdigung beiwohnen? Oder zweitens: mit meiner Tochter wieder Kontakt aufnehmen?«

Gabi betrachtete ihn eine Weile aufmerksam, bevor sie vorsichtig zu sprechen begann:

»Die Tatsache, dass Sie mir diese Frage überhaupt stellen, bringt mich zu der Annahme, dass Sie sie für sich selbst bereits beantwortet haben, aber nicht sicher sind, ob Sie richtig liegen. Lassen Sie es mich deshalb kurz machen. Ersteres: ja, wahrscheinlich. Zweiteres: ja, unbedingt.«

Gabi war bereits aufgestanden und im Begriff, sich zu verabschieden, da hielt sie Benders Stimme nochmals zurück.

»Glauben Sie, dass ein Mensch mehrere Wesen beherbergen kann? Dass es in dem, was wir unseren Geist nennen, mehrere Bewusstseinsbereiche gibt, die in der Lage sind, untereinander zu kommunizieren, wenn man sie denn lässt?«

»Sie stellen mir Fragen, die es mir schwer machen, darauf zu antworten. Ich habe mich noch nie wirklich mit solchen Dingen befasst. Andererseits, wenn ich mir vorstelle, wie unentschlossen man sich oft anstellt, wie hin- und hergerissen man sich vor gewissen Entscheidungen fühlt, dann ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig.« Gabi setzte sich wieder. Sie war auf einmal wie gefangen von diesem Thema. »Vielleicht wäre dafür aber unser Psychologe der geeignetere Gesprächspartner«, warf sie dennoch unsicher ein.

»Ach was, ich will keine angelernten und weitergegebenen Halbweisheiten hören. Scheinlösungen, die man als Tatsachen hinstellt, weil man nicht in der Lage ist, die unergründlichen Zusammenhänge zu erfassen.

Verstehen Sie mich recht, Gabi, ich will damit nicht einen Berufsstand abwerten, der für gewisse Menschen vielleicht überlebenswichtig ist. Aber man soll auch dazu stehen, dass man in diesem Bereich erst an der Oberfläche kratzt, und dass man immer noch auf der Suche ist, und es wahrscheinlich immer bleiben wird.

Sehen Sie, seit ich allein lebe, habe ich sehr viel Zeit, sehr vieles infrage zu stellen. Da aber die Wenigsten unserer Spezies dafür geschaffen sind, sich mit einem Eremitendasein der Gesellschaft zu verweigern, weil sie mit ebendieser aus irgendeinem Grunde nicht klarkommen, habe ich mich entschlossen, hierherzukommen, bevor ich vor lauter nicht beantworteten Fragen endgültig zum belächelten Sonderfall werde. Und ich bin inzwischen aber trotzdem überzeugt, dass in unserem Körper unzählige Wesen hausen, die sich einerseits gegenseitig ergänzen, sich aber auch bekämpfen, ja zerstören können. Dass sogar im Laufe eines Menschenlebens neue Wesen entstehen können, und dass unsere Wissenschaft deshalb nie abschließend und allgemeingültig wird beurteilen können, wie der so faszinierende Mensch wirklich funktioniert. Vielleicht sollten wir uns nicht zuerst mit dem Verhalten anderer auseinandersetzen, sondern zuallererst viel mehr und tiefer in uns selbst hineinhören. Es könnte uns das Verstehen erleichtern. Wenigstens bruchstückhaft.«

Gabi hatte fasziniert zugehört. Sie fühlte sich geehrt, dass Sebastian Bender ausgerechnet sie ausgewählt hatte, um all seine übervollen, verschlossenen Gedankenkästchen zu öffnen und vor ihr auszubreiten, als wollte er sagen: »Hier, nimm, was du gebrauchen kannst, und mach was draus.«

Beide schwiegen lange Minuten. Beide hatten sich eine Ecke ausgesucht, wo ihr Blick haften blieb. Bis sich Gabi losriss und, den alten Mann nachdenklich betrachtend, leise fragte:

»Herr Bender, darf ich das mal so mitnehmen, wie es dasteht? Ich muss das alles zuerst sortieren und zuordnen. Im Moment bin ich nicht in der Lage, auch nur annähernd eine Stellungnahme zu äußern. Die Verarbeitung kann etwas dauern.«

»Kein Problem. Aber vergessen Sie nicht, Sie schulden mir noch eine Antwort.« Er lächelte freundlich.

Gabi nickte abwesend und verabschiedete sich mit einer Handbewegung.

Die Gedanken des alten Mannes aber holten wieder Teile ihrer endlich verarbeitet und vergessen geglaubten Erfahrungen an die Oberfläche.

Neues Leben! Neues Glück?

Als Sabine am sechsundzwanzigsten Dezember um vierzehn Uhr dreiundzwanzig ihr erstes, weit herum hörbares Lebenszeichen von sich gab, schneite es gerade das erste Mal richtig in diesem Winter. Bis vor wenigen Tagen war es viel zu warm gewesen für diese Jahreszeit.

