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Am Rande einer Tagung wird Haydeck von einem steinreichen Amerikaner angesprochen, den nur die wirklich ausgefallenen Dinge der Welt interessieren. Haydecks Neugierde und die Sehnsucht, endlich den Olymp der Wissenschaften zu erklimmen, überspielen seine moralischen Bedenken. In einer als Landgut getarnten Forschungsstätte in Brandenburg wird ihm die Leitung eines Experiments übertragen, das an den Grundfesten des Lebens rüttelt. Aber sein Projekt weckt auch Begehrlichkeiten bei den Mächtigen dieser Welt, und er wird in einen Strudel der Ereignisse gerissen. Bis es nahe der Insel Usedom zum Showdown kommt. Unvorstellbar. Berauschend. Unmoralisch. Die Grenzen der Gentechnologie sind definiert, und doch möchte mancher Wissenschaftler sie überschreiten. Diesen Traum träumt auch Dr. Simon Haydeck, lange Zeit allerdings vergeblich. Bis zu dem Tag, an dem er die einmalige Chance erhält, an einem Experiment von unermesslicher Tragweite für die Menschheit teilzuhaben. Was vor gut 60 Jahren mehr als Gerücht durch die Presse ging, kann nun durch seine Hände Realität werden. Wenn es Grenzen der Wissenschaft gibt, haben diese mitten in Deutschland aufgehört zu existieren. AUTORENPORTRÄT Anders Alborg, geboren 1957, beschäftigte sich schon während seines Medizinstudiums mit der Erforschung biophysikalischer Zusammenhänge und mit den Auswirkungen extremer äußerer Einflüsse und Umweltfaktoren auf den Organismus. In der Folge war er für verschiedene Einrichtungen, Institute und Konzerne im Gesundheitssektor tätig. »Das Unikat« ist sein erster Thriller. Der Autor arbeitet und lebt mit seiner Familie in Berlin.
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Seitenzahl: 468
Thriller
Saga
Für meine Familie
Dexter, New Mexico
Manchmal muss der Tod sich gedulden, bis jemand endlich bereit ist mitzugehen.
Es ist heiß und stickig in dem armseligen Raum, trotzdem zittert der alte Mann vor Kälte. Die Tür öffnet sich und eine schlanke Gestalt betritt den Raum. Der Alte wendet mühsam den Kopf. »Bist du das, Manuel?«, fragt er mit brüchiger Stimme.
»Ja, Großvater.«
»Endlich bist du gekommen.«
Manuel tritt an das Bett. Der alte Mann winkt ihn mit einer schwachen Geste noch näher heran, flüstert ihm etwas ins Ohr. Lange flüstert er so. Manuel erstarrt und seine Augen weiten sich. Dann ist es also doch wahr! Aufgeregt spricht der Alte weiter. Er scheint von ungeahnten Kräften beflügelt, greift nach Manuels Hand und legt ihm in die Finger, was er über all die Jahre hinweg so sorgsam verborgen gehalten hat. Das Sprechen strengt ihn mehr und mehr an, sein Mund wird trocken, seine Worte nur noch ein flüsterndes Krächzen. Manuel flößt ihm etwas Wasser ein. Mit einer letzten Anstrengung erhebt der Sterbende beschwörend seine Stimme.
»Versprich es, Manuel, versprich es! Bei der heiligen Mutter Gottes.« Er drückt seinem Enkel die Hand, so fest er kann.
»Ja, Großvater«, flüstert Manuel. »Ich werde mich darum kümmern. Es wird nicht umsonst gewesen sein.«
Der Kopf des Alten fällt zurück, seine Gesichtszüge entspannen sich, seine Hand wird schlaff.
Manuels Gedanken überschlagen sich. Während er langsam vom Bett zurücktritt, starrt er wie in Trance auf das zerknitterte Schwarz-weiß-Foto in seiner Hand. Dann dreht er es um. Auf der vergilbten Rückseite nichts als eine krakelige Zahl.
1947.
Hamburg
Simon betrachtete die Zellkulturen, erhöhte die Vergrößerung, sah Veränderung, Wachstum, Bewegung. Leben. Hinter Glas. Winzig klein. Sorgfältig getrennt von dem anderen Leben, dem da draußen. Bewacht, beschützt, Leben, von Menschenhand gemacht unter immensem technischem Aufwand. Leben, gemacht von ihm. Lebendig gehalten von Simon und seinen Apparaten, seinen ganz speziellen Brutschränken. Er war der Herr über dieses Leben. »Ich baue euch ein Nest, in dem ihr noch viel weiter wachsen könnt«, flüsterte er, als könnten die Zellen ihn hören und niemand außer ihnen sollte seine Worte verstehen. Aber Zellen, die zuhören, gibt es nicht; nicht auf Erden. Trotzdem sprach er weiter. »Ihr habt Glück, so wie ich kann das sonst keiner auf der Welt. Fühlt euch ganz zu Hause.«
Das Telefon klingelte. »Haydeck?«
»Guten Morgen, Herr Doktor. Ich habe Neuigkeiten vom Chef.«
Die nervensägende Stimme von Frau Hildebrand. Ausgerechnet.
»Der Professor bittet Sie, das Seminar am Eibsee nächste Woche für ihn zu übernehmen«, sägte und säuselte sie. »Wichtige andere Verpflichtungen, Angelegenheiten, die keinen Aufschub dulden, Sie wissen schon.«
Ja, ärgerte sich Simon, ich weiß. Andere Verpflichtungen. Immer extrem wichtig. Ein paar Tage Ski in Kitzbühel, im Sommer ein Golfwochenende mit Sponsoren. Im offiziellen Sprachgebrauch ›Beschaffung von Drittmitteln‹ genannt. Ich habe auch wichtige Angelegenheiten, die keinen Aufschub dulden, dachte er. Von denen ihr glücklicherweise nichts ahnt. Nichts ahnen dürft.
»Wenn’s sein muss«, sagte er mit gebremster Höflichkeit. »Wann soll’s denn losgehen?«
»Freitag früh. Anreise Donnerstag. Vorträge von neun bis siebzehn Uhr, Ihr Auftritt ist um dreizehn Uhr dreißig, gleich nach der Mittagspause. Samstag Kleingruppenarbeit, ein schöner Abend für Sie und Sonntag zurück. Sie kennen das ja. Und, Doktorchen, ich habe natürlich alles schon für Sie gebucht.«
»Oh, wie fürsorglich«, schnarrte Simon. Jetzt zuckersüß und sonst eine Intrigantin allererster Güte. Aber man sollte es sich mit dem alten Drachen keinesfalls verscherzen, dazu war ihr Einfluss auf seinen Chef Professor Niemüller zu groß. Besser, niemand steckte seine Nase tiefer in Simons Angelegenheiten. Keiner durfte wissen, dass er gerade dabei war, an Niemüller vorbei in wahrhaft spektakuläre Gefilde der Forschung vorzustoßen. Mit Ergebnissen, die alles, was Niemüller je geleistet hatte, wie läppischen Kinderkram aussehen ließen.
»Danke, ich komme morgen im Sekretariat vorbei und hole mir die Sachen ab.« Heute war Donnerstag. Also gerade mal noch eine Woche zur Vorbereitung. Na toll. Seufzend strich sich Simon durch sein kurzes dunkelblondes Haar. Aber anderseits waren drei Tage in den Alpen um diese Jahreszeit auch nicht zu verachten. Ungewöhnlich kalt war dieser Februar auch in Hamburg, und in den Bergen würde wenigstens Schnee liegen. Nur Katja würde ihm wohl wieder die Hölle heißmachen. Wie üblich.
Brandenburg
Der eisige Wind pfiff über die schneebedeckten Felder und toste durch die Wälder und Wäldchen dazwischen. Seit Wochen hatte der strenge Frost Brandenburg fest im Griff. Grausam und schneidend kam der Ostwind aus den Weiten Russlands herübergeweht, und keine Grenzen konnten ihn aufhalten. Auch das Rudel war von weit im Osten herübergewandert, hatte Flüsse, Straßen, Zäune überquert, der Hunger hatte sie immer weiter vorwärtsgetrieben, gen Westen, zum verheißenen Land, wo das Blut in Strömen fließt.
Wölfe meiden bekanntlich die Nähe des Menschen, sind eher geneigt, Siedlungen in weitem Abstand zu umrunden und ihre Beute unbeobachtet in den Wäldern zu machen. Aber nagender Hunger wird schließlich stärker als jede Angst und Vorsicht.
Die fünf Schatten schlichen weiter, hatten das einsame Landgut fast erreicht. Unbeeindruckt vom Wind, der die Schneeflocken in wildem Wirbel über das Land trieb, näherten sie sich ihrer Beute, folgten ihrem Weg durch die scheinbar undurchdringliche Dunkelheit. Mit ihren feinen Nasen hatten sie etwas ausgemacht, etwas, das sie magisch anzog. Das ihren Hunger endlich zu stillen versprach. Sie witterten große warme Körper, die Ausdünstungen stattlicher Tiere. Dampfende Berge von Fleisch statt der Hasen und Kaninchen, mit denen allein kein Rudel durch den Winter kommt.
Die Zeit war gekommen, sich aufzuteilen und ihre Opfer einzukreisen. Immer enger würden sie den Ring ziehen, der Rudelführer würde dann den Angriff starten, das Zeichen für die anderen, über die chancenlosen Tiere herzufallen. Speichel tropfte aus den hechelnden Mäulern in den Schnee, als sie sich näher an den hölzernen Zaun heranschoben.
