Das Tinikling Mädchen - Hans Radmann - E-Book

Das Tinikling Mädchen E-Book

Hans Radmann

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Beschreibung

Kannst du dein Ziel erreichen, wenn dich der Schatten deiner Verantwortung jagt? Für die 18-jährige Hiraya ändert sich alles, als ihre Mutter stirbt. Als sie darüber hinaus die Beziehung des Vaters mit Hausmädchen Dolores entdeckt, endet die Konfrontation dramatisch. Aus ihrem Zuhause verstoßen, entlädt sich ihre Wut gegen Dolores in einer Attacke mit ernsten Folgen. Hiraya flieht daraufhin nach Manila, um ihren Traum von einem Leben als professionelle Tinikling-Tänzerin zu verwirklichen. Doch während sie sich als Küchenhilfe in einem Nightlife-Distrikt durchschlagen muss, wird schnell deutlich, dass die junge, unerfahrene Farmerstochter in einen Siedekessel geraten ist, der ihr schonungslos das Leid ihrer Kolleginnen und einen gnadenlosen Überlebenskampf vor Augen führt. Nachdem die junge Frau auf dramatische Weise den tief gläubigen Lokführer Jason und seine Frau Hilaria kennenlernt, nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung, als sie in deren Haus auf ein altes Tanzvideo stößt. Und sie begreift, wer Jason und Hilaria sind. Doch Hiraya wird mit einer Bedingung konfrontiert. Kann sie ihrem Vater vergeben und sich einer Frau stellen, die darauf brennt, für die entstellende Narbe im Gesicht Vergeltung zu bekommen?

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Das Tinikling Mädchen

DAS TINIKLING MÄDCHENVorwortHenriettaDas neue HausmädchenAnflug der BegierdeFragen über FragenEin verliebter Kerl'Skandalo'Konfrontation der feinen ArtVerhärtete FrontenWo sind die Toten?Entflammte LeidenschaftObservationSchock!ShowdownDie AttackeFlucht nach LuzonDie SenoraDie ÜberfahrtAnkündigung einer VergeltungManilaVerschollenTage in der FremdeEin schillerndes LebenDie Tante und der PlanHirayas erster JobBlockbuster AffärenEin neuer VersuchDer Nightlife DistriktDas AppartementJennyOffenbarungenDer Showdown mit ElaineGefährliche BegegnungenDas Tinikling-EventTrip nach CalambaDer alte SchienenstrangEin WiedersehenIm Haus des LokführersEin geheimnisvolles MädchenSolAuf der Suche nach HirayaDie AnhörungDer 'Climax' eines flammenden FeuersGefährliches SpielExplosionGeborgenheitJason und HilariaDrohungenEin zerplatztes HerzZaghafte AussöhnungWarum soll ich meinen Traum nicht leben?Liebe und DisziplinTänzer und PerformerRicardos MissionDu kannst dem Himmel nichts verschweigen!Der PlanVater und TochterDie 'Boracay'- ErmittlungenEine Tochter und ihr ganzes HerzDie Schuld und ein VersprechenDer VersuchEin Schlag ins GesichtDie NachtstreifeVergeltungDer Sieg über den HassDie nächste ReiseDas VortanzenDie 'Philippine Tinikling Dancers Revue'AustralienDie erste AufführungEin trauriger Mann und ein EntschlussStandhaft!Sie tun es wegen dirZwei Freundinnen und ein ZielGlossar - Erklärung der philippinischen BegriffeWeitere Romane von Hans RadmannImpressum

DAS TINIKLING MÄDCHEN

Dramenroman

Alle Texte, die Bilddateien / Skizzen und das Cover unterliegen dem Copyright. Der Nachdruck, Weitergabe dieser elektronischen Datei und die Vervielfältigung, auch auszugsweise, sind nur nach Zustimmung durch den Autor gestattet.

Die Romanfiguren und deren Namen sind sämtlich frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt. Das trifft auch auf alle bildlich gezeigten Charaktere zu, die ohne reale Vorlage mit künstlerischen Mitteln gestaltet wurden.

Fragen zum Buch? [email protected] 

Weitere Informationen: hradmann-paintings.de

All rights reserved  -  Herstellung: BoD - Books on Demand - Norderstedt

Originalausgabe 2022

Vorwort

Es ist überaus spannend und bereichernd, über meine zweite Heimat Geschichten zu schreiben. Auf den Inseln. 

Seit 1995 glücklich mit einer Filipina verheiratet, habe ich 2016 mit dem Schreiben angefangen und 2019 meinen ersten Roman veröffentlicht, der auf dem Inselreich spielt. Darüber hinaus liebe ich Dialoge, die jene Empfindungen der Protagonisten kraftvoll schildern, so dass meine Leser und Leserinnen die beschriebenen Ereignisse wie einen Kinofilm in ganzer Vorstellungskraft erleben können.

Dies ist zudem mein erster Philippinen-Roman, in dem kein Fremder eine handlungstragende Protagonisten-Rolle innehat. Wegen dieses interkulturellen Literaturaspekts bin ich meinen Freunden vom Inselreich und meiner lieben Frau für den jahrelangen Input dankbar, der mir neben meinen Studien und Reiseerfahrungen half, dieses Werk fernab der eigenen kulturellen Identität verfassen zu können, obwohl die Geschichte nicht autobiografisch ist.

Der Tinikling ist in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Tanz auf den Philippinen. Durch unterhaltsame Tanzbewegungen und einzigartige Requisiten repräsentiert er Werte, die den Filipinos wichtig sind, wie das Leben mit der Natur. Bevor man diesen Roman lesen möchte, könnte man sich Videos über Darbietungen mit professionellen Tänzern ansehen.

Ein herzerwärmendes Erlebnis für mich war, für ‚Hiraya‘, dem Tinikling-Mädchen, ein realistisch erzähltes Ende mit glückhaftem Ausgang einzuarbeiten. Im Verlauf erleben sie und ihre Mitprotagonisten gemäß dem Genre der dramatischen Erzählung Situationen, die bei empfindsamen Romanliebhabern heftige Gefühle hervorrufen können. Das Buch enthält Beschreibungen über ein Viertel, in dem prekäre soziale Probleme, Gewalt und das kontrovers berüchtigte Nightlife zuhause sind, sowie die Dramatik, die sich für einzelne Figuren in diesem Umfeld ergeben, was vereinzelt als Trigger wirken könnte.

Jedoch erzähle ich mit der gleichen Intensität über Dinge, die tiefe Hoffnung und mitreißende Gefühle ausdrücken, um letztlich Freude im Herzen auszulösen, wenn sich die Erzählung um das ‚Tinikling-Mädchen‘ ihrem Höhepunkt nähert, einer jungen Frau, die in der traditionsbehafteten Welt um sie herum mit schonungsloser Konsequenz durch Höhen und Tiefen geht.

Es wird eine Kurzbeschreibung des Romans auf meiner Homepage geben, um interessierten Lesern einen Einblick zu verschaffen, inwieweit die Geschichte sie berühren könnte. Über die dortige Impressumsadresse sind Fragen und Anmerkungen willkommen und werden von mir gerne beantwortet.

Henrietta

„Kommst du jetzt nicht besser mit?“

Es waren ja gut gemeinte Worte, die das achtzehnjährige Mädchen mit rabenschwarzem Haar trotz der lieblichen Stimme dahinter nur verabscheuen konnte. Sicher war die Frage mit Würde ausgesprochen, doch Hiraya wehrte sich dagegen, weil es wie ein Messer in ihr verbittertes Herz schnitt. Die zupfenden Finger an ihrem Ärmel entfachten nur noch mehr Abneigung und erzeugten echten Widerstand in ihr.

„Du kannst doch nicht hier sitzenbleiben.“

Eine der älteren Frauen reagierte mit Kopfschütteln auf die Nachbarin, die Hiraya mit der Hand an ihrer schwarzen Bluse zum Aufstehen bewegen wollte.

„Lass sie. Hab doch Gefühl.“

Beschämt nahm Ophelia, die resolute Grundschullehrerin, die Hand der Frau beiseite und blickte mitleidsvoll auf das vor dem Grabstein kauernde Mädchen hinunter. Sie kniete sich neben Hiraya hin und legte die Hände sanft auf ihre Schultern.

„Sie schläft, Kind. Sie schläft.“

Wortlos beobachteten die Zurückgebliebenen nach der Zeremonie in scheuem Respekt die beiden Frauen vor dem hellgrau gescheckten Stein. Hiraya konnte nicht weinen. Nur ein Zittern und ihre aufeinandergepressten Lippen waren für die anwesenden Dorfbewohner zu sehen.

„Es regnet gleich. Lass uns nach Hause gehen.“

Einige der herabfallenden Tropfen aus den bedrückend aussehenden Wolken tupften bereits an ihrem Haar, doch zunächst nur dezent spürbar. Hiraya war alles egal. Regen kannte sie, seit sie aus dem Leib ihrer Mutter hervorkam, und meistens war er warm und kräftig. Ihr Wille, diesen Platz nicht zu verlassen, war in jenen Momenten verbissen stark. Selbst wenn ein Wolkenbruch über ihr hereinbräche, würde sie niemand hier wegholen können. Warum war Vater, der fast 31 Jahre mit ihrer geliebten Mutter verheiratet war, einfach nach Hause gegangen? Ihre ältere Schwester Kezia hielt auch nicht durch und ging sogar früher zum Haus zurück als er. Sie dachte wieder nur ans Praktische, das Kochen für die vielen Trauergäste und die Bemutterung dieser Leute. Sie war schon immer wie ein Roboter. Als einer Erstgeborenen wurde ihr ständig eingetrichtert, dass man zuerst der Familie dienen sollte. Gefühle mussten zurückgestellt werden, wenn es darauf ankam. Sicher hatte Kezia sich rührend um ihre Mutter gekümmert, doch gegen den Lauf der Dinge konnten sie alle nichts ausrichten. Hirayas ältere Schwester trauerte sicher ebenso wie ihre Geschwister, doch es würde nur in ihrem Zimmer hervorbrechen, wenn sie sich mit einem Kissen vor dem Gesicht die Augen ausheulen würde. Hiraya wollte nicht so sein. Ihr Herz sagte ihr, dass sie sich keinesfalls gleich ihrer Schwester wie ein mechanisch funktionierender Automat benehmen sollte. Es konnten doch andere für die Gäste kochen. Und warum fraßen sich diese Leute jetzt den Bauch voll, anstatt ihr und dem Vater echten Trost zu schenken? Lehrerin Ophelia tat es immerhin, die gütige Seele, deren Hände nicht loslassen wollten und sie so lieb drückten.

„Ich komme später.“

„Wenn du möchtest, Kind.“

Langsam stand Lehrerin Ophelia auf und gebot den Leuten, aufzubrechen. Hastig machte sich die Trauergemeinde wie eine Ameisenhorde in Richtung des Hauses der Sinilang-Familie auf, das vor lauter Anteilnahme am Bersten war, vollgestopft mit aller Art von Dorfbewohnern. Einige von ihnen hatten sich jahrelang nicht blicken lassen. Immerhin ging eine Gruppe Männer beim Schlachten der Schweine den Frauen zur Hand. Dabei würden sie wohl in Kürze betrunken sein und herumalbernd am Grill stehen. Hirayas Herz war verbittert, wenn sie an solche Szenen dachte. Das Geräusch der herabfallenden Regentropfenkaskaden war jetzt in den Palmwipfeln zu hören wie ein feines Rauschen. Hiraya interessierten weder ihre durchnässten Haare, noch diese Gesichter, die von der Ferne auf sie blickten.

Sie fiel nach vorne, während sich die Tränen zwischen ihren Fingern einen Weg bahnten. Auf die Hände gestützt, tief gebückt nur Zentimeter vom Stein der Grabplatte entfernt, begann sie zu schreien, geschüttelt von heftigen Atemstößen.

„Mama!!... Mama!!“

„Wo ist Hiraya?“

„Sie wollte nicht mitkommen.“

Kopfschüttelnd kommentierten die Frauen in der Küche diesen Umstand. Wie dumm doch jemand wäre, bei dem strömenden Regen an einem Grab zu sitzen.

„Lasst bloß das Mädchen in Ruhe. Sie hat ihre Mutter abgöttisch geliebt. Ob sie sich nassregnen lässt oder nicht, ist nicht eure Angelegenheit.“

Ophelia konnte nicht anders, als sich einzumischen. Die Jüngeren in der Frauengruppe schwiegen augenblicklich und widmeten sich wieder hastig dem Gemüseschneiden. Einer solch angesehenen älteren Frau zu widersprechen galt als Unsitte. Die hin und herrennenden Helferinnen, die ihre Schüsseln in den Händen hielten, schnatterten wild durcheinander. Hirayas Vater Roberto saß, umringt von seinen engsten Freunden, stumm auf einer Holzbank und schwieg, völlig in Apathie versunken. Die Männer, die bei ihm waren, gafften nur auf die Tischplatte und ihre Rumgläser. Niemand schien zu Worten der Ermunterung fähig zu sein. Robertos Freunde und Nachbarn fanden die kondolierende Schweigsamkeit ansprechender als ein falsches Wort loszulassen.

Kezia lief mit einem Tellerstapel auf dem Arm zur Seitentür hinaus auf die überdachte Veranda. Helfende Hände nahmen ihr die schwere Keramik ab und fast jede der Frauen sagte etwas.

„Deine Mutter war eine liebevolle Frau.“

„Ja, wir werden ihre guten Taten so vermissen.“

„Du kannst mich immer anrufen, wenn du Hilfe brauchst.“

„Wer soll denn jetzt eure Ländereien verwalten?“

Kezia biss sich auf die Lippen, um nicht wegen dieser ungelenken Frage mit harschen Worten zu reagieren. „Wer soll denn jetzt eure Ländereien verwalten?“ Nachbarin Magdalena hielt nie viel von Roberto, was solche Dinge betraf. Ganz unberechtigt war es nicht. Er konnte zwar gut zimmern und auf den Plantagen stundenlang mit seinen Früchten hantieren, doch mit Geld gut umgehen war nicht seine Stärke. Seine Henrietta musste und konnte mit dieser Verantwortung zurechtkommen und beschwor die Erstgeborene immer eindringlicher, die Verwaltung der Farm ernst zu nehmen, besonders als sie erkennen musste, dass sie den Kampf gegen diese Krankheit verlieren würde.

Kezia rannte aus der Küche, wollte nur noch über den Hof zum Gerätehaus gelangen, einem Gebilde aus Mahagonibalken und einem Nipa-Grasdach, um alleine sein zu können. Hastig lief sie durch den strömenden Regen über die Wiese und riss die quietschende Tür auf. Wildes Gegacker schoss ihr entgegen. Die nach Futter suchenden Hühner rannten flatternd umher und quetschten sich durch die breiten Ritzen zwischen den Bambuslatten ins Freie. Sie würden dort nicht lange sicher sein, denn wenn das Essen für die Trauergemeinde knapp werden würde, müssten sie als Nächstes dran glauben. Kezia schloss die Tür, fühlte plötzlich eine durch ihren Körper rasende Schwäche und musste sich an einem Balken festhalten. Auf einem Sack voll mit Reis fand sie sitzenden Halt und starrte zwischen den Ritzen hindurch auf den Trubel rund um ihr Elternhaus. Immer neue Gesichter tauchten auf. Leute kamen und gingen, umarmten sich oder weinten leise vor sich hin. Bei einigen war die Trauer wirklich echt, bei anderen galt die Tradition, weil man sich vor der Familie keine Blöße geben wollte. Zwei Männer trugen verdächtige Pappkartons über den Hof. Natürlich war es brauner Rum, billiger Fusel, um die Typen bei Laune zu halten. Lehrerin Ophelia trank ebenso gerne und vertrug eine ordentliche Menge, war nie ernsthaft krank und Kezia empfand es als Ungerechtigkeit. Warum musste ihre Mutter mit 48 Jahren sterben? Sie, die sich doch immer gesund ernährte und besonders den Mädchen so oft erklärte, dass Farmer die glücklichsten Menschen seien, weil sie das Brot vom Himmel in Form gesegneten Wachstumes bekämen und die Städter bedauernswerte Vertriebene wären, die sogar für eine lausige Flasche Wasser Geld ausgeben müssten und in Kaninchenställen lebten, die als teuer verkauftes Kondominium der letzte Schrei seien. Unfug sei das, sagte sie immer, und Kezia glaubte es mit ganzer Seele. Ganz anders als Hiraya, die einen ungestümen Drang besaß wie ein Schmetterling, der in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig fliegen wollte. Hin und wieder verlautbarte sie den Wunsch, Manila zu sehen, doch ihre Mutter wurde über diese Idee ärgerlich. Dann folgte eine anschauliche Predigt über die Zustände in den Squattervierteln, die Abneigung der Etablierten über die sich in die Metropole eingeschlichenen Provinzler, die des Tagalogs nicht mal richtig mächtig seien. Hiraya hörte nur mit einem halben Ohr hin, war sie doch belesen in der Schule. Sie mochte die Hauptsprache und sang gerne zu Karaoke-Liedern, wie diese der Sängerin Gabriela, die mit ihrer rauchigen Stimme diese intensiven Dramen über Liebe, Verrat und Wiedergutmachung sang. Wenn Hiraya Lust auf sanfte Melodien hatte, gefielen ihr die alten Lieder von Verni Gonzalez, Leah Navarro oder auch die modernen Kompositionen diverser Popsänger wieder besser. Es kam dabei immer auf ihre Stimmung an. Als sie erfuhr, dass ihre Mutter am Ende gegen den Krebs nicht standhalten würde, vergrub sie sich in ihr Poesiealbum und Rockmusik, um mit dem Schmerz fertig zu werden. Als sie einmal ‚Kirot‘ (Leid) zehnmal hintereinander durch den Kopfhörer dröhnen ließ, riss Kezia ihr diesen herunter und schimpfte, sie solle gefälligst in der Küche helfen. Darauf reagierte sie ungehalten und stritt sich derart laut mit ihrer Schwester, dass es alle im Haus mitanhören mussten und sahen, wie das Mädchen schreiend aus der Seitentür ins Freie rannte.

Seit der frühen Kindheit entwickelte sich Hiraya anders als ihre Schwester, war sie ja als die Jüngste das Nesthäkchen, das weniger Rechte, aber dafür mehr Verwöhnung genoss. Sie verstand das auf charmante Weise auszunutzen und wusste, dass ihre Mutter sie immens liebte. Waren Kezia und ihr Bruder nicht manchmal deswegen eifersüchtig oder weil Hiraya etwas aus sich machen wollte, ohne früh zu heiraten und sich einem Kerl an den Leib zu werfen wie ihre Schwester, die gerade mit nassen Augen in diesem Geräteschuppen auf dem Reissack hockte und innerlich am Zerbrechen war.

„Wo ist Kezia? Ihr Baby schreit.“

„Keine Ahnung.“

„Vielleicht will sie Hiraya holen.“

Eine der Frauen in der diskutierenden Gruppe ging die Stiege hinauf, die zu dem Zimmer führte, wo das Schreien zu hören war. Das kleine Mädchen im Arm auf und ab wippend kam sie zurück.

„ Ja…, ja…, Mami kommt gleich.“

„Hunger hat die Kleine.“

„Willst du oder ich?“

„Gib sie her. Ist doch egal, wessen Milch sie trinkt.“

Gelächter inmitten der Leute im Wohnzimmer erklang. Nachbarin Melinda setzte sich in eine Ecke, zog den Top nach oben und reichte Kezias kleiner Tochter die rechte Brust. Sie stillte ihre Zwillinge zurzeit auch. Für ein drittes Kind gab es genug Reserven im mütterlichen Tank. Dass ein paar Männer auf ihren Oberkörper glotzten, ließ sie kalt und doch musste sie innerlich dabei schmunzeln.

„Man muss sich eben zu helfen wissen.“

„Sie ist so goldig.“

„Schade, dass sie ihre Großmutter nicht wirklich kennenlernen konnte.“

Melinda konzentrierte sich nur auf das Füttern der Kleinen und schaute das kleine Kindergesicht mit den neugierig blickenden Äuglein lächelnd an. Währenddessen ging in der Küche der Trubel ununterbrochen weiter. Ein lautes Scheppern und ein ‚Arrayy!‘-Schrei kündeten davon, dass in jenem Moment eine schwere Keramikschüssel samt Inhalt auf den Boden gekracht war. Dieser Kollateralschaden störte scheinbar niemanden, besonders nicht den Hausherrn, der vor lauter Trauerschmerz kaum etwas mit seiner Umwelt zu tun haben wollte. Die auf seine Schultern patschenden Hände erfreuten ihn für Sekunden und manches nette Wort aus dem Mund der Freunde tat gleichsam gut.

„Ich kann dir die nächsten Tage bei der Ernte helfen.“

„Ist doch Ehrensache, Roberto.“

„Wir stehen zusammen, alter Freund.“ 

Weitere Männer am Tisch pflichteten dem bei. Roberto konnte jede Hilfe gut gebrauchen. Sein zweitgeborener Sohn Boyed war kräftig, aber uninteressiert am Farmleben Er wollte lieber an der Universität studieren und mit Computern zu tun haben wie viele junge Leute, die nach der Welt außerhalb der Inseln lechzten und ins Ausland gehen wollten.

Kezia hingegen machte es in ihrer traditionsbewussten Denkweise gut, war seit achtzehn Monaten verheiratet, gab sich ihrem Gerald hin, wann immer er mochte und zeigte Haltung wie eine echte ‚Panganay‘, die Erstgeborene. Ihr Mann passte gut in diese Umgebung. Ein ruhiger Typ, durchschnittlich fleißig und völlig vernarrt in sein Kind. Das er seine Frau vor einem Monat wieder geschwängert hatte, wusste er noch nicht. Sie würde es ihm spätestens dann sagen, wenn der Monat käme, in dem sie deswegen keinen Verkehr mehr mit ihm haben möchte und der Babybauch ohnehin für alle sichtbar wäre.

Hiraya wiederum war Vaters heimliches Lieblingskind, was Kezia in ihrem Pragmatismus hin und wieder ungerecht fand. Es war durchaus verständlich, denn sie musste schon als Sechsjährige auf die Jüngere aufpassen, ihr beim Duschen helfen und achtgeben, dass sie und der Bruder keinen Unsinn im Haus anrichteten. Die Tradition gebar nämlich die Rollenverteilung und Kezia verdiente sich die Liebe durch steten Gehorsam, bekam rasch Rechte unter den Erwachsenen zugeteilt und sie war es eigentlich, die ihren Gerald zur Heirat drängte. Es war durchaus echte Liebe im Spiel gewesen, doch Hiraya erkannte damals schon mit ihren sechszehn Jahren, dass Kezias Verlangen nach körperlicher Intimität nicht unerheblich mitspielte. Zudem drängten die Mädchen aus der Nachbarschaft mit eindeutigen Sprüchen und setzten Kezia unweigerlich damit zu. Hiraya nahm sich schon damals vor, nicht so sein zu wollen. Liebe schon, aber erst zur richtigen Zeit. Sie sei ja ein Schmetterling. So sagten es viele, die Hiraya kannten, weil sie unstetig pendelnd zwischen diesem oder jenem Traum über das, was sie im Leben einmal machen wollte, ihr junges Dasein erlebte.

Irgendwann gab es dieses riesige Volksfest in Roxas City und es tat sich für Hiraya eine neue Passion auf, als sie dieses Tinikling-Ensemble sah, das eine erstaunliche Tanzakrobatik zwischen denen im Takt geschlagenen Bambusstangen zur Schau stellte, gekleidet in farbenfrohe Folklore mit wehenden Kostümen. Die jungen, schwarzhaarigen Frauen und ihre männlichen Tanzpartner flogen nur so in ihren Sprüngen und Drehungen über diese Hölzer, als könnten sie ihnen nichts anhaben.

Am Krankenbett ihrer Mutter erzählte Hiraya eines Tages von ihrem Wunsch, eine Tinikling-Profitänzerin werden zu wollen. Die Ausgemergelte war schon zu schwach, um ihr geliebtes Nesthäkchen zurechtzuweisen, streichelte ihr liebevoll über den Kopf und nickte nur, als wollte sie sagen, dass sie stolz auf ihre Jüngste sei. Und sie schaffte es, ihr diese Frage vorzuhalten.

„Tochter, möchtest du wirklich ein ‚Tikling‘ Vogel sein?“

„Ja Mama.“

Zwei Wochen später kam dann der furchtbare Tag, an dem Hirayas Mutter ihren letzten Atemzug tat und Kezia war es in pragmatisch kalter Art, die ihre leblosen Augen schloss, bevor sie zusammensackte und minutenlang ohnmächtig auf dem Boden lag. Wie sie die ganzen Formalitäten hinbekamen, verstand Hiraya bis heute nicht. Der Verlust wurde ihnen erst danach immer deutlicher. Kezia saß abends mit Weinkrämpfen neben ihrem Mann, der sie unbeholfen zu trösten versuchte. Er meinte es zweifellos gut, kümmerte sich seitdem meistens um die kleine Jane. Stillen konnte er sie natürlicherweise nicht, sonst hätte er selbst das getan, während seine Frau stoisch zusammen mit Dienstmädchen Imelda den Haushalt am Laufen hielt, weil der Vater kaum zu sinnvoller Tätigkeit fähig war. Langsam wurde es für die frischgebackene Mutter und Farmerin mit einem phlegmatischen Ehemann zu viel. Hilfe musste her.

Natürlich hatten sich die Probleme in der Sinilang-Familie herumgesprochen, so dass es kurz darauf den Hinweis während eines Marktbesuches durch die ältere Tante aus dem Nachbarort gab, die Kezia von einer jungen Frau aus Katiklan erzählte. Sie hieß Dolores und würde Arbeit suchen. Zwei Dienstmädchen zu haben kam Kezia zumindest in dieser schwierigen Zeit kaum als Luxus vor. Der Plan wurde bei einer abendlichen Familienrunde unter Laternenlicht besprochen. Hiraya ärgerte sich, dass Kezia das Wort führte und nicht ihr Mann Gerald. Dass er neben dem Vater nun ein zweites Familienoberhaupt geworden war, schien der geistig langsame Mann gar nicht begriffen zu haben, obwohl er aus einer großen Traditionsfamilie stammte und doch hätte wissen müssen, was die Ehe mit einer erstgeborenen ‚Panganay‘ bedeutet. Respektvoll musste sich Hiraya mit Worten zurückhalten, sah den Vater nur an, der leise allem zuhörte und nickte, als man übereinkam, diese Frau einzuladen und zu sehen, ob sie sich als zusätzliches Hausmädchen für die Familie eignen würde. Wieder hatte der Pragmatismus der älteren Schwester gesiegt, die sich heimlich die Hosen in der Familie angezogen hatte. Hiraya konnte noch nicht verstehen, dass es nicht aus Respektlosigkeit so geschah, sondern weil Kezia sonst vollends zusammengebrochen wäre.

Das neue Hausmädchen

„Tita Kezia? Hat unser neues Dienstmädchen überhaupt Ahnung? Ich meine, Erfahrung in Haushalten, als ‚Yaya‘ oder so?“

„Weiß nicht.“

„Warum hast du sie dann akzeptiert?“

„Wir testen sie doch erst einmal. Und Tante sagte, sie wäre okay.“

„Tante Giselle?“

„Sicher.“

„Die hat doch ihren Haushalt überhaupt nicht im Griff.“

„Sei nicht so frech, Hiraya!“

„Ich bin nicht frech.“

„Doch, bist du.“

Die neue Errungenschaft namens Dolores kam zwei Tage später zur hitzegeplagten Mittagszeit auf einem schicken Motorroller angefahren und stellte sich vor. Zur Mittagszeit? Kezia hatte doch verlauten lassen, sie würde morgens um 7 Uhr anfangen. Der Roller war zweifelslos neu und sauber geputzt. Schon wurde Hiraya misstrauisch, behielt aber ihre Gefühle für sich. Das Aussehen dieser Frau zeigte, dass sie auf Beauty-Pflege Wert legte und das mit ausgefeilter Bravour. In der Tat war Dolores eine schlanke Erscheinung mit hellem Teint und langen, zarten Beinen, die in ganzer Pracht wegen des Minirocks zur Freude der stehengebliebenen Farmarbeiter für jeden zu sehen waren. Nachdem sie abgestiegen und den Roller auf den Ständer gehoben hatte, lächelte sie die beiden Frauen vergnügt an.

„Guten Tag. Ich bin Kezia. Wir freuen uns.“

Hiraya hielt Dolores die ausgestreckte Hand hin und betrachtete die Konturen ihres markant hübschen Gesichts. Dolores´ dunkelbraune Augen krönten lange Wimpern und die gekurvten Augenbrauen waren gemacht.

„Hallo, ich bin Dolores.“

Hiraya freute sich nicht und empfand Schauspielerei hinter diesen dunklen Pupillen, die sie angrinsten.

„Das weiß ich schon. Hiraya.“

„Oh! Hiraya…, seltener Name.“

„Ja, selten.“

„Bedeutet er nicht…, ähm…?“

„Mein Traum wird sich erfüllen.“

„Was? Ach, genau. Ich freue mich jedenfalls, dich kennenzulernen.“

Hiraya sagte nichts als Erwiderung und beobachtete, wie sich Dolores jetzt mit ihrer Schwester unterhielt.

Nach ein paar Minuten Smalltalk lud Kezia die neue Hauswirtschafterin ein, ins Haus zu kommen. Dolores begann sich umzuschauen. Kezias Mutter hatte trotz des Provinzdaseins hohen Wert auf einen hübschen Einrichtungsstil gelegt und ornamentierte Bambusgitterfenster anfertigen lassen, die mit blumenbestickten Baumwollvorhängen verziert worden waren. Der Geschirrschrank war ein handgemachtes Einzelstück eines Meisters aus den Bergen und die Bambussessel knarrten kein bisschen. Dolores hatte rasch den Fernseher auf dem Beistelltisch gesehen und konnte sich nicht zurückhalten zu sagen, dass er klein sei.

„Beim Arbeiten muss niemand Fernsehgucken.“

„Hiraya, bringst du Ate Dolores bitte ein Glas Wasser?“

Sie gehorchte widerwillig und verärgert. Warum musste man diese Frau ins Haus holen? Köchin Imelda arbeitete schon viele Jahre hier zuverlässig und sollte ausgerechnet jetzt eine Hilfe beigestellt bekommen?

Hiraya ging in die Küche und griff in den Geschirrschrank mit den Gläsern. Imelda war in ihre Arbeit für das Mittagessen vertieft.

„Na, ist sie endlich eingetroffen?“

„ Ja. Ich dachte, sie sollte morgens anfangen.“

„Wie ist sie so?“

„Miss ‚Beauty‘. Minirock.“

Imelda erwiderte nichts darauf und meinte: „Wir müssen sie erst kennenlernen, bevor du Urteile fällen kannst.“

„Ich mag sie nicht. Du bist unsere Hauswirtschafterin.“

„Nein Hiraya. Sei doch bitte lieb. Ich werde sie ja nachher sehen.“

Lustlos stellte Hiraya das Glas Wasser auf den Tisch. Sie hatte absichtlich kein Eis hineingetan. Jeder im Haus bekam Hirayas kratzige Stimmung mit, doch Kezia wusste sich mal wieder zu helfen.

„Sie trauert sehr, Dolores.“

„Natürlich. Nicht wahr, Inday Hiraya?“

„Ich muss gehen.“

Hiraya entschuldigte sich und rannte aus dem Seiteneingang ins Freie. Sie schaffte es noch nicht, netter zu dem Neuzugang zu sein, zumindest nicht jetzt. Sie hörte nur noch das leise Gerede im Haus, als Boyed ins Zimmer kam und sich Dolores vorstellte.

„Wo ist euer Vater?“

„Er kommt später. Ihm hilft es, wenn er bei Freunden oder in der Plantage ist. Zerstreuung.“

„Hast du einen Mann?“

„Ja sicher. Bin wieder schwanger. Meine Erstgeborene schläft oben.“

„Wie alt?“

„10 Monate. Und du?“

„Habe nichts Festes im Moment.“

Dolores nippte an ihrem Wasserglas und blickte sich weiter neugierig um.

„Darf ich fragen, warum eure Mutter verstorben ist?“

Kezia reagierte ein wenig abweisend, atmete tief ein und offenbarte, dass es der Krebs war, der ihre Mama aus dem Leben riss. Dolores schien nichts erwidern zu können und schwieg lieber betreten. Boyed zeigte ihr das Zimmer oben neben dem Raum, in dem seine Mutter ihre letzten Monate verbrachte.

„Hier wirst du schlafen.“

Dolores mochte die winzige Kammer nicht wirklich, doch weil sie sauber war, gab sie keinen Kommentar ab. Nachdem sie ihre Tasche abgestellt hatte, zog sie sich ein neues Shirt über, denn der erste Arbeitstag rief bereits penetrant.

Hiraya hatte sich ums Haus geschlichen und durch eine Ritze in die Küche gespäht, um die Neue zu beobachten.

„Ich bin Imelda Fernandez.“

„Dolores. Was soll ich tun, Ate?“

„Entschuldige, hast du keine Hose?“

Dolores begriff sofort und huschte in ihr Zimmer, um sich das gewünschte Kleidungsstück überzustreifen. Hiraya lugte weiter zwischen den Lamellen des Seitenfensters hindurch, neugierig darauf zu sehen, wie diese Frau ihre erste Küchenarbeit tun würde.

„Entschuldige, Ate Imelda. Ist es so okay?“

„Im Rock kannst du nicht richtig draußen arbeiten. Hast du schon auf einer Farm gedient?“

„Nein. Muss ich denn im Feld arbeiten?“

Imeldas Begeisterung hielt sich in Grenzen, als sie diese Frage hörte, dabei konnte sie Dolores beruhigen.

„Das Ernten machen die Farmarbeiter. Aber manchmal musst du schon etwas für die Küche pflücken.“

„Kein Problem.“

Sie bekam den Geschirrschrank gezeigt und die Ordnung, die Imelda dort zu sehen wünschte. Hiraya duckte sich nach unten, als Dolores sich umsah und in Richtung des Fensters schaute.

„Bitte deck jetzt den Tisch, Dolores.“

„Essen wir mit der Familie?“

„Das wird dir der Senor sagen. Ich tue es nicht.“

„Warum?“

„Jeder sollte seine Position kennen. Du isst natürlich mit uns hier draußen.“

„Uns?“

„Die Pflücker kommen um 1 Uhr.“

„Natürlich. Wir groß ist denn euer Anwesen?“

„15 Hektar.“

„Donnerwetter.“

Hiraya sah jetzt, wie Dolores große Augen machte und noch ein „Wow“ hervorstieß. Eilig nahm sie das Essgeschirr aus dem Schrank und begann den Tisch im ‚Sala‘ zu decken. Hiraya versuchte, Imelda Zeichen durch die Glaslamellen zu geben, doch sie bemerkte sie nicht.

„Tochter?“

Sie erschrak und blickte in die Augen ihres Vaters, den sie nicht hatte kommen hören.

„Was hockst du vor dem Fenster?“

„Die neue Haushälterin ist da.“

„Ach so. Und du sitzt hier und beobachtest sie? Du bist doch kein kleines Mädchen. Essen wir gleich?“

War sie verblendet durch all diese Trauergefühle, die ihr Herz zum Zerreißen brachten? Zu verblendet, um Dolores Freundlichkeit entgegenzubringen? Als sie ihren Vater ins Haus gehen sah und mitbekam, wie er sich der Neuen vorstellte, dachte sie jetzt sogar, dass er die Wogen für sie glätten könnte. Immer hatte sie ihren Vater bewundert. Er war scharfsinnig, liebevoll und im Gegensatz zu ihrer Mutter ein wenig zu nachsichtig, wenn sie mal wieder ihren Trotzkopf durchsetzen wollte, aber sie fühlte sich bei ihren Eltern geborgen und konnte sich einfach nicht vorstellen, längere Zeit von ihrer Familie getrennt zu sein.

„Ich bin Roberto Sinilang.“

„Dolores Mercado, Senor.“

„Ich hoffe, es wird dir gefallen bei uns. Hast du meine Kinder schon kennenlernen können?“

„Das habe ich. Ach, Senor…, mein aufrichtiges Beileid.“

Dolores neigte ihren Kopf nach unten, griff nach seiner Hand und wollte sie an ihre Stirn tupfen, doch Roberto Sinilang mochte diese Respektsgeste nicht wirklich gerne und zog seine Hand zurück. Hiraya kam durch die Tür und setzte sich an den Esstisch. Er war ordentlich gedeckt und sogar mit einer kleinen Blumenvase geschmückt. Dolores fragte sie lächelnd, ob ihr der zubereitete Tisch gefallen würde, was sie nur mit einem gequetschten Nicken erwiderte, Sie sah ihren Vater an, der erkannte, dass sie das neue Hausmädchen noch nicht wirklich mochte.

Der späte Nachmittag brach an. Hiraya nahm ihren Kopfhörer, rannte in eine der Zuckerrohrplantagen, die ihre reifen Pflanzen in der Tropensonne zur Schau stellten. Dort gab es ein Plätzchen, wo sie einen Hocker versteckt hatte, um stundenlang Musik aus ihrem Handy genießen zu können, bis der Akku erschöpft war. Die Sonne brannte noch und Arbeiter waren keine zu sehen. Sie schufteten in der Plantage nebenan und Hiraya konnte sich ungestört in die hämmernden Klänge versinken lassen. Es war wieder ‚Kirot‘, ein heftig anklagender Song, dessen Sängerin mit ihrer Stimme bei den hohen Refrains einen schönen Rock-Thriller jaulen ließ. Hiraya wippte mit ihrem Kopf im Rhythmus, völlig losgelöst von der Realität um sie herum, der Realität mit den wiegenden Kokospalmen und den im Wind schwingenden Blättern des Zuckerrohrs. Hiraya wurde in diesen Momenten zu einer Arrangeurin eines modernen Tinikling-Tanzes im 4/4 Takt und stellte sich vor, im Schwung dieses Songs über den Bambusstangen durch die Luft zu fliegen. Hirayas Träume halfen oft nur kurz, denn der Schmerz über den Verlust der geliebten Mutter brachten sie an den Rand innerer Aggressivität, die sie mit Lesen und langen Spaziergängen in der Natur zu bekämpfen suchte. Dabei begann sie in einem Rhythmus diese dem Tinikling gleichsamen Hüpfbewegungen zu machen, breitete die Arme aus, fing an zu lachen und sich in diesen Bewegungen um die eigene Achse zu drehen. Das Mädchen fühlte eine wunderbare Leichtigkeit, jubilierte zusammen mit den zwischen den Palmen umherfliegenden Vögeln und schrie: „Ich will Tinikling-Tänzerin werden! Tinikling-Tänzerin!“

Weitere Tage vergingen, stoisch in der Abfolge des Weges der Sonne, die im Osten aufging und ihre Bahn über den Himmel vollführte. Alle im Haus der Sinilang-Familie gehorchten ihrer angedachten Rolle und füllten sie aus. Nur Hiraya suchte jede Gelegenheit, im Angesicht der Handy-Videos mit Tinikling-Darbietungen in ihrem Zimmer oder in den Plantagen zwischen den Zuckerrohrpflanzen und Kokospalmen mitzutanzen.

Roberto war in den letzten Tagen ungewöhnlich lustig geworden, was nicht am Alkohol lag. Kezia beobachtete zwar, dass er kaum trank. aber immer öfter Konversationen mit allen möglichen Leuten suchte. Seiner Tochter gefiel das. Sie konnte sich wieder mehr ihrer eigenen Familie widmen, anstatt alle Angelegenheiten um die Verwaltung des Anwesens alleine stemmen zu müssen. Ihre eigenen Glücksgefühle durfte sie endlich wieder intensiver erleben, zusammen mit ihrem Mann, der erleichtert war, dass seine Kezia wieder Lust verspürte, mit ihm zu schlafen und das an romantischen Orten unter freiem Himmel zwischen den Plantagen, nachdem sie augenzwinkernd Imelda bat, auf das Kind aufzupassen. Imelda selbst war eine enthaltsam lebende Frau, aber nicht verblendet, was die ehelichen Freuden anderer anging und schmunzelte, während sie auf das Bettchen blickte, in dem Baby Jane sanft schlummerte, und sie wusste, dass Gerald in diesen Momenten seine Frau zwischen einer Baumreihe unter dem Sternenhimmel zu Höhenflügen der Lust brachte.

Anflug der Begierde

Kezia empfand die wiedergewonnene Leichtigkeit ihres Vaters als seine Art von Trauerbewältigung und untersuchte auch nicht den Grund für diese häufigeren Privatgespräche zwischen ihm und der neuen Haushälterin. Sie hielt es für Anweisungen, auch wenn Dolores dabei oft lachte und scheinbar so tat, als wäre sie seine Schwester. Nur Hiraya begann jetzt, sich Sorgen zu machen. Doch die restliche Familie ließ es geschehen und dachte sich nichts dabei. Vater Roberto redete schon seit geraumer Zeit unbemerkt von seinen Kindern zu wenig mit ihnen, ging kaum ans Grab seiner Frau und begann, witzige Geschichten zu erfinden und zum Besten zu geben. Hiraya missfiel, dass Dolores immer öfter mit der Familie essen durfte, obwohl sie erst seit zwei Monaten hier arbeitete.

„Daddy? Ich möchte dich etwas fragen.“

„Sicher. Nur zu.“

„Wie findest du eigentlich Ate Dolores?“

„Wie meinst du das?“

„Warum sitzt sie so oft bei uns am Tisch? Sie ist nur eine Hausangestellte.“

„Sie ist nett. Wir sollten sie wie eine richtige Familienangehörige behandeln.“

„Ate Imelda ist viel netter.“

„Ich brauche im Moment junge Menschen, die mich aufheitern. Sag mal, was macht deine Schule?“

„Es ist okay. Ich lerne ja gerne.“

„Wirklich?“

„Ja.“

Als Hiraya den Raum verließ, begann es in ihm zu kribbeln. Vater Roberto wusste, dass seine Jüngste die intelligenteste seiner Kinder war und ihn durchschauen konnte. In seinem Herzen empfand er dies als einen der Gründe für seinen Stolz auf sie. Jedoch hatte Hiraya mehr begriffen, als ihm lieb sein konnte. Dolores, fast 20 Jahre jünger als er, ansprechend mit ihrem Auftreten in der Weise, wie sie sich benahm, ließ in ihm Gefühle der Begierde entstehen. Einmal nachts war er im Haus unterwegs, weil er nicht schlafen konnte und hörte Geräusche aus einem der Zimmer. Leise schlich er sich in die Nähe der Treppe, die zu den Schafräumen führte. Die Tür zu Dolores´ Kammer war halb offen und eine Stehlampe illuminierte das Zimmer mit ihrem fahlen Licht. Sie stand, ihren Rock bereits abgelegt, vor dem Spiegel. Roberto duckte sich und konnte seine Augen nicht von dieser Erscheinung abwenden.

Dolores zog langsam ihr Hemd aus, um sich den Oberkörper an der Porzellanschüssel zu waschen. Roberto begann zu zittern, als er ihren rosafarbenen BH sah, den sie nun langsam öffnete und an ihrem Körper heruntergleiten ließ. Ihre zierlichen, aber festen Brüste wurden vom fahlen Licht der schwachen Lampe angeleuchtet. Beim Anblick dieser schlanken Statur mit fein gegliederten Schultern und haselnussbraunen Brustwarzen in ganzer Nacktheit begann seine Erregung immer heftiger zu brennen.

Während er sie betrachtete, streichelten Dolores´ Hände mit einem Tuch über die Wasserperlen auf ihrer hellen Haut und als sie ihren Arm nach oben streckte und er ihre wunderbar rasierte Achselhöhle sah, musste er seine ganze Beherrschung aufbieten, um nicht diese drei Stufen zu ihr hinauf zu gehen. Unversehens hörte er, wie jemand in der Küche hantierte und schlich sich davon. Roberto ging zu Bett, erregt und vergessend, dass solches nicht geschehen durfte.

Fragen über Fragen

Hiraya war am nächsten Morgen ungewöhnlich früh aufgewacht. Um 4.30 morgens begannen die ersten zaghaften Sonnenstrahlen am Horizont empor zu klettern. Diese Zeit zum Aufstehen war für sie wirklich außergewöhnlich, doch es brannte in ihr. Sie schlüpfte in die Sandalen, griff nach dem Kopfhörer und ging leise die Stiege zum Wohnzimmer hinunter.

Im Nebenhaus war alles noch ruhig. Bald jedoch würde das Baby schreiend aufwachen. Und Imelda wäre garantiert pünktlich um 6 Uhr bei ihrer Arbeit in der Küche. Die gute Seele, gewissenhaft und treu. Hiraya wusste, dass sie ihre neue Kollegin auch nicht besonders mochte, doch Imelda ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Keiner konnte sich vorstellen, dass diese gutmütige Frau mit jemand anderem Streit anfangen würde. Sie betete dreimal am Tag und lächelte, wenn sich andere neben ihr in lautem Disput verfingen. Deswegen liebte Hiraya diese Haushälterin, ganz im Gegensatz zu Dolores, die schwer einzuschätzen war und in ihrem Getue mysteriös wirkte.

Mit dem Kopfhörer auf den Ohren bewegte sich Hiraya leise aus der Seitentür hinaus ins Freie, dabei nestelte sie an dem zierlichen Klinkenstecker. Es musste etwas sein, was im strengen 4/4 Takt komponiert war. Beim Gehen suchte sie sich den gewünschten Track aus, drückte auf den 'Start'-Button und begann zusammen mit ihrem Gang weich zu hüpfen wie ein winziger, stolzierender Vogel. Doch die Chinellas störten, wollten immer wieder von ihren Füßen rutschen. Sie ließ sie im Gras zurück. Es waren keine Bambusstangen da, niemand, der sie an den Enden festhielt und damit dreimal auf den Boden und bei jedem vierten Taktschlag gegeneinanderschlug, Hiraya fühlte sich bereits völlig von der Musik und ihren Bewegungen vereinnahmt, entrückt von der Welt um sie herum. Und sie wollte es so in diesen Augenblicken, um sich ermutigen zu lassen, hinweg von dem Schmerz, weil ihre wunderbare, einst so fürsorgliche Mutter sie nicht mehr in den Arm nehmen konnte.

Es wurde immer heller unter der aufsteigenden Morgensonne. Zwei Farmarbeiter gingen an dem tanzenden Mädchen vorbei, blieben kurz stehen und grinsten. Hiraya war beliebt bei den Leuten, weil sie so verträumt und herzlich rüberkam und im Beisein Älterer höfliche Anstandsformen pflegte. Das sie gut in der Schule war und schon Auszeichnungen für besondere Leistungen bekam, war den meisten im Dorf ihres Vaters wegen bekannt, der ausschweifend jedem Bekannten erzählen musste, wie stolz er auf seine Jüngste sei. Er wünschte sich, dass sie den Weg als Rechtsanwältin oder Ingenieurin einschlagen würde. Nur störte ihn ihre Verschlossenheit und diese Träumereien, denn Tänzerin in einer aussterbenden Volkstanzgattung zu werden, erschien ihm blödsinnig und zukunftslos.

Für Kezia hingegen war der Karrierezug abgefahren und ihre Rolle als ‚Panganay‘ schob solchen Ideen einen Riegel vor, zumal sie ein zweites Kind im Bauch trug. Für Roberto Sinilang galt immer, dass die Wege der Kinder schon früh vorgezeichnet sein müssten. Seine treue Henrietta unterstützte ihn dabei mit unterwürfiger Zustimmung und für Hiraya musste es höhere Ziele geben, bis der Tag kam, als ihm die Ärzte sagen mussten, dass es für eine rettende Darmoperation bei seiner geliebten Frau zu spät wäre. Roberto begann zu trinken, voller Schuldgefühle, weil er es nicht vermocht hatte, sie zu bewegen, einen Spezialisten aufzusuchen, selbst nachdem ihre Beschwerden schon klare Anzeichen von sich gaben. Henrietta schien nie geglaubt zu haben, dass auch sie eine tödliche Krankheit treffen könnte. So vergaß er, seine Kinder und besonders Hiraya weiter für ihr Leben zu schulen, weil ihn die Gewissheit, bald Witwer zu werden, zerfraß.

„Guten Morgen, Inday Hiraya.“

„Sie hört uns nicht mit dem Ding auf den Ohren.“

„Lass sie. Hat es ja nicht leicht zurzeit.“

„Warum hüpft sie immer so rum?“

„Sie will Tinikling-Tänzerin werden.“

Der Arbeiter begann zu lachen und schüttelte den Kopf.

„Ich möchte gerne mal wieder 18 sein.“

„Lass uns an die Arbeit gehen.“

Sie hatte die beiden Männer gesehen, wollte sich in ihren Hüpfbewegungen aber nicht stören lassen, was eigentlich unhöflich und ungewöhnlich für sie war. Sie fühlte einsetzende Erschöpfung und hatte Durst. Lächelnd stoppte sie den Song und machte sich auf den Weg zum Haus, mitten durch die vielen Papaya-Bäume, die ihre Mutter einst als Jugendliche gepflanzt hatte.

Beim Eintreten durch die Küchentür sah sie, dass Dolores ungewöhnlich flott beim Putzen der Arbeitsplatte vorging und dabei lächelte, als hätte ihr jemand ein romantisches Geschenk überreicht. Schon die letzten Tage schien sie sich verändert zu haben, arbeitete fleißiger und vor allem verschlief sie nicht mehr. Sicher hatte Imelda ihr die Leviten gelesen oder sie wollte endlich kündigen, um einen Job in der Stadt anzunehmen, der besser zu ihr passen könnte. Hiraya dachte sich jetzt, wie erfreut sie wäre, wenn die zweite Möglichkeit Realität werden würde.

Hiraya beobachtete sie aus dem Augenwinkel heraus bei der Putzarbeit. Dolores trug einen kurzen Rock, der zudem noch eng anlag. Immerhin trug sie ein hoch geschlossenes Shirt, aber ärmellos. Kaum streckte sie ihre Hände nach oben, konnte Hiraya durch die großen Armlöcher ihren BH sehen.

„Guten Morgen, Inday Hiraya.“

„Morgen…“

„Auf dem Tisch ist noch Kaffee in der Thermoskanne.“

Guten Kaffee kochen konnte diese Frau mit langen Beinen, ausgeprägter Taille und gestylten, geschwungenen Augenbrauen wirklich,

„Magst du Reis und Eier?“

„Noch nicht. Später.“

Hiraya schnappte sich ihre Lieblingstasse und ging ins Wohnzimmer. Gut schmeckende Eier zubereiten konnte Dolores nicht, aber Hiraya hatte den Anstand, ihr das nicht ins Gesicht zu sagen. Wäre Imelda am Herd, hätte sie schon zwei Portionen verspeist. Leider würde sie eine Woche lang im Haushalt fehlen, denn ihre Schwester wäre krank und brauchte Hilfe. Imelda musste nach Roxas City fahren und flüsterte Hiraya vor ihrer Abreise noch ins Ohr, dass sie gegenüber Dolores vorsichtig sein solle, ohne genau zu erklären, warum. Hiraya spürte, dass sie ab jetzt Detektivin spielen sollte. Kezia hatte rein gar nichts begriffen und jammerte immer nur, wie dankbar sie sei, dass eine zweite Haushaltshilfe den Laden schmeißen würde.

Hiraya blickte zum Bücherregal und die große Familienbibel mit dem roten Einband. Sie sah abgelesen aus, denn in den letzten Wochen hatten sie und ihre Schwester darin gestöbert, suchten nach tröstenden Psalmen und Hiraya begann, verwirrt zu werden. Es hatte Auferweckungen von Toten gegeben, als der Herr Jesus auf der Erde war. Hiraya dachte, dass Wunder zu allen Zeiten möglich sein müssten, fragte aber niemanden, der sich auskennen könnte und vergrub sich still in eigenen Antworten darauf, was viel in ihrem suchenden Herzen auslöste. Die einen sagten, man käme in den Himmel, andere zeigten ihr in einem Psalm einmal, dass es eine Auferstehung der Toten auf der Erde geben würde, Und das verwirrte sie natürlich, weil sie in den ganzen Meinungen doch die Wahrheit suchte. Hiraya hasste Heuchelei. Und irgendwie fühlte sie Unbehagen, wenn sie Dolores sah. Ihr Bauch sagte, dass mit ihr etwas nicht stimmen konnte. Hirayas junger Geist war vollgesogen von Fragen und raschen Beurteilungen, weil sie Lebenserfahrung vermissen lassen musste. Sie betrachtete nur jede Bewegung, die Dolores bei der Arbeit machte, was eigene Schlussfolgerungen in ihr hervorbrachte.

Ein verliebter Kerl

Seufzend trank sie ihren Kaffee und sah ihre Schwester zur Tür hereinkommen.

„Warst du wieder hüpfen?“

„Es ist schönes Wetter draußen.“

„Hiraya, hör bitte auf zu träumen. Dein Tinikling Getue geht mir auf den Geist.“

„Mir gefällt es aber.“

„Du kommst heute mit ins Ananasfeld und hilfst uns beim Pflücken. Morgen kommen Aufkäufer aus Iloilo.“

Sie nuschelte nur ein kurzes „ Ja“ als Erwiderung.

„Ist das verstanden?“

Hiraya antwortete nicht und wollte in ihr Zimmer gehen.

„Hey?“

„Ich zieh mir nur eine Jeans an.“

„Du kommst dann sofort.“

„Ja, Tita Kezia.“

Kaum hatte die große Schwester das Wohnzimmer verlassen, streckte Hiraya die Zunge raus und ging seufzend in ihr kleines Zimmer, um die Arbeitshose aus dem Schrank zu kramen. Eilig wollte sie durch die Küche in Richtung der Seitentür huschen, als ihr Dolores im Türrahmen entgegentrat.

„Oh sorry, Inday.“

„Ich muss aufs Feld.“

„Bringst du uns für heute Abend zwei schöne Ananas mit?“

„Mal sehen.“

Hirayas Gesten zeigten unmissverständlich, dass sie keine Lust auf eine Konversation hatte und nur durch diese Tür gehen wollte. Und Dolores spürte schon lange, dass dieses Mädchen sie nicht mochte. Gerne hätte sie Hiraya jetzt damit konfrontiert, doch fehlte ihr in diesem Moment der Mut dazu.

„Lass mich jetzt vorbei.“

Dolores ging zur Seite, entschuldigte sich nochmals mit spitzer Stimme und konnte dem Mädchen nur hinterherschauen. Hiraya schnappte sich zwei Bastkörbe und lief springend auf dem Pfad entlang, der zu dem Feld führte, auf dem eine Gruppe junger Arbeiter zusammen mit Kezia an den reifen Ananasfrüchten hantierte, während zwei ältere Männer an dem Erntewagen arbeiteten, der später von einem Wasserbüffel zur Straße gezogen werden sollte, wo am nächsten Tag der Lastwagen des Fruchthändlers aus der Stadt eintreffen würde.

Hiraya gefiel die Arbeit in der prallen Sonne. Sie machte ihre Sorgen in einer unbegreiflichen Weise kleiner. Die Arbeiter beobachteten sie kurz und lächelten. Hiraya war sonst nicht gerne bei den Ernten dabei, besonders nicht beim Zuckerrohr. Die Männer verstanden das aber. Für eine zierliche junge Frau war das Hantieren mit dem gebogenen, schweren Erntemesser mühsam. Das Pflücken der kleinen, grünen Calamansi-Früchte lag ihr mehr, weil es filigrane Handbewegungen erforderte und sie dabei immer wieder so schön ins Träumen kam.

Unter den jungen Männern war auch dieser Ricardo, der einzige Sohn der Familie auf einer Farm nebenan, 21 Jahre jung und von geschmeidiger Statur mit trainierten Armen. Er gehörte schon seit seiner Volljährigkeit zu den regelmäßig hier arbeitenden Helfern. Hiraya kannte ihn wenig, denn Männer zu observieren war nicht ihr Interesse. Das Übliche über ihn wusste sie schon, aber nichts weiter. Dass Ricardo eine zarte Verliebtheit im Herzen trug, ahnte sie noch nicht. Er hatte es tatsächlich gewagt, Hiraya bei mancher Gelegenheit zu beobachten, dabei ihren zierlichen Körper studiert und ihre Klugheit zu bewundern begonnen. Dieser Farmerssohn wollte gerne mehr aus sich machen, in eine größere Stadt gehen und lernen, ein guter Bauhandwerker zu werden, doch diese Dorfstrukturen mit der ihm zugeteilten Rolle als Sohn einer Familie, die nur noch eine Tochter zur Welt brachte, zwangen ihn unbarmherzig wie eine Fessel. Er überlegte sich, wie er Hiraya ansprechen könnte, um ihr seine zärtlichen Gefühle zu gestehen und suchte Rat bei einem Freund, der Hirayas Familie gut zu kennen schien.

„Hiraya? Das Mädchen hat kein Interesse an Kerlen.“

„Ich… Ich mag sie irgendwie.“

„Echt, Kamerad? Was willst du ihr denn bieten? Sorry.“

„Meinst du, ich bin ihr zu einfach?“

„Gebildet ist sie, aber Ziele? Ich habe mal mitbekommen, dass sie Tinikling-Tänzerin werden will. Und Junge, die ist erst 18.“

„Na und?“

„Das ist ein Küken. Der musst du alles beibringen, worauf es ankommt, verstehst du?“

Ricardo begriff schon, auf was sein Freund anspielte.

„Es ist doch etwas Besonderes, ein Mädchen als erster zu haben. Einer muss es ja machen.“

„Weiß nicht. Ich stehe auf ältere, erfahrenere Frauen. Aber wenn du verliebt bist, dann sage es ihr doch. Übrigens, die haben diese neue Haushälterin. Mann, die hat Erfahrung, hundertprozentig. Das spüre ich.“

„Tut mir leid, Kuya, aber diese Frau ist nicht mein Typ. Die stolziert rum wie ein Tikling Vogel.“

„Eine Haut der Extraklasse und diese Beine.“

„Das ist doch nicht das Wichtigste. Hiraya ist so…, ich weiß nicht, nett und lieb. Darauf kommt es doch an.“

„Bist einfach ein Konservativer, wie deine Eltern. Lass es gut sein.“

Ricardo sah, dass solche Ratschläge wenig geistreich waren und grübelte, wie er dem jungen Mädchen seine liebevollen Signale senden könnte, während er sich wieder den Ananasfrüchten widmete.

Es war bereits am späten Nachmittag, als einige Männer am Rand des Feldes die Früchte nach ihrer Größe in Körbe sortierten, während Hiraya und zwei Pflücker noch mit der Arbeit beschäftigt waren, sie zu ernten und in den Wagen zu stapeln. Ricardo fühlte sich in seiner Neugier, das Mädchen zu betrachten, jetzt freier. Sie arbeitete in der Hocke und war gerade im Begriff, ihren Oberkörper nach vorne zu strecken, um zwei der prallen Ananasfrüchte von ihrem in die Erde gehenden Stiel zu trennen. In Ricardo flammte eine zarte Erregung auf. Hirayas Hemdchen fiel vor ihrer Brust etwas nach unten, als sie in der knieenden Position die Ananas abschnitt. Ricardo wollte wegschauen, doch flammten wieder Erinnerungen auf, an einen Abend, als ihm Jeffrey aus der Nachbarschaft einen Film mit einer intimen Szene zeigte. Ricardo mochte solche Filme nicht, doch hatte er sich nach einigen Gläsern Rum leichtsinnig gezeigt und mitgeschaut. Im Herzen achtete er die Frauen gemäß seiner Erziehung und wusste, warum der Typ, den Hausmädchen Dolores verkörperte, nicht seine Wellenlänge sein konnte, wenngleich sein Kopf auch ihm sagte, dass sie untrüglich Erfahrung hatte.

Nun kniete dieses Mädchen Hiraya so eindeutig in einer Position beim Pflücken, dass er mit dem Kopf schütteln musste, um seinen erotischen Gedanken zu verscheuchen. Hiraya stand auf, ging einige Schritte weiter und kniete sich wieder so hin. Ricardo bemühte sich tapfer, schnitt einige Früchte ab und wollte sie gerade auf dem Arm stapeln, als er in diesem Augenblick ihre Brüste durch den Halsausschnitt für Sekunden sehen konnte. Sie waren wohl mit einem Unterwäschestück bedeckt, aber nur vorne. Schon dieser Teilanblick erregte den jungen Farmerssohn noch mehr und Hirayas Schönheiten als Paar erschienen ihm als die hübschesten Wölbungen auf diesem Planeten. Er begann sich zu schämen, wie ein heranwachsender Junge, weil vorn in seiner Hose der Druck schon merklich zu spüren war. Als sie endlich wieder aufstand und sich mit dem Stapeln der Früchte in den großen Erntewagen beschäftigte, atmete er auf. Er wollte nichts Unanständiges tun, ja ihr den Hof machen in klassischer Weise mit überzeugenden Worten wegen seiner Zuneigung für sie. Hiraya hatte seine Blicke nicht wahrgenommen. Wie sie wohl reagiert hätte? Er wusste, wie höflich sie war, doch ihr junges Mundwerk konnte eine Forschheit an den Tag legen, die einen Mann mit einem Schlag die Grenzen zeigen würde. Und das gefiel ihm irgendwie. Wenn sie wirklich seine Liebe mit ganzer Seele erwidern würde, käme ihm das Vorrecht zu, als erster in ganzer Liebe ihr Wesen zusammen mit ihrem Körper in Besitz zu nehmen. Hiraya Sinilang erschien ihm wie eine blutjunge Reinheit in herrlicher Komposition, so begehrenswert und doch unerreichbar fern.

Weit von dem Geschehen in Ricardos Gedanken war Kezia sehr zufrieden mit der Ernte und genoss den Anblick der auf dem Wagen liegenden Früchte. Der Aufkäufer würde zufrieden sein und das Geschäft lohnend, denn in dieser Saison waren die Ananaspreise hoch.

'Skandalo'

Wieder waren zwei Tage vergangen und der wöchentliche Markttag stand an. Die Menschen tummelten sich dicht gedrängt rund um die Stände mit landwirtschaftlichen Produkten und auch Händler mit allerlei Haushaltswaren mischten sich unter sie. Der alte Werkzeugmacher Edwin lächelte, als er Hiraya, mit zwei Stofftaschen bepackt, kommen sah. Sie mochte den freundlichen Herrn, weil er ihr immer geduldig zuhörte und junge Leute wie Hiraya sehr schätzte. Henrietta Sinilangs Tod setzte ihm sehr zu und er wollte das Mädchen am liebsten umarmen wie ein treusorgender Vater, damit sie ihre Tränen in voller Entfaltung herauslassen konnte.

Alles, was Handwerker und Farmleute benötigten, konnten sie beim alten Edwin kaufen. Bolo-Macheten, Zuckerrohrmesser, Küchenutensilien und Beile. Für Bauleute gab es Kellen, Maurerschnüre, Bohrer und Hämmer. Einmal verirrte sich ein deutscher Rucksackreisender hierher und kaufte ein verziertes ‚Bolo‘ als Souvenir. Edwin musste immer noch über den Typen lachen. Lange konnte er an seinem Mitbringsel keine Freude erleben, denn es wurde ihm am Flughafen bei der ersten Gepäckkontrolle abgenommen, während die Securities im Terminal schallend lachten und die Gesichtsröte dieses Touristen für einen Haufen belustigende Blicke sorgte. Immerhin musste er keine Strafe zahlen und durfte ohne sein Souvenir in die Maschine.

„Guten Morgen, junger Sonnenschein!“

„Hallo Kuya Edwin. Wie geht es dir?“

„Immer gut, trotz meiner Arthrose, weil ich dich sehe. Na, was hast du eingekauft?“

„Schweinefleisch.“

„Setz dich ein wenig zu mir. Oder hast du keine Zeit?“

„Doch.“

Er reichte ihr eine Orangenlimonade. Schüchtern nahm sie das Getränk entgegen. Großzügig war der alte Abenteurer schon immer, war nie verheiratet und lebte scheinbar nur für seine geistlichen Studien und sein Geschäft. Hiraya traute sich nie, ihn wegen seinem Junggesellenleben nach den Gründen zu fragen, obwohl sie ihm sehr persönliche Dinge offenbaren konnte. Der alte Markthändler schwatzte Anvertrautes nie weiter und auch auf dem Wochenmarkt galt er als ungewöhnlich ehrlicher Mann, was untrüglich auf seine Gottesfurcht hindeutete. Auch den Touristen aus anderen Ländern nannte er nie einen höheren Preis für seine Werkzeuge als den eigenen Leuten, was viele nicht verstanden.

„Hast du was auf dem Herzen, Kind?“

„Schon…“

„Rück raus damit, Sonnenschein.“

„Kennst du Ate Dolores, die bei uns arbeitet?“

„Eure Dolores?“

Der alte Mann bewegte seinen Mund sanft hin und her. Er dachte nach, grübelte förmlich. Hiraya begriff, dass er am Überlegen war, wie er wohl Pikantes am leichtesten zum Ausdruck bringen könnte.

„Sie ist nicht von hier, kommt aus dem Norden. Mindoro, denke ich. Ich hörte zudem, dass sie auf Boracay gearbeitet haben soll. Warum fragst du?“

„Ich weiß nicht. Sie ist komisch…, sorry.“

„Warum komisch?“

„Die kleidet sich so ‚Mini‘ und flirtet, finde ich.“

Die Augensprache des alten Mannes erschien ihr gerade so, als würde er Verständnis für ihre Fragerei und Vorsicht gleichsam ausdrücken wollen.

„Musst dich nicht schämen, weil du fragst. Ich kann ja auch beobachten, wenn sie hier ist.“

„Ate Imelda schreibt auf, was sie einkaufen soll. Und?“

Edwin beugte sich vor, weil er darüber, was er im Sinn hatte, nicht laut hörbar reden wollte.

„Hör mal, du bist ja noch Jungfrau, du verstehst?“

Edwins Augenbrauen zuckten nach oben. Er schielte hinüber zu einem der Marktstände, wo drei Männer Fische und Garnelen feilboten.

„Man munkelt so… Mit Raymundo hatte sie schon ein Techtelmechtel und bei seinem Bruder, ach…, weißt du, Kind. Darüber rede ich besser nicht.“

„Nein! Ich muss das wissen.“

„Nicht so laut. Er hat sich beim Rum saufen verplappert. Was soll man machen. Deine Familie hat sie eingestellt. Ich sage nur, was ich weiß. Eure Dolores scheint jedenfalls sehr liberal zu sein, was One-Night-Stands betrifft.“

Edwin sah, wie ernst das Mädchen schaute und forderte sie auf, ihre Limonade zu trinken. Was die Liebe bei ihr so machen würde, wollte er wissen. Hiraya grinste verschämt und lenkte auf eines ihrer Lieblingsthemen um. Sie hätte wieder ein Handy-Video mit einer Mega-Tinikling-Gruppe gesehen, die aus sechszehn Tänzern bestand. Acht Paare waren es gewesen, in bunten Kostümen mit ‚Butterfly-Sleeves‘ gekleidet die Mädchen und in Barongs die jungen Männer. Die Bambusstangen waren vier Meter lang und diese Gruppe zeigte akrobatische Tanzeinlagen dabei. Sie waren in Osaka aufgetreten, wo dieses Video entstand.

„Meinst du, Kuya, ich könnte es auch so weit bringen?“

„Ohne professionellen Lehrer nie. Wenn du die Heilige Schrift richtig verstehen möchtest, brauchst du den Geist Gottes doch auch. Für alles braucht man einen Lehrer.“

„Gott kann ich aber immer fragen, wenn ich bete. Er hört mich überall. Aber wo finde ich einen Tinikling-Lehrer? Doch nicht in unserem Provinznest.“

„Du bist klug, Sonnenschein.“

Edwin konnte dazu nur seufzen. Wäre für dieses Mädchen in ihrer schmetterlingshaften Jugendblüte die Hauptstadt vielleicht eine Option?

„Ich bin doch schon 18. Die Zeit läuft mir einfach davon. Die Tänzerinnen in dem Video waren zwischen 19 und 25 Jahre alt.“

„Ist das wirklich was Vernünftiges?“

Edwin streichelte der jungen Frau übers Haar. Verstehen konnte er diese enthusiastische Seele ja, nur vom Tanzen hatte er keinen Schimmer.

„Mach dein College ordentlich fertig.“

„Vielleicht.“

„Tanzen bringt doch nichts ein.“

Hiraya wollte protestieren, hielt sich aber doch zurück. Der alte Edwin hatte sicher recht. Ein Bürojob am Computer würde ihr immerhin gefallen, in Iloilo oder Roxas City. Eine Freundin machte einen Kurs im Bankwesen und plauderte schon mit ihr darüber. Sie hätte Beziehungen und einen netten Direktor als Chef in dieser Bankfiliale der ‚Banco la Isla‘, der eine kluge und höfliche Mitarbeiterin schätzen würde. Hiraya mit ihrem hübschen Gesicht, welches fein längliche, dunkelbraune Augen krönten und ihr natürlich unschuldiges Lächeln wären am Schalter im Umgang mit den Kunden von Vorteil. „Das verfluchte Geld, damit soll ich jeden Tag zu tun haben?“, dachte sie sich und reagierte auf die Jobofferte ihrer Freundin nicht weiter. Bankgeschäfte waren Hiraya zu unkreativ, doch vernünftig wäre ein solcher ‚White Color’ Job schon. Vielleicht könnte sie auch Markthändlerin werden. Leider fehlte dem Mädchen dafür der geschäftsmäßige Biss.

„Magst du nicht Lehrerin werden? Du verdienst dir doch schon etwas nebenbei mit deinen Nachhilfestunden. Sag mal, sind manche Kinder wirklich zu blöd, das Tagalog zu lernen?“

Hiraya zuckte mit den Schultern, während sie am Strohhalm ihrer Limonadenflasche nuckelte. Sie wusste, dass manche Eltern keinen Wert auf die vereinigende Sprache auf den Inseln legten und an ihrem Mutterdialekt festhielten. Kamen dann die Lektionen in Tagalog auf den Tisch, machten manche in der Hoffnung mit, einmal in der Hauptstadt zurechtzukommen. Andere gaben sich faul und mochten sich lieber mit ihren Games auf dem Handy vergnügen, bis der Tag der Prüfungsklausuren nahe war und die Eltern ganz schüchtern bei Hiraya um Nachhilfestunden bettelten. Hiraya liebte eben das Tagalog, hatte José Rizal gelesen und einige Klassiker europäischer Literatur in Englisch. Während Kezia jeden Tag auf den Feldern buckelte und ihre Rolle auf der Farm mustergültig erfüllen wollte, saß Hiraya lieber mit ihren Büchern auf dem Bett und las bis tief in die Nacht. Edwin fand deshalb, dass viele das Mädchen unterschätzten, nur weil sie in hüpfenden Träumen Trost finden wollte und ein für die meisten Menschen ungewöhnliches Ziel vor Augen hatte.

„In die Bank möchtest du ja nicht.“

„Ist nichts für mich.“

„Dabei kannst du sicher gut mit Geld umgehen, wie deine liebe Mutter. Entschuldige…, Ach, Henrietta…“

Tränen begannen über das Gesicht des alten Mannes zu laufen. Hiraya konnte sich nun nicht mehr beherrschen. Sie drückte das hastig hervorgeholte Taschentuch auf ihre nassen Augen. Einige Leute blieben andächtig stehen oder schauten beschämt auf die beiden.

„Entschuldige, Hiraya. Mädchen, verzeih mir.“

Hiraya begann laut zu schluchzen, während ihr ganzer Körper anfing zu zittern. Ihr waren diese ganzen herumstehenden Glotzer egal. Zwei Hände hatten sich von hinten genähert und umschlossen ihre Schultern.

„Hallo Remedios.“

„Na? Ist es wegen ihrer Mutter?“

„ Ja, ich habe es ungeschickt erwähnt.“

„Kind, ich bin bei dir.“

Der alte Mann war erleichtert, dass Frau Remedios de los Reyes, Geschäftsfrau mit einem Laden auf der Hauptstraße, just in dem Moment vorbeikam. Sie war eine gute Freundin von Hirayas Mutter und besuchte sie regelmäßig bis zuletzt. Auch an jenem Tag, als sie ihr Leben aushauchte, machte sich Señora Remedios eilig auf den Weg zur Farm, kam aber zwei Stunden zu spät und konnte nur noch auf den leblosen Körper unter einem weißen Laken blicken. Sie half dann der zusammengebrochenen Kezia wieder auf die Beine, was ihre beste Tat jenes Tages war.

Hiraya wimmerte bei jedem Atemstoß, dabei wollten die Tränentropfen nicht aufhören, an ihren hübschen Wangen hinunterzulaufen, um am Kinn kurz innezuhalten, bevor sie zu Boden fielen.

„Weine nur, Kind. Es ist alles gut.“

Stotternd schaffte Hiraya es, ein ‚Danke, Ate Remedios.‘ von sich zu geben und nach einigen Minuten konnte sie sich beruhigen.

Beschämt blickte sie nun umher. Die meisten Leute hatten sich wieder abgewandt und taten so, als wäre nichts geschehen. Die letzten Züge am Strohhalm waren es noch, dann stand sie auf und legte ihre Taschen auf die Schulter.

„Alles okay, Kind?“

„Ich muss nach Hause. Das Fleisch.“

„Auf Wiedersehen, kleiner Sonnenschein.“

Konfrontation der feinen Art

Hiraya ließ es sich nicht nehmen, selbst beim Zubereiten des Schweinefleisches Hand anzulegen. Gegrillt werden sollte es, nachdem es zwei Stunden in der Würzmarinade lag. Dolores würde dieses Gericht, welches ihr Vater immer gerne aß, nie zustande bringen. Auch wenn Hiraya seltener in der Küche war, galt sie in der Verwandtschaft als mustergültige Köchin. Kochen machte Hiraya Spaß, wenn sie die Möglichkeit dazu hatte, und heute wollte sie es ganz besonders gut für ihren Daddy machen. Doch das Video mit dieser international auftretenden Tinikling-Gruppe ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Nicht nur deshalb war sie wieder gut gestimmt und ertrug Dolores´ Anwesenheit. Sie fühlte Energie genug zu fragen, um etwas aus ihr herausquetschen zu können. Im Augenwinkel beobachtete Hiraya ihre Bewegungen wie eine Katze beim Anschleichen an eine graubehaarte Beute. Mittlerweile beherrschte sie die richtige Taktik beim Reiskochen. Dreimal hatte sie ihn am Anfang anbrennen lassen, was Imelda an den Rand des Wahnsinns brachte. Hiraya fragte sich, ob sie überhaupt eine echte Filipina sei oder in einem Haushalt mit Köchen aufgewachsen war, die ihr verboten hatten, den Reis zuzubereiten. Keine Frau mit grundlegender Bildung würde ihn hierzulande anbrennen lassen.

Während Hiraya die Holzkohle befeuerte und auf die richtige Glut wartete, schnappte sie immer wieder ihre Bewegungen auf, wie sie den heißen Topf vom Herd nahm und dabei verträumt aus dem Fenster blickte.

„Willst du nicht den Tisch decken?“

Dolores schreckte aus ihrem melancholisch wirkenden Zustand hoch und lächelte Hiraya an wie ein ertapptes Schulmädchen. Mit perfekt gespielter Eifrigkeit hob sie den Tellerstapel aus weißem Porzellan aus dem Küchenschrank. Tatsächlich hatte sie in ihren dünnen Armen Kraft dazu. Hiraya musste innerlich lachen und erinnerte sich dabei an eine Szene vor ein paar Tagen, als Dolores es tatsächlich schaffen wollte, mit der Machete Feuerholz zu schlagen und nach einigen kaum treffsicheren Hieben schulterzuckend aufgab. Danach setzte sie ihre Weiblichkeit zielsicher ein und beturtelte einen der Farmarbeiter mit schmachtenden Bitten und leichten Hüftschwüngen, was den jungen Mann zu eifriger Tat anspornte. Damals fühlte Hiraya Abneigung, als sie das sah, nun lachte sie darüber. Wahrscheinlich merkte diese Frau gar nicht, was ihre Art bei den Kerlen auslöste oder sie wusste es mit jeder Pore ihrer Haut, weil es ihr gefiel.

Hiraya konnte die Stücke des marinierten Fleisches endlich auf den heißen Rost legen und freute sich, besonders als sie ihren Vater vor dem Haus vorbeigehen sah, der sie durch die Lamellen der Fenster erblickte.

„Daddy, es gibt dein Lieblingsgericht.“

Freudestrahlend nickte Hiraya ihm zu und hob mit der Gabel eines der marinierten Filetstücke in die Höhe. Sie erntete ein feines Lächeln. In den letzten Tagen hatte er häufig gelacht und war in seinem Tatendrang immer befreiter geworden. Mit einem Korb voller Früchte betrat er die Küche. Drei dicke Ananas, eine stattliche Anzahl Calamansi und eine Staude Bananen, die in ihrer Reife im Licht glänzten. Er umarmte seine Hiraya und schenkte ihr einen Kuss auf die Wange. Genüsslich beobachtete Roberto ihre Handbewegungen am Grillfeuer. Die Rauchschwaden vermischten sich mit dem Duft der Marinade und ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.

„Dauert noch ein bisschen, Daddy.“

Leise und mit sichtbar beschwingter Miene kam Dolores wieder in die Küche getrippelt und kicherte, als sie den vollen Früchtekorb erblickte.

„Meine Ananas. Danke Roberto.“

Roberto lächelte ihr zart entgegen. Hiraya sah alles im Augenwinkel. Dieses Lächeln im Gesicht ihres Vaters hatte etwas subtil Zärtliches an sich. Hiraya gehörte zu den sensiblen Inselblütencharakteren mit einer unglaublichen Auffassungsgabe, ganz im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, widmete sie sich weiter dem Zubereiten der gegrillten Leckereien und dabei kribbelte es in ihr, während ihr Herz heftig schlug.

Das Gerede zwischen ihrem Vater und Dolores erschien ihr wie ein unbeherrschtes Herumalbern. Dolores bedankte sich dreimal für die mitgebrachten Ananasfrüchte, wobei sie immer überschwänglicher wurde und mit den Fingern an ihren Hüften herunterstreichelte, um den kurzen Rock glattzuziehen. Dass schon eine ungebührliche Vertrautheit zwischen den beiden herrschte, war daran zu erkennen, dass sie nicht einmal ‚Senor‘ oder ‚Kuya‘ zu ihm sagte. Hiraya musste etwas tun, nur nicht jetzt. Ihren Vater zur Rede zu stellen würde als Nesthäkchen nicht leicht werden. Wenn nur Kezia endlich mal die Augen aufmachen würde. Mit ihrer Schwester als Verbündete könnte sie eine Dreier-Allianz zusammen mit Imelda bilden, um diese kecke Hüftenschwingerin vom Hof zu bekommen.

„Wie klappt es denn mit der Arbeit? So ohne Imelda.“

„Kein Problem, Roberto. Schau mal, was ich für dich gekocht habe.“

Fröhlich kopfnickend glotzte Roberto in den Topf, in dem eine mit Kokosmilch versetzte, bunte Gemüsemischung vor sich hin dampfte. Hiraya, mit zusammengepresstem Mund, dachte sich, dass der Rettich bestimmt noch zu hart und die Karotten schon längst vor Weichheit am Zerfallen waren. Timing war nicht die Stärke dieser Frau, aber was noch nicht ist, konnte ja noch werden.

Verräterisch langsam ging sie mit dem Topf an ihrem Vater vorbei. Wie ein Aal streifte sie dabei mit ihrem Hintern an seiner Hüfte. Hirayas entsetzt wirkende Augen verfolgten sie mit schneidendem Blick, bis sie durch die Tür im Speisezimmer verschwunden war. Und die neue Haushälterin hatte unmissverständlich erkannt, was diese Blicke bedeuteten. Hiraya biss sich auf die Zunge und konnte sich kaum beherrschen. Sie wollte den Abend nicht verderben und lieber eine passende Gelegenheit suchen, um ihre Schwester mit ins Boot zu holen.

Eine seit Henriettas Beerdigung erstmals ungewohnt lebendige Stimmung erfüllte den ganzen Abend am Tisch. Alle plauderten miteinander, tranken kleine Gläser Rum und nur das Weinen von Baby Jane unterbrach die winzige Familienparty für ein paar kurze Momente. Sie bekam ihre Portion an Mamas Brust und schlief wieder ein. Die Zunge lockerte sich mit fortschreitender Stunde und Kezia platzte mit der Botschaft heraus, dass sie wieder ein Kind erwarten würde. Ihr Gerald glotzte erst wie ein vom Lehrer beim Abschreiben überraschter Schuljunge, um danach mit japsenden Freudenschreien seine Kezia mit Lobeshymnen zu überhäufen und sie durch seine Umarmungen beinahe zu erdrücken.

Hiraya beobachtete mit zusammengezogenen Augen jede Geste von Dolores, die auffällig viel trank und forscher mit ihren Gesprächsthemen wurde, bis es Hiraya darauf ankommen ließ.

„Ate Dolores, ich möchte etwas von dir wissen.“

„Natürlich, meine Kleine.“

„Ich bin nicht deine ‚Kleine‘.“

Dolores hatte den Tritt ins Fettnäpfchen sofort kapiert, schluckte und drehte ihren Kopf schielend zu Roberto.

„Entschuldige, Inday.“

„Wo hast du überhaupt gearbeitet, bevor du hierhergekommen bist?“

„Ich war vier Jahre auf Boracay.“

„Toll. Und welche Arbeit? Gibt doch Unmenge Touristen auf Boracay. Hotelbranche? Warst du in einem Haushalt?“

„Nein.“

Sie wollte augenscheinlich nicht mit der Sprache rausrücken, begann vom Trubel und den Reisenden auf der Insel zu erzählen und erwähnte dabei eine Live-Band, die immer in einer Strandbar aufgetreten sei. Hirayas Augen ließen sie keine Sekunde los und Dolores hatte keinen Mut mehr, noch einen Schluck aus dem Rumglas zu nehmen.

„Du magst Musik?“

„Du doch auch. Wenn ich dich immer mit deinem Kopfhörer sehe.“

„Du hast in einer Bar gearbeitet, stimmt´s?“

„Hiraya! Frag nicht so viel.“

Sie blickte ihrem Vater an, dem diese Konversation peinlich wurde, und lächelte dabei so unglaublich süß. Auch Kezia wurde jetzt nervös.

„Kind, in einer Bar zu arbeiten ist nichts Schlechtes.“

„Kommt doch drauf an, in welcher Abteilung man arbeitet. In der Küche? Am Tresen? Beim Tische putzen? Oder vielleicht in einem rosafarbenen Zimmer im ersten Stock?“

Dolores zog die Augen zusammen und bemühte sich, ihr Lächeln nicht zu verlieren.

„Da hast du absolut recht, Hiraya. Es kommt darauf an, wo ich gearbeitet habe.“

Kezia wollte Hiraya das Wort verbieten, doch Dolores griff an ihren Arm, lächelte breit und fokussierte das Mädchen mit einem Blick, der manch anderen zum Frieren gebracht hätte.

„Weißt du, Inday, ich muss nicht das Geringste vor dir verbergen. Ich war nämlich Barkeeperin und arbeitete am Frühstücksbuffet.“

„Talaga? Man konnte dort auch frühstücken?“

„Es gab die besten Spiegeleier mit ‚Chicken Tosino‘ bei uns. Versprochen.“

„Klasse, Ate Dolores. Ist bestimmt schade, dass du die Arbeit nicht mehr hast. Lag wohl an deinen Spiegeleiern.“

„Hiraya! Genug jetzt!“

„Es ist schon okay, Inday Kezia.“

Dolores lächelte steif und zeigte eine bemerkenswerte Haltung. Doch innerlich hatte sie einen Balisong-Dolch gezückt und hätte ihn Hiraya am liebsten an den frechen Hals gehalten. Hiraya wurde mit vorwurfsvollen Blicken geradezu bombardiert, doch besonders ihr Vater schwieg betreten. Seine Unsicherheit war für das Mädchen schon ein Indiz, dass er für seine Haushälterin bereits mehr empfand als angebrachte Freundlichkeit. Er konnte seine Tochter nicht vor allen scharf zurechtweisen, denn damit wäre die Beweislage noch eindeutiger gewesen.

„Ich wollte etwas anderes machen. War eben stressig jeden Tag mit all den Gästen. Diese Touristen sind nicht immer einfach, besonders spät abends mussten wir auf Hochtouren arbeiten, bis manche von denen besoffen in ihre Hotels wackelten.“

„Na dann freust du sich sicher, bei uns zu arbeiten, Ate Dolores. Hast ja immer pünktlich Feierabend.“

Kezia reichte es. Sie übernahm die Konversation, drehte das Thema um und schielte immer wieder wachsam wie ein Luchs zu ihrer kleinen Schwester, die den Rest des Abends ruhig blieb, an den schon kalten Speckstücken knabberte und Dolores immer wieder grinsend beobachtete.

Verhärtete Fronten

„Hiraya! Was sollte das gestern?“

„Tita, diese Frau ist eine Schlange!“

„Wie kannst du das sagen? Rede!“

„Sie tänzelt um Tatay herum, kann nur mies kochen und säuft. Wach auf!“

Kezia verschränkte die Arme und musterte Hirayas flehenden Gesichtsausdruck.

„Was heißt, sie macht sich an Vater heran?“

„Ich sehe das.“

„Du bist zu empfindlich. Sie ist eben etwas lustiger. Und für Vater sind Menschen, die fröhlich sind, jetzt wichtig.“