Andrea hielt die Kleine im Arm und erforschte, glücklich lächelnd, ihr Gesichtchen. Sebastian, mit Kathrin an der Hand, welche zu dieser Zeit vier Jahre alt war, standen neben dem Bett und durften das neue Leben bewundern.

»Ein kleines Steinböcklein«, raunte der stolze Vater verträumt, und strich zärtlich mit dem Zeigefinger über die rosa Bäckchen.

»Darf ich auch, Papa?«, fragte Kathrin ungeduldig, und zupfte an seiner Hose. Sebastian hob sie über das Bett, damit sie zaghaft ihr kleines Schwesterchen berühren konnte.

Andrea drehte den Kopf zur Seite und beobachtete aus müden Augen die tanzenden Schneeflocken.

»Was für eine friedliche Atmosphäre ein paar kleine Schneeflocken doch herbeizaubern können. Ich werde beten, dass es so bleibt. Aber jetzt bin ich müde. Seid mir nicht böse, meine drei Lieben.«

Die Krankenschwester holte das Neugeborene ab und Vater und Schwester machten sich glücklich auf den Heimweg.

Es wurde ein langer, strenger Winter, und das Städtchen Wohlen war, wie die übrige Schweiz – außer dem Tessin –, während vielen Wochen in eine dicke Schneedecke verpackt.

Klein-Paris, wie Wohlen rückblickend auf seine florierende Strohindustrie im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, und noch bis weit ins Zwanzigste hinein genannt wurde, war seit Juni das neue Zuhause der Familie Bender.

Sebastian hatte vor knapp zwei Jahren die Baufirma seines früheren Arbeitgebers zu einem anständigen Preis übernehmen können. Auch die Bank hatte ihm, dank jahrelanger, problemloser Zusammenarbeit keine überrissenen Kreditverträge vorgelegt, sodass er problemlos über die Runden kommen würde, auch wenn die Auftragslage einmal nicht so hervorragend war wie in diesem Jahr.

Er war bei seinen Arbeitskollegen als neuer Chef, auch dank seiner überdurchschnittlichen Fachkenntnisse, ohne Neid akzeptiert worden. Die fünfundsiebzig Mitarbeiter respektierten seine Anweisungen, und Bender seinerseits legte großen Wert auf eine korrekte, unvoreingenommene Behandlung aller Angestellten.

Zur Geburt seiner zweiten Tochter hatte die Belegschaft zusammengelegt und seiner Familie einen massiven, schweren Gartentisch mit vier Stühlen geschenkt, die er sich für seinen Vorgarten lange gewünscht, aber deren Anschaffung er immer wieder hinausgeschoben hatte.

Andrea hatte, seinem Wunsch entsprechend, die Arbeit bei ihrem Orthopäden beendet und kümmerte sich fortan vermehrt um Haus und Kinder. Sie ging in dieser Arbeit auf, musste jedoch von ihrer Mutter Klagen entgegennehmen, weil ihr Einsatz nur noch selten gefragt war. Sebastians Eltern dagegen waren nicht die begeisterten Kleinkinderbetreuer und deshalb nicht unglücklich über den Entscheid ihrer Schwiegertochter.

Der Geschäftsgang in Sebastians Firma verlief während der nächsten Jahre äußerst zufriedenstellend, sodass er schon bald den Bau eines eigenen Hauses planen konnte, und die Familie eines Tages mit einem definitiven Neubau-Projekt überraschte. Natürlich freuten sich Frau und Kinder, schon bald über mehr Platz im und ums Haus zu verfügen, aber ein kleiner Wermutstropfen hielt die Begeisterung dennoch in Grenzen. Man hätte halt gern auch ein wenig mitreden wollen bei der Planung.

Hinzu kam bei Andrea ein diffuses Gefühl der Verunsicherung oder sogar Angst auf, denn ihr Mann lebte mehr und mehr seine eigenen Vorstellungen von Familie, Beruf und Freizeit.

An Sonntagen packte er Frau und Kinder in seinen neuen Chevrolet und fuhr irgendwohin, ohne nachzufragen, ob jemand anders vielleicht auch einen Wunsch hätte. Wenn ein anderes Familienmitglied von sich aus einen Vorschlag machte, wie man Wochenende oder Ferien verbringen könnte, hatte Papa umgehend eine ›viel bessere Idee‹, die dann selbstverständlich auch umgesetzt wurde. Nur wenn sich klein Sabine etwas wünschte, wurde das meistens berücksichtigt. Es kam sogar vor, dass Sebastian unter irgendeinem Vorwand mit Sabine allein wegfuhr.

Meistens besuchten sie Papas Lieblingsplatz am Weiher im nahen Wald, wo er sich auf die Bank setzte und ihr beim Spielen zuschaute. Wenn sie dann müde war, und sich neben ihn setzte, erzählte er ihr oft Geschichten über Tiere und Pflanzen, denn Sebastian war sehr naturverbunden. Ein großer Teil seiner Bibliothek bestand aus Büchern über Erlebnisse und Erfahrungen aus der Welt von Flora und Fauna.

»Warum stechen Bienen die Menschen, Papa? Sind die böse?«, wollte Sabinchen einmal von ihm wissen.

»Nein, Kleines, die sind nicht böse. Sie stechen nur, wenn sie sich bedroht fühlen, um sich zu verteidigen. Wie du dich auch wehrst, wenn dich jemand ärgert.«

Und so konnte Sebastian fast alle Fragen seiner ›Prinzessin‹ beantworten, solange es sich nicht um menschliche Eigenheiten handelte. Bei diesem Thema fiel es ihm oft schwer, plausible, kindergerechte Antworten und Ansichten zu finden.

Frau Billeters Erfolge

Es war mehr als eine Woche vergangen seit Benders Krankheit. Die Beerdigung seiner Schwester hatte ohne ihn stattgefunden, als ihn Frau Billeter eines Abends beim Nachtessen fragte:

»Ich habe Sie schon lange nicht mehr auf Ihrem Spaziergang gesehen, Herr Bender. Haben Sie keine Lust mehr auf frische Luft? Wenn es Ihnen allein keinen Spaß mehr macht, ich begleite Sie gern mal. Allzu große Sprünge kann ich allerdings auch nicht mehr machen.«

Aber Sebastians Grund, dass er seit seiner Gewitter-Odyssee fast nicht mehr aus dem Haus ging, war ein anderer, bedrückender. Er fühlte sich seit der kurzen Krankheit ganz einfach zu schwach für Ausflüge dieser Art, und ging deshalb lieber gar nicht mehr nach draußen. Er hütete sich allerdings davor, dies in irgendeiner Form zuzugeben oder bemerkbar zu machen. Seine umtriebige Mitbewohnerin hätte sofort Abhilfe schaffen wollen, und eine Unmenge von guten Ratschlägen bereit gehabt.

Dieser traurige Umstand beschäftigte ihn jedoch mehr, als er wahrhaben wollte. Die meiste Zeit verbrachte er auf seinem Zimmer, las in alten Büchern oder stand am Fenster und schaute hinüber zum Wald, versuchte, zwischen den Baumkronen den genauen Platz zu finden, wo sein Felsenkobold vielleicht für immer vergeblich auf seinen Besuch wartete.

»Vielen Dank für Ihr Angebot, Frau Billeter, vielleicht komme ich darauf zurück. Nur, im Moment ist mir einfach nicht so nach Spazierengehen. Wissen Sie, seit meiner Erkältung bin ich ein wenig vorsichtiger geworden im Frischeluftschnappen. Etwas Geduld brauchen wir wohl noch, aber ich hoffe schon, dass ich mich bald wieder neuen Abenteuern stellen kann. Nun bitte ich Sie, mich zu entschuldigen, ich brauche ein wenig Ruhe. Bis morgen, Frau Billeter.«

Sie saß einfach da, bewegungslos, mit offenem Mund, großen Augen und sah Sebastian nach, wie er mit vorsichtigen Schritten zum Lift ging.

»Bitte, gern geschehen«, hauchte ihr Mund, als Bender schon im Aufzug verschwunden war. Wie sollte sie denn nun diese Rede verstehen? Das war ja in zwei Minuten mehr, als Bender sonst in einem Monat unaufgefordert von sich gegeben hatte. Und dann noch: ›Bis Morgen, Frau Billeter.‹ Sie hätte geschworen, dass er ihren Namen längst vergessen hatte. Noch nie hatte sie ihn diesen aussprechen hören, seit sie einander vorgestellt wurden.

»Haben Sie diese Ansprache eben gehört?, fragte sie Gabi, die soeben an den Tisch kam.

»Nein, wer hat denn …?«

Aber Frau Billeter war schon aufgestanden. Hoch erhobenen Hauptes, ein altes Kinderlied vor sich her summend, schritt sie dem Ausgang entgegen. Lächelnd schaute sie zum grauen, wolkenverhangenen Himmel empor. Was für ein wunderschöner, milder Abend.

Bender wollte sich soeben in eines seiner Bücher über das faszinierende Leben der Insekten vertiefen, als es klopfte, und der Lockenkopf fragend durch den Türspalt schaute.

»Kommen Sie herein, Gabi.« Der alte Mann legte sein Buch beiseite und bot seiner ›Doktoresse‹, wie er sie insgeheim nannte, den zweiten Stuhl an.

»Haben Sie Frau Billeter in solche Verwirrung versetzt? Sie scheint ja ganz aus dem Häuschen zu sein.«

»Nicht dass ich wüsste. Habe bloß ein wenig mit ihr geplaudert über unser Befinden und so.« Er machte eine Unschuldsmiene, aber Gabi glaubte, lachende Augen dahinter auszumachen.