Das verschlossene Haus - Monika Hambuch - E-Book

Das verschlossene Haus E-Book

Monika Hambuch

0,0

Beschreibung

Ein neugieriger Hausmeister wird zum Opfer, eine junge Frau zieht es in die Einsamkeit eines Erdkellers, eine andere erwartet den Blutkuss, ein karrieregeiler Banker manövriert sich ins Abseits und ein partysüchtiger Wissenschaftler glaubt, er habe die Liebe im Meer gefunden. Zwölfeinhalb skurrile, morbide, böse und absurde Geschichten bieten einen Blick sowohl in das Innere der Protagonisten als auch in das Innere ihrer eigenen oder fremder Häuser. Und in welchem Haus wollen Sie wohnen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 248

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Monika Hambuch wurde in den Fünfzigerjahren in der Kölner Südstadt geboren. Bis auf einen siebenjährigen Aufenthalt in Salzburg war und ist hier ihr Lebensmittelpunkt.

Nach dem Studium als Betriebswirtin arbeitete sie bei verschiedenen Banken und Finanzgesellschaften.

Seit Jahrzehnten ist sie leidenschaftliche Text-Täterin und veröffentlichte Kurzgeschichten in mehreren Anthologien.

Sie ist Mitglied der deutschsprachigen Vereinigung der Mörderischen Schwestern e. V.

Für Maike

Inhaltsverzeichnis

Das verschlossene Haus

Crash Down

Die schwarze Nachbarin

Das Aquariumhaus

Brief von der Küste

Rezept für ein totsicheres Gelingen

Die Frauen vom Thalkogelhof

Mad House

Untermieter

Die falsche Lady

Der Fremde in Wolfenbüttel

Veluthas Geschicke

In einem märchenhaften Land

DAS VERSCHLOSSENE HAUS

Wenn ich in meinem früheren Leben sonntagsmorgens zum Stadtrand fuhr, wo ich meine einsamen Spaziergänge machte, kam ich an diesem Haus vorbei.

Es strahlte eine eigentümliche Verlorenheit aus, als sei es aus der Zeit gefallen und an dieser Stelle liegen geblieben. Es schien ein Backsteinhaus zu sein, genau erkennen konnte ich es von der Straße aus nicht. Efeu hatte das Haus bis zum Dach eingehüllt und blieb das ganze Jahr grün. Die Fenster wirkten wie dunkle Höhlen und ich habe im Vorbeifahren geschaut, ob eines der Fenster Gardinen hätte, oder ob ich ein Fenster geöffnet sähe. Weder das eine noch das andere konnte ich entdecken.

Eines Tages hatte ich den Eindruck, der Efeu sei beschnitten worden und die Fenster lägen frei. Ganz sicher war ich mir nicht.

Seitdem schaute ich genauer hin. Stand eine Mülltonne vor dem Haus? Wenn ich vorbeikam, sah ich nie eine. Bemerkte ich in einem der Fenster Licht, wenn ich im November in den frühen Morgenstunden vorbeifuhr? Nichts dergleichen.

Das Haus machte mich neugierig, doch das war es nicht alleine. Etwas in meinem Inneren war getroffen, etwas, das ich vage spürte und das ich nicht benennen konnte. Es war eine eigenartige Anziehung, die das Haus auf mich ausübte. Und die Idee, selbst in diesem Haus zu wohnen, nahm allmählich Raum in mir ein. Ich stellte mir vor, wie es innen aussehen würde, und in Gedanken spazierte ich durch die Zimmer. Mein Gehirn erlaubte mir den Wechsel der Perspektive, und meine Vorstellungskraft zeigte mir kleine dunkle Räume, in denen ich stand und durch ein von Efeu verhangenes Fenster nach draußen blickte, wo ich mich selbst auf der anderen Straßenseite stehen sah und wünschte, ich könnte drinnen sein.

Zwei Jahre lang fuhr ich sonntags an diesem Haus vorbei und es ließ mich nicht los.

