Das (un)soziale Gehirn (Wissen & Leben) - Manfred Spitzer - E-Book

Das (un)soziale Gehirn (Wissen & Leben) E-Book

Manfred Spitzer

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Beschreibung

Ein Titel aus der Reihe Wissen & Leben Herausgegeben von Wulf Bertram Soziale Neurowissenschaft für Einsteiger In ihren Anfängen untersuchte die Neurowissenschaft Töne und Lichtflecken, mittlerweile ist sie den Kinderschuhen entwachsen und widmet sich komplexen Phänomenen. Vor allem das menschliche Miteinander rückt immer mehr in den Fokus des Interesses. Manfred Spitzer gibt in diesem Buch verblüffende Einblicke in die noch junge Disziplin der sozialen Neurowissenschaft. Was läuft in unserem Gehirn ab, wenn wir mit anderen kommunizieren? Was macht die Gemeinschaft mit unseren Erinnerungen? Warum finden Babys es toll, wenn man sie imitiert? Kann man das Improvisieren üben? Außerdem macht er sich Gedanken darüber, warum Bildung System braucht, aber keine Computer, wie man aus der Geschichte lernen kann (und wieso das gar nicht jeder will) und inwiefern uns Macht für Korruption anfällig macht. Benutzen Sie Ihr Gehirn nicht nur, verstehen Sie es auch!

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Seitenzahl: 312

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Manfred Spitzer

Das (un)soziale Gehirn

Wie wir imitieren, kommunizieren und korrumpieren

Prof. Dr. Dr. Manfred SpitzerUniversität UlmPsychiatrische KlinikLeimgrubenweg 12–1489075 Ulm

 

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besonderer Hinweis:In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.Das Werk mit allen seinen Teilen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden.

© 2013 by Schattauer GmbH, Hölderlinstraße 3, 70174 Stuttgart, GermanyE-Mail: [email protected]: www.schattauer.dePrinted in Germany

Umschlagabbildung: Pieter Breughel d. Ä., „Kinderspiele“, 1560.Umschlaggestaltung: Medienfabrik, StuttgartSatz: am-productions GmbH, WieslochDruck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten/Allgäu

ISBN 978-3-7945-2918-6

herausgegeben von Wulf Bertram

Vorwort

Auch die vorliegende 14. Sammlung meiner Beiträge zur Zeitschrift für Nervenheilkunde aus dem Jahr 2012 beschäftigt sich mit „Vermischtem und Versprengtem, aber immer Interessantem, aus den Gebieten Neurowissenschaft, Psychiatrie und Psychologie sowie den darum herum liegenden Nachbardisziplinen wie Soziologie, Anthropologie, Pädagogik oder Philosophie“. Dies hätte der eigentliche einheitliche Titel aller bisherigen Bücher sein können, und man hätte sich dann keine Gedanken mehr machen müssen. In der Tat denke ich jedes Jahr neu über einen Titel nach, der nachdenklich macht oder zumindest neugierig, und so kamen dann Bücher wie Ketchup und das kollektive Unbewusste, Liebesbriefe und Einkaufszentren oder Nichtstun, Flirten, Küssen zustande. Aus keinem dieser Bücher wurde je ein Bestseller, weil die Beiträge für Kollegen, Ärzte und Psychologen, geschrieben sind und daher zuweilen für den Laien nicht ganz einfach zu lesen sind. Dennoch erfreuen sich meine „kleinen Büchlein“, wie ich sie gerne nenne, einer zunehmenden Leserschaft aus interessierten Menschen, die es durch sie etwas leichter haben, an interessante Storys aus der (Neuro-)Wissenschaft zu gelangen. Weil diese Storys zwar grundverschieden und meist ganz aktuell aus dem jeweiligen Jahr sind, das Konzept der Bücher aber immer dasselbe ist, kann man am unterschiedlichen Erfolg der Bücher wohl ablesen, wie gut ihr Titel jeweils beim Publikum ankam. Hier eröffnet sich nach Meinung meines Freundes und Verlegers Dr. Wulf Bertram ein interessantes interdisziplinäres Forschungsfeld zur Attraktivität von Büchertiteln.

Der diesjährige Titel bringt zum Ausdruck, dass sich der Schwerpunkt meines Interesses im Grunde immer mehr zu Fragen unseres Miteinanders verlagert hat. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe: Man könnte zunächst ja vermuten, es handele sich hierbei um eine Art „Alterseffekt“: So wie jeder Nobelpreisträger – egal ob in der Physik oder der Chemie – sich irgendwann mit der Frage des Bewusstseins auseinandersetzt, so wenden sich auch viele zunächst rein experimentell arbeitende Psychologen im Alter gern den „großen Fragen“ zu. Wilhelm Wundt etwa oder Carl-Gustav Jung begannen als knallharte Experimentatoren und endeten mit der Völkerpsychologie einerseits sowie dem Ursprung von Mythen und Märchen andererseits. Bevor Sie, geneigter Leser also denken „jetzt hat es also auch den Spitzer erwischt“, möchte ich Sie beruhigen: Erstens spiele ich nicht in dieser Liga und zweitens hat mich der klinische Alltag fest in der Hand, jeden Tag, sodass mir zum „Abheben“ schlicht die Zeit fehlt.

Nein, die Gründe für mein großes Interesse am sozialen Gehirn (d.h. den Modulen des Gehirns, die vor allem mit Sozialverhalten beschäftigt sind) sind ganz handfest und systematischer Natur: Zum einen liegt das an den methodischen Fortschritten der Neurowissenschaften, die es erlauben, ganz neue Phänomene in den Blick zu nehmen. Beispielhaft hierfür steht Kapitel 4, das menschlicher Kommunikation auf eine Weise nachgeht, die neu und sehr fruchtbringend ist. Ganz ähnlich auch Kapitel 3, das Imitation und (gemeinsame) Improvisation auf neue Weise untersucht. Dass sich aus solchen Studien neue Zugänge zu alten Sachverhalten eröffnen, zeigen die Kapitel 1 und 2, gab es doch bislang kaum Verbindungen zwischen Gehirnforschung und Politik (Kap. 1) bzw. öffentlichen Institutionen wie dem Kiosk (Kap. 2). Dass man Korruption überhaupt schon experimentell untersucht hat (Kap. 5), war mir selbst neu, obgleich die Möglichkeit dazu schon seit 2007 gegeben gewesen wäre, denn schon damals hatten wir den Konflikt zwischen Normeinhaltung und egoistischem Verhalten im Magnetresonanztomografen (MRT) abgebildet.

Aber nicht nur methodische Fortschritte treiben unsere Suche nach neurobiologischen Korrelaten sozialer Phänomene an. Ganz praktisch erleben wir derzeit weitreichende Veränderungen unseres Sozialverhaltens, die wir reflektieren und kritisch hinterfragen müssen, sofern wir ihren negativen Auswirkungen Einhalt gebieten wollen (Kap. 6, 7). Wenn Mädchen zwischen 8 und 12 Jahren nur noch zwei Stunden täglich mit ihresgleichen realen Kontakt haben, zugleich jedoch sieben Stunden im Internet vor allem in online sozialen Netzwerken verbringen, muss man sich um sie Gedanken machen. Zumal wir wissen, dass auch das soziale Gehirn mit seinen Aufgaben wächst und dass im Internet mehr Kriminalität wohnt als irgendwo anders auf der (realen) Welt.

Hinzu kommt die Einsicht, dass unser Sozialverhalten nicht vom Himmel gefallen ist, sondern ein Produkt der Evolution darstellt, was nicht nur erklärt, warum Einsamkeit weh tut (Kap. 8), sondern auch unser Verständnis der sozialen Auswirkungen mancher Hormone deutlich – und nicht nur um angenehme Erkenntnisse – erweitert, wie Kapitel 9 über neue Befunde zu Oxytocin zeigt. Auch am Beispiel der Bildung (Kap. 10) lässt sich zeigen, wie wenig neurobiologisch informiert unsere Versuche sind, aus ungebildeten kleinen Menschen gebildete große Menschen zu machen. Selbst das Lesen und Schreiben (Kap. 17) versteht man besser, wenn man das Gehirn versteht, das sich gerade nach sehr neuen Erkenntnissen zur Plastizität der Gehirnrinde (Kap. 18) durch seine Benutzung dauernd messbar ändert. Versteht man die zugrunde liegenden Mechanismen besser, hat dies sogar unmittelbare Auswirkungen auf den zeitlichen Ablauf psychotherapeutischer Prozesse (Kap. 19), bei denen es sich ja auch um Lernprozesse handelt. Und selbst diejenigen, die sicherlich zu den Gebildetsten gehören (Richter), brauchen genügend Zucker im Blut, damit ihr Frontalhirn das leisten kann, wofür sie bezahlt werden: vernünftige und gerechte Entscheidungen fällen (Kap. 11). Das Beispiel zeigt, wie wichtig ganz banale biologische Determinanten für unser Denken sein können.

Vor diesem Hintergrund der Neurobiologie sozialer, kognitiver und affektiver Phänomene wundert es nicht, dass ich mich im Jahr 2012 wieder einmal sehr den Auswirkungen des ständig weiter steigenden Medienkonsums gewidmet habe. So stehen u.a. die Kapitel 12 bis 16 mit meinem Buch Digitale Demenz in direkter Verbindung und belegen die praktische Bedeutung der modernen Neurobiologie. Wenn unser Gehirn sich dauernd nach Maßgabe der Erfahrungen, die wir dank seiner Funktion machen, ändert, dann können 6 bis 8 Stunden Medienkonsum bei jungen Menschen eines nicht haben: keine Auswirkungen auf deren Gehirne. Wie gut diese Auswirkungen dank der Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft, der experimentellen Psychologie und der empirischen Bildungsforschung heute bereits verstanden sind und wie sehr diese Erkenntnisse in einer klaren Sicht stark negativer Auswirkungen konvergieren, zeigt das Buch und die Kapitel hier, die durchaus als Einstieg in die Problematik dienen können.

Dass sich mittlerweile sogar die so technikbegeisterten Chinesen über die negativen kognitiven Auswirkungen der Benutzung von Smartphones beklagen (Tan et al. 2012), dass man aus Thailand hört, wie die wie Pilze aus dem Boden schießenden Internetcafés die dortige Jahrhunderte alte Kultur der Freundlichkeit und der gegenseitigen Hilfsbereitschaft innerhalb weniger Jahre völlig zerstören, wenn aus Schweden über das unaufhaltsame Vordringen digitaler Medien in Klassenzimmer (mit nachfolgend schlechteren Schulleistungen) und aus den USA über eine seit Jahren zurückgehende Lebenserwartung berichtet wird (Woolfe et al. 2013), – dann zeigt dies, dass hier ein globales Problem vorliegt, das bislang noch kaum als solches erkannt wurde. Es ist zu hoffen, dass sich dies bald ändert.

Wie jedes Jahr möchte ich meinen Mitarbeitern in Ulm und den Mitarbeitern des Schattauer Verlags herzlich für ihre Hilfe danken: den Verlegern Dieter Bergemann und Dr. Wulf Bertram, Frau Dr. Borchers, Frau Becker, Frau Dr. Brummer, Frau Ferreau, Frau Trögele, Frau Sommer, Frau Heyny und Frau Billmann. Sie alle tragen dazu bei, dass jedes Jahr wieder ein neues Büchlein das Licht der Welt erblickt.

Ich habe mit meinen Büchern immer die Tradition beibehalten, sie Mitmenschen zu widmen, die in meinem Leben eine große Rolle gespielt haben bzw. spielen. Wie könnte ich da bei einem Buch über soziale Neurowissenschaft anders, als das Buch meinem unmittelbaren sozialen Umfeld zu widmen. Das ist in meinem Fall nicht ein Kirchenchor oder Kegelclub, sondern vielmehr meine Mitarbeiter in der Klinik und am Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Ihnen ist das Buch daher gewidmet.

 

Ulm, zwischen den Jahren, 2012Manfred Spitzer

Literatur

Spitzer M, Fischbacher U, Herrnberger B, Grön G, Fehr E. The neural signature of social norm compliance. Neuron 2007; 56: 185–96.

Spitzer M. Digitale Demenz. München: Droemer 2012.

Tan LH, Xu M, Chang CQ, Siok WT. China's language input system in the digital age affects children's reading development. PNAS 2012; doi/10.1073/pnas.1213586110.

Woolfe SH & Panel on Understanding Cross-National Health Differences among High-Income Countries. U.S. Health in International Perspective: Shorter Lives, Poorer Health. Washington, DC: National Academies Press 2013; http://www.nap.edu.

Inhalt

1    Das politische Gehirn

2    Der Kiosk: historisch, systematisch – und neurobiologisch?

3    Imitieren und/oder Improvisieren (?)

Gemeinsam mehr Freude und Effektivität

4    Kommunikation

Sprecher, Zuhörer und deren Gehirne

5    Korrupt ist fast jeder – mehr oder weniger

6    Groß in Facebook, klein im Gehirn? Gehirnforschung zu sozialen Netzwerken

7    Big Brother und Cybercrime

8    Soziale Schmerzen

Warum sie auch weh tun und was daraus folgt

9    Oxytocin – die dunkle Seite des Kuschelhormons

10  Bildung ohne System

11  Frontalhirn und Fernsehen, Richter und Zucker &.

12  Prolog: Digitale Medien – Risiken und

  Nebenwirkungen

13  Digitale Demenz

14  Digitale Demenz 2.0

  Argumente zu Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik

15  E-Bücher statt Lehrbücher?

  Selbst „digitale Eingeborene“ bevorzugen Papier

16  Das Pedoskop: Aus der Geschichte kann man

  lernen!

17  Lesen und Schreiben

18  Vom Geigen zum Physikum

  Kortikale Plastizität beim Menschen: ein Update

19  Gedächtnisspuren löschen?

  Auf das Timing kommt es an!

Sachverzeichnis

Ebenfalls von Manfred Spitzer sind in der Reihe„Wissen & Leben“ erhältlich:

Manfred Spitzer:Aufklärung 2.0 – Gehirnforschung als Selbsterkenntnis

Manfred Spitzer:Dopamin & Käsekuchen – Hirnforschung à la carte

Manfred Spitzer:Nichtstun, Flirten, Küssen – und andere Leistungen des Gehirns

Manfred Spitzer und Wulf Bertram:Hirnforschung für Neu(ro)gierige – Braintertainment 2.0

Eine Übersicht aller in der Reihe erschienenen Titel finden Sie im Internet unter www.schattauer.de/wissenundleben.html.

Zum Herausgeber von „Wissen & Leben“:

Wulf Bertram, Dipl.-Psych. Dr. med., geb. in Soest/Westfalen. Studium der Psychologie und Soziologie in Hamburg. War nach einer Vorlesung über Neurophysiologie von der Hirnforschung so fasziniert, dass er spontan zusätzlich ein Medizinstudium begann. Zunächst Klinischer Psychologe im Univ.-Krankenhaus Hamburg-Eppendorf, nach dem Staatsexamen und der Promotion in Medizin psychiatrischer Assistenzarzt in der Provinz Arezzo/Italien und in Kaufbeuren. 1985 Lektor für medizinische Lehrbücher in einem Münchener Fachverlag, ab 1988 wissenschaftlicher Leiter des Schattauer Verlags, seit 1992 dessen verlegerischer Geschäftsführer. Ist überzeugt, dass Lernen ein Minimum an Spaß machen muss, wenn es effektiv sein soll. Aus dieser Einsicht gründete er 2009 auch die Taschenbuchreihe „Wissen & Leben“, in der wissenschaftlich renommierte Autoren anspruchsvolle Themen auf unterhaltsame Weise präsentieren. Bertram hat eine Ausbildung in Gesprächs- und Verhaltenstherapie sowie in Tiefenpsychologischer Psychotherapie und ist neben seiner Verlagstätigkeit als Psychotherapeut und Coach in eigener Praxis tätig

2 Der Kiosk: historisch, systematisch – und neurobiologisch?

Ein Kiosk ist zunächst einmal ein kleiner Laden, ein Verkaufshäuschen, das man auf öffentlichen Straßen und Plätzen findet und das unserer Aufmerksamkeit in aller Regel entgeht. Nur wer ohne Zigaretten vor der verschlossenen Bude steht, bemerkt seine Abhängigkeit von diesen kleinen Mini-Versorgungsstationen, die sich vor allem in Städten bzw. Ballungsgebieten finden, d. h. überall dort, wo viele Menschen in Bewegung sind. Aufgrund der oft eher leichten und provisorisch wirkenden Bauweise hat man den Kiosk auch als Straßenmöbel bezeichnet (4), was zudem andeutet, dass seine Größe eher dem menschlichen Maß entspricht. In Ulm gibt es nur wenige Kioske (Abb. 2-1), in Berlin sollen es dagegen über tausend sein.

Abb. 2-1 Einer der wenigen Kioske in Ulm (Foto: privat).

In historischer Hinsicht ist es gar nicht so einfach, den Wurzeln des Kiosks bis in die letzten Verästelungen nachzugehen. Denn je nachdem, ob man dem Namen (Kiosk), der Funktion (Verkaufshäuschen) oder der Architektur (kleines einfaches einstöckiges Gebäude im öffentlichen Raum) nachgeht, ändern sich die Richtungen des Erkenntnisinteresses und der Kontext von Raum und Zeit. Kleine Gebäude mit Säulen und Baldachin gab es im alten Ägypten. Sie dienten dem Sonnenschutz und sind bis heute auf Abbildungen mancher Pharaonen als Umfeld zu sehen (Abb. 2-2), trugen jedoch die Bezeichnung „Naos“.

Abb. 2-2 Tutenchamun „im Kiosk“ (um 1330 v. Chr.), wie man heute sagen würde und im Britischen Museum in London auch tatsächlich sagt (5).

Pavillons aus Holz und manchmal auch aus Stein waren Teil der islamischen Kultur, dienten in Gärten als Sonnenschutz und auf öffentlichen Plätzen als „Wasserhäuschen“. Um 1730 gab es in Istanbul 120 Kioske. Die Wurzeln der Architektur gehen nach Persien und bis in das 10. Jahrhundert zurück und man vermutet „eine Orientierung an chinesischen Vorbildern“, wie Naumann in ihrer schönen Übersicht schreibt (5). Eine weitere architektonische Wurzel des Kiosks bildet die Jurte, das Zelt der Nomaden, das im Zuge der mongolischen Eroberungen im 11. bis 13. Jahrhundert nach Osteuropa kam.

In dem von Johann Heinrich Zedler in den Jahren 1731 bis 1754 verlegten Universallexikon, das mit seinen 64 Bänden, 63 000 zweispaltigen Seiten und 284 000 Artikeln das umfangreichste enzyklopädische Werk im Europa des 18. Jahrhunderts war, findet sich der in Abbildung 2-3 wiedergegebene Eintrag: „Kiosc ist ein Gebäu bey den Türcken bräuchlich, bestehet in etlichen nicht gar hohen Säulen, die also gesetzet, daß sie einen gevierten Raum umgeben, der mit einem Zelt-Dache bedeckt, und da unten umher ein Gang ist. Dergleichen Lust-Gebäude oder offenen Säulen bedienen sich die Türcken in ihren Gärten und auf den Höhen, der frischen Luft und luftigen Aussicht zu genüßen“ (15, Bd. 15, S. 361f).

Das Wort Kiosk schließlich geht auf das persische Wort „koschk“ (Ecke, Winkel) zurück, aus dem später das türkische Wort „kjösk“ wurde. Um 1700 wurde das Wort ins Französische eingeführt (kiosque), was der Korrelation von Schreibweise und Aussprache eher schadete, bis es dann – mit wieder deutlich besserer Korrelation – einige Jahrzehnte später auch in Deutschland auftauchte: „Kiosk“.

Damit war in Deutschland von 1750 bis vor 1900 vor allem ein einfacher, hölzerner Gartenpavillon zur Aussicht und zum Schutz vor der Sonne gemeint. Erst mit der industriellen Revolution im vorletzten Jahrhundert und den damit einhergehenden Veränderungen der Lebens- und Arbeitswelt, der Verstädterung und der Trennung von Wohnen und Arbeiten gelangte der Kiosk zu seiner heutigen Form und Funktion: Eine unscheinbare und zugleich wichtige Verkaufsbude. Im Ruhrgebiet und im Rheinland nannte man diese Buden auch Trinkhallen, galt es doch unter anderem den Durst der Bergleute zu löschen. „Wasserhäuschen“ gab es auch im Rhein-Main-Gebiet, wohingegen pilzförmige Milchhäuschen eine auf Bayern beschränkte Spezialität blieben (Abb. 2-4).

Abb. 2-3 Was man in Europa vor etwa 250 Jahren zum Thema „Kiosc“ zu sagen wusste (Facsimile aus Zedlers Universallexikon; heute sehr leicht digital über die Bayrische Staatsbibliothek abzurufen).

Zeitungen gab es am Kiosk erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit dem Aufkommen demokratischer Staaten und der für ihr Funktionieren wesentlichen Pressefreiheit wurde die Grundversorgung der Bevölkerung mit einem möglichst breiten Informationsangebot zu einer wesentlichen gesellschaftlichen Aufgabe. Die Erledigung dieser Aufgabe ist alles andere als trivial (2): Wie kann sichergestellt werden, dass nicht nur Massenblätter großer Verlage in den Zeitschriftenregalen und -ständern feil gehalten werden, sondern jede Meinung auch in jeden Winkel des Landes gelangt? Nachdem gerade die deutsche Geschichte zeigt, wie wichtig die Pressefreiheit für das gesunde Funktionieren eines Gemeinwesens ist, wird es Zeit, den Kiosk systematisch zu betrachten.

Abb. 2-4 Mittlerweile unter Denkmalschutz stehender Milchpilz in Regensburg, errichtet im Jahr 1954 von der Firma Waldner, die insgesamt 50 solcher kleiner Verkaufsstellen für Molkereiprodukte baute.

Die im Vergleich zu Kathedralen und Kaufhäusern einfache Bauweise eines Kiosks darf über dessen systematische Bedeutung, die sich schon an seiner verglichen mit den genannten Großbauten zahlenmäßigen Überlegenheit zeigt, nicht hinwegtäuschen. Im Kaufhaus kauft man Kleidung oder Schuhe oder Lampen, und in der Kirche wird gefeiert, getrauert oder gebetet. Die Kiosk dagegen ist pure Vielfalt, denn dort gibt es erstens Zeitungen und Zeitschriften, zweitens auch solche, die man außen nicht sieht und die nur an Erwachsene verkauft werden dürfen, drittens Zigaretten, viertens Alkoholika, fünftens Süßigkeiten und sechstens die Annahme des Lottoscheins. Dieser damit hoch diversifizierte kleine Gemischtwarenladen wird manchmal noch ergänzt durch Blumen oder heiße Würstchen, Schreibwaren oder Andenken und im Ausland vielleicht noch durch andere weiche Drogen.

Kommen wir zurück zur Frage, wie man angesichts nach Gewinn strebender mächtiger Verlage und ganzer Medienkonzerne die Pressefreiheit und damit die Vielfalt von in Deutschland derzeit etwa 330 Zeitungen und 4 000 Zeitschriften schützen kann. Verglichen mit anderen Gegenden dieser Welt befinden wir uns diesbezüglich übrigens noch immer auf der Insel der Seligen. In den USA gibt es Orte ganz ohne Zeitung und auch in anderen Ländern ist die deutsche Vielfalt unerreicht und wird dort beneidet: Gut 130 unabhängige Redaktionen arbeiten an den 330 Zeitungen, von denen es etwa 1 500 verschiedene (Lokal-)Ausgaben gibt. Die genaue Zahl weiß übrigens niemand. Gut bekannt ist hingegen die Tatsache, dass das Zeitunglesen in den Großstädten deutlich rückläufig ist, die Zeitung sich auf dem Lande hingegen diesem negativen Trend mit erstaunlicher Hartnäckigkeit entgegenstellt: So hatte das kaum bekannte Blatt Grenzwarte aus Oberviechtach im Jahr 2004 eine Auflage von 9 900 Stück und acht Jahre später im Sommer 2012 eine Auflage von – ebenfalls 9 900 (1).

Dafür, dass dieses Blatt bei Bedarf jedoch auch in Buxtehude am Kiosk erhältlich sein könnte (wenn dies der Verlag wünschte1), sorgen in Deutschland 76 Zeitungs- und Zeitschriftengroßhändler. Die Verlage haben unser Land in 92 Vertriebsgebiete aufgeteilt, in denen die Grossisten den Vertrieb jeweils unabhängig organisieren und bewerkstelligen. Jeder hat in seinem Gebiet bzw. seinen Gebieten das Alleinauslieferungsrecht. Damit hat er aber auch die Pflicht, alles, was der Einzelhändler (und damit der Kunde) wünscht, zu liefern. In zwei Vertriebsregionen gibt es zwei Grossisten, aber auch die machen sich keine Konkurrenz, weil jeder nur für einen Teil der Verlage und Titel das Alleinauslieferungsrecht hat. Man könnte nun meinen, dass ein solches Monopol schlecht sei für den Verbraucher. Das genaue Gegenteil ist jedoch der Fall, wie Erfahrungen aus dem Ausland zeigen (3).

Der Grossist für Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland fungiert als Bindeglied zwischen den Verlagen und den knapp 120 000 Einzelhändlern, zu denen neben Tankstellen, Supermärkten und Kaufhäusern eben ganz wesentlich auch die (Zeitungs- und Zeitschriften-)Kioske gehören. Sein Job ist – mit einem Wort – stressig: Druckfrisch werden die Zeitungen nachts palettenweise geliefert. Der Grossist nimmt sie in Empfang, sortiert sie für die von ihm versorgten Einzelhändler und fährt dann los, um bis ca. 5.30 Uhr am Morgen alles geliefert zu haben. Wenn dann das abendliche Fußball-Länderspiel in die Verlängerung oder gar ins Elfmeterschießen geht, der Andruck der Bildzeitung sich entsprechend verzögert und diese dann 90 Minuten später als gewöhnlich geliefert wird, kommt er richtig ins Schwitzen. Denn ohne die Bild braucht er im Süden das Bergtal und im Norden die Hallig gar nicht ansteuern. Andererseits muss die Bild schon da sein, wenn der Brummi-Fahrer morgens an der Tankstelle seinen Kaffee trinkt und dazu die Zeitung lesen möchte. Sonst braucht der Grossist gar nicht vorbei zu kommen. Was vom Vortrag übrig ist (sehr viel, wenn er zu spät kam!) nimmt er am nächsten Tag gleich wieder mit – das gehört ebenfalls zum Job2. Neben dem ganzen Papier liefert der Grossist dem Kiosk aber auch vieles mehr: Süßigkeiten und Plastikkleinkram, Vermarktungszubehör, Zigaretten und Schnäpse sowie Analysen zu Trends und Neuigkeiten.

Gerade weil der Kiosk so häufig, so vielfältig und (im Hinblick auf die Verlage) so unabhängig ist, kann er seine grundlegend demokratische Funktion erfüllen. Denn was es bedeutet, wenn die Medienlandschaft von einigen wenigen weltweit operierenden Firmen beherrscht wird, erleben wir im TV- und Digitalbereich ja täglich: Einfalt und massive Manipulation. Man sagt heute in Anbetracht der „digitalen Revolution“ gern – wie unverständlicherweise sogar der Chef der diesjährigen Buchmesse – die Print-Medien tot. Ich möchte dagegen halten, dass Revolutionen meist zu Konterrevolutionen führten und in der Hitze des Gefechts die Vernunft als erstes Opfer zu beklagen ist. Um dies zu rechtfertigen möchte ich der historischen und der systematischen Betrachtung des Themas Kiosk eine dritte Herangehensweise beiseite stellen, die neurobiologische. Von Kritikern wird nicht selten behauptet, dass diese Wissenschaft ihre „Deutungshoheit“ inflationär auf alle nur erdenklichen Seinsbereiche unberechtigterweise ausbreite. Daher dürften sie auch diesen kleinen Beitrag als einen diesbezüglichen Sündenfall verbuchen. Nun bin ich kein Freund großer Würfe oder ideologischer Grundsatzdebatten, weil ich sie als fruchtlos erlebe3. Als Arzt bin ich es vielmehr gewohnt, von einzelnen Fällen zu lernen und seien sie noch so klein und unscheinbar. Deswegen geht es mir im Folgenden darum, kurz aufzuzeigen, dass die ubiquitäre Existenz des Kiosks in seiner heutigen Funktion überhaupt nur vor dem Hintergrund der jüngsten neurobiologischen Forschung zu verstehen ist.

Führen wir uns hierzu noch einmal die genannten sechs Produktbereiche vor Augen, die man am Kiosk erwerben kann:

   Neuigkeiten,

   Sex,

   Nikotin,

   Alkohol,

   Süßigkeiten und

   Glücksspiel.

Erwähnenswert sind zudem, vor allem in der Vergangenheit, die variablen Öffnungszeiten. Der Kiosk unterlag nicht dem Ladenschlussgesetz: Am Kiosk konnte man oft schon um 5.30 Uhr vorbeischauen und bekam abends noch schnell eine Kleinigkeit, wenn man anderswo nur noch geschlossene Türen vorfand4.

Dem geneigten Leser werden die in der Aufstellung benannten Produkte bekannt vorkommen, wird er sie doch unschwer mit dem Neurotransmitter Dopamin (DA) in Verbindung bringen: Neugier glüht das DA-System gleichsam vor (11) und bestimmt damit, was im Gedächtnis hängen bleibt. Zudem sind wir zeitlebens an Klatsch und Tratsch über unsere Mitmenschen interessiert (8), rein zeitlich mehr als an Sex, der das DA-System von allen physiologischen Stimulatoren maximal antreibt (6, 7, 9). Suchtstoffe wie Alkohol und Nikotin treiben das DA-System noch stärker an (9) und schnell resorbierbare Kohlehydrate haben ganz ähnliche Effekte (9, 10). Glücksempfindungen schließlich wurden schon vor Jahren mit dem DA-System in enge Verbindung gebracht (12, 13). Selbst die eingangs erwähnten Nebensachen passen genau ins Bild: Schreibwaren dienen zum Festhalten von Neuigkeiten; weiche Drogen zur DA-Freisetzung; Würstchen sind ebenso wie Süßigkeiten Bestandteil der suchterzeugenden „western-style cafeteria diet“. Und mit Blumen schließlich bewirkt er (der beim Anblick der Blüten vielleicht nicht nur an florale Fortpflanzung denkt) bei ihr eine unerwartete Überraschung, das heißt, einen positiven Belohnungsvorhersagefehler5 und damit eine DA-Ausschüttung. Und auch wenn die Föderalismusreform dem Kiosk eine Existenzberechtigung – die längere Öffnungszeit – mancherorts geraubt hat, muss man zumindest aus historischer Sicht zugeben, dass die DA-vermittelte Impulsivität zumindest früher eine bedeutende Rolle gespielt haben wird. Ich erinnere mich noch gut an meine Kindheit: EDEKA und der Tante-Emma-Laden am Eck hatten schon zu, aber am Kiosk gab’s für so manchen einsamen müden Mann noch ’n Bier und ’nen Korn, und noch einen, und die HB oder Peter Stuyvesant auch gleich dazu.

Nicht nur das hat sich geändert: Auch die Schmuddelheftchen spielen heute für den Umsatz eines Kiosks praktisch keine Rolle mehr. Neue Medien füllen diesen Markt jetzt aus. Umgekehrt lassen übergroße, fauchend-dampfende, glitzernd leuchtende Kaffeeautomaten, die in den letzten Jahren die schmutzig kleine Aldi-Kaffeemaschine mit Thermoskanne als Lieferant des morgendlichen Kaffee-to-go am Kiosk nahezu flächendeckend ersetzten, eher an Altäre als an Küchenutensilien denken. Still und leise dringen WMF, Krups, Jura, DeLonghi oder Saeco mit ihren Kaffeealtären in einen Markt für den früheren Herrgottswinkel in der Wohnküche vor, der von den Chefs der Kathedralen in den vergangenen Jahrzehnten ohne jegliche Produktinnovation kampflos aufgegeben wurde. Auch hier spielt Dopamin eine Schlüsselrolle, beeinflusst dieser Transmitter doch die Persönlichkeit gleich zweifach: im Hinblick auf Sucht und Religiosität. Der US-amerikanische Wissenschaftler Dean Hamer entdeckte das „Gott-Gen“ als Nebenprodukt seiner Arbeit zur Genetik von Suchterkrankungen. Er fand, dass die Persönlichkeitseigenschaft der Neigung zur Spiritualität mit Varianten (Allelen) eines Gens korreliert, das ein Protein kodiert, welches in der Transmission von Dopamin eine Rolle spielt (14).

Wer also glaubt, der Kiosk wäre eine vom Aussterben bedrohte Art, der sei beruhigt: Gäbe es ihn noch nicht, so würden ihn amerikanische Gehirnforscher schleunigst erfinden! Aber es gibt ihn ja schon lange – weil es das Dopaminsystem ja auch schon lange gibt – noch viel länger sogar. Und solange über Glasfaser oder WLAN weder Schokolade noch Schnaps, weder Blumen noch Kaffee, immer weniger wirkliche Neuigkeiten oder gar Chancen für Demokratie, und noch nie wirkliches Glück (von wirklichem Sex gar nicht zu reden) geliefert werden, hat das gute alte unscheinbare Straßenmöbel bessere Überlebenschancen als Kathedralen und Kaufhäuser. Gehirnresistente Feuilletonisten werden das nie verstehen.

Literatur

1.    Grimberg S. Alles, was zählt. Tageszeitungen in Deutschland. Taz.de 14.7.2012.

2.    Haller M. Informationsfreiheit und Pressevertrieb in Europa, 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos 2012.

3.    Haller M. Die Struktur- und Funktionsprobleme des Pressevertriebs im heutigen Europa. In: Haller M. Informationsfreiheit und Pressevertrieb in Europa, 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos 2012.

4.    Klünner HW, Ullmann G. Straßenmöbel in Berlin (Ausstellungskatalog). Senator für Bau- und Wohnungswesen. Berlin 1983.

5.    Naumann E. Kiosk. Entdeckungen an einem alltäglichen Ort. Vom Lustpavillon zum kleinen Konsumtempel. Marburg: Jonas Verlag 2003.

6.    Spitzer M. Die Wissenschaft vom Flirten. In: Nichtstun, Flirten, Küssen. Stuttgart: Schattauer 2012; 92–115.

7.    Spitzer M. Küssen, rein wissenschaftlich. In: Nichtstun, Flirten, Küssen. Stuttgart: Schattauer 2012; 116–38.

8.    Spitzer M. Aschenputtel als Flugsimulator. In: Nichtstun, Flirten, Küssen. Stuttgart: Schattauer 2012; 1–35.

9.    Spitzer M. Dopamin und Käsekuchen. Essen als Suchtverhalten. In: Dopamin & Käsekuchen. Stuttgart: Schattauer 2011; 1–15.

10.  Spitzer M. Einfach verbieten! Kinder-TV-Werbung für ungesunde Nahrungsmittel. In: Dopamin & Käsekuchen. Stuttgart: Schattauer 2011; 16–25.

11.  Spitzer M. Neugier und Lernen. In: Aufklärung 2.0. Stuttgart: Schattauer 2010; 12–8.

12.  Spitzer M. Kann, darf, soll oder muss man Glück wissenschaftlich untersuchen? In: Spitzer M, Bertram W (Hrsg.). Braintertainment. Stuttgart: Schattauer 2007; 81–108.

13.  Spitzer M. Zur Neurobiologie des Dauerlottoscheins. Dopamin, Belohnung und Neugierde. In: Vom Sinn des Lebens. Stuttgart: Schattauer 2007; 140–9.

14.  Spitzer M. Das Gott-Gen. Nervenheilkunde 2005; 24: 457–62.

15.  Zedler JH (1731–1754). Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Bayrische Staatsbibliothek digitale Bibliothek. www.zedler-lexikon.de.

1 „Dieses Szenario ist eher unrealistisch, denn der erzielte Deckungsbeitrag der Grenzwarte in Buxtehude würde alle, Verlag, Großhandel und Einzelhandel unglöcklich machen. Grundsätzlich gilt: Das Dispositionsrecht funktioniert grundsätzlich von oben nach unten, da der entscheidet, der seine Meinung verbreiten will, also der Verlag“ (aus einer E-Mail von Martin Schiessl).

2 Dies und vieles mehr erfuhr ich vom Regensburger Presse-Grossisten Martin Schiessl, der wie ich mit Frau und Tochter seinen Urlaub in einem Hotel in Mecklenburg-Vorpommern verbrachte. Danke Martin, ich habe sehr viel gelernt.

3 Wenn bei Ihnen zuhause der Abfluss verstopft ist, denken Sie ja auch nicht lange darüber nach, wer die Deutungshoheit über das Problem hat, sondern Sie rufen Ihren Klempner an!

4 Seitdem im Jahr 2007 der Ladenschluss Ländersache wurde, hat der Kiosk seine Sonderstellung im Hinblick auf die Öffnungszeit mancherorts (z.B. in Baden-Württemberg) verloren.

5 Wem diese Sachverhalte fremd erscheinen, obwohl sie seit mittlerweile knapp einem Jahrzehnt bestens bekannt sind, konsultiere die genannten Quellen!

3 Imitieren und/oder Improvisieren (?)

Gemeinsam mehr Freude und Effektivität

Mit dem Visus ist das Sehen gemeint; pro bedeutet „vorher“; die Vorsilbe im verneint. Damit bedeutet das aus dem Lateinischen kommende Wort Improvisation das Gegenteil von Vorhersehen: Wer im-provisiert, der tut etwas Unvorhergesehenes, handelt kreativ aus dem Stegreif1, wie man auch sagt, greift seine Gedanken und Taten spontan aus der Luft, also nicht aus langem zielgerichteten Nachdenken.

Schon die Definition von Improvisation zeigt, dass es leichter ist, zu sagen, was sie nicht ist, als worum es sich handelt. Dabei ist die Sache noch halbwegs überschaubar, wenn einer alleine improvisiert: Der Handwerker wird kreativ, wenn das passende Teil oder das richtige Werkzeug fehlt. Er weiß dabei, worauf es ankommt, kennt das Material ebenso wie das zu lösende Problem, und verwendet sein Expertenwissen und Können, um eine Aufgabe auf eine andere, neue Art kreativ zu lösen. Improvisation ist damit gleichbedeutend mit Kreativität und entsprechend wissenschaftlich seit geraumer Zeit Gegenstand der Forschung. Angst verhindert Kreativität, Wissen und Können sind ihre Voraussetzungen (notwendig aber nicht hinreichend), Intelligenz hilft, weil sie mit geistiger Schnelligkeit (zum Durchspielen vieler Möglichkeiten) korreliert, und eine positive, offene, lockere Geisteshaltung ermöglicht das freie Spiel der Gedanken. Der „kreative Einfall“ stellt sich dann „wie von ganz alleine“ (eben „aus der Luft“!) ein. Wie genau dies geschieht, ist schwer zu untersuchen, weil das Phänomen sich seiner Natur nach dem Experiment gegenüber fast so verhält wie der Teufel gegenüber dem Weihwasser.

Dass es dennoch möglich ist, kreatives Improvisieren experimentell zu untersuchen, zeigt eine schöne Studie zur Improvisation in der Musik (7): Dann ist nicht vorgegeben, was zu spielen ist, vielmehr entsteht die Melodie und der Rhythmus – also das musikalische Material – erst im Moment des Spielens, unvorhergesehen, nicht komponiert, ungeplant. – Wie funktioniert das?

Mittels einer eigens konstruierten unmagnetischen Klaviatur spielten Jazz-Musiker im Magnetresonanztomografen (MRT) entweder die Tonleiter bzw. ein Jazz-Stück oder konnten jeweils darüber improvisieren (vier Bedingungen). Hierbei zeigte sich, dass es beim Improvisieren zu Deaktivierungen in weiten Bereichen des frontalen Kortex kommt. Aktiviert werden dagegen der Frontalpol und sensomotorische Bereiche (Abb. 3-1).

Man kann diese Ergebnisse dahingehend interpretieren, dass man beim Improvisieren die exekutive Kontrolle eher loslässt, nur noch den ganz allgemeinen Kontext (die Akkordfolge) im Auge (bzw. im Ohr) hat und dann die Sensorik und vor allem Motorik freien Lauf hat, eigene Muster zu generieren. Subjektiv ist das Ganze vom Flow-Erleben begleitet (für das ein sehr ähnliches kortikales Aktivierungsmuster gefunden wurde), das heißt, man ist bei der Sache und nicht bei sich. Die Musik strömt aus einem heraus, man ist eins mit der Musik, man ist Musik (statt sie wie sonst zu machen).

Wenn nicht ein Einzelner improvisiert, sondern eine ganze Gruppe von Menschen, ist die Sache nochmals komplizierter. Wie kann das überhaupt funktionieren? Denn schließlich sind die Einfälle hier nicht auf ein Gehirn beschränkt, sondern über mehrere Köpfe verteilt. Gibt es das wirklich? Und wenn ja, wie soll man das wissenschaftlich untersuchen? Und wenn man es untersuchen könnte, was kommt heraus?

Abb. 3-1 Das Gehirn von Jazz-Musikern beim Improvisieren. Neben frontopolaren und sensomotorischen Aktivierungen (gelb-rot dargestellt) fallen vor allem ausgedehnte frontale Deaktivierungen (grünblau) auf, die auf eine reduzierte exekutive Kontrolle des Geschehens hinweisen.

 

Betrachtet man die Realität von gemeinschaftlicher Aktivität genauer, so zeigt sich, dass Menschen in der Tat sehr oft gemeinsam improvisieren: Beim Mannschaftsspiel wie in der Band, beim Tanzen und Diskutieren wie beim gemeinsamen Wandern oder Geschirrspülen: Wir stellen uns auf den anderen ein und die anderen auf uns. Die Wandergruppe bleibt trotz unterschiedlicher körperlicher Größe und Fitness beieinander, die Diskussionspartner wechseln sich beim Sprechen ab, die Mannschaft und die Band spielen koordiniert. Jeder merkt sofort, wenn es nicht klappt (wenn alle durcheinander reden, wird eine Talkshow zur Qual!) und tut sein Möglichstes, dies zu verhindern. Und obwohl es bei manchen Aktivitäten ein Gruppenmitglied mit zentraler Koordinierungsfunktion gibt (den Moderator, Dirigenten oder Steuermann), ist dies im ganz normalen Alltag eher die Ausnahme. Koordiniertes Verhalten, so scheint es, klappt auch ohne zentrale Kontrolle und ist ohne sie nicht nur interessanter, sondern macht meist mehr Spaß. Aber kann es ohne Kontrolle auch effektiver sein?

Zu den ersten Studien hierzu gehören Experimente mit zwei Personen, die jeweils ein Pendel schwingen mussten (17). Man wusste schon länger, dass zwei Personen, die eine wiederkehrende Bewegung der Arme oder Beine bewusst ausführen, dies leichter im gleichen Rhythmus können als völlig unzusammenhängend (ist am schwierigsten) oder im gegensinnigen Rhythmus (Antiphase, schwieriger als in Phase, aber leichter als unzusammenhängend). Darauf aufbauend ließ man nebeneinander stehende Versuchspersonen ein Pendel schwingen, einfach so, und fand dasselbe – auch dann, wenn es keine entsprechenden Instruktionen gab: Die Pendel befanden sich vergleichsweise viel öfter in Phase, und auch öfter in Antiphase als dies zufällig der Fall gewesen wäre.

Weil man aber ein Pendel nicht ganz ohne bewusste Kontrolle schwingt, ersannen Richardson und Mitarbeiter ein neues Paradigma, bei dem „die Bewegung ganz nebenbei erfolgt, aber wo sowohl der soziale Kontext als auch mechanische Randbedingungen dafür sorgen, dass man zu einem spontanen rhythmischen Verhalten hingezogen wird“, wie die Autoren beschreiben (18, Übersetzung durch den Autor). Kurz: Man entdeckte den Schaukelstuhl neu als Instrument zur Untersuchung interpersonell-koordinierter nicht intentionaler rhythmischer Bewegung.

Der Vorteil eines Schaukelstuhls gegenüber einem Pendel besteht darin, dass es viel leichter ist, ein Pendel zu halten, ohne es zum Schwingen zu bringen, als in einem Schaukelstuhl zu sitzen, ohne zu schaukeln. Die Bewegung ist damit weit weniger intentional und die Effekte, wenn es sie gibt, eher nicht durch bewusste Akte vermittelt. Die Ergebnisse waren jedoch im Wesentlichen dieselben wie die der Pendel-Studien: Die Versuchspersonen stimmten ihre Bewegungen aufeinander ab, selbst dann, wenn die Schwingungsperiode der Schaukelstühle durch Gewichte verändert wurde.

Wem diese Schaukelstuhlforschung zu abgefahren oder gar völlig abseits erscheint, der bedenke, dass man mit ganz einfachen Mitteln versucht, ganz dicke Bretter zu bohren: Wie funktionieren gemeinsame Aktionen überhaupt? Nathalie Sebanz und Mitarbeiter (20) weisen in einer Übersicht mit Recht darauf hin, dass es hierzu gemeinsamer Repräsentationen, der Fähigkeit zur Vorhersage der Aktionen anderer und der Integration dieser vorhergesagten Aktionen aller Beteiligten braucht.