Die beiden Pferde in der Koppel hoben die Köpfe und sahen sich an. Sie spürten die Anwesenheit der Eindringlinge, horchten und suchten den Umkreis mit den Augen ab. Sie drehten sich zum Gatter, warteten ruhig. Kein Schnauben, kein Wiehern.
Der Leitwolf erreichte den Zaun und begann, sich an einer schadhaften Stelle, wo eine der unteren Latten geborsten war, hindurchzuschieben. Die anderen Wölfe des Rudels verteilten sich inzwischen um das Gehege. Ihre uralten Instinkte, ergänzt durch die praktische Erfahrung der gemeinsamen Jagd, führten die Tiere, als würden sie untereinander in telepathischem Kontakt stehen. Jetzt war der Leitwolf mitten im Gehege, vielleicht noch zwanzig Meter von den beiden Pferden entfernt.
Beutetiere zeigen Angst, panische Angst, ist ein Raubtier in der Nähe. Diese Angst kann man riechen. Der Schweiß eines Menschen oder die Ausdünstungen eines Tieres verändern sich bei Stress und Furcht. Die Jäger erkennen das, spüren die Schwäche, schöpfen selbst daraus Kraft.
Der Leitwolf blieb stehen. Er witterte keine Angst oder Panik. Die beiden Pferde ihm gegenüber standen wie festgemauert, rührten sich nicht, sahen ihn nur an, die Ohren aufgestellt. Fixierten ihn selbst wie ein Jäger seine Beute. Schlangen, so heißt es, lähmen ihre Opfer bisweilen allein mit dem Blick. Aber Pferde?
Auch das Rudel verharrte. Die anderen Wölfe fühlten das Zögern ihres Leittieres, spürten, dass irgendetwas nicht stimmte. Der Leitwolf setzte sich langsam wieder in Bewegung. Er war ein alter erfahrener Wolf, doch nun witterte er Unbekanntes, Bedrohliches, das seine Muskeln schwer werden ließ. Rückzug?
Aber er war auch ein alter, sehr hungriger Wolf, und Hunger war stärker und unerbittlicher als alle Angst vor dem, was ihm im Angesicht der Beute drohen mochte. Er zauderte noch, während der Hunger weiter in ihm wuchs, bis für die Angst kein Platz mehr war, sie zu etwas Äußerlichem wurde, das er knurrend aus dem gesträubten Fell schütteln konnte. Er schlich weiter. Langsam, sammelte seine Kräfte, noch einige Meter. Dann sprang er. Das Kommando zum Angriff. Das Rudel setzte über den Zaun.
Bald hörten die Tiere ein erbärmliches Jaulen, gefolgt von einem dumpfen Klatschen, als der Leitwolf auf dem Boden aufschlug.
Die anderen Wölfe erstarrten in ihrer Bewegung. Furcht ergriff sie, ein Gefühl, das dem Jäger in seinem Rausch sonst eher fremd ist. Die eingekreisten Pferde standen immer noch ruhig, drehten gelassen die Köpfe und fixierten die Angreifer. Der Leitwolf kam mühsam wieder auf die Beine. Blut tropfte aus einer großen Wunde an seiner Flanke. Er taumelte davon, den Schwanz zu einer Demutsgeste nach unten gerichtet. Das Rudel zögerte einen Moment, dann folgten alle dem Anführer und brachen den Angriff ab.
Die muskulösen Körper der Pferde dampften und glänzten im fahlen Mondlicht, während sich die geschlagene Meute in die Tiefen des Waldes zurückzog. Die beiden sahen den eilig verschwindenden grauen Schatten hinterher. Das kleinere leckte die Blutspuren vom Maul des größeren. Dann schüttelten sie sich kurz und wandten sich wieder ihrer Futterbox zu.
Eibsee, Oberbayern
Simon stellte die Rückenlehne noch ein Stück zurück, das Fußteil etwas nach oben und schob das Polster mehr in die Mitte der Rattanliege. Aus dem einen Badehandtuch rollte er sich ein Kopfkissen, mit dem anderen deckte er das Fußteil ab. Perfekt. Er stellte das Glas mit dem eisgekühlten Wasser auf das Holztischchen, packte sein Buch dazu und legte sich hin. Die wohlige Wärme des letzten Saunagangs hatte sich bis in die letzten Winkel seines Körpers ausgebreitet, alle Bastionen der Anspannung erobert und befriedet, ließ Muskeln sich lockern, die Haut angenehm kribbeln, als streichele ein Hauch von Seide darüber.
Endlich Ruhe. Er atmete tief durch. Spuren der ätherischen Saunaöle kitzelten in seiner Nase, es roch, als ginge er in einem Nadelwald spazieren. Sein Vortrag war gut gelaufen, alle Fragen aus dem Auditorium waren sicher beantwortet, auch die besonders boshaften der lieben Kollegen, die einem nichts mehr neiden als den Erfolg. Das Pflichtprogramm für heute war also erfüllt, jetzt kam die Zeit der Kür. Er hatte sich gleich nach seinem Auftritt abgesetzt, weitere Anwesenheit nicht erforderlich, die Themen nicht sonderlich interessant. Er genoss es, allein im Ruheraum zu sein. Die anderen, pflichtbewussteren Kongressteilnehmer lauschten wohl noch den Vorträgen, von sonstigen Hotelgästen keine Spur. Stille. Ruhe. Zeit. Endlich Zeit.
Simon sah an sich herab. Neununddreißig bin ich jetzt, dachte er. Kein Bauch wie manche der Kollegen, die Joggingrunden an der Alster machten sich bezahlt. Also noch ganz gut in Schuss, oder? An seiner rechten Wade sprangen ihm einige blaue Kringel ins Auge. Beginnende Krampfadern? Nagte da doch schon der Zahn der Zeit? Tja, eben die Vorboten der vierzig. Mitte des Lebens. Und wo bin ich? Gerne gesehener Vortragender, zumindest überall da, wo der Alte ihn hinschickte. In Fachkreisen geschätzter Forscher schon mit dem wenigen, was er selbst veröffentlichte – und was sich sein Chef nicht wie üblich gleich unter den Nagel riss, indem er den Namen Niemüller darübersetzte. Noch viel besser in dem, was er nicht veröffentlichte. Mit Ergebnissen, von denen keiner wissen durfte, zumindest solange er hier in Deutschland forschte, wo der Forschung an allen Ecken und Enden Hürden in den Weg gestellt waren. Ganz anders als etwa in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, selbst wenn dem wissenschaftlich Möglichen auch dort, zumindest offiziell, längst enge Grenzen gesetzt waren. Andere Wissenschaftler hatten buchstäblich Leichen im Keller. Und er? Künstliches Leben und Apparate, entwickelt, neue Schritte zu gehen, weiter als alle anderen.
Aber als die Nummer zwei am Institut? Für wie lange noch? Professor Niemüller hatte noch gut zehn Jahre bis zur Pensionierung. Genug Zeit, sich weiterhin überall mit Simons Forschungsergebnissen zu schmücken. Zehn Jahre würde er sich noch anhören müssen: »Lieber Kollege, kümmern Sie sich doch bitte um dies, stellen Sie doch das erst einmal zurück. Könnten Sie wohl diese Woche die Studenten übernehmen? Danke, wie nett, Sie wissen doch, meine Verpflichtungen in den Ausschüssen.«
Nein, so wie bisher konnte es nicht weitergehen. So kam er mit seiner Forschung nicht weiter, nicht auf seinem geheimen Spezialgebiet. Er brauchte mehr Zeit, mehr Geld, mehr Möglichkeiten.
Simon sah aus dem riesigen Panoramafenster, das den Raum wie eine gläserne Hülle umgab. Was für ein Blick. Der See lag ganz ruhig, zum Greifen nah. Die steile Bergkette entstieg der Uferlinie und spiegelte sich in der ebenmäßigen Oberfläche, als hätte man einen Zwillingsberg kopfüber hineingetaucht.
Oben und unten mit einer klaren Trennungslinie. Genau wie im Institut. Und dabei ist alles nur eine Frage der Perspektive.
Simon seufzte. So ein schöner Fleck Erde mitten in Deutschland – oder vielmehr direkt an der Grenze, ganz unten im Süden. Besser als die Häuserschluchten der Großstadt, der Verkehr, der Gestank, der Lärm. Vielleicht sollte er einfach mal länger ausspannen. Einfach mal raus aus dem Trott. Welchen Sinn hatte seine Tätigkeit unter der Knute von Niemüller überhaupt noch? Im rückständigen, innovationsfeindlichen, überregulierten Deutschland? Warum hatte kürzlich sogar der größte Chemiekonzern des Landes verkündet, seine Gentechnikforschung in Deutschland aufzugeben und die ganze Sparte in die USA zu verlagern? Ginge Simon mit seinen geheimen Forschungsergebnissen hier an die Öffentlichkeit, würde ihm statt des verdienten Lobes wahrscheinlich ein Aufschrei der Entrüstung entgegenhallen. Und das wäre noch nicht alles. Nein, sie würden ihn drankriegen wegen irgendwelcher Verstöße gegen die den Bürokraten heiligen Richtlinien, Vorschriften und Paragraphen. Wie er das hasste, das Eingezwängtsein in dieses immer enger werdende Korsett der Regelungsfetischisten mit ihren Folterwerkzeugen: die Gentechnik-Sicherheitsverordnung, das Gesetz zur Regelung der Gentechnik und, und, und. Er würde seinen Job verlieren. Woanders der Nobelpreis, hier mit einem Zwischenstopp im Gerichtssaal auf die Straße gesetzt. War es das alles wert? Sollte er nicht viel lieber den ganzen Krempel hinwerfen, ein Sabbatjahr einlegen und sich dann an einer Universität in den Staaten bewerben? Oder doch endlich tun, was Katja von ihm verlangte, der Forschung abschwören und im Betrieb ihres Vaters eine ruhige Nummer schieben? Vater von plärrenden Kindern werden statt von stummen, seltsamen Zellkulturen, die sich nur unter dem Mikroskop betrachten ließen?
Simon erschrak. Was sollte das denn nun werden? Der Ausbruch einer vorgezogenen Midlife-Crisis? Jetzt nur nicht resignieren und in Depressionen versauern. Alles hinzuwerfen war genauso unsinnig, wie mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Sich erst mal gedulden, weiterarbeiten, nach Kompromissen suchen. Dann würde sich schon etwas ergeben. Vielleicht. Man kann nie wissen.
In diesem Augenblick öffnete sich ruckartig die Tür und ein großgewachsener Mann so um die fünfzig betrat mit quietschenden Badelatschen den Raum. Graumeliertes Haar, eine hohe Stirn mit einem Ansatz von Geheimratsecken, schmale Lippen und eine kühn geschwungene Nase. Der Mann blickte sich um, nickte Simon mit übertriebener Freundlichkeit zu und fläzte sich auf den Liegestuhl direkt neben ihm. Musste das jetzt sein? Alle anderen Liegen waren doch frei. Entschlusskraft und Selbstbewusstsein sprach aus seinen Zügen. Und eine ausgeprägte Kontaktfreudigkeit aus seiner Stimme. Simon stöhnte innerlich auf.
»Ist das nicht ein großartiger Ort hier?«, sagte der Mann mit einem unüberhörbar amerikanischen Akzent und sah Simon neugierig an.
Irgendwo aus den Südstaaten, dachte Simon und erinnerte sich an seine Studiensemester in den Staaten. Wäre er nur dortgeblieben.
»Fast wie bei uns in den Rocky Mountains«, strahlte der Ami ihn an. »Und da machen Sie so ein Gesicht?«
Simon, von dem jovialen Neuankömmling jäh aus seinen Gedanken gerissen, versuchte, etwas Passendes zu antworten. »Ein Gesicht? Ich bin nur ein wenig müde.«
»Müde? Warum denn?«, erkundigte sich der Ami mitfühlend. »Ich bin niemals müde. Müde ist was für impotente Männer ohne Visionen. Nun, es wird Ihnen gleich viel besser gehen. Also, ich fühle mich blendend nach der Sauna.« Er streckte Simon die Hand entgegen. »Greyson, Fred Greyson.«
»Haydeck, Simon Haydeck«, brummte Simon, der sich möglichst rasch wieder ungestört in seiner Gedankenwelt einigeln wollte.
»Sehr erfreut, Herr Haydeck. Schauen Sie mal dort drüben! Die Sonne beleuchtet genau die beiden kleinen Inseln da hinten. Oh wie wundervoll, dieses türkisfarbene Wasser. Ich habe mir erst kürzlich eine Insel in der Karibik gekauft, es ist so schön dort! Nächste Woche werde ich wieder dort vorbeischauen. Kleine Geschäftsreise, wissen Sie. Man muss das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.«
Eine eigene Insel! Kaum zu fassen, dachte Simon, so ein Aufschneider. Bestimmt ein reicher Geschäftsmann, der vor Geld kaum laufen kann. Seine Gedanken kamen ins Trudeln, entglitten seinem Griff wie glitschige Fische im Wasser. Draußen kräuselte ein Windstoß die Oberfläche des Sees und ließ das Spiegelbild der Berge in viele kleine Teile zerspringen. Real war eben doch nur der Teil oberhalb der Trennungslinie. Was oben war, zählte.
»Sie sind bestimmt einer der Forscher vom Kongress, oder?« Greysons Stimme zwang Simon wieder in die Realität zurück. »Immer konzentriert, immer nur ein Leben für die Wissenschaft. Relax, Dr. Simon! Enjoy!« Greyson grinste breit, nestelte ein Handy aus der Tasche seines Bademantels und brabbelte etwas Unverständliches hinein.
In Simons Kehle bildete sich ein dickes Knäuel Ärger. Er war im Ruheraum eines gediegenen Hotels, hatte sich gerade in tiefschürfende Gedanken über sein Leben und Streben versenkt und zögerlich begonnen, sich endlich einmal all den schwierigen offenen Fragen zu stellen, die er im normalen Arbeitsalltag allzu gerne verdrängte, und jetzt sägte dieser aufdringliche Ami an seinen Nerven. Es wurde immer enger in seinem Hals, das Knäuel ließ sich nicht herunterschlucken, schien eher noch weiter zu wachsen, wollte ihm die Luft nehmen.
»Träumen Sie auch manchmal von Inseln in der Karibik, Herr Haydeck? Machen, was man wirklich möchte? Vielleicht in netter Begleitung?« Greyson blinzelte ihm verschwörerisch zu.
Karibik. Das war zu viel. Zeit, die Notbremse zu ziehen. Simon setzte sich auf und griff nach seinem Buch. »Vielen Dank für Ihre netten Worte, Mr. Greyson, aber ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.«
»Nur einen Moment noch, Herr Doktor!«
Die Tür sprang auf und ein junger Ober trug mit wichtigem Blick ein Tablett herein. Zwei bunte Cocktails leuchteten aus ihren Gläsern, mit Früchten auf dem Rand und kleinen Glitzerpalmen obendrauf.
Simon konnte es nicht fassen. Zwei Männer in Bademänteln nachmittags im Ruheraum, und der Ami startet eine Party.
Greyson steckte dem Ober einen 50-Euro-Schein zu, drückte Simon eines der Gläser in die Hand und prostete ihm zu. »Cheers, Herr Dr. Haydeck!«
»Also, Mr. Greyson, ich weiß nicht …«
»Natürlich wissen Sie! Cheers! Auf das Leben!«
Simon zog an dem Strohhalm. Mmh. Etwas Karibisches. Er schmeckte Kokosnuss, Ananassaft, andere Früchte und das Spritige des Alkohols. Kräftig geladen, der Cocktail. Angenehme Wärme wanderte seinen Hals hinunter, die Speiseröhre entlang Richtung Magen, machte sich daran, das Knäuel aufzulösen. Er nahm noch einen tiefen Zug und ließ sich wieder auf die Liege gleiten. Greyson war zwar eine Nervensäge, aber immerhin von ganz anderem Kaliber als Niemüller und die Hildebrand, und vielleicht hatte er ja sogar recht. Entspannen, relaxen, genießen. War das so verkehrt? Vielleicht sollte er wirklich öfters mal fünfe gerade sein lassen. Noch ein Schuss Karibik kam durch den Strohhalm und nahm den Rest des Ärgers mit sich.
»Sehen Sie, Herr Haydeck, man muss nur auf die richtige Seite des Lebens gelangen. Der richtige Job, die richtigen Freunde, die richtige Wissenschaft …«, sagte Greyson fast beiläufig und starrte auf den See hinaus.
Die richtigen Freunde? Der richtige Job? Was sollte das denn heißen? Simon merkte, wie sich die Karibik allmählich in seinem Gehirn auszubreiten begann. Strände, Palmen, türkisfarbenes Wasser statt Labortischen und Apparaturen. Die richtige Seite? Wo war die richtige Seite?
Greyson erhob sich. »Nett, Sie kennengelernt zu haben, Herr Dr. Haydeck. Viel Erfolg bei Ihren Vorbereitungen!« Er prostete Simon noch einmal zu und schlurfte zur Tür. »Nett auch Ihr Vortrag. Aber Sie können mehr, Simon, ich weiß es, Sie können mehr.« Die Tür klatschte zu.
Simon stocherte mit dem Strohhalm in dem Bodensatz aus gecrashtem Eis und verdünntem Cocktail herum. Vorbereitungen. Vorbereitungen und Kleingruppenarbeit. War das die richtige Wissenschaft? Natürlich konnte er mehr. Wenn man ihn denn ließ.
Die Tür öffnete sich erneut einen Spalt. Greyson steckte seine kühn geschwungene Nase herein. »Denken Sie über die richtige Seite nach, Herr Dr. Haydeck! Über die richtige Wissenschaft. Und über die richtigen Freunde! Nun, Ihr Professor Niemüller gehört sicherlich nicht dazu.«
Berlin-Charlottenburg
Mit raumgreifenden Schritten eilte Reimers durch den mit dickem blauem Teppichboden ausgelegten Raum, ganz so, wie er es von seinen Baustellen gewohnt war. Im Vorbeigehen griff er sich ein Glas Sekt, das ihm die zierliche Bedienung auf einem Tablett entgegenhielt. Er steuerte mitten durch die anderen Besucher, die an Stehtischen ihren Drinks und Kanapees zusprachen, auf die zweiflüglige Eingangstür zum großen Saal des Hotels zu.
Drinnen warfen die mächtigen Kronleuchter skurrile Schatten auf die rosa Wandtapeten. In fast militärisch präziser Art waren vierzig Reihen von Stühlen mit dunkelrotem Samtpolster aufgebaut, die etwa zur Hälfte besetzt waren. An der Stirnseite standen in der Mitte ein Pult mit Mikrofon und daneben jeweils zwei Tische, auf denen sich Aktenordner und Schreibutensilien stapelten.
Reimers sondierte kurz die Lage und setzte sich danach auf einen Stuhl direkt am Mittelgang in der letzten Reihe. In Situationen wie dieser war es besonders wichtig, die Konkurrenz im Auge behalten zu können.
Ein Glöckchen ertönte, und die Leute aus dem Vorraum drängten herein. Ein Herr im dunklen Anzug mit Weste, dessen Schläfen ergraut waren, baute sich hinter dem Pult auf, einige junge Damen und Herren in geschäftsmäßigem Outfit platzierten sich hinter den Tischen.
Reimers schaute auf. Der Mann, der da zum Hammer griff, nötigte ihm Bewunderung ab. Ein Pionier. Jemand, der seine Ideen durchbrachte. Warum immer nur Bilder und Möbel? Warum nicht gleich ein ganzes Haus? Da stand der Erfinder der Auktionen für Immobilien und eröffnete die Schlacht.
»Sehr geehrte Damen und Herren«, begann Hans Peter Plettner und schaute über seine Halbbrille, »ich begrüße Sie herzlich zu unserer großen Frühjahrsauktion. Die Bedingungen für die Versteigerung von Objekten finden Sie hinten im Katalog.«
Tja, dachte Reimers, der etwas andere Katalog. Hier gab es alles vom Einfamilienhaus bis zum eigenen Schloss. Die Deutsche Grundstücksauktionen AG war bereit, ihr Füllhorn zu öffnen.
»Ist der Zuschlag erfolgt, wird der notarielle Kaufvertrag gleich hier im Anschluss geschlossen. Wir beginnen mit Position Nr. 1 im Katalog, ein Mietshaus mit 24 Wohnungen in Berlin Mitte. Startgebot 1,6 Millionen Euro. Wer bietet mehr als 1 600 000 Euro?«
Reimers sah sich um. Etwa zehn Parteien begannen, sich um das Haus zu kabbeln. Sollten sie ruhig, sein Einsatz würde kommen, wenn auch seine Zeit gekommen war.
»Zwei Millionen? Sehe ich mehr als zwei Millionen? Zum Ersten, Zweiten und … zum Dritten.«
Na gut, dachte Reimers, weniger als 100 000 pro Wohnung, billig saniert und teuer weiterverkauft, da würde sich bald jemand den nächsten neuen Daimler in die Garage stellen können.
»Objekt Nr. 2, Hotel in Warnemünde. Anfangsgebot 1,2 Millionen. Sehe ich mehr?«
Wieder entspann sich ein eifriges Gerangel, das Reimers mit ungeduldiger Langeweile verfolgte. Diese Stühle waren aber auch unbequem.
»1,85 Millionen. Sehe ich mehr? Zum Ersten, Zweiten und … zum Dritten.«
Na endlich, dachte Reimers, ich habe schließlich nicht ewig Zeit.
»Objekt Nr. 3, Gebäudekomplex nordöstlich von Anklam in Mecklenburg-Vorpommern, 32 Zimmer, Nebengebäude, Garagen, stark baufälliger Zustand, Startgebot 600 000 Euro.«
Baufällig ist gut, dachte Reimers, Ruine wäre zutreffender. Und sag doch ruhig MeckPomm wie alle Wessis. Er studierte die im Kampfgebiet aufmarschierten Feinde. Hartmann aus Hamburg, Klinger, der Platzhirsch aus Wilmersdorf, und diese penetrante Frau aus Rostock in ihrem blauen Kostüm. Sonst wer? Nein, das war’s wohl.
»Sehe ich 625 000?«, fragte der Auktionator.
Reimers hob den Arm. Hartmann zog nach. Das blaue Kostüm ebenfalls.
»650 000?«
Noch eine weitere Interessentengruppe nahm den Kampf auf. Ein Anzugmann rechts seitlich von den Tischen hatte ein Handy am Ohr und ruderte heftig mit den Armen, um seinen anonymen Bieter im Rennen zu halten. Reimers fiel auf, dass sein Anzug schlecht saß und er unter seiner teuren grauen Hose seltsame Stiefel trug. Cowboystiefel? Und reichlich abgetragene noch dazu. Komischer Kauz. Was hatte der denn hier zu suchen?
»675. Sehe ich mehr als 675?«, fragte der Auktionator und lugte über seine Halbbrille. Ein kleiner nach Fernost aussehender Mann meldete sich. Japse an der Ostsee? Das konnte ja heiter werden. Bald hat man nirgendwo mehr seine Ruhe. Grimmig hob Reimers die Hand. Hartmann, Klinger und das Kostüm blieben dran. Der Anzugfritze schien es schon wieder aufgegeben zu haben.
»Irgendwo mehr als 850?«
Die anderen zögerten. Richtig so, dachte Reimers, großes Grundstück zwar, Gebäude nur Schrott. Aber er wusste Bescheid, er war der Beste, kannte alle maßgeblichen Leute da oben, hatte schon alles durchgeplant und durchgerechnet, ein schönes Hotel, und die Kohle käme von ganz alleine.
»850 zum Ersten, zum …«
Der blaue Ärmel schoss nach oben. Der Asiate konterte. Klinger sah zu Reimers herüber, als wolle er sagen: »Na, traust du dich?«
Kannste haben, Piefke, dachte Reimers und bot weiter. Die Schmerzgrenze begann sich drohend vor ihm abzuzeichnen.
»Eine Million? Sehe ich eine Million?«
Rostock nestelte nervös an ihrem Handtäschchen.
»1,1 Millionen«, krächzte der Japaner. Oder Koreaner? Chinese? Reimers kannte sich da nicht so aus. Solange es nur kein Vietnamese war.
Das blaue Kostüm packte die Handtasche und stapfte auf den Ausgang zu wie ein unartiges Kind. Klinger bot natürlich mit, schon aus Prinzip. Hartmann schüttelte den Kopf und tuschelte mit seinem Nachbarn.
»1,3 Millionen«, verkündete der Asiate.
Was soll das denn jetzt, fragte sich Reimers. 1,3 Millionen für ein Sanierungsobjekt am Arsch der Welt, umgeben von Sumpf, Wald und Schilf? Ich habe das durchgerechnet, habe alle Genehmigungen sicher, wer will denn da …
Es kam wieder Leben in den schlecht sitzenden Anzug an der Seite. Na nu, hatte gedacht, der sei längst draußen. Der wird doch nicht … Der Mann darin nahm das Handy vom Ohr: »1,5 Millionen.«
Der Auktionator sah erstaunt zur Seite. »Sehe ich mehr als …«
»1,6«, sagte der Japaner. Klinger sagte nichts mehr.
Der Handymann sprach aufgeregt mit dem unsichtbaren Bieter, ließ das Telefon sinken. »2,5 Millionen«, flüsterte er, als er könne er es selbst kaum glauben.
Reimers war fassungslos. Waren hier nur Verrückte am Werk?
»2,5 Millionen zum Ersten, zum Zweiten …?«
Der Japs winkte ab.
»Und zum Dritten!« Der Hammer krachte auf das Pult.
Schiete, dachte Reimers. Alle Planung und die vielen kleinen Gefälligkeiten zum Teufel. Und das bei einem Heimspiel. Wie stand er jetzt da? Jemand hatte den König von Vorpommern gestürzt, irgendein stinkreicher Feigling, der sich hinter einem Telefon versteckte. Ein Kloß von der gefühlten Größe einer Apfelsine bildete sich in seinem Hals. Reimers sprang auf. Er knallte den Versteigerungsprospekt auf den Boden und stampfte aus dem Saal wie ein wütendes Nashorn.
»Darf ich Sie zu einem Glas Sekt einladen, Herr Reimers?«, sagte da eine schlanke junge Frau mit dunklem Teint und schwarzen Locken, hakte sich einfach bei ihm unter und zog ihn zu einem der verwaisten Stehtische. Sie strahlte ihn fröhlich lächelnd an. Diese makellos weißen Zähne. Vielleicht eine Holländerin, von Übersee, dachte Reimers, als die Frau mit ihrem charmanten Akzent begann, ihm einen Vorschlag zu machen, während die Cowboystiefel am Ende des schlecht sitzenden Anzugs leise dazutraten.
Reimers glaubte zunächst, die hübsche Dame wolle ihn auf den Arm nehmen, aber ein Blick in ihre tiefen, schwarzen Augen belehrte ihn eines Besseren. »Unmöglich«, antwortete er, »nicht in der knappen Zeit. Völlig unmöglich.«
»Für die anderen hier vielleicht, aber doch nicht für Sie, Herr Reimers«, sagte die Frau und rückte näher heran. »Nicht für den König von Vorpommern, nicht wahr?« Dabei zwinkerte sie ihm vertraulich zu. Der gestiefelte Anzugfritze nickte und schwieg zu allem, was sie sagte. Ihre dunklen Augen schienen immer dunkler zu werden, dann wieder heller, ein Farbenspiel in Schwarz, nahmen ihn gefangen, ließen seinen Blick nicht mehr frei, schauten sich in seinem Inneren um.
»Ich mache es«, hörte er sich sagen, »ja, zum Teufel, das schaffe ich.«
Noch eine Minute länger in diese Augen geschaut, und er hätte fest geglaubt, fliegen zu können.
Eibsee, Oberbayern
Simon sah auf den See hinaus. Die Abendsonne kitzelte mit letzten Strahlen die kleinen Inseln auf dem Wasser, schob sich hinter die hohen Felswände des Wettersteingebirges, beleuchtete sie noch einen Augenblick von hinten, als seien sie eine Kulisse im Theater, und überließ den Himmel dann der Dämmerung. Simons Körper, von Sauna und Cocktail müde gespielt, rief nach einem Schläfchen, seine Gedanken kämpften dagegen an, mühten sich ab, diesen Mr. Greyson zu fassen, seine kryptischen Sätze in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Gedimmte Lampen gingen an, tauchten den Raum in mildes Licht, spiegelten sich wie Sterne in den Scheiben, während draußen die Dunkelheit das Kommando übernahm.
Richtige Seite? Klang nach leerem Geschwätz. Ist sowieso immer die, auf die man sich selbst stellt. Richtige Wissenschaft? Was sollte das sein? Die Wissenschaft, von der er träumte? Für die er genauso verbissen wie die meiste Zeit vergeblich schon immer gekämpft hatte? Aber um seine eigene heimliche richtige Wissenschaft ungestört weiterbetreiben zu können, musste er jetzt jedenfalls die Form wahren, morgen die Kleingruppe machen und sich heute Abend ordentlich darauf vorbereiten. Morgen Abend konnte er dann vielleicht in den Ort hinunterfahren, wenn es gelang, die Seminarteilnehmer abzuschütteln, und Sonntag ging es zurück nach Hamburg. Und zu Katja. Dann war immer noch genug Zeit für krause Gedanken und Selbstzweifel.
Simon stapfte zurück in sein Zimmer, zwang die Müdigkeit in die Warteschleife und machte sich an die Arbeit.
Mecklenburg-Vorpommern
Fehlender Standstreifen, 120 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit. Einfach lächerlich. Und so was nennt man hier Autobahn. Reimers trat das Gaspedal durch. Schon zu DDR-Zeiten hatte er sich weder von Schlaglöchern noch von der Hundertkilometerbegrenzung beeindrucken lassen. Hier kam der heimliche König von Vorpommern nach Hause in sein Reich. Reimers hackte auf die Lichthupe ein, blinkte sich die Bahn frei, schob mit seinem dicken Geländewagen einen Kleinwagen fast in den Graben. »Idiot!«
»Was?«
»Ich meine nicht Sie, Bürgermeister, sondern die Schnarchnase in der Suzukikiste hier vor mir«, brüllte er in die Freisprechanlage. »Ja, morgen früh um neun Uhr in meinem Büro. Was? Samstag? Na und? Wir haben keine Minute Zeit zu verlieren. Bis morgen!«
Amtsträger. Faulpelze. Mit dem Projekt würde er ihnen Beine machen. Und wer nicht laufen wollte, dem würde er zeigen, wie man läuft. Er drückte die nächste eingespeicherte Nummer.
»Reimers Bau, Sie sprechen mit …«
»Ja, Kerstin, mit dir«, platzte Reimers los, »hör zu …« Ein Laster wollte ausscheren, Reimers gab Dauerfeuer mit der Lichthupe.
»Hast du’s? Ich möchte sie alle dahaben, morgen um neun. Und dich natürlich, mit mindestens zwanzig Litern Kaffee!«
Reimers legte auf. Nein, er hatte nicht zu viel versprochen. Im Gegenteil. Arbeit, reichlich Jobs und viel Geld. Er strich mit der rechten Hand über den Aktenkoffer auf dem Beifahrersitz. Dann öffnete er ihn. Einhunderttausend Euro in bar. Geld stinkt nicht? Nein, es duftet. Er atmete so tief ein, wie er konnte. Ein feiner metallisch-staubiger, ganz vage parfümartiger Geruch kroch in seine Nase, begleitet von einem Hauch wie von feuchtem Papier. Er liebte dieses Aroma. Liebte das, von dem es ausströmte. Damit konnte man etwas anfangen.
»Nur eine kleine Anzahlung«, hatte die exotisch hübsche Frau mit den betörend schwarzen Augen und den blendend weißen Zähnen nach der Auktion gesagt. »Für Ihre Auslagen.«
Eibsee, Oberbayern
»Walnussparfait an einer Komposition von Waldfrüchten!«
Die brünette junge Frau stellte die riesigen Glasteller, auf denen die Beeren mit dem Eis in der Mitte Fangen zu spielen schienen, auf den Tisch und gewährte als Zugabe noch einen Blick in ihr beachtliches Dekolleté. »Guten Appetit!«
»Werden wir haben«, sagte Simon. Er blickte zu seinen Kollegen hinüber. Die beiden Männer waren noch immer in ihren Disput über ein ungemein wichtiges mikrobiologisches Problem vertieft und verpassten so die makrobiologischen Sehenswürdigkeiten. Die appetitliche Bedienung in ihrem Dirndlkleid stolzierte davon und balancierte einen Turm von gebrauchten Tellern zur Küche.
»Nehmen wir danach noch einen Drink an der Bar?«, fragte Simon in Richtung der Mikrobiologieexperten.
Kopfschütteln. Die Arbeit ruft. Natürlich.
Tja, war das die wahre Wissenschaft? Wohl kaum jene richtige Wissenschaft, von der dieser Greyson gesprochen hatte. Simon rollte mit dem Löffel die dicken Blaubeeren auf seinem Teller hin und her und versuchte, mit einem präzisen Pass das Eis auszuspielen.
Und die wahren, richtigen Freunde? Was war aus seinen guten Freunden geworden? Kleine Kinder, Windelnwechseln, wo kauft man die gesündesten Bio-Gemüsegläschen, entschuldige, ich muss jetzt Ben und Leon zur Krabbelgruppe bringen, treffen wir uns später auf dem Spielplatz? Oder unvermindert wildes Leben, Party, je später desto besser, Sex, Drugs and Rock’n’Roll, verkrampft jung geblieben, ewige Flucht vor dem Erwachsenwerden, und jetzt rennt die Zukunft vor euch davon. Tja, wo waren seine Freunde geblieben? Die Karrieristen, die nur noch ihren Beruf und ihre Ellbogenarbeit im Kopf und sowieso zu nichts Zeit hatten? Die Kollegen vom Institut? Ganz überwiegend Vertreter der Kinder- und Karrieristengruppe sowie ihrer verschiedenen Schnittmengen, mit denen er jeden Privatkontakt mied. Seine Kumpels vom Squash? Kai, der Chaosforscher, und seine Freaks, die ihm am Rande der Legalität und darüber hinaus schon so manchen Gefallen getan hatten, wofür er sich auf ähnlich zwielichtige Weise revanchierte? Und Katja? Die wusste auch immer, was das »Wahre« und »Richtige« für ihn war, und sie würde wohl keine Ruhe geben, bis sie ihn in das Bild von dem Mann verwandelt hatte, den sie für sich und ihre Familie haben wollte. Aber ob sie auch ihn, Simon, eigentlich haben wollte oder nur dieses Bild, dessen war er sich mittlerweile nicht mehr ganz sicher.
Das Dirndl kam zurück. »Haben die Herren noch einen Wunsch?«, gurrte sie.
Tja, wenn ich dich so ansehe, dachte Simon. Schon, ja. Aber natürlich war das hier ein seriöses Hotel, in dem man möglichst nur Wünsche aussprach, die sich auch mit Hilfe der Speisekarte befriedigen ließen. Und da war ja auch Katja, noch immer, auch wenn sie ihm dieses leidige Ultimatum gestellt hatte: entweder mehr Zeit für sie und weniger für die Forschung oder auf einen Schlag ganz viel Zeit für seine Arbeit und tschüss. »Überlege es dir bis übernächstes Wochenende«, hatte sie ihm als Verabschiedung in ihrem typisch schnippischen Tonfall auf die Reise mitgegeben.
Simon seufzte. Er steckte in einer Zwickmühle, aus der ihn auch kein erträumtes romantisches Abenteuer mit einem über Gebühr gastfreundlichen Serviermädchen des Eibsee-Hotels zu befreien vermochte. Er sah die geduldig Wartende abschiedsvoll lächelnd noch einmal an und stellte sich vor, wie er seinen Kopf in diesem breiten bajuwarischen Dekolleté vergrub und sie die Arme um ihn legte und ihn noch tiefer in sich hineindrückte. Einfach tief ineinander hinein, ohne zu denken. Eine bodenständige, normale Frau, die ihn nahm, wie er war, und sich mit ihm bedingungslos in die rauschhaften Freuden der Nacht stürzte, keine überkandidelte Tochter aus besserem Hause, mit der man vor jedem Kuss erst unzählige Grundsatzdiskussionen führen musste. Er schüttelte den müßigen Traum von sich.
»Danke, nein. Wir sind wunschlos glücklich«, log Simon und stand auf. »Gute Nacht allerseits.« Er verließ das Restaurant und steuerte die Aufzüge an.
»Dr. Haydeck! Guten Abend! Nehmen Sie mit mir noch einen Drink an der Bar?«, rief jemand laut von der Seite, wo rechts einige Stufen hinaufführten. Vor dem mit dunklem Leder gepolsterten Tresen stand Greyson und winkte ihm zu.
Die richtige Seite? Na gut, fühlen wir dem Angeber mal auf den Zahn. Simon bog ab und stieg die kleine Treppe hinauf.
»Was nehmen Sie?«, fragte Greyson und winkte schon nach dem Barkeeper.
Simon dachte an seine Zeit als kleiner Knirps beim Judo. Wer zuerst greift, ist im Vorteil. Pack ihn. »Sie wissen ziemlich viel über mich, stimmt’s, Greyson?«
»Nun ja …«
»Aber nicht alles. Wie zum Beispiel, dass ich als Uniforscher ein fürstliches Gehalt beziehe, das nicht nur für jede Trauminsel, sondern sogar noch für Ihren Drink locker reicht. Also Greyson: Was nehmen Sie?«
»Wenn das so ist … Nun, Champagner natürlich«, feixte der Ami. »Zu diesem Abend passt Champagner.«
Mist. Der Typ hatte ihn drangekriegt. Simons Sparsamkeitsgen machte sich bemerkbar, mahnte zur Vernunft. »Also zwei Gläser …« Seine sture Seite meldete sich, verbündete sich mit seinem Kampfgeist. Einmal herausgefordert, richtig dagegenhalten. »Eine Flasche Veuve Clicquot bitte.«
Ein breites Grinsen überzog das Gesicht des Amerikaners.
»Woher kennen Sie meinen Chef?«, fragte Simon.
»Wie kommen Sie darauf, dass ich ihn kenne? Weil ich seinen Namen genannt habe? Nun, heute beim Frühstück unterhielten sich einige Kongressteilnehmer laut über Ihr Institut, ich war quasi gezwungen zuzuhören.« Das breite Grinsen schrumpfte zu einem unverbindlichen Lächeln.
Sackgasse. Der Typ schwindelte, ohne eine Miene zu verziehen. Vom Lächeln mal abgesehen.
»Und darf man fragen, was Sie so treiben, Mr. Greyson?«
»Selbstverständlich dürfen Sie. Ich verkaufe Dinge.«
»Dinge? Das ist ein wenig – allgemein.«
»Nun ja, schon besondere Dinge. Einzigartige könnte man sagen.«
»Einzigartige Dinge?«
»Dr. Haydeck, was tun Kinder am liebsten?« Greyson nippte an seinem Schampus.
»Spielen?«
»Ja, natürlich auch, aber was tun sie am allerliebsten?«
Simon zuckte die Schultern.
»Wetteifern. Sie möchten sich ständig übertrumpfen. Ich renne schneller als du, ich bin viel stärker, mein Bagger ist am größten und immer so weiter. Und was wird aus Kindern? Sie werden erwachsen. Aber sie wollen einander immer noch übertreffen, mehr sogar als je zuvor.«
Eine Flasche Champagner für diese Story. Schlechtes Geschäft, Simon. Er nippte an seinem Glas. »Ist das nicht eine ziemlich alberne Sichtweise, Mr. Greyson?«
»Albern? Natürlich. Aber das ist der Lauf der Welt, mein Lieber.« Greyson leerte sein Glas, als sei es dünnes Budweiser-Bier. »Waren Sie mal in Monaco, Herr Haydeck?«
»Ich war einige Stunden dort und froh, schnell wieder wegzukommen. Spielkasino, Hochhäuser, hochnäsige Menschen, protzige Wagen und all das Zeug. Nicht meine Welt.«
»Aber der Hafen? Sie erinnern sich doch bestimmt an den Hafen? Der Bankmanager hat eine 30-Meter-Jacht. Der Immobilientycoon kauft sich eine 40-Meter-Jacht und der Scheich oder neureiche Russe nebenan gibt daraufhin eine 50-Meter-Jacht in Auftrag. Kinder, Herr Dr. Haydeck. Große, aber sehr, sehr reiche Kinder!«
»Sie verkaufen also Schiffe an große reiche Kinder?«
»Aber nein, wo sollten wir denn hier Schluss machen? Bei hundert Metern, bei zweihundert Metern? Bei fünf Decks oder zehn? Nein, so etwas langweilt meine Kunden.«
Der Spinner. »Eine 100-Meter-Jacht langweilt Ihre Kunden? Was langweilt sie denn nicht?«
»Eben das Einzigartige, das Besondere.«
»Ich nehme an, Ihre Kunden sind dann auch etwas ganz Besonderes?«
»Zumindest was ihren finanziellen Hintergrund angeht«, lächelte Greyson, »ist das durchaus zutreffend.«
Rocky Mountains bei Whistler
Er schaute die steile Piste hinunter und machte sich bereit, die letzte Kontrollfahrt zu beginnen. Schneefall hatte eingesetzt, die Spuren der letzten Skifahrer verwischten, lösten sich auf. Sein Walkie-Talkie meldete sich. »Komm doch bitte mal rüber«, hörte er Susans Stimme, »hier bei der Hütte stehen noch ein halbes Dutzend Skier und ein schwarzer Motorschlitten. Ich geh rein und check das ab.« Er stopfte den Apparat wieder in die Tasche seiner roten Pistenscoutjacke und fuhr los. Eine knappe Minute und er wäre bei Neds Ice Tiger Hut.
Merkwürdig, dreißig Minuten nach Schließung der Lifte war hier oben normalerweise niemand mehr unterwegs. Ein ungutes Gefühl packte ihn. Eigentlich hätte jetzt er statt Susan bei Neds Ice Tiger Hut sein müssen. Und dort schon vor einer Stunde das Material von seinem Kontaktmann übernehmen sollen. Aber der Anruf war nicht gekommen. Er schwang über die nächste Kuppe und sah am Ende des Hangs das dick verschneite Dach der Hütte. Jemand rannte heraus. Die rote Jacke … das konnte nur Susan sein. Sie sprang in ihre am Boden liegenden Skier und stieß sich hektisch mit den Stöcken ab. Noch jemand stürzte aus der Hütte. Susan erreichte den Rand der Piste. Die Gestalt hob den Arm und zielte. Zwei Schüsse peitschten durch die Stille. Susan schwankte kurz, fiel nach vorn und blieb schließlich kopfüber im Schnee liegen.
Es war, als gefröre sein Rücken zu einem festen Block. Jetzt war es Gewissheit. Das Treffen war aufgeflogen und jetzt hatten sie es auf ihn abgesehen. Und außerdem lastete nun Susan auf seinem Gewissen, die von alledem nichts wissen konnte. Eine Kälte, die nichts mit den schneidenden Minusgraden des kanadischen Februarabends zu tun hatte, durchdrang seinen Bauch, ließ sein Blut stocken, schickte flüssiges Eis in seine Beine, die Arme, den Kopf, ließ seine klammen Hände zittern. Der Killer drehte sich, sah herüber und hob die Waffe. Die Jagd war eröffnet. Da rammte er die Kanten seiner Skier in die harte Piste, donnerte den steilen Hang hinab, Eisbröckchen und Schnee stoben auf, er warf sich in die Kurve. Ein Schuss knallte. Er stieß sich von einem kleinen Buckel ab, hechtete nach vorne, machte eine Rolle schräg zur Seite, kam wieder auf die Füße und sprang über die nächste Kuppe. Weitere Schüsse, der Schnee neben ihm spritzte auf. Ihr Schweine! Aber so leicht bekommt ihr mich nicht! Laute Kommandos in einer fremden Sprache hallten durch die Stille, er konnte sich denken, welche Sprache es war. Das Geräusch eines startenden Motorschlittens. Noch einige Sekunden, dann würden sie ihm folgen. Seine Skier flatterten und sprangen hin und her, als er über einige Bodenwellen raste, waren kaum zu halten, rissen an seinen Muskeln.
Ein hastiger Blick über die Schulter. Sie waren zu dritt auf Skiern, und dann noch irgendwo der Motorschlitten. Gleich das Steilstück. Er schoss über die nächste Kante und flog über das eisige Gelände. Krachend setzten die Skier auf, er bekam Rücklage, schlug mit dem Rücken auf der betonharten Piste auf, kam wieder hoch, warf alles Gewicht nach vorn. Wenn du jetzt stürzt, brich dir lieber gleich den Hals. Die Buckelpiste. In wildem Stakkato tanzte er durch die eisigen Hindernisse, in den Oberschenkeln zog es, seine Muskeln drohten zu zerreißen. Schrägfahrt, Luft holen, Blick zur Seite. Die Verfolger setzten über die Kante. Der Erste landete schlecht, überschlug sich mehrfach, Skier flogen durch die Luft, noch eine Rolle und er blieb regungslos liegen. Die beiden anderen landeten sicher, steuerten auf die Buckel zu.
Keine dreißig Sekunden, dann käme die flache Passage durch das lange Waldstück. Der Ziehweg. Kein Tempo. Gelegenheit für den Motorschlitten aufzuholen und für die Schützen, zu den Waffen zu greifen. Sein sicherer Tod. Der Wald, seine einzige Chance. Er musste es riskieren. Dort würde zumindest der Schlitten nicht mehr folgen können. Er flog in die nächste Kurve, hier musste er kurzzeitig außer Sicht sein. Er taxierte die Bäume, ihren Abstand. Die Sicht wurde immer schlechter, der Schneefall dichter. Jetzt. Er stieß sich ab, fuhr über den Schneewall am Pistenrand und sprang in den steilen Hang. Der Schnee umfing ihn bis zum Bauch und bremste ihn ab. Er umkurvte die großen Bäume, so knapp es ging, schlängelte sich unter den tief hängenden Ästen hindurch. Schneebrocken klatschten in sein Gesicht, die Lungen schrien nach mehr von der eisigen Luft, die im Hals trotzdem wie Feuer brannte.
Das Jaulen eines Motors. Stimmen. Sie hatten ihn entdeckt, eine Salve Schüsse krachte durch das stille Tal, Holz splitterte neben ihm. Maschinenpistolen. Die Kerle auf dem Schlitten hatten Maschinenpistolen. Er flog um die nächsten dicken Baumstämme, wedelte noch um einige dünne, musste dann schlagartig abbremsen. Eine Wand jüngerer Tannen, wie ein Palisadenzaun, keine Chance, hier weiterzukommen. Er drehte sich um. Oben folgten die beiden Skifahrer über den Pistenwall. Was er dann sah, versetzte ihn in Panik. Die Schlittenfahrer schoben das Gerät ebenfalls über den Wall und fuhren in den Wald hinein. Sie riskierten es tatsächlich.
Aus. Alles aus. Er zitterte am ganzen Körper. Jetzt hast du es doch schon bis hierher geschafft. Er rang die aufkommende Übelkeit nieder. Das hier ist dein Terrain, hier bist du zu Hause. Kämpfe! Das war er Susan, die es statt seiner erwischt hatte, schuldig. Er stieß sich kräftig ab und fuhr mit Tempo auf die verschneite Mauer aus Tannen zu. Äste schlugen ihm gegen Skibrille und Helm, zerrten an Jacke und Hose, versuchten, ihn zu packen. Holz knackte und brach, ein stechender Schmerz explodierte an seiner Hüfte. Ein Sturm aus Eis und Tannennadeln peitschte aus allen Richtungen auf ihn ein, die Brille riss vom Helm, ein Ratscher am linken Oberschenkel, einige heftige Schläge … dann war er durch.
Aber wo? Das Schneetreiben wurde noch dichter. Ein Stückchen Schneefläche und dahinter … scheinbar nichts. Ja, natürlich, knapp unterhalb würde die Schlucht anfangen zu klaffen, Devil’s Gorge, hier ging es hinab. Wo er war? Dem Tod jedenfalls ganz nahe. Wenn er nicht von hinten kam, lauerte er im Gelände vor ihm. Überall versteckte Felsspalten, ehe es in die tief verschneite Rinne der Schlucht hineinging. Da, vor ihm eine Spalte, vielleicht zwei, drei Meter breit, führte nach rechts den Berg wieder etwas hinauf. Dahinter einige Meter weiße Fläche und eine Kante. Der Abfall in die Schlucht. Er schaute nach rechts. Über der Mulde hing ein riesiges Schneebrett, viel zu gefährlich, sich dort hineinzuwagen. Ein Motor jaulte auf. Sie waren jetzt auf der anderen Seite.
Ein Hurrikan aus Angst wirbelte durch seinen Kopf, nahm ihm die Luft, von wegen im Auge des Hurrikans ist es ganz ruhig. Sein Herz flatterte wie die Doublebass eines Heavy-Metal-Schlagzeugers. Denk nach, verdammt nochmal, denk dir was aus! Aus dem Chaos in seinem Hirn löste sich ein klarer Gedanke. Ziemlich verrückt und gewagt, aber … es könnte funktionieren. Und es war die einzige Möglichkeit, die er sah.
Rasch schnallte er die Skier ab, kletterte in die Spalte hinein. Nicht sehr tief war sie, etwa eineinhalb Meter. Schnell setzte er die Skier auf der anderen Seite in den Schnee, nahm das Seil aus dem Rucksack, legte diesen als Gewicht oben auf die Bindung, klemmte die Stopper damit hoch und gab den Skiern einen Schubs in Richtung der Schlucht. Schön parallel zogen sie davon und verschwanden im Nirgendwo. Los jetzt, Tempo! Er hetzte geduckt in der Felsspalte den Berg hinauf, als er das Kreischen des Motors und das Splittern der Äste hörte. Er hatte das Schneebrett fast erreicht und spähte von oben über die Kante. Seine Verfolger durchbrachen gerade den Tannenwall und folgten seiner Spur. Sie näherten sich der Spalte. Der erste Skifahrer schien seine Skispur auf der anderen Seite gesehen zu haben, winkte mit dem Arm und gab Stoff. Er sprang über die Felsspalte, landete und stürzte sich den steilen Hang in das gähnende Maul der Schlucht hinunter. Der zweite folgte. Die Motorschlittenfahrer gaben Gas, übersprangen den Spalt, setzten zu hart auf, schlingerten, steuerten nur noch auf einer der vorderen Kufen quer in die Kurve. Der Schlitten stellte sich auf und riss seine Besatzung mit in den Abgrund.
Stille. Dann Stimmen. Von der Schlucht her. Verdammt, die Teufel hatten sich gerettet, die Falle erkannt, kamen den Hang hochgeklettert. Bald würden sie hier sein.
Er blickte hinauf zu dem Schneebrett. Das war Wahnsinn. Aber seine einzige Chance, den Killern zu entkommen. Rasch band er sich das Seil um den Bauch und wickelte das andere Ende um einen Felsvorsprung. Vorsichtig setzte er die klobigen Skistiefel an die vereisten Wände der Spalte und kletterte nach oben. Er erreichte die Mitte der Schneewehe, holte tief Luft, schloss die Augen und sprang hinein. Unter seinem Gewicht lösten sich einige Tonnen Schnee und rauschten in die Schlucht hinab. Das Seil spannte sich und er schleuderte zurück, prallte gegen die Felswand. Rippen knackten, wie auf Pfeilen ritt der Schmerz durch seinen Brustkorb. Er bekam den Rand des Felsens zu fassen und zog sich mit schwindenden Kräften hoch.
Er öffnete die Augen. Mit dumpfem Dröhnen riss das losgetretene Schneebrett weiteren Schnee mit sich, bildete eine wild brodelnde weiße Masse und raste in den Abgrund der Schlucht. Kleine Felsbrocken, überhängende Bäume, alles nahm die Lawine mit sich. Mit Donnergrollen fegte die wie Gischt schäumende tonnenschwere Walze die Schlucht hinunter, saugte alles auf, was sich ihr in den Weg stellte. Ein entfesselter Albtraum. Für einen kurzen Moment entrang sich ein irres Lachen der Erleichterung seiner Kehle. Dann stockte er und sank keuchend in sich zusammen.
Mühsam setzte er sich auf. Aus allen Teilen seines Körpers flossen die Schmerzen zusammen, versammelten sich in seiner Brust. Wut und Verzweiflung füllten die Leere in seinem Kopf. Die da unten hatten Susan umgebracht. Und wahrscheinlich den Mann, auf den er vergeblich gewartet hatte, der die versprochenen Informationen über die Manipulationen bei den Wahlen in Russland wohl mit ins Jenseits genommen hatte.
Er sah dem tobenden Inferno hinterher. Avalanche, Lawine, bis zu dreihundert Stundenkilometern schnell. Das müsste reichen, dachte er, während er mit zittrigen Fingern nach seinem Walkie-Talkie griff. Sie mussten kommen und ihn hier herausholen.
Im Winter sind es der Schnee und das Eis, die unsicher sind, tödliche Abgründe verbergen können. Auf Stein und Fels dagegen ist Verlass. Meistens jedenfalls.
Als sich der Fels plötzlich absenkte, unter ihm ins Rutschen geriet, mit ihm hinabstürzte in den Schlund des Teufels, hörten seine Gedanken nicht auf in Fassungslosigkeit umherzurasen, bis er weit unten aufschlug und für immer zu denken aufhörte.
Eibsee, Oberbayern
Die Aufzugtür glitt auf und gab den Blick auf die Rezeption frei. Eine junge blonde Frau in der blauen Hoteluniform stand dahinter und telefonierte. Simon zog den Zimmerschlüssel aus der Jackentasche und reichte ihn über den Tresen. Die Blondine bedeutete ihm mit einer Handbewegung, einen Moment zu warten. Von mir aus.
Alles abgearbeitet, der Abend konnte beginnen. Unten in Garmisch würden bald die ersten Lokale zum Après-Ski öffnen, auf der Jagd auch nach Nordlichtern wie ihm, um den kühlen Hanseaten für die nächsten Stunden in ein geldspeiendes Partymonster zu verwandeln. Ihm stand der Sinn nicht nach Monster. Aber er hatte große Lust auf ein kühles, herbes Pils irgendwo abseits vom steifen Hoteltreiben. Und zur Not würde es auch ein bayrisch vollmundiges Helles tun. Oder zwei.
Simon begutachtete die Frau auf der anderen Seite des Tresens. Sie war hübsch, aber nicht sein Typ. Simon stand nicht sonderlich auf Blondinen. Es reichte, wenn er selbst einigermaßen blond war. Ihn lockte mehr die geheimnisvoll dunkle Bauart. Jetzt nimm schon den Schlüssel, verdammt!
Endlich machte das Telefon klick. Das blonde Wesen hinterm Tresen zögerte noch immer, Simons Zimmerschlüssel entgegenzunehmen. »Wollen Sie denn jetzt wirklich weggehen?« Ihr Lächeln war vieldeutig, wenn nicht gar leicht anzüglich. »Die Dame wäre bestimmt enttäuscht.«
»Was für eine Dame?«
»Sie wartet schon seit einigen Minuten. Ich darf vorangehen?« Sie tauchte hinter dem Tresen hervor und stolzierte zur Eingangstür des Restaurants. »Da hinten, am Ecktisch.«
Eine unbändig schwarz gelockte Schönheit mit dunklem Teint, dunklen Augen und dafür umso weißeren, blitzenden Zähnen unterhielt sich gerade angeregt mit der Bedienung und untermalte ihre Worte mit lebhaften Gesten. Von Ebony and Ivory hatte Paul McCartney einst im Duett mit Stevie Wonder gesungen, da war Simon gerade mal zehn oder so. Hier waren nun Ebenholz – na ja, vielleicht doch eher Mahagoni – und Elfenbein in höchster Delikatesse in nur einem Menschen vereint. Womöglich eine Spur zu stark geschminkt, meldete sein nüchterner Beurteilergeist dazwischen, hat so eine das denn nötig? Oder will sie einfach um jeden Preis auf Nummer sicher gehen? Simon jedenfalls steckte den Schlüssel zusammen mit seinen Gedanken an einen Kneipenabend in Garmisch ganz unten in seine Hosentasche und trabte zu dem Tisch hinüber.
»Sie müssen Dr. Haydeck sein.« Eine melodische Stimme mit einem holländischen Akzent. »Bitte setzen Sie sich doch. De Jong. Miriam de Jong. Ich freue mich, dass Sie kommen konnten.«
Simon nahm Platz und suchte verzweifelt nach dem richtigen Spruch. Oh, lass mich ertrinken in deinen dunklen Augen, friss mich auf mit deinen weißen Zähnen. Nur sprechen will ich jetzt nicht. »Blind Date am Eibsee? Speed-Dating? Wie viele Minuten habe ich?«, hörte er sich stattdessen sagen. Wie abgeschmackt.
Immerhin, sein Gegenüber lachte auf. »So viele Sie wollen.« Sie schüttelte ihre Mähne, legte den Kopf selbstbewusst in den Nacken und sagte kokett: »Wie Sie sehen, gibt es nicht nur Ladenhüter beim Dating!« Keine Frage, sie wusste, wie umwerfend sie aussah.
»Ja, allerdings. Sie …«
»Übrigens, ganz so blind ist unser Date nicht. Ich bin Mr. Greysons Assistentin. Ich komme gerade aus Berlin. Er meinte, ich müsste Sie unbedingt kennenlernen.«
»Und wieso?«
Miriam setzte ein übertrieben betroffenes Gesicht auf, um ihm dann ein warmes Lächeln zu schenken. »Weil wir beide, wie er meint, jeweils ein Ekel von Chef haben und eine Schicksalsgemeinschaft der Leidenden bilden sollten.«
Schicksalsgemeinschaft gerne, aber nach Leiden siehst du mir nicht aus. Sie spielte mit ihm, leichthin, locker, aber wie hieß das Spiel? Simon sah sich auf dem Tisch um. Es war für drei Personen gedeckt. Was wurde das hier? Dieser Aufschneider brachte jetzt seine geheime Wunderwaffe zum Einsatz. Seinetwegen? Ein bisschen viel der Ehre. Aber zugegeben, die Geheimwaffe hatte es in sich. Ihre Wirkung wühlte schon in ihm.
»Dr. Haydeck?«
Simon fing seine ausschweifenden Gedanken wieder ein und schaltete in den Konversationsmodus zurück. »Verzeihung! Ich mag Ihren Akzent, und wenn ich Sie so anschaue … da verpasst man schnell mal seinen Einsatz.«
Sie lächelte. Freundlich, offen, Spielpause. »Mein Vater ist niederländischer Diplomat, meine Mutter stammt von den Niederländischen Antillen. Sie sehen, ich bin eine ziemlich bunte Mischung.«
»Aber eine durchaus gelungene!« Bunt? Wie McCartney so schön sang … Aber wenn ich ihr das jetzt sage, findet sie vielleicht irgendeinen Dreh, das Kompliment rassistisch zu finden. Katja jedenfalls würde so reagieren, die war Meister darin, aus jedem Lob eine versteckte Kritik zu destillieren. Also lass es lieber.
»Danke! Wir sind viel herumgezogen, ich weiß gar nicht, in wie vielen Ländern ich zur Schule gegangen bin, bis …«, sie stockte kurz, »bis mein Vater uns verlassen hat. Und dann …«
»Da sind Sie ja, guten Abend, Doktor!«, kam eine Dampfwalze mitten in ihr Gespräch gefahren. »Sie haben ja noch gar nichts zu trinken.« Doch, habe ich! Ich trinke hier mit Augen und Ohren, Greyson!
Der unsensible Ami ruderte mit den Armen in der Luft und rief mit einer Lautstärke nach der Bedienung, als stünde er in der Fankurve eines Fußballstadions. Die Leute am Nachbartisch wandten sich indigniert ab. »Und wo bleibt das Essen?« Greyson stampfte mit den Füßen und gab die US-Parodie von Rumpelstilzchen.
Die Tür zur Küche flog auf und mehrere Bedienungen schleppten große Teller mit dampfenden Speisen heran, begleitet von einer Wolke würziger Düfte, die unvermittelt ein tiefes, schwarzes Loch in Simons Bauch klaffen ließen. Voller Löcher war er auf einmal. Ein Loch im Bauch, ein Loch im Leben, ein Loch im Herz, in den Lenden … Zumindest Ersteres würde sich wohl gleich stopfen lassen.
»Guten Appetit, Doktor!«, sagte Greyson, säbelte ein beachtliches Stück von seinem gewaltigen Steak, für das wohl etliche Quadratmeter Amazonasdschungel der Sojafutterproduktion gewichen waren, und vergrub seine zupackenden Zähne darin. »Und dir natürlich auch, Miriam!«
Seine Assistentin war fast vollkommen hinter einem Berg aus Salat und Meeresfrüchten verschwunden und angelte zielsicher nach den Austern. Die wusste zuzulangen und zu genießen, keine so verklemmte protestantische Hanseatentochter wie Katja.
Simon betrachtete sein Chateaubriand mit Sauce béarnaise. Sein Lieblingsgericht, zumindest bis vor etwa zwei Jahren. Als Katja ihm das mit dem Soja, dem Klima und dem Regenwald eingetrichtert hatte, ihn auch zum Vegetarier machen wollte, weil da weniger Fett im Spiel war und … vor allem wohl weil auch alle ihre schicken Freundinnen mittlerweile auf diesen Zug aufgesprungen waren.
Aber dieses Chateaubriand, verflucht, es war herrlich. Wie viel wusste dieser Ami eigentlich noch über ihn? Da steckte jemand seine Nase in Dinge, die ihn nichts angingen.
»Was wollen Sie von mir, Greyson?«, zwang sich Simon in die Konversation zurück und schob sich schnell noch eine Gabelvoll zartrosa Fleisch in den Mund. Sublimierter Regenwald, von unseren Kindern und Kindeskindern geklaut.
»Nun, Herr Dr. Haydeck, wir haben eine Art Stiftung, die eine private Forschungseinrichtung in der Nähe von Berlin betreibt. Überaus interessante Aufgaben, sehr großzügige finanzielle Ausgestaltung, keine bürokratischen Hürden, kurzum: der richtige Platz für einen Wissenschaftler, um sich frei entfalten zu können. Der richtige Platz für Sie.«
Raus aus der Sackgasse in Hamburg? Konnte dieser Typ Gedanken lesen? Da hatte sich jemand genau informiert, wusste fast besser Bescheid über ihn als er selbst.
»Schauen Sie sich’s mal an«, schlug Greyson vor, während er mit Riesenbissen seinem Steak weiter zu Leibe rückte wie ein Bagger. »Im März haben wir ein Meeting dort, Sie sind herzlich eingeladen. Und Frau de Jong wird natürlich auch dabei sein.«
»Ein Meeting? Bestimmt die wahre, richtige Wissenschaft, oder? Ich werde es mir überlegen.« Simon harpunierte beherzt einige Pommes frites mit der Gabel und badete sie in der gelben Soße.
»Überlegen? Miriam, was sagst du?«, wandte sich Greyson lässig an seine Assistentin. »Wird unser Doktor kommen?«
»Werden Sie?«, fragte Miriam und blitzte Simon herausfordernd an. »Ich würde mich freuen.«
Schon mal ein Argument. »Also ich …«, begann Simon.
»Wie wäre es mit einer Wette?« Greyson nahm sich gar nicht erst die Zeit, Simons Antwort abzuwarten.
»Was denn für eine Wette?«
»Die Wette geht so«, sagte Greyson und zog sein Scheckbuch aus der Tasche. »Ich wette, dass Sie uns in drei Wochen besuchen kommen.«
»Und falls nicht?«
Greyson kritzelte auf einem Scheck herum. »Dann können Sie den hier ab dem 1. April einlösen und irgendwo anders hinfahren.«
Simon sah auf die Zahl. 10 000 Euro. Der Typ hatte sie nicht alle. »Ein vorgezogener Aprilscherz?«
»Nicht im Geringsten.«
»Und wenn ich komme?«
»Dann hat das große Baby hier gewonnen und freut sich den ganzen Tag darüber«, schaltete sich Miriam ein.
»Das ist die blödeste Wette, von der ich je gehört habe, Greyson. Ich brauche nur Ihre Einladung auszuschlagen und kann für 10 000 Euro verreisen, wohin ich will?«
»Exakt.«
Was für ein Abend. Das war komplett verrückt. Ein überreicher Stalker, der ihn hier überall verfolgte und ihm dann eine Menge Geld bot, wenn er seiner Einladung nicht folgen würde?
»Greyson, warum tun Sie das?«
»No risk, no fun!«