Inzwischen hatte der Efeu die vor Monaten freigeschnittenen Fenster wieder verhangen. Wie sonderbare Vorhänge hingen die Zweige vor den dunklen Scheiben. Ich spähte, ob ich Anzeichen von Bewohnern finden würde, entdeckte jedoch nichts. Je mehr ich begann, daran zu glauben, dass das Haus unbewohnt sei, umso größer wurde mein Wunsch, es zu besitzen.

Von diesen Überlegungen und von den Wünschen erzählte ich niemandem, weil ich fürchtete, dass man mich für verschroben halten könnte. Nicht, dass es verrückt wäre, ein Haus besitzen zu wollen, doch gerade dieses, das so hinfällig und unwirtlich, ja geradezu abweisend wirkte und für das sich offensichtlich niemand interessierte, sich dieses Haus zu wünschen, war ein wenig sonderlich.

Doch wem hätte ich es erzählen können? Privat pflegte ich keine Kontakte und was meine Arbeit anbelangte, konnte ich es vor Jahren einrichten, dass ich ein Büro erhielt, das im Keller abseits von allen anderen lag. Das war gut so. Ich war kein Mensch, der viel Wert auf Kontakte legte.

Eines Tages war ich entschlossen, mir Gewissheit zu verschaffen, und als ich von meinem Spaziergang zurückkam, hielt ich an. Als ich unmittelbar vor dem Haus stand, bekam es etwas Bedrohliches. Die Fenster waren von hier aus dunkel und unergründlich wie ein tiefer Brunnen und es war unmöglich, dahinter etwas zu erkennen. Ein frühmorgendlicher Sonnenstrahl, der seitlich auf ein Fenster im ersten Stock traf, wurde von einer Staubschicht abgewiesen wie von einem Abwehrschild gegen Laserstrahlen. Das Haus wehrte sich.

Beklommen stieg ich die wenigen Stufen zum Eingang hinauf und suchte nach einem Briefkasten oder Klingelschild, die mir einen Hinweis geben könnten. Nach längerem Suchen fand ich eine uralte Klingel, die lose an einem Kabel hing. Sie war unter dem Efeu versteckt. Einen Briefkasten entdeckte ich nicht, was meine Vermutung, das Haus könne unbewohnt sein, bestärkte. Ich wusste nicht, was besser wäre. Wenn das Haus leer wäre, könnte ich schwerlich erfahren, wem es gehört. Beim Grundbuchamt würde man mir ohne triftigen Grund keine Information geben. Wäre es bewohnt, schien die Möglichkeit, es zu mieten oder zu kaufen, gering, da die Bewohner, ob sie Besitzer waren oder nicht, es kaum aufgeben würden. Hinzu kam, dass ich nicht gerne mit fremden Menschen sprach.

Da stand ich vor einer fremden Haustür und versuchte, die Reste eines Namens auf dem verschmutzten Klingelschild zu lesen. Viel konnte ich nicht entziffern. Es könnte Schmitz, Schütz oder Schulz gewesen sein.

Dann verließ mich der Mut und ich ging zurück zum Auto. Vorher hatte ich noch einen Blick in den Garten geworfen, den ich von der Treppe aus einsehen konnte. Er war komplett überwuchert von Dornengestrüpp. Ich glaubte, dicke schwarze Brombeeren erkennen zu können. Zwei Bäume erhoben sich über den Wildwuchs, an einem hingen winzige Äpfel, die leuchtend rot waren. Mir fiel ein, dass Obstbäume im Laufe der Jahre kleinere Früchte hervorbringen sollen, wenn sie nicht beschnitten werden. In diesem Garten war zweifellos seit langer Zeit nichts gemacht worden.

Während der Heimfahrt grübelte ich darüber nach, was ich tun könnte. Als ich nach einer halben Stunde zu Hause angekommen war, schalt ich mich, weil ich nicht den Versuch unternommen hatte, zu klingeln. Um das wiedergutzumachen, schaltete ich den PC an und suchte im Telefonbuch unter „Sch“ nach Anschlüssen in dieser Straße. Ich fand nichts. Schließlich besitzt heutzutage nicht jeder eine Festnetznummer und den Namen hatte ich nur geraten.

Obwohl ich noch die nächsten Tage darüber nachdachte, unternahm ich die ganze Woche nichts. Tagsüber arbeitete ich und abends wanderten meine Gedanken zu dem Haus. Als der nächste Sonntag nahte, nahm ich mir vor, einen zweiten Versuch zu starten.

Dann war es so weit. Erneut stand ich vor der Eingangstür, deren Lack einst hellbraun, nun ergraut und abgeblättert war. Es war eine von diesen alten Kassettentüren mit massivem Rahmen. Der hässliche Anstrich war gewiss erst in späteren Zeiten erfolgt. In der Mitte befand sich ein kleines Fenster, das mit einem Gitter versehen war, und keinen Einblick in das Innere zuließ. Ich sah nur mein eigenes Spiegelbild.

Diesmal wusste ich, an welcher Stelle unter dem Efeu die Klingel zu finden war. Ich drückte und hörte den schrillen Ton im Inneren des Hauses. Es rührte sich nichts. Ich blieb hartnäckig und klingelte fünf oder sechs Mal. Ohne Erfolg. Dann fuhr ich nach Hause.

Ab diesem Zeitpunkt fuhr ich jeden Sonntagmorgen zu diesem Haus, um zu klingeln. Die erste Zeit geschah nichts. Doch das Haus ließ mich nicht los. Eine Stimme in meinem Kopf sagte mir, ich dürfe nicht aufgeben.

Und tatsächlich, eines Tages wurde meine Geduld belohnt. Wie sich herausstellte, hatte das kleine Fenster in der Tür auf der Innenseite noch eine Klappe. Diese wurde geöffnet und es erschien ein Gesicht. Alles, was ich wahrnahm, waren zwei braune, reglose Augen, die mich anstarrten. Weiter nichts. Nach einer endlos langen Weile wurde der Laden geschlossen und ich blickte in das dunkle Fensterglas.

Nun wusste ich, das Haus war bewohnt, und nun wollte ich wissen, von wem. In den folgenden Wochen machte ich es mir zur Gewohnheit, zu dem Haus zu fahren, zur Haustür zu gehen und zu klingeln. Nach mehrmaligem Klingeln öffnete sich die Klappe hinter dem Fenster und die beiden Augen musterten mich. Hatte ich die ersten Male noch etwas gesagt, beispielsweise „Guten Morgen“ oder „Wie geht es Ihnen?“, unterließ ich später jedes gesprochene Wort. Auch das Gesicht hinter der Scheibe sagte nichts. Ich blieb vor der Tür stehen, und wenn nach einigen Minuten die Klappe geschlossen wurde, trat ich den Heimweg an.

Das ging einige Wochen lang. Ich klingelte, der Fensterladen wurde geöffnet, wir schauten uns an und schwiegen. Dann wurde die Klappe geschlossen.

Was eine Änderung dieses Rituals bewirkte, kann ich nicht sagen. Ich erinnere mich, dass es ein kalter Wintertag war und ich fror, sodass ich nach dem zweiten Klingeln aufgeben wollte. Da wurde völlig unerwartet die Tür geöffnet. Vor mir stand eine Frau, die recht alt sein musste, denn ihre Haut war schrumpelig wie ein zu lange gelagerter Apfel. Sie war erstaunlich klein. Wie jemand, der im Laufe seiner Jahre geschrumpft ist. Sie trug eine verblichene Kittelschürze mit einem altmodischen Muster. Darunter wirkte sie winzig und gläsern, als könne sie jederzeit zerbrechen.

Es wiederholte sich, was wir seit Wochen zu tun pflegten, diesmal ohne die Tür zwischen uns: Wir schauten uns gegenseitig an und sprachen nichts.

Nach einer Weile, es war in etwa dieselbe Zeitspanne, nach der sie gewöhnlich den Laden des Fensters schloss, drehte sie sich um und ging ins Haus. Die Tür ließ sie offen stehen und ich ging davon aus, dass ich ihr folgen durfte.

Das Innere des Hauses war in einem erbarmungswürdigen Zustand. Auf den ersten Blick hatte ich den Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben. Eine schiefe Holztreppe führte nach oben, im Flur befand sich seitlich ein Spiegel mit blinden Flecken und an der Wand gegenüber zwei Hirschgeweihe mit Schädelknochen, die als Garderobe dienten. An ihnen hingen mehrere dunkle Kleidungsstücke und ein verwaschener Kittel.

