9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Nicht nur die Straßen Londons sind tödlich: Schmutzige Intrigen, das brutalste Gefängnis der Stadt und mittendrin der charmante Tom Hawkins, der einem Mord auf die Spur kommt. Der Auftakt zu einer spannenden und historisch authentischen Thriller-Reihe! London, 1727: Tom Hawkins will lieber verdammt sein, als Landpfarrer zu werden wie sein Vater. Er liebt die Frauen, das Bier und das Glücksspiel – und landet eines Nachts im berüchtigten Londoner Schuldgefängnis »The Marshalsea«. Schnell erkennt Tom, dass in diesem "Teufelsloch" nur überlebt, wer sich nützlich machen kann: Er verdingt sich als Ermittler in einem hinterlistigen Gefängnismord – eine Idee, an der sein düsterer Zellengenosse Fleet sogleich Gefallen findet. Doch Tom ist auf der Hut, gilt Fleet doch selbst bei den abgebrühtesten Bütteln des Marshalsea als Ausgeburt der Hölle… »Ein historischer Thriller, der besser nicht sein könnte – großartig!« Jeffery Deaver »So gut, dass man sich fragt, ob die Autorin selbst im "Marshalsea« gesessen hat – das wird ein Renner!« Historical Novel Society »Wirklich etwas ganz Neues auf dem Feld historischer Thriller!« Daily Express »Ein brillantes Debüt, das den Gestank und die brodelnde Atmosphäre des Gefängnisses meisterhaft einfängt.« The Times »Hodgson macht die Verzweiflung im »Marshalsea« körperlich spürbar und streut geschickt Hinweise auf die Lösung des Rätsels.« PW Starred Review Alle Bände der "Tom-Hawkins"-Reihe der britische Erfolgsautorin Antonia Hodgson: Band 1 - "Das Teufelsloch" Band 2 - "Der Galgenvogel" Band 3 - "Das Sündenhaus"
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 607
Antonia Hodgson
Das Teufelsloch
Roman
Aus dem Englischen von Katharina Volk
Knaur e-books
1727. Tom Hawkins will lieber verdammt sein, als Landpfarrer zu werden wie sein Vater. Er liebt die Frauen, das Bier und das Glücksspiel – und landet eines Nachts im berüchtigten Londoner Schuldgefängnis »The Marshalsea«. Schnell erkennt Tom, dass in diesem »Teufelsloch« nur überlebt, wer sich nützlich machen kann: Er verdingt sich als Ermittler in einem hinterlistigen Gefängnismord – eine Idee, an der sein düsterer Zellengenosse Fleet sogleich Gefallen findet. Doch Tom ist auf der Hut, gilt Fleet doch selbst bei den abgebrühtesten Bütteln des Marshalsea als Ausgeburt der Hölle…
Für Joanna, Justine und Victoria, mit herzlichem Dank.
»Das Gewissen lässt Gespenster wandeln und die Seelen Verstorbener uns erscheinen … es wirkt auf die Phantasie ein mit einer unbesiegbaren Kraft, wie der Glauben.«
Daniel Defoe, The Secrets of the Invisible World Disclos’d,1729
»Gegen vier Uhr aufgestanden. Im Park sah ich ein halbes Dutzend Krähen in heisere Unterhaltung vertieft, doch da ich ihre Sprache nicht verstehe, kann ich nur vermuten, dass sie darüber verhandelten, wie die Leichen jener Unglücklichen aufzuteilen seien, die hier nach so kurzer Zeit versterben.«
John Grano, A Journal of My Life while in the Marshalsea,1728-29
Das Teufelsloch spielt im Herbst 1727 in London und Southwark, das damals im Allgemeinen als eigenständige Ortschaft galt. König George I. war im Juni verstorben. Sein Sohn, George II., folgte ihm auf dem Thron, wurde jedoch erst im Oktober gekrönt. Die Menschen waren gespannt darauf, zu erfahren, als was für ein Monarch er sich entpuppen würde. (Ein Banause und Hanswurst, wenn man dem spitzzüngigen Chronisten des höfischen Lebens, Lord Hervey, glauben darf.)
Das Marshalsea von 1727 ist nicht dasselbe Gefängnis, das Dickens in Klein Dorrit so brillant beschrieben hat. Dieses zweite Gefängnis entstand erst um das Jahr 1800 und lag ein Stück weiter die Borough High Street entlang. Das ursprüngliche Marshalsea-Gefängnis existierte mindestens seit dem 14. Jahrhundert, zwischen Mermaid Court und der Straße, die heute Newcomen Street heißt.
1720 ereilte Großbritannien die erste moderne Wirtschaftskrise – die sogenannte Südseeblase, der Zusammenbruch der South Sea Company. Als die Anteile der Gesellschaft plötzlich ihren Wert verloren, wurden Tausende in den Ruin getrieben, und die vernichtenden Auswirkungen waren noch sieben Jahre später zu spüren. Die London Gazette vom 17.-19. September 1727 beispielsweise war voll von Bekanntmachungen über die Einsetzung von Konkursbeamten und Todesanzeigen, die Gläubiger aufforderten, geschuldete Summen geltend zu machen. (Allerdings litt nicht jeder Not. Es gab auch eine Seite mit Hinweisen zur Kleiderordnung für die Krönungsfeierlichkeiten, die die Herren und Damen des Adels genau darüber informierte, wie viel Hermelin sie tragen durften.)
Londons Schuldgefängnisse quollen förmlich über – ein großes Elend für Tausende Menschen und eine großartige Verdienstmöglichkeit für Männer wie William Acton, Direktor des Marshalsea. Schuldgefängnisse gab es damals in England schon seit Jahrhunderten. Im Prinzip gehörten sie zwar der Krone, doch geführt wurden sie zum privaten Profit. Gefangene, die ihre ursprünglichen Schulden bei ihren Gläubigern schon bezahlt hatten, blieben dennoch oft noch jahrelang in Haft, weil sie weitere Schulden beim Betreiber angehäuft hatten.
Es mag uns seltsam erscheinen, dass man mit Schuldnern so viel Geld verdienen konnte – bis uns Anzeigen für »Sofortkredite« vor Augen führen, dass es immer noch eine Menge Möglichkeiten gibt, von der Notlage anderer zu profitieren. Viele Gefangene wurden von Familie und Freunden unterstützt oder konnten Habseligkeiten verpfänden, während sie das Geld für ihre Gläubiger aufzutreiben versuchten. Manche führten sogar ein Geschäft innerhalb der Gefängnismauern – Sarah Bradshaws Kaffeehaus und Macks Speiselokal sind nur zwei Beispiele. Prostituierte gehörten zu den regelmäßigen Besuchern. Und im Marshalsea-Gefängnis gab es 1727 tatsächlich einen Barbier namens Trim und – recht exotisch – eine französische Wahrsagerin namens Madame Migault. Schuldgefängnisse dienten eher dem Zweck, die Insassen festzuhalten, als sie zu bestrafen – wenn man sich Essen, Trinken und Amüsement leisten konnte, hatte niemand etwas dagegen, solange der Verwalter seinen Anteil bekam.
Im frühen 18. Jahrhundert wurde die warme Hauptmahlzeit für gewöhnlich gegen zwei oder drei Uhr nachmittags eingenommen. Abends gab es, wenn überhaupt, noch eine späte, leichte Mahlzeit. Alle Gerichte, die in diesem Roman erwähnt werden, gehen auf die Speisen zurück, die John Grano in seinem Tagebuch erwähnt, verfasst im Marshalsea-Gefängnis 1728 bis 1729. Und ja, damals wurde tatsächlich so viel getrunken und geraucht.
Es wurde auch ungeheuerlich geflucht. César de Saussure, ein Schweizer, der London in den 1720er Jahren besuchte, bemerkte dazu: »Die Engländer fluchen ganz gewaltig«, und »Nicht nur das gemeine Volk frönt dieser unschönen Gewohnheit.« Und damit meinte er nicht nur »verdammt« oder »bei Gott«.
Falls uns die Ausdrucksweise anachronistisch erscheint, dann vielleicht deshalb, weil solche Wörter in den bekannteren Romanen und Theaterstücken aus jener Zeit nicht vorkommen. Ein kurzer – oder auch längerer – Blick in einige Werke der »Libertinage«, etwa Venus im Kloster (1725), bestätigt, dass eine außerordentlich derbe Ausdrucksweise und plastisch geschilderte Sexszenen nichts Neues sind. Wir können wohl davon ausgehen, dass man in den Kaffeehäusern von Covent Garden, den Slums von St. Giles und den Schuldgefängnissen der Großstadt nicht »verflixt und zugenäht« sagte, wenn so viel saftigere Ausdrücke zur Verfügung standen.
Sie kamen um Mitternacht. Er war nicht vorgewarnt, hatte keine Zeit, nach dem verborgenen Dolch unter seinem Kopfkissen zu greifen. Lautlos wie Gespenster waren sie gekommen, über den Gefängnishof und die muffige, schmale Treppe herauf, während er ahnungslos geschlafen hatte.
Ein Schuldiger sollte nicht so tief schlafen.
Er erwachte, als ihm eine kalte Klinge an die Kehle gedrückt wurde. Sie knebelten und fesselten ihn, ehe er wach genug war, um zu schreien. Dann zerrten sie ihn so grob vom Bett und auf die Knie, dass die Bodendielen barsten.
Eine Laterne flammte auf und beleuchtete die Angreifer. Nun erkannte er sie zumindest und wusste, weshalb sie gekommen waren. In seiner Verzweiflung zerrte er den schweren ledernen Beutel hervor, den er zur Sicherheit um den Hals trug, und warf ihn den Männern vor die Füße. Gold- und Silbermünzen kullerten über den Boden.
Der Mann mit der Laterne bückte sich, hob eine halbe Guinee vom schmutzigen Boden auf und drehte sie langsam zwischen den Fingern herum. »Glaubst du, das rettet dich?« Mit einem schmallippigen Lächeln ließ er die Münze wieder auf den Boden fallen. Und nickte seinem Komplizen zu.
Dann schickten sie ihn in die Hölle.
Ein Wärter fand den Leichnam am nächsten Morgen. Er hing im Verschlag von einem Balken, zu hoch für die Ratten, die in den dunklen Ecken wuselten und wimmelten. Die Schließer schnitten ihn von dem Balken los und legten ihn draußen auf den Hof, ein wenig abseits der drei Gefangenen von der Common Side, welche in der Nacht am Fieber verstorben waren. Der Captain mochte vom Glück verlassen worden sein, doch er war immer noch ein Mann von Stand.
Der Gefängnispfarrer wies auf das geschundene Gesicht und den geprügelten Leib des Toten und verlangte, dass auf der Stelle der Coroner herbeigeholt würde, der unnatürliche Todesfälle zu untersuchen hatte. Der Direktor, der bereits seit Stunden mit einigen Kumpanen im Crown saß und trank, spuckte ihm vor die Füße und sprach von Selbstmord – und wer etwas anderes behauptete, sollte die Pocken kriegen. Der Coroner werde dasselbe verkünden, dafür würde er schon sorgen.
Oben in des Captains Zimmer auf der Master’s Side spielten seine Freunde hastig um seine wenigen Habseligkeiten, ehe der Anwalt sie sich holen konnte. Kleidung, Tabak, ein Pfund Speck. Ein kleiner Kochtopf mit schmierigen Resten des gestrigen Abendessens. Kein Geld. Doch das war kein Wunder in einem Schuldgefängnis.
Eine junge Dienstmagd mit frischen Leint üchern auf dem Arm hielt an der Treppe inne. Eine Weile blieb sie dort im Schatten stehen und beobachtete das Spiel und die Spieler. Sie hatte schon längst gelernt, Augen und Ohren stets offen zu halten. Im Marshalsea war ein gutes Geheimnis besser als Gold – und tödlicher als eine Klinge, wenn man es zu nutzen verstand. Ihr Blick fiel auf den Boden. Seltsam. Jemand hatte ihn in der Nacht sauber gefegt. Sie steckte den Gedanken ein wie ein kleines Fundstück und ging weiter ihrer Arbeit nach.
Die Mörder hatten den Boden gefegt, eine Kleinigkeit jedoch übersehen: Eine Münze war bei dem Kampf durchs Zimmer gekullert und in einer dunklen Ecke unter des Captains Bett gelandet. Und dort blieb sie viele Monate lang liegen, verborgen im Staub – eine blutbefleckte Silberkrone. Sie wartete darauf, ihre Geschichte zu erzählen.
Wartete darauf, dass ich sie fand.
Raub
Du hast ein teuflisches Glück, Tom Hawkins.«
Ich grinste den Mann mir gegenüber an. Der Septemberabend war warm, mein Geldbeutel zum ersten Mal seit Monaten prall gefüllt, und wir hatten eben einen Tisch im verruchtesten Kaffeehaus von ganz London ergattert. Das Leben konnte kaum schöner sein. »Das war kein Glück«, entgegnete ich schreiend, um mich in dem Lärm verständlich zu machen.
Charles Buckley, mein ältester Freund, warf mir einen Blick zu, den ich im Lauf der Jahre nur zu gut kennengelernt hatte: Gereiztheit, Missbilligung – und dahinter ein Fünkchen Belustigung. Ich lehnte mich zufrieden zurück und zündete mir eine Pfeife an. Es gehörte zu meinen größten Freuden im Leben, Charles wider seine eigene Moral zum Lachen zu bringen.
Eine Serviermagd kam dicht an unserem Tisch vorbei – ein hübsches Mädchen namens Betty mit schwarzen Ringellöckchen und kaffeebrauner Haut. Ich winkte sie heran und bestellte einen Krug Punsch.
»Eine Schale Kaffee«, korrigierte Charles. »Und dann nach Hause. Du hast mir dein Wort gegeben, schon vergessen?«
Ich drückte Betty einen Shilling in die Hand. Es fühlte sich gut an, wieder Geld zu haben – und es auszugeben. »Kaffee. Und einen Krug Punsch. Wir haben etwas zu feiern«, erklärte ich und tat Charles’ Protest mit einem herrschaftlichen Wedeln ab.
Betty zog eine Augenbraue hoch. In Tom Kings Kaffeehaus gab es nur zwei Anlässe zu feiern – ein Gewinn am Spieltisch oder die vollständige Genesung vom Tripper.
»Ich habe heute Abend zehn Pfund beim Kartenspielen gewonnen«, rief ich hastig, doch sie schlängelte sich bereits durch die Menge der Gäste zu den Kaffeetöpfen, die über dem Feuer hingen. Als ich mich wieder umdrehte, hatte Charles den Kopf in den Händen vergraben.
»Was soll ich nur mit dir machen?«, stöhnte er durch die Finger hindurch.
Ich ließ den Blick durch den langen, niedrigen Raum schweifen und sog das berauschende Aroma von Rauch, Branntwein und Schweiß ein. Wenn ich später meinen Rock aufhängte, würden dieselben vertrauten Düfte bis zum Morgen meine kleine Mansarde erfüllen. »Einen Krug Punsch, Charles. Nur einen! Wir trinken auf mein heutiges Geschick am Spieltisch.«
»Geschick?« Er ließ die Hände sinken. Charles hatte ein angenehmes Äußeres. Seine Gesichtszüge waren so gefällig arrangiert wie ein wohlproportionierter Salon. Dieses Gesicht war nicht für Empörung geschaffen, doch er gab sich alle Mühe und ließ seine dunkelbraunen Augen ein Stückchen weiter werden. »Geschick? Du hast alles auf eine einzige Karte gesetzt! Bis auf den letzten Heller! Das ist kein Geschick, das ist …« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Das ist Wahnsinn.«
Ich widersprach ihm nicht. Charles weigerte sich zu glauben, dass es beim Kartenspiel um mehr ging als blindes Glück – zum Teil deshalb, weil er selbst so jämmerlich spielte. Es nützte nichts, ihm zu erklären, dass ich drei Viertel der Männer in diesem heißen, verrauchten Spielzimmer kannte und schon so oft gegen sie gespielt hatte, dass mir ihre Stärken und Schwächen vertrauter waren als meine eigenen. Oder dass ich mich auch in halb betrunkenem Zustand an jede einzelne Karte erinnerte, die ausgespielt worden war, und mir die Gewinnchancen blitzschnell ausrechnen konnte. Der Gerechtigkeit halber sei gesagt, dass Charles dennoch nicht ganz unrecht hatte – mit diesem letzten Spiel war ich ein ungeheuerliches Risiko eingegangen, doch mir war keine andere Wahl geblieben. Für mich war es um Leben und Tod gegangen.
Früh an diesem Morgen war mein Hauswirt mit drei weiteren Gläubigern in mein Zimmer geplatzt und hatte mir eine Klage wegen zwanzig Pfund ausstehender Miete und anderer Schulden gebracht. Der Arrestbefehl ließ mir nur einen Tag Zeit, genug Geld aufzutreiben, um meine Gläubiger vorerst zufriedenzustellen. Tat ich das nicht, würde man mich auf der Stelle verhaften und ins Gefängnis werfen.
Damals konnte mich nur wenig schrecken. Ich war fünfundzwanzig, und der Tod schien mir fern und nebulös. Doch ich kannte drei Männer, die im vergangenen Jahr ins Schuldgefängnis gekommen waren. Einer war an einem Fieber gestorben, der zweite hatte bei einem Kampf einen Messerstich abbekommen und mit knapper Not überlebt. Der dritte war als dicker, fröhlicher Kerl durch das Tor hineingegangen und ein halbes Jahr später als graues, stotterndes Skelett wieder herausgekommen. Er wollte nicht sagen, was ihm widerfahren war, und wenn wir ihn dazu drängten, trat ein Ausdruck in seine Augen … als wollte er lieber sterben, denn darüber zu sprechen.
Also war ich in meine Kleider geschlüpft und hinaus auf die morgendlichen Straßen geeilt, um jede Schuld und jeden Gefallen einzufordern, die mir nur einfallen wollten. Als das nicht genug brachte, versetzte ich alles, was irgendeinen Wert hatte, bis meine Dachkammer so nackt wirkte wie eine Jungfer in der Hochzeitsnacht. Nur zwei meiner wertvolleren Habseligkeiten behielt ich – meinen Dolch zum Schutz und meinen besten Anzug als Blendwerk (ein wenig dreiste Arroganz und ein paar goldene Knöpfe öffnen in London viele Türen). Meine Gläubiger verlangten die Hälfte der geschuldeten Summe zum Beweis meiner Beteuerungen, dass sie auch den Rest in Bälde wiederbekommen würden. Als die Sonne unterging, zählte ich nach, was ich eingenommen hatte: zwei Guineen und eine Handvoll Pennys. Kaum ein Viertel des Betrages.
Nun war ich gezwungen, das zu tun, wovor ich mich den ganzen Tag lang gedrückt hatte – Charles um Hilfe bitten. In der Schule und in Oxford waren wir einander so nahe gewesen wie Brüder, doch in den letzten Jahren war unsere Freundschaft ein wenig eingeschlafen. Aus meinem alten Kameraden, mit dem ich so viel Unsinn getrieben hatte, war Pfarrer Charles Buckley geworden, ein höflicher, ernster Herr, der in St. Georges am Hanover Square entzückten alten Damen Nachmittagspredigten hielt. All das war ja gut und schön, doch dann hatte er begonnen, auch mir Predigten über mein Gebaren zu halten. Ich war keine entzückte alte Dame. Ich hatte ihn seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen.
Charles wohnte bei seinem Gönner, Sir Philip Meadows, in einem großen Haus in der Nähe des St. James’ Square. Der Weg war nicht weit, doch ich schleppte mich mit langsamen, schweren Schritten die Piccadilly entlang. Ich ertrug den Gedanken kaum, ihn mit meinen Sorgen zu belasten, und – schlimmer noch – ich war gewiss, dass er es mir augenblicklich verzeihen würde. So stand ich kurz davor, mich zu schämen – ein unangenehmes Gefühl.
Doch als ich Charles meine Notlage schilderte, tadelte er mich glücklicherweise so streng, dass ich meine Scham ganz vergaß und ihn stattdessen als selbstgefälligen Pedanten beschimpfen konnte.
»Ach, um Himmels willen, nun gib mir schon den Arrestbefehl«, herrschte er mich an und begann zu lesen. Dann gab er eine Art überraschtes Grunzen von sich. »Der ist für das Marshalsea. Du musst doch wissen, dass Sir Philip der Knight Marshal ist?«
Ach ja? Ich runzelte die Stirn. Meine Gedanken neigten zum Abschweifen, wann immer Charles von seinem erlauchten Gönner und dessen Familie sprach, außer, wenn es um die beiden ältesten Töchter ging. Dieses Thema erregte stets mein Interesse. »Dann gehört ihm das Gefängnis?«, riet ich.
»Es gehört dem König«, erwiderte Charles geistesabwesend, während er weiterlas. »Sir Philip verwaltet das Gericht samt Gefängnis in seinem Namen. Nun ja – er stellt den Direktor ein … Du lieber Himmel, Tom – zwanzig Pfund? Du schuldest diesen Leuten zwanzig Pfund? Das ist mehr, als ich in einem halben Jahr verdiene.« Er starrte das Schriftstück an, als hoffte er, die Zahlen könnten sich von selbst verringern, wenn er die Augen nur schmal genug zusammenkniff.
»Das Leben in London ist teuer.«
Er wies auf die goldenen Knöpfe an meinem Wams. »Nicht notwendigerweise.«
Noch eine Predigt. »Also schön.« Ich entriss ihm den Arrestbefehl und stopfte ihn mir in die Tasche. »Wenn ich verspreche, fortan nichts als braune Strümpfe und triste Hosen aus Barchent zu tragen, hilfst du mir dann?«
Charles lachte wider Willen. »Natürlich helfe ich dir.« Er zog eine eiserne Schatulle von einem hohen Wandbord, schloss sie auf und kippte sie aus. Ein kleines Häuflein Münzen. »Wird das genügen?«
Ich zählte rasch nach. Nicht ganz vier Pfund. Selbst wenn ich sein Geld bis zum letzten Penny annahm, würde es mich nicht vor dem Gefängnis bewahren.
»Ich kann noch mehr auftreiben«, sagte Charles besorgt. Verstohlen ließ er den Blick über seine Habseligkeiten schweifen und schien rasch ihren Wert abzuschätzen. »Das könnte aber ein Weilchen dauern.«
Ha – da hatten wir es. Jetzt schämte ich mich tatsächlich. »Ich leihe mir dieses Geld, aber nicht mehr«, verkündete ich wie ein wahrer Märtyrer. »Und du bekommst es zurück, Charles – du hast mein Wort. Noch heute Nacht, hoffe ich.«
Ganz so viel Glück hatte ich dann doch nicht. Fünf lange Stunden an den Spieltischen hindurch hatte ich verloren und gewonnen, gewonnen und verloren und nie ganz die zehn Pfund erreicht, die meine Gläubiger forderten. Charles – der darauf bestanden hatte, mich zu begleiten – ging auf und ab, setzte sich in eine Ecke und kaute auf dem Daumennagel, verließ den Raum, kam zurück, ging wieder hinaus. Es wurde spät, und ich verlor sechsmal hintereinander. Nun saß ich mit etwas über fünf Pfund da – weniger, als ich hierher mitgebracht hatte. Doch jetzt spielte ich Pharo, und in diesem letzten Spiel hatte ich meinen Einsatz Karte um Karte aufgebaut. Wenn ich zuletzt auf die richtige Karte setzte, konnte ich mein Geld verdoppeln.
Wählte ich aber die falsche Karte … würde ich alles verlieren.
Charles beugte sich über meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr: »Tom, um Gottes willen, hör auf.« Er griff nach den fünf Pfund und wollte sie vom Tisch nehmen. »Im Gefängnis wirst du jeden Penny hiervon brauchen.«
Ich hielt seine Hand fest und schob die Münzen zurück auf den Tisch. »Ein letzter Coup. Fünf Pfund auf die Königin. Gott segne sie.«
Der Bankier lächelte. Charles schlug die Hände vors Gesicht. »Du wirst alles verlieren«, stöhnte er.
»Oder es verdoppeln«, gab ich zurück. »Glauben Sie an das Gute, Pastor Buckley.«
Die anderen Spieler machten ihre Einsätze. Der Bankier legte den Zeigefinger auf den Stapel und zog zwei Karten herunter. Das Herz hämmerte mir in der Brust. Guter Gott, wie liebte ich diese Erregung, Hoffnung und Angst in einem einzigen Augenblick vereint. Das Warten auf die Aufdeckung, zum Guten oder zum Schlechten. Der Bankier drehte die erste Karte um – wer auf sie gesetzt hatte, verlor an die Bank. Herz-Fünf. Der Spieler neben mir stieß einen leisen Fluch aus.
Und jetzt kam die Karte, die alles gewann. Ich hielt den Atem an. Der Bankier drehte die Karte auf dem Tisch um.
Karo-Königin.
Ich stieß den Atem aus und lachte dann vor Erleichterung. Ich war gerettet.
Betty kam mit unserem Kaffee, gefolgt von unserer guten Wirtin Moll King persönlich mit einem kleinen Krug Punsch. Das Schild über der Tür behauptete, dies sei Tom Kings Kaffeehaus, doch in Wahrheit führte Moll das Geschäft. Sie lieferte die Mädchen, setzte Hehlerware um, verkaufte Geheimnisse, und hin und wieder schenkte sie sogar Kaffee ein.
Sie verscheuchte Betty mit einem Wink, setzte sich dicht neben mich auf die Bank und küsste mich auf die Wange. Zugleich strichen ihre diebischen Finger an meinem Oberschenkel empor. Charles, der mir gegenüber am Tisch saß, blieb bei diesem Anblick der Mund offen stehen. Mit ihrem breiten, kantigen Gesicht, der langen Nase und dem fahlen Teint war Moll keine große Schönheit, und mit ihren dreißig Jahren war die Kieferpartie nicht mehr straff zu nennen. Aber sie hatte einen scharfen Verstand und schlaue, dunkle Augen, die eines Mannes Gedanken blitzschnell zu lesen wussten. Ich liebte sie – wenn ich es mir leisten konnte.
»Wie ich höre, hast du heute Abend gute Karten gehabt«, raunte sie. »Ich will dir gern helfen, deinen Gewinn auszugeben …«
Bei einer anderen Gelegenheit hätte ich vielleicht mitgespielt, doch nicht heute Nacht. Ich brauchte das Geld in meiner Börse. Widerstrebend rückte ich von ihr ab. Molls Hand war augenblicklich wieder auf dem Tisch. »Und wen haben wir hier?«, fragte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf mein Gegenüber.
»Das«, sagte ich mit großer Geste, »ist Pastor Charles Buckley.«
»Ist mir eine Ehre«, sagte Moll knapp und musterte seinen gutgeschnittenen schwarzen Rock und die makellos weiße Halsbinde. Allerdings hatte er leere Taschen – das hätte ich ihr sagen können. »Tom spricht oft von Ihnen.«
Überrascht ließ Charles seine Kaffeeschale sinken. »Tatsächlich?« Er lächelte mich an. »Was sagt er denn?«
Moll schenkte sich ein Gläschen von meinem Punsch ein. »Er sagt oft ›Dem Herrgott sei Dank, dass Charles mich jetzt nicht sieht‹.« Sie hob das Glas und stieß mit mir an.
Das Kaffeehaus war gut besucht, die Stimmung ausgelassen. Wie jeden Abend. »Fäuste, Ficks und feinster Kaffee« – so beschrieb Moll ihr Haus, wie ein stolzer Kaufmann, der seine Waren aufzählt. Was in den meisten Kaffeehäusern nur in dunklen Ecken geschah, spielte sich hier vor aller Augen ab: Komplotte wurden ausgeheckt, Börsen geraubt und Hosen aufgeknöpft. Gott allein wusste, was bei Moll in den dunklen Ecken geschah – was blieb da noch? Nicht mehr lange, und die Männer würden nach Hause wanken oder über die Piazza zu einem diskreten Bordell, falls ihnen der Sinn nach Gesellschaft stand. Die Mädchen würden wieder an die Arbeit gehen – die Glücklichen in einem gemieteten Zimmer in der Nähe, die weniger Glücklichen in den finsteren, stinkenden Seitengassen der Strand.
»Tom«, sagte Charles mit gedämpfter Stimme, als Moll eine Pfeife aus ihrer Tasche zog. »Wir sollten gehen.«
Er hatte recht. Mit zehn Pfund im Beutel hier herumzusitzen war töricht. »Wir sollten aber erst den Punsch austrinken.« Der Krug war noch halb voll, und es war höchste Zeit, dass ich endlich lernte, mein Geld nicht zu vergeuden.
Charles erhob sich und nahm seinen Hut von einem Haken an der Wand. »Nun, ich muss mich verabschieden. Sir Philip lässt das Haus um Mitternacht abschließen.«
Moll lächelte ihm zu und steckte ihre Pfeife an. »Oh, hier gibt es genug Männer, die Ihnen bei Schlössern helfen können, Sir …«
»Danke, Charles«, unterbrach ich sie hastig. Ich stand auf und ergriff seine Hand. »Ich werde dir das Geld zurückzahlen, das ich dir schulde. Das schwöre ich.«
Er legte mir eine Hand auf die Schulter und blickte mir tief in die Augen. »Gott hat dir ein Zeichen gesandt, Tom. Er hat dich heute vor dem Gefängnis bewahrt. Du hast eine Chance erhalten, ein neues Leben zu beginnen. Komm morgen früh zu mir. Ich werde mit Sir Philip sprechen, ob wir nicht einen Posten für dich …«
»Gleich morgen, ja.«
Er strahlte mich an, verneigte sich vor Moll und ging. Ich sah ihm hinterher, wie er sich zwischen den Stühlen und Tischen hindurchschlängelte, und verspürte plötzlich den Drang, doch mit ihm zu gehen. Mein Leben lang hatte Charles mir stets nur gut geraten. Aus irgendeinem Grund, der mir selbst unbegreiflich war, befolgte ich seinen Rat jedoch nie.
»Morgen«, sagte Moll.
Ich warf ihr geistesabwesend einen fragenden Blick zu.
»Bei dir heißt es immer morgen, Tom.« Sie betrachtete mich eingehend, das Kinn auf die Hand gestützt. Ich war einer ihrer Lieblinge, das wusste ich. Ich war wohl ganz ansehnlich und ein guter Kunde, wenn ich einmal Geld hatte. Und wenn nicht, sammelte ich an den Spieltischen eben reichlich Neuigkeiten, während ich so zwischen Herren, Dieben und Politikern saß. Hauptsächlich belangloses Geschwätz, aber Moll verstand sich darauf, das Gold herauszusieben. »Ich bin froh, dass du nicht ins Gefängnis musst«, sagte sie. »Vor allem nach Marshalsea. Der Direktor ist ein Ungeheuer …«
Es gab einen lauten Krach, gefolgt von noch lauterem Gejohle am Nebentisch. Ein großer Krug flog durch die Luft und zersprang in hundert Stücke, und eine rote, klebrige Lache Punsch breitete sich auf dem Boden aus. Eine kleine Schar Lehrlinge mit rot bespritzten, ruinierten Beinkleidern schrie eines der Mädchen an, das den Krug angeblich vom Tisch gestoßen hatte. »Du dummes Luder, dafür wirst du bezahlen«, drohte einer höhnisch und packte sie beim Haar.
»Meine Herren.« Moll erhob sich von der Bank. Fast jeden Abend brachen hier Schlägereien aus, doch sie währten nie lange. Moll hatte Männer im Haus, die sie rufen konnte, und unter ihren Röcken steckte ein grausam langer Dolch. Ich hatte mir einmal die Hand daran aufgeschlitzt, als ich nach etwas Weicherem getastet hatte. Die Burschen entschuldigten sich unter Verbeugungen und bestellten einen neuen Krug Punsch.
»Du kannst nicht für so einen Hochwohlgeborenen wie Sir Philip arbeiten«, verkündete Moll ein wenig verächtlich und setzte sich wieder. Dann nahm sie einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife. »Komm morgen lieber zu mir. Ich finde schon Verwendung für dich.«
»Was hast du denn im Sinn?«
Moll hatte zahlreiche Vorschläge, von denen die meisten mit Deportation oder Tod durch den Strick bewehrt waren. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass ich schon zu lange haltlos durchs Leben trieb und mich hauptsächlich auf Charme und Glück verließ. Vielleicht sollte ich doch für Moll arbeiten. So mühselig dieser Tag auch gewesen war, ich hatte es genossen, zur Abwechslung einmal ein Ziel zu haben. Eine Karte, die über Leben und Tod entschied – ein unwiderstehlicher Einsatz für einen wahren Spieler.
»Ich werde es mir morgen überlegen«, sagte ich. »Dank des neuen Königs wird es neue Gelegenheiten geben, neue Gönner … Ich hatte daran gedacht, es einmal mit Schreiben zu versuchen.«
Sie starrte mich erschrocken an. »Du brauchst nicht gleich zu verzweifeln, Herzchen.«
Ich trank meinen Punsch aus und erhob mich zum Gehen. Moll begleitete mich und warf die ausgebrannte Pfeife achtlos hinter sich. Sie prallte von der Tischplatte ab und fiel klappernd zu Boden. »Ich brauche ein wenig frische, reine Luft«, erklärte sie, und wir lachten beide. In Covent Garden gab es nichts Frisches oder Reines, schon gar nicht zu dieser späten Stunde.
An der Tür lehnte sie sich mit dem Rücken an den Türrahmen und blickte auf die Piazza hinaus wie eine Königin, die ihre Jagdgründe überblickt. Moll besaß einen gewissen magischen Glanz, dachte ich, während ich sie so betrachtete. Ihr Kaffeehaus war kaum mehr als ein baufälliger Schuppen. Doch wenn Moll dort drin Hof hielt, fühlte es sich an wie der Mittelpunkt der Welt.
Sie hob den Kopf und schaute zum Himmel. »Finster wie in des Teufels Arschloch. Du brauchst einen Fackelträger.« Sie pfiff scharf durch die Finger, und ein schmales, zerlumptes Geschöpf schoss aus dem Schatten herbei. Dunkle Locken kringelten sich unter einem zerbeulten kleinen Dreispitz hervor. Rutschend kam der Junge vor uns zum Stehen, eine erloschene Fackel in der Hand.
»Ganz allein, Bürschlein?«, fragte Moll. Sie hob sein Kinn an, um ihn besser mustern zu können. »Dich kenne ich nicht, oder?«
Manche Jungen hätten unter diesem furchteinflößenden Blick stotternd ihre Lebensbeichte abgelegt. Dieser hier erwiderte unerschrocken ihren Blick. »Die anderen warten in der Drury Lane. Das Stück ist bald aus. Wohin?«
»Wohin, Mistress King«, korrigierte Moll ihn scharf, doch dann lächelte sie. Als kleines Mädchen hatte sie selbst auf der Straße gearbeitet. »Leuchte diesem Herrn den Weg in die Greek Street.«
Sie wandte sich ihrem Schuppen zu. Aus einer Laune heraus packte ich sie am Arm und küsste sie auf den Mund. Ich schmeckte Rauch, Branntwein und eine Spur süßer Orangen. Sie kicherte und erwiderte den Kuss, und mein Blut geriet in Wallung. Dies hier war eine gewisse Säumigkeit wert, und wenn hundert Arrestbefehle auf mich ausgestellt wären. Ich erinnerte mich an unseren letzten Kuss in jener Nacht, als wir vom Tod des Königs erfuhren. Drei Monate waren seither vergangen. Ich hatte geglaubt, die Welt würde sich verändern. Das tat sie natürlich nicht. Molls Hand glitt tiefer.
Zu meiner Börse.
Ich packte sie am Gelenk und zog die Hand weg. Moll lächelte gelassen. »Ich stelle dich nur auf die Probe. Ich würde doch nicht einen von meinen Leuten bestehlen, nicht wahr, Herr Pastor?« Sie schlüpfte durch die Tür, ehe ich etwas erwidern konnte.
Der Fackelträger rieb sich den Mund, um ein Grinsen zu verbergen. Stirnrunzelnd warf ich ihm einen Penny zu. »Zünde deine Fackel an.«
Er gehorchte, indem er sie an die Laterne neben der Tür hielt. Als das Pech entbrannte, tauchte die Flamme das Gesicht des Jungen in einen weichen, orangeroten Schein.
»Warum hat sie Sie Pastor genannt?«, fragte er und rümpfte die Nase. »Sind Sie ein Pfaffe oder was?«
Oder was. Herr Pastor war ein Spitzname, mit dem Moll mich gern neckte, da sie meine Geschichte kannte. Ich wies auf mein blauseidenes Wams und auf Rock und Hose in der Farbe von Zimt. »Sehe ich denn aus wie ein Pfaffe?«
Er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, dass er jedermann alles zutraute. Die überdrüssig wirkende Geste wollte so gar nicht zu diesen jungen Schultern passen. So erging es Jungen, die des Nachts Lebemännern und Huren den Weg zu ihren Betten leuchteten. Das trieb ihnen rasch die Unschuld aus. Nun ja, in dieser Stadt gab es üblere Möglichkeiten, sich einen Penny zu verdienen. Er wandte sich um und marschierte mit hoch erhobener Fackel in Richtung Soho los. Ich setzte meinen Dreispitz auf und eilte ihm nach wie ein Schiff, das dem Nordstern zum Heimathafen folgt.
Eine Frage beunruhigte mich. Sah man mir unter meiner modischen Kleidung noch immer den Geistlichen an? Ich drehte diesen unschönen Gedanken um und um. Seit ich ein kleiner Junge gewesen war – jünger als dieser kleine Racker, der da vor mir herlief –, hatte man mir gesagt, dass mir eine kirchliche Laufbahn bestimmt sei, genau wie meinem Vater, dem Pastor Dr. Thomas Hawkins. (Da haben wir es – er hatte mir sogar seinen Namen gegeben, damit ich eines Tages umso leichter zu ihm werden konnte.) Doch so war es nicht gekommen. Im tiefsten Inneren meiner Seele hatte ich stets gewusst, dass ich mich nicht zum Geistlichen eignete. Die Schwierigkeit bestand darin, dass ich keine Ahnung hatte, wozu ich mich denn eignen mochte. Haben Sie schon einmal ein Kind gesehen, das nicht gefüttert werden will? Es wendet das Gesicht ab – nein, nein, nein. So empfand ich bei der Vorstellung, dem Klerus beizutreten. Ganz gleich, wie oft mein Vater den Löffel an meine Lippen führte, wie oft er auch versuchte, mir Pflichterfüllung, Ehre und Anstand in den Mund zu stopfen. Nein, nein, nein.
Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich kaum auf meine Umgebung achtete, als wir Long Acre überquerten. Auf den Straßen war es still – es war zu spät für die einen, zu früh für die anderen. Wir bogen ab, und dann müssen wir wohl nochmals abgebogen sein, in eine dunkle, schmale Gasse. Alte Holzhäuser lehnten ermattet aneinander. Die oberen Geschosse ragten so weit über die Straße, dass sie einander beinahe berührten. Ein Haus war gänzlich eingestürzt. Das brauchbare Holz war großteils geplündert worden, so dass nur noch ein halb verfallenes Gerüst wie ein Skelett in den Nachthimmel aufragte.
Ein scharfer Windstoß fegte die Gasse entlang, und das Ladenschild eines Fleischers quietschte in den Angeln. Verwundert blieb ich stehen, dann stieß ich einen leisen Fluch aus. Diese Straße war mir fremd. Der Geruch von Balsamöl hing in der Luft – der scharfe Dunst einer nahen Gin-Brennerei. Von ferne war trunkenes Gelächter zu hören. St. Giles. Wir befanden uns in St. Giles.
Ich drehte mich hektisch um mich selbst. Panik flammte in meiner Brust auf. Anstatt weiter westlich nach Soho zu gehen, waren wir irgendwie ins verrufenste Elendsviertel Londons geraten. Nur ein Narr würde sich hier bei Nacht allein auf die Straße wagen. Ich zog meinen Dolch aus dem Gürtel und dankte Gott dafür, dass ich klug genug gewesen war, ihn nicht zu verpfänden.
Der Fackelträger war weit vorausgelaufen, doch nun verlangsamte er den Schritt, blieb stehen und warf mir einen eigenartigen Blick zu.
»Wie heißt du, Junge?«, rief ich.
Er hielt eine Hand vor die Fackel, um sie vor dem Wind zu schützen. »Sam.«
»Bist du ein Mondscheuer, Sam?« Moll hatte mich vor ihnen gewarnt, als ich eben erst in die Stadt gezogen war. Den Mond scheuten Fackelträger, die ihre Opfer von den sicheren Straßen fortlockten in finstere Gassen, wo sie dann überfallen wurden.
Er lächelte. »Sehe ich denn aus wie einer?«, ahmte er mich spöttisch nach.
Der kleine Lumpenhund. Ich ging auf ihn zu. Meine Schritte hallten mir laut in den Ohren, und ich spürte tausend Blicke im Rücken.
»Wir müssen von hier fort. Augenblicklich.«
Ich war nur noch fünf Schritte von ihm entfernt. Er stand ganz ruhig und still da wie eine steinerne Putte auf einem Grab. Und dann huschte sein Blick über meine Schulter – ein hastiger, verstohlener Blick.
Ein leiser Schritt dicht hinter mir. Zu nah – viel zu nah. Ein Arm um meinen Hals. Der Dolch wurde mir aus der Hand gerissen und an die Kehle gedrückt.
»Still.«
In meinem Spielergeist flatterten und ratterten die Gedanken. Sollte ich Gegenwehr leisten? Fliehen?
Die Klinge schnitt mir leicht in die Kehle. »Den Beutel.«
Sam hob die Fackel in die Höhe und beleuchtete die Szene wie in einem Theaterstück.
Ich sollte tun, was der Angreifer verlangte. Gib ihm die Börse. Meine Finger glitten zu dem Lederbeutel an meiner Hüfte.
Nein.
Ehe ich recht begriff, was ich da tat, hob ich die Hände, stieß seinen Arm von meinem Hals und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Dann wirbelte ich zu ihm herum und ging langsam rückwärts. Sollte er mich niederstechen, wenn es sein musste. Aber ich würde ihm dabei in die Augen sehen.
Vorsichtig umkreisten wir einander. Er trug seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und hatte sich ein schwarzes Tuch vor Nase und Mund gebunden. Nur seine Augen waren sichtbar, dunkel und mit festem Blick.
Ich trat noch einen Schritt zurück und ließ den langen, scharfen Dolch in seiner Rechten nicht aus den Augen. Mein eigener Dolch, verflucht noch eins, von meiner eigenen Hand geschärft. Ein Treffer wäre genug, um mich gründlich aufzuschlitzen.
»Kommen Sie, Sir, seien Sie kein Narr«, sagte er in ruhigem, vernünftigem Tonfall. Und dann setzte er flüsternd hinzu: »Ich bin nicht allein.«
Er streckte die freie Hand nach dem Beutel aus. Das Blut rauschte mir in den Ohren.
Ich ergriff die Flucht.
Die Welt schien sich um mich zu drehen, als ich an dem grinsenden Burschen vorbeirannte, der die Aufregung und seinen Anteil daran zu genießen schien. Die Gasse wurde noch schmaler, und eine hohe Backsteinmauer ragte vor mir auf. Es war zu dunkel, als dass ich einen anderen Fluchtweg hätte erkennen können. Ich würde darüberklettern müssen. Mit langen Schritten nahm ich Anlauf, als plötzlich eine schwarze Gestalt aus der Dunkelheit geflogen kam und mich zu Boden riss.
Einen Moment lang blieb ich benommen liegen. Der Mann tastete nach meinen Taschen, suchte nach dem Beutel. Mit einem lauten Fluch stieß ich ihn von mir, trat und schlug um mich und schaffte es, mich zu befreien und wieder auf die Füße zu kommen. Doch nun kamen andere, sie kletterten von den Dächern und Balkonen herab, landeten leise auf der Straße und wechselten gedämpfte Worte. Ich tastete im Dunkeln umher auf der Suche nach einem Backstein oder einem Stück Holz, mit dem ich mich hätte verteidigen können, doch ich wusste, was mir bevorstand. Ich hatte gespielt, und ich hatte verloren.
Eine Hand packte mich an der Schulter, und ich wirbelte ängstlich herum. Eine weitere Hand, und noch eine, sie zerrten und grapschten und rangen mich nieder wie Teufel, die mich in die Hölle schleiften. Voller Grauen stieß ich sie von mir, doch es waren zu viele. Wieder schlug ich auf dem Boden auf.
»Haltet ihn fest, Jungs!«, rief der Anführer.
Sie zerrten mich auf die Knie und verdrehten mir die Arme im Rücken, und er kam auf uns zu. Als er an dem Jungen vorbeiging, zauste er ihm den Kopf, und ich erkannte – welch seltsame Klarheit sich in einem solchen Augenblick einstellt! –, dass dies der Vater des Burschen war. Und ich dachte bei mir, dass diese Geste mehr Zuneigung und Stolz ausdrückte, als mein Vater mir in meinem ganzen Leben gezeigt hatte.
Er trat näher, hockte sich vor mich hin und musterte mit diesen dunklen Augen flüchtig mein Gesicht. »Ich habe Sie gewarnt, hübsch stillzuhalten«, sagte er. Das Tuch vor dem Mund dämpfte seine Stimme.
Ich funkelte ihn böse an.
Er gab einem seiner Männer einen Wink.
»Warten …«
Zu spät. Ich bekam einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Grell flackerte die Welt vor meinen Augen auf, und dann war sie verschwunden.
Ich erwachte. Einen Moment lang wähnte ich mich zu Hause, in meiner kleinen Mansarde in der Greek Street. Dann versuchte ich mich aufzusetzen. Kreischender Schmerz schoss durch meinen Kopf, und beinahe hätte ich erneut das Bewusstsein verloren.
Langsam, Tom. Vorsichtig.
Behutsam richtete ich mich auf. Die Welt schwankte und beruhigte sich dann so weit, dass ich mit einer zitternden Hand meinen Hinterkopf befühlen konnte. Eine große, schmerzhafte Beule. Warmes, klebriges Blut an meinen Fingern. Erinnerungen blitzten auf wie Funken aus einer Zunderbüchse: grapschende Hände, Lachen und Rufe, mein eigener Dolch an meiner Kehle.
Ich griff nach meinem Beutel, obgleich ich schon wusste, was ich vorfinden würde. Vom Gürtel geschnitten. Weg.
Mir drehte sich der Magen um. Ich war verloren. Ruiniert. Ich sank wieder zu Boden und schloss die Augen. Dann lasst mich doch hier ruhen. Was nützte es jetzt noch, zu kämpfen? Lasst meine Seele auf die kalte Straße sickern, mit dem Unrat in den Rinnstein fließen und meinen Körper in Frieden liegen.
… Nein. Nein, ich würde den Ratten von St. Giles nicht zum Fraß dienen. Ich hatte Glück, noch am Leben zu sein. Allerdings fühlte ich mich nicht eben glücklich. Und auch nicht besonders lebendig. Aber diese verfluchten Beutelschneider sollten zur Hölle fahren – ich würde auf die Füße kommen.
Oder zumindest auf die Knie.
Ich lag in einer feuchten, verlassenen Sackgasse, in der es nach Pisse, Erbrochenem und anderen Flüssigkeiten stank, wie alle solche Winkel stinken und zweifellos bis in alle Ewigkeit stinken werden. Der Boden war mit zerbrochenen Schnapsflaschen, blutigen Lumpen und ausgebrannten Pfeifen übersät. Sie mussten mich durch den Dreck hierhergeschleift haben, um mich in Ruhe ausrauben zu können. Gewiss hatte der Fackelträger ihnen bei dieser Arbeit stolz geleuchtet. Mein Rock war verschwunden, Perücke und Dreispitz waren mir bei dem Handgemenge vom Kopf gezerrt worden. Meine Hose war zerrissen, Knie und Hände aufgeschürft. Sie hatten mir die goldenen Knöpfe vom Wams abgeschnitten und meine sämtlichen Taschen geleert. Leise stöhnend vor Anstrengung stemmte ich mich auf die Knie hoch. Ich konnte nicht riskieren, mich bemerkbar zu machen – ich durfte nicht nach Hilfe rufen oder Alarm schlagen. Es gab Banden in St. Giles, die einem jungen Herrn viel Schlimmeres antun würden, als ihn nur zu verprügeln und auszurauben, wenn er so dumm war, in ihr Revier hineinzustolpern. Ich befand mich immer noch in Gefahr.
Auf Händen und Knien kroch ich Zoll um Zoll auf die Gasse zu. Blind tastete ich mich im Dunkeln voran, und immer wieder zuckten meine Finger zurück, wenn sie Glasscherben oder ein besonders glitschiges Fleckchen widerlich stinkenden Matsch berührten. Als ich es in die Gasse geschafft hatte, ließ ich mich im Schatten des nächsten Eingangs mit dem Rücken an die Wand sinken. Ich keuchte vor Anstrengung, und jeder Atemzug löste pochende Schmerzen aus. Ich schob eine Hand unter mein Hemd und tastete sämtliche Rippen ab. Geprellt, aber nichts gebrochen.
Der Mond schlüpfte hinter einer Wolke hervor und färbte die Welt sanft silbrig. Ich blickte zu dem Gewirr baufälliger Balkone über mir auf. Planken führten von einem Dach zum anderen, Leitern und Taue verbanden eine armselige Behausung mit der nächsten. Eine geheime Stadt auf den Dächern, entworfen und erbaut von Dieben. Krähen nannten sie sich, und St. Giles war eine einzige große Krähenkolonie. Saßen sie jetzt dort oben in ihren Nestern und lachten, während ich mich blutig und zerschlagen durch die schmutzigen Straßen schleppte? Ängstlich suchte ich jedes Dach, jeden Schatten ab. Nein – sie waren gewiss längst verschwunden. Und gaben mein Geld im nächsten Bordell aus.
Ich stand schwankend auf und war beinahe dankbar für den stechenden Schmerz in meinem Hinterkopf. Er hielt mich wach und aufmerksam. Ich lehnte mich mit der Schulter an die Wand und schob mich so langsam die Gasse entlang.
Du hast ein teuflisches Glück, Tom Hawkins. Ach ja, Charles? Ich konnte nicht nach Hause gehen, nicht ohne Geld. Benjamin Fletcher, mein Wirt, würde mich augenblicklich in Eisen legen lassen. Freunde brauchte ich gar nicht erst um Hilfe zu bitten – ich hatte sämtliche Gefälligkeiten bereits eingefordert. Charles konnte mir kein Geld mehr leihen, ich hatte mir schon seinen allerletzten Penny genommen. Und meine Familie … Diesen Gedanken verwarf ich sofort.
Als ich das Ende der Gasse erreichte, hörte ich das unverkennbare Zischeln heißer Pisse, die in den Matsch plätscherte. Ich bog um die Ecke und sah eine alte Hure mitten auf der Straße im Mondschein hocken. Eine kleine Pfütze breitete sich um ihre Füße aus. Die Straße war still und leer – in diesem Augenblick kam es mir so vor, als seien wir beiden die einzigen lebenden Seelen in dieser Stadt, Gott steh uns bei. Als sie mich sah, raffte sie die Röcke ein wenig höher. Die letzten Tropfen Pisse rannen noch an ihrem Bein hinab.
»Fick für einen Viertelpenny«, sagte sie und wankte leicht auf der Stelle.
Einen Viertelpenny zahlen, um mir die Syphilis zu holen? Das war wohl ein günstiges Angebot – Männer haben hübscheren Huren schon sehr viel mehr für dieses Privileg gezahlt. Ich schüttelte den Kopf und verzog gleich darauf das Gesicht, als mir der Schmerz durch den Schädel zuckte. »Wo geht es nach Covent Garden?«
Sie musterte meine zerrissene Kleidung, die Blutflecken an meinem Hemd … und streckte die Hand aus. »Ich zeig’s dir für einen Penny.«
»Ich wurde überfallen. Mein Geld ist weg.« Ich breitete hilflos die Arme aus. »Haben Sie doch Erbarmen.«
»Erbarmen?« Sie kicherte dumpf und wischte sich mit ihrem schmutzigen Unterrock ab. »Kann ich mir nicht leisten.«
Und damit wankte sie von dannen, zurück ins finstere Herz von St. Giles.
Letztendlich fand ich doch zurück nach Covent Garden. Ich hielt mich im Dunkeln und versteckte mich in Hauseingängen, wann immer mir jemand begegnete. Vielleicht hätte mir einer von ihnen sogar geholfen, wenn ich es gewagt hätte, um Hilfe zu bitten. Man hört gelegentlich von barmherzigen Samaritern, sogar in London. Doch das konnte ich nicht riskieren. Langsam humpelte ich allein durch fremde Straßen, wobei ich zweifellos einige Male fast im Kreis ging. Manchmal spürte ich Blicke im Rücken, und ich hätte schwören können, dass ich hinter mir leise Schritte vernommen hatte – doch wenn ich mich umdrehte und in die Dunkelheit spähte, war dort niemand zu sehen. Folgt mir, solange ihr wollt, dachte ich. Bei mir gibt es nichts mehr zu holen.
Schließlich stolperte ich buchstäblich in Covent Garden hinein – endlich das beruhigende Gefühl von Straßenpflaster unter meinen Füßen, die ordentliche, solide Silhouette der St.-Paul’s-Kirche, der Lichtschein, der selbst jetzt noch aus den Fenstern der Bordelle fiel, begleitet von schrillen Schreien vorgespielter Leidenschaft. Auf dem Platz bauten die Marktleute im Fackelschein schon ihre Stände auf, lachten und scherzten miteinander. Eine alte Frau in einem roten Umhang saß zusammengekauert auf den Stufen vor der Shakespeare Tavern und verkaufte heiße Reismilch und Gerstensuppe. Ich wankte an all diesen Menschen vorbei und kam mir vor wie ein alter Soldat, heimgekehrt von einem Krieg, von dem daheim nicht einmal jemand wusste. Ein Nachtwächter hob seine Laterne an, und ich wich hastig ins Dunkel zurück. Zerlumpt und schmutzig, wie ich war, würde er womöglich auf die Idee kommen, mich in eine Zelle zu sperren, weil ich wegen irgendetwas verdächtig war … ganz gleich, was … und dann feststellen, dass auf mich ein Arrestbefehl mit einer hübschen Belohnung ausgestellt war.
Molls Kaffeehaus war offen – es war immer offen –, aber leer bis auf Betty. Sie fegte rücksichtsvoll um einen alten Rechtsgelehrten herum, der sturzbetrunken unter einem Tisch eingeschlafen war. Sie warf einen einzigen Blick auf mich und lief sofort los, um Moll zu holen, die in der Hütte nebenan schlief – vielleicht mit ihrem Ehemann, vielleicht auch nicht. Ich brach auf einem Stuhl am Feuer zusammen, barg das Gesicht in den Händen und begann zu zittern. So erleichtert war ich, in Sicherheit zu sein. So voller Grauen, weil ich keineswegs sicher war. Sobald die Sonne aufging, würden meine Gläubiger mich suchen lassen. Wie lange würde es wohl dauern, bis irgendein Büttel mich hier fand, in meinem liebsten Schlupfwinkel? Ich musste fliehen – aber ich war so zerschlagen und erschöpft, dass ich kaum mehr denken konnte, geschweige denn davonlaufen.
Moll schnürte noch im Gehen ihr Kleid zu, als sie hereinkam. »Na hör mal, Tom. Was soll denn das?« Dann bemerkte sie meinen Zustand und stieß einen leisen Fluch aus. Sie schob Betty in Richtung Tür. »Heißes Wasser, frische Tücher.« Sie setzte sich neben mich und strich vorsichtig über eine Schramme an meiner Wange. »Was ist geschehen?«
»Sie haben mir den Beutel gestohlen, Moll. Alles ist weg.«
Da gab es nur eines, entschied Moll. Ich musste augenblicklich die Stadt verlassen. »Flieh ins Münzviertel, bevor die Sonne aufgeht.«
Ich seufzte kläglich. Erst vor ein paar Stunden war es mir gelungen, mein Glück zu wenden. Jetzt bestand meine einzige Hoffnung darin, in der uralten Zuflucht der Londoner Schuldner unterzutauchen. Das Münzviertel, ein Gewirr enger Gassen, war so von Gewalt und Krankheit durchsetzt, dass die Büttel sich weigerten, es zu betreten. Einer hatte es vor wenigen Wochen versucht. Sie hatten ihn blutig geschlagen und sein Gesicht in die dicke, unsäglich schmutzige Brühe aus Unrat getaucht, die dort wie ein Bach durch die Straßen rann. Wenige Tage später war er gestorben.
»Lieber Münzviertel als Marshalsea«, beharrte Moll und wusch mir mit einem nassen Lappen das Blut vom Nacken ab. »Du kannst ja am Sonntag wieder raus. Am Tag des Herrn verhaften sie niemanden.« In spöttischer Frömmigkeit faltete sie die Hände.
»Und danach? Was soll ich am Montag tun, Moll?«
»Montag?« Sie rieb kräftiger, um das getrocknete Blut zu entfernen, und ich schnappte vor Schmerz nach Luft. »Seit wann planst du so weit voraus?« Sie hielt inne und drückte die Lippen an mein Ohr. »Mein Angebot steht noch, Tom. Arbeite für mich. Ich könnte einen jungen Mann mit deinen Talenten gebrauchen …« Sie erzählte mir von ihrer Idee für eine neue geschäftliche Unternehmung, die unter anderem eine Reise nach Frankreich einschloss. Ich kann mich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern, die ich damals schon kaum verstand. In meinem Kopf hämmerte es so, dass ich ihr kaum folgen konnte. Aber ich weiß noch, dass sich ihr Vorschlag gefährlich und verwegen anhörte. Und verführerisch.
Ich überdachte meine Wahlmöglichkeiten, während Moll das Blut aus dem Tuch spülte und es dann kräftig über der Schüssel auswrang. Ich konnte hierbleiben, mich ehrenhaft meinem Schicksal stellen, wie es sich für einen Gentleman gehörte, und im Gefängnis irgendeines elenden Todes sterben. Oder ins Münzviertel flüchten und mich nie wieder in der besseren Gesellschaft blicken lassen. Moll tat sich leicht damit, mir zu Letzterem zu raten. Sie war in einem Hurenhaus zur Welt gekommen und hatte beinahe ihr ganzes Leben lang ihr Geld auf der Straße verdient, auf die eine oder andere Weise. Sie wusste, wohin sie fliehen, woran sie sich halten musste. Sie war schon aus dem Gefängnis entwischt, der Deportation entkommen, war als Hure, Diebin und Schlimmeres beschimpft worden. Und irgendwie war sie immer wieder auf die Beine gekommen, strahlender und noch mutiger als zuvor.
Für mich lagen die Dinge anders. Als dem ältesten Sohn eines ehrenhaften Herrn aus Suffolk war mir von Geburt an ein altbewährter, schnurgerader Weg bestimmt gewesen: Ich würde eines Tages dem Klerus angehören, wie mein Vater, und zu gegebener Zeit seinen Posten erben. Vor drei Jahren – infolge eines unseligen Zwischenfalls in einem Bordell in Oxford – hatte ich diesen Pfad verlassen. Nun saß ich hier, fünfundzwanzig Jahre alt, ohne Familie, ohne Geld und ohne jede Aussicht für die Zukunft. Ja, ich konnte Griechisch und Latein und tanzte recht passabel die Gavotte, doch davon kann ein Mann nicht leben, nicht einmal in London.
Ich überflog eine Ausgabe des Daily Courant, die ein Gast auf dem Tisch hatte liegenlassen, in der Hoffnung auf irgendeinen Hinweis, was ich tun sollte. Zwischen den Verkaufsanzeigen für Pferde, Häuser und ein »unfehlbares Heilmittel gegen Skorbut« bemerkte ich eine Bekanntmachung der South Sea Company – eine dreimonatige Verlängerung der Zahlungsfrist. Als die Aktienkurse vor sieben Jahren eingebrochen waren, hatten einige Investoren die Rückzahlung ihrer Schulden in Raten arrangiert – mit Zinsen, versteht sich. Vielleicht wäre Mr. Fletcher bereit, sich auf einen ähnlichen Plan einzulassen.
Betty, Gott segne sie, erschien mit sauberer Kleidung und einem Krug heißem Punsch. Mein Wams konnte noch gereinigt und geflickt werden, doch Hose und Strümpfe waren unrettbar zerrissen. Ich zog mich vor dem warmen Feuer aus und verzog das Gesicht ob der Schmerzen an meinen geprellten Rippen. Dann schlüpfte ich in frische Strümpfe und eine alte, gelblich braune Hose, das passende Wams und einen ebensolchen Rock. Gesäubert und ordentlich gekleidet, fühlte ich mich wieder mehr wie ich selbst. Doch als ich in den fleckigen Spiegel über dem Kamin blickte, erschrak ich über mein Spiegelbild. Ich sah nicht aus wie ein Ehrenmann – sofern ich je wie einer ausgesehen hatte. Ich sah aus wie ein Mann, der davonlaufen würde.
Ich schauderte. Nun denn – ich hatte die Wahl. Gefängnis oder ein Leben als Verbrecher. Ein Leben, das ich höchstwahrscheinlich mit einem Strick um den Hals beschließen würde. Unwillkürlich griff ich mir an die Kehle.
»Mr. Hawkins«, sprach eine leise, sanfte Stimme hinter mir. Bettys Spiegelbild erschien neben meinem über dem Kamin. Sie hielt meine ruinierten Kleider in den Armen und warf einen verstohlenen Blick zur Tür, wo Moll eben das blutige Wasser auf die Piazza ausschüttete. »Es gibt noch eine Möglichkeit«, flüsterte sie.
Ich wandte mich ihr voll neuer Hoffnung zu. »Was meinst du?«
Sie lächelte milde. »Sie könnten nach Hause gehen, Sir. Gehen Sie nach Hause und bitten Sie Ihren Vater um Hilfe.«
Meine Schultern sanken herab. Ich schenkte mir ein Glas Punsch ein und leerte es mit einem Zug. »Eher gehe ich zum Teufel.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Moll mit scharfer Stimme, doch Betty war bereits mit meinen Kleidern davongeeilt, und wir waren allein.
»Da ist der Schurke! Haltet ihn!«
Benjamin Fletcher, mein Hauswirt, stand in der Tür und keuchte, die Hände auf die Knie gestützt. Er musste den ganzen Weg von der Greek Street hierher gerannt sein. Humpelnd trat er ein, gefolgt von einem Büttel, einem mächtigen Ochsen von einem Kerl mit einem großen Knüppel in der Faust. Seine Nase war mehrmals in unterschiedliche Richtungen eingeschlagen worden, und durch eine Braue zog sich eine dicke, weiße Narbe. Eine lange Kette hing ihm wie eine Schärpe über der Schulter. Unsere Blicke trafen sich, und er lächelte recht fröhlich, als wollte er mich ins Theater geleiten, nicht ins Gefängnis. Sein Blick fiel auf das blutige Tuch in Molls Hand. »Ärger gehabt, Sir?«, fragte er mit der geruhsamen, festen Stimme eines Mannes mit sehr schnellen Fäusten.
»Mr. Jakes, ergreifen Sie ihn!«, japste Fletcher, riss sich den Hut vom Kopf und fächelte sich Luft ins schweißnasse Gesicht.
»Mr. Fletcher«, begann ich und breitete entschuldigend die Arme aus. »Ich schwöre Ihnen, dass ich Ihr Geld hatte …«
»Keine Lügen mehr, Mr. Hawkins«, rief er. Er zog einen Brief aus seinem Wams und hielt ihn mir mit zitternder Hand hin. »Sie haben mich lang genug zum Narren gehalten.«
Der Brief war kurz und in einer säuberlichen Handschrift verfasst, die mich an meine eigene erinnerte. Die Handschrift eines Gentleman.
Mein Herr,
es ist meine Christenpflicht, Sie darauf hinzuweisen, dass Ihr Mieter, dieser niederträchtige Hawkins, Umgang höchst unsittlicher Art mit Ihrer Ehefrau pflegt und alle Welt von dieser abscheulichen Schande spricht. So dankt er Ihnen Ihre Güte und Geduld bezüglich seiner Schulden, zu seiner eigenen Schande und zum Verderben Ihrer Frau.
Ein Freund
Darunter befand sich eine unflätige Zeichnung von einem Mann, dem Hörner über der Stirn aufragten – das unverkennbare Symbol des betrogenen Ehemanns.
Ich runzelte verwundert die Stirn. Mrs. Fletcher war ein verkniffenes, boshaftes Weib mit einer schrillen Stimme und ähnelte am ehesten einem geschorenen Frettchen. Allein der Gedanke, wir könnten »Umgang höchst unsittlicher Art« miteinander haben, war mehr als lachhaft, doch Fletcher schien es zu glauben. Das war verhängnisvoll. Als mein bedeutendster Gläubiger konnte er allein Gnade walten lassen und mir mehr Zeit einräumen, meine Schulden zurückzuzahlen. Er war kein grausamer Mensch – tatsächlich hatte er bereits mehr Geduld bewiesen, als ich verdiente. Doch mehr als alles andere liebte er seine verfluchte Frau. Sein anonymer »Freund« hatte uns beiden einen bösen Streich gespielt. Ich musste mir meine Antwort sehr sorgfältig überlegen.
»Mr. Fletcher – Sir, wir sind beide Männer der Vernunft, nicht wahr?« Ich wedelte matt mit dem Brief. »Ihnen muss doch klar sein, dass dies hier nichts als bösartige Verleumdungen sind? Ich möchte Ihrer geschätzten Frau nicht zu nahetreten, aber …«
Hinter mir räusperte sich Moll und erklärte dann: »Aber eher würde er seine eigene Schwester ficken.«
Die Ketten lasteten schwer auf meiner Brust, während Jakes mich durch Covent Garden zum Fluss führte. Ich hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Die eng um meine Handgelenke geschlossenen Eisenschellen hielten meine Hände wie zum Gebet gefaltet. Dafür war es jetzt zu spät. Ich bezweifle, dass ich ein besonderes Schauspiel abgab. Ich selbst hatte schon Dutzende Männer gesehen, die auf dem Weg nach Fleet oder Marshalsea oder zu irgendeinem anderen Gefängnis durch Soho geführt worden waren, und keinem von ihnen je Beachtung geschenkt. Zumindest hatte ich weder Frau noch Kinder, die hinter mir herliefen und lauthals ihr grausames Schicksal beklagten. Und das, dachte ich bei mir, war das Beste, was man über meine augenblickliche Lage sagen konnte.
Wir überquerten den geschäftigen Markt, vorbei an Ständen voll bunter Blumensträuße und frischer, reifer Früchte aus dem Umland. Tief sog ich den süßen Duft von Kräutern und das leicht staubige, scharfe Aroma von Gewürzen ein und wünschte, ich könnte hier verweilen, im Gewirr und Treiben der Menschenmenge verschwinden. Händler priesen ihre Waren an, junge Mädchen boten Blumensträußchen oder Taschentücher feil – alles, was sie vor dem Bordell bewahren könnte. Vieh blökte, muhte, schnaubte und stank zum Himmel. Schauspieler und Gaukler, Lakaien und Sänftenträger, schwatzende Weiber und grobschlächtige Rüpel – lieber Gott, lass mich nur bei ihnen bleiben, lass mich in diesem Gewimmel von Leibern entwischen und darin verschwinden …
Jakes ging neben mir her, eine Hand fest auf meiner Schulter, und dirigierte mich die Southampton Street hinab zur Themse. »Schöner Tag heute«, bemerkte er und drückte freundlich meine Schulter, worauf ich beinahe in die Knie ging. »Ein Jammer.«
Als wir den Fluss erreichten, überbot sich eine Menge Fährleute in rotem oder grünem Wams mit Werbung für ihre Dienste. An der Hafentreppe riefen alle durcheinander »Überfahrt! Überfahrt!« und »Hier, Sirs!«. Die Boote prallten heftig zusammen, so eifrig kämpften die Männer um Kundschaft. Jakes deutete auf einen Mann im grünen Wams, bestickt mit dem Wappen des Oberbürgermeisters in Silber. Der Fährmann ruderte zu uns an die Treppe, während die anderen höhnten und ihn für sein Glück verfluchten. Als er uns erreichte, richtete er den Blick auf meine Ketten. »Nach Southwark?«
»Jawohl«, antwortete Jakes mit einem Nicken. »Tooley Street. Drei Penny, nicht mehr.«
»Hinter der Brücke kostet’s doppelt, Mr. Jakes«, rief der Fährmann herauf und grinste. Die Tooley-Treppe lag nur ein paar Schritte hinter der Brücke.
»Ich fahre Sie für drei, Sir!«, rief ein anderer Mann von seiner Ruderbank aus.
Unser Fährmann fuhr zu ihm herum. »Sich billig verkaufen, Ned – hast du das von deiner Mutter gelernt?« Er wandte sich wieder uns zu. »Vier Penny.«
»Drei« beharrte Jakes. Er wies auf die anderen Boote, etwa fünfzehn, unter denen wir auswählen konnten. Unser Mann seufzte, winkte uns an Bord und brummte wenig überzeugende Klagen über seine arme hungernde Familie.
Jakes schob mich in das Boot und manövrierte seine beträchtliche Masse auf die Bank am anderen Ende, so dass er gen Süden blickte. Seine dicken Knie pressten sich an die Bootswand, doch er wirkte ganz zufrieden und neigte den Kopf zurück, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Der Fährmann, der mit angehobenen Rudern zwischen uns saß, blickte besorgt drein, als das Boot unter unserem Gewicht heftig schaukelte. Doch meine Ketten glichen Jakes’ Masse aus, und bald lag es wieder ruhig im Wasser. Der Fährmann stieß auf den Fluss hinaus, und ich sah zu, wie die Stadt langsam davontrieb wie eine untreue Geliebte, die mich schon beinahe vergessen und sich neuen, verlockenderen Vergnügungen zugewandt hatte.
Jakes beugte sich vor, und das Boot begann wieder beängstigend zu schaukeln, so dass Wasser über die Bootswand schwappte. »Haben Sie Geld, Sir?«, rief er mir über die Schulter des Fährmanns zu.
Als Antwort hob ich die gefesselten Hände.
Er strich über die Narbe, die durch seine linke Augenbraue lief, als dächte er über diese unglückliche Lage nach. »Na, dann sollten Sie aber schnell welches auftreiben, Mr. Hawkins. Haben Sie keine Freunde? Verwandte?«
Ich schüttelte den Kopf. Jakes und der Fährmann wechselten offenbar einen Blick. Keine Freunde. Keine Familie. Kein Geld. Ich konnte mich ebenso gut gleich in den Fluss stürzen und allen viel Mühe ersparen. Ach, verflucht sollten sie sein – ich besaß nicht mehr viel, hatte aber immer noch einen scharfen Verstand, und ich war nicht so unbedarft, wie viele glauben mochten.
Wir fuhren am halb verfallenen Somerset House vorbei, dessen goldene Zeiten der Maskenbälle und höfischen Intrigen längst vergangen waren. Der scharfe Geruch von Pferdemist trieb herüber – die Horse Guards hatten die alten Stallungen vor ein paar Jahren für sich requiriert. In solchen Zeiten lebten wir, seit die Südseeblase geplatzt war: Häuser verfielen oder wurden noch im Bau aufgegeben, das Geld zerrann, so schnell es zugeflossen war, wie Quecksilber.
Der Fährmann pfiff leise vor sich hin, während die Ruder ruhig durchs Wasser schnitten. Jakes reckte sich an ihm vorbei und tippte mir aufs Knie. Ich fuhr zusammen. »Ich könnte kurz wegschauen, wenn wir Southwark erreichen«, sagte er leise und rieb in einer unverkennbaren Geste den Daumen am Zeigefinger. »Eine große Ausnahme machen.«
Die Brücke ragte vor uns auf, und die Fenster der Häuser darauf glänzten in der Morgensonne. Eine kleine Schlange Boote wartete darauf, das aufgewühlte Wasser unter der Brücke einzeln zu passieren. »Weshalb würden Sie gerade mir helfen, Mr. Jakes?«
Ein trauriger, wehmütiger Ausdruck trat in seine schweren, meergrünen Augen. »Sie erinnern mich an meinen alten Captain.«
Die Strömung wurde immer schneller, je näher wir dem schmalen Bogen der Brücke kamen. Ich musste brüllen, um mich trotz des tosenden Wassers verständlich zu machen. »Sie waren bei der Armee?« Das hätte ich längst an seinem wettergegerbten, vom Kampf gezeichneten Gesicht erkennen müssen.
»Neun Jahre«, rief er zurück. Er verharrte wie in Erinnerungen verloren, dann schüttelte er den Kopf. »Captain Roberts war genau wie Sie. Ein Spieler und Schwerenöter. Und ein Trinker.«
Ich öffnete den Mund, um Einspruch zu erheben, schloss ihn aber wieder.
»Sie sind ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Wirklich seltsam. Sie könnten beinahe sein Bruder sein.«
»Tatsächlich?« Ich hatte nur einen Stiefbruder – Edmund war der Sohn meiner Stiefmutter, und zu unser beider Freude waren wir uns nicht im Geringsten ähnlich.
»Man konnte John nicht als achtbar bezeichnen«, erklärte Jakes stirnrunzelnd. »Nicht immer anständig. Aber er war mir ein guter Freund. Hat mir einmal das Leben gerettet.«
Ich hörte an der Art, wie er über diesen Mann sprach, dass Roberts tot war. »Was ist ihm widerfahren?«
Jakes wandte den Blick ab und starrte ins strudelnde Wasser hinab. »Das Marshalsea hat ihn umgebracht.«
Der Fährmann steuerte den Bogen an, der dem Ufer am nächsten war, und hielt die Ruder fest gepackt. Hier drängten sich die Boote, knallten gegeneinander, und Rufe und Flüche hallten zwischen ihnen hin und her. All das wurde übertönt vom Brausen der Themse, die an der Brücke aufwallte. Der Fluss konnte hier gefährlich sein, denn er schoss mit Macht unter dem schmalen Bogen hindurch. Der Fährmann musste all seine Kraft aufbieten, um das kleine Boot auf dem Wasser zu halten. Ein Fehler, und der Fluss würde es zerschmettern. In diesem Fall wären meine Aussichten nicht eben rosig – nicht in zwanzig Pfund Eisenkette gewickelt.