Nun, wo ich in dem Haus stand, merkte ich, dass mir alles hier auf eine morbide Art gefiel. Als wenn eine alte Sehnsucht in mir aufgebrochen wäre, die ich bislang verleugnet hatte.

Geradeaus ging es in eine Wohnküche, in die ich der Alten folgte. Schäbige Küchenmöbel aus Holz waren rechts angeordnet, links ein Sofa, davor ein niedriger Tisch und daneben ein alter Ohrensessel. Sofa und Sessel wiesen Kratzspuren einer Katze auf. Fäden hatten sich vom Bezug gelöst und Teile der Polsterung kamen zum Vorschein. Durch das matte Fenster drang diffuses Licht und tauchte alles in ein an Verwesung erinnerndes Grau. Diese seltsame Idee hatte vermutlich der süßliche Geruch hervorgerufen, den die vielen Äpfel verströmten, die auf der Anrichte lagen.

Die Alte setzte sich auf das Sofa. Vor ihr auf dem Tisch lag eine große, mehrere Zentimeter dicke Kladde. Daneben rund ein Dutzend Bleistiftstummel. Die Alte nahm keinerlei Notiz von mir. Still saß sie da, die Hände in den Schoß gelegt, den Blick geradeaus gerichtet und schwieg. Ich setzte mich in den Sessel und schwieg ebenfalls. Wir saßen dort den ganzen Tag, bis es gegen Abend dunkel wurde, ich aufstand und ohne ein Wort das Haus verließ und nach Hause fuhr.

Mehrere Monate lang stand ich jeden Sonntagmorgen vor der Tür des alten Hauses. Hatte ich anfangs noch vor dem Besuch meine Spaziergangsrunde gedreht, gab ich diese bald auf, um eine Stunde länger dort sein zu können. Und als wiederum ein paar Wochen vergangen waren, dehnte ich meine Besuche auf das ganze Wochenende aus und versuchte, so viel Zeit wie möglich in dem Haus zu verbringen.

Ich liebte die Kühle des Hauses. Eine Heizung gab es nicht, nur der Efeu bewirkte eine leichte Isolierung. Als der Frühling kam, brauchte die Sonne lange, bis sie die Schutzschicht durchdrang.

Die meiste Zeit saßen wir in der Küche zusammen und keiner von uns sagte ein Wort. Die Alte sprach nie. Ich erkannte, dass sie meine Anwesenheit duldete, weil ich ebenfalls nichts sagte. Anfangs, als ich gelegentlich eine Frage stellte, sah ich an ihrem Gesicht, das sich verzog, als wäre ihr ein heftiger Schmerz widerfahren, dass sie kein Gespräch wollte, und ich wurde still.

Manchmal kritzelte die Alte mit einem der Bleistiftstummel etwas in die Kladde. Dabei fiel mir auf, dass an einigen Seiten an den oberen Ecken ein Stück Papier abgerissen worden war. Ich verstand nicht warum, wagte aber nicht zu fragen.

Gelegentlich stand sie auf und ging im Hause umher. Dann folgte ich ihr und das schien in Ordnung zu sein, denn es gab ihrerseits keinen Widerstand.

Die Nächte verbrachten wir in dieser Küche. Sie schlief auf dem Sofa und ich in dem Ohrensessel. Zwischen dem Wachen und dem Schlafen verschwammen die Unterschiede. Die Zeit tröpfelte dahin und nur intuitiv wusste ich, wann es so weit war, zu gehen. Das Haus zu verlassen, fiel mir von Mal zu Mal schwerer. Wie ein Klettband, das man nur mit Kraftaufwand lösen konnte, klebte ich an dem Haus. Und ich ahnte, dass ich irgendwann meine Angelegenheiten draußen schlicht vergessen würde.

Mit der Zeit lernte ich das Haus und später den Garten kennen. Im oberen Stock befanden sich mehrere Zimmer, die früher Schlaf- und Kinderzimmer gewesen waren. Die Räume waren einfach eingerichtet und das Mobiliar nicht so alt, wie ich vermutet hätte. Alles war seit Jahren unbenutzt und mit einer Staubschicht überzogen. Den Zimmern nach zu urteilen, gab es einst einen Mann und zwei Kinder. Fotos ihrer Angehörigen entdeckte ich nirgends. Nur über dem Ehebett befand sich ein Bild von einer Waldlichtung mit einem Hirsch.

Immer klarer wurde mir, was mir an der Alten gefiel. Es war diese stille Duldung, das absolut schweigsame Hinnehmen des eigenen Daseins und das komplette Ausblenden der Welt außerhalb des Hauses, ja sogar das Ausblenden der Welt außerhalb ihrer eigenen Person. Kein Wort hatte sie zu mir gesprochen. Nicht einmal nach meinem Namen hatte sie gefragt. Ich empfand in ihrer Gegenwart eine seltene Ruhe. Ich fühlte mich bei ihr völlig sicher. Immer schon hatte es mich gestört, wenn Leute mir unnütze Fragen stellten oder sinnlose Gespräche aufdrängten. Nicht umsonst hatte ich mir eine Arbeit gesucht, bei der ich alles über E-Mails abwickeln konnte und keinem Menschen gegenübertreten musste.

Die Kommunikation mit der Alten, wenn man es überhaupt so benennen konnte, kam ohne Worte aus. Sogar Gesten waren selten.

Eines Tages wurde ich Zeuge eines eigentümlichen Vorfalls. Es war ein sogenanntes langes Wochenende mit einem Brückentag, den ich mir freigenommen hatte. Ich blieb die ganzen vier Tage in dem Haus. Völlig unerwartet klingelte es am Freitag spätnachmittags an der Tür. Erschrocken blickte ich die Alte an. Wer konnte das sein? Bisher hatte ich angenommen, dass niemand hierher käme. Es folgte ein Klopfen an der Tür und eine Stimme rief:

„Mutter, ich bin´s!“.

Die Alte saß an ihrem Platz auf dem Sofa, ohne sich zu rühren, es schien sie nicht sonderlich zu interessieren. Als ich mich erhob, stand sie blitzschnell auf und schob sich zwischen mich und die Küchentür, die sie mit einer Hand zuschob. Da stand sie wie ein Wächter mit steinerner Miene. Von draußen drang, gedämpft durch zwei Türen, diese Stimme zu uns:

„Ich stelle es vor die Tür, wie immer.“

Als Schritte sich entfernten, sah ich durch das Fenster einen Mann mittleren Alters, der sich vom Haus entfernte. Sein Rücken war stark gerundet, als trüge er unter dem Anorak einen Rucksack versteckt. Er stieg in ein altes, verbeultes Auto und fuhr davon.

Ich stand am Fenster, schaute dem Auto hinterher, da spürte ich die Alte dicht hinter mir. Sie schien zu warten, bis das Auto außer Sichtweite war. Dann drehte sie sich um und ging in den Flur. Bevor sie die Haustür öffnete, schaute sie noch vorsichtig durch das kleine Fenster, als fürchte sie, dort vor der Tür könne eine Gefahr lauern. Dann öffnete sie die Tür und holte einen alten Einkaufskorb herein. Das ging alles blitzschnell, als argwöhnte sie, es könne ein ungebetener Gast trotz aller Vorsicht eindringen.

In der Küche stellte sie den Korb auf den Tisch. Er enthielt hauptsächlich Äpfel, verschiedene Wurzelgemüse wie Möhren, Sellerie und Meerrettich. Obenauf lag ein Stück Käse. Alles ohne irgendeine Verpackung. In einer altmodischen Flasche befand sich Milch und ich erinnerte mich, ein oder zwei Mal eine Flasche auf der Vortreppe gesehen zu haben. Außerdem entdeckte ich ein Stück abgerissenes Papier mit ein paar bleistiftgeschriebenen Wörtern. Ihre Einkaufsbestellung.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wie die Alte zu Lebensmitteln kam. Ich habe sie nie anderes als Äpfel essen sehen. Die bescheidenen Sachen, die ich mitgebracht hatte, stopfte sie in meinen Plastikbeutel und gab ihn mir wieder mit. Im Übrigen hatte ich schnell eingesehen, dass es unmöglich war, in ihrer Küche zu kochen oder ein Essen zuzubereiten. Allein deshalb, weil es im Haus keinen Strom gab. Vor allem jedoch, weil mir klar wurde, dass sie es nicht wollte. Ich gewöhnte mich daran, wenn ich in dem Haus war, mich mit Äpfeln und Möhren zu begnügen.

Ein paar von den Äpfeln und das Stück Käse legte sie auf die Ablage zu den anderen. Zwei Möhren dazu. Mit dem Rest, der noch in dem Korb war, ging sie hinaus in den Flur. Vielleicht hatte ich die Tür, die sie jetzt öffnete, bisher nicht gesehen. Eines der Hirschgeweihe war an ihr angebracht, den Griff verdeckte eine alte Jacke. Dahinter führte eine Treppe hinunter in den Keller. Dort war ich bis zu diesem Tag noch nicht gewesen. Ich folgte ihr durch Kellerräume voller Gerümpel bis zu einer Tür, die hinaus in den Garten führte. Wie erstaunt war ich, als ich feststellte, dass sich unter all dem Dornengestrüpp ein Hohlweg befand. Drei oder vier Meter ging es durch den Garten, während ich mich fragte, wer diesen Weg ausgehoben hatte und warum. Die Wände waren aus lehmiger Erde und über uns dicht bewachsen. Ich wunderte mich nicht, dass ich vom Eingang des Hauses aus nichts dergleichen erkennen konnte. Die Alte ging zielstrebig bis zu einem Bretterverschlag aus rohen, verwitterten Hölzern. Als sie diesen öffnete, sah ich, dass eine steile Treppe tief hinunter in die Erde führte.

Die Alte ging voraus, ich folgte. Am Ende der Treppe schätzte ich, dass wir zwei Meter unter der Erde waren. In einem Einlass in der Wand stand eine Laterne mit einer Kerze, die sie entzündete. Der anschließende Gang mündete in einen Vorratsraum. Hier wurde mir klar, dass es sich um einen Erdkeller handelte. Auf Regalen rechts und links lagerten Hunderte von Äpfeln, dazwischen Möhren und anderes Wurzelgemüse. Ich beobachtete die Alte, wie sie alles aus ihrem Korb sorgfältig auf die Ablagen legte, bis auf die Flasche mit der Milch. Sie stellte die Laterne ab und nahm stattdessen von einem der Regale eine Grabkerze, hiervon hatte sie einen großen Vorrat, zündete sie an, nahm die Milchflasche und ging zu einem im Schatten einer Ecke liegenden Durchgang.

Dieser Durchlass war lang und beklemmend eng. Da die Alte vorausging, konnte ich nicht sehen, wohin sie mich führte. Die Kerze verursachte ein unruhiges, flackerndes Licht, das dämonenhafte Schatten warf. Am Ende dieser Passage standen wir in einem schmalen Raum. Auf dem Boden standen mehrere Grablichter, von denen keines brannte.

Daneben lag, gebettet auf ein altes Sofakissen eine weiß-schwarze Katze. Sie lag auf der Seite und hatte alle Beine von sich gestreckt. Sie wirkte wie soeben verstorben. Ihr Fell war struppig und an einigen Stellen dünn, sodass die Haut durchschien. Maul, Nase und die Unterseiten der Pfoten wirkten, soweit ich das bei der schlechten Beleuchtung erkennen konnte, rosa. Ein wenig wächsern, aber in keiner Weise angegriffen. Obwohl ich sofort wusste, dass sie tot war, hätte es mich nicht gewundert, wenn sie in diesem Moment aufgestanden wäre, um uns zu begrüßen.

Die Alte füllte eine kleine Schüssel, die neben dem Kissen stand, mit Milch, stellte das Grablicht, welches sie mitgebracht hatte, dazu und trat den Rückweg an.

Hinter uns verlosch zischend die Flamme der Kerze und wir tasteten uns durch den dunklen Gang. Vor uns der matte Schein der in dem Vorratskeller zurückgelassenen Laterne. Ich bekam Luftnot. War es die Dunkelheit und Kühle der Kammer oder drang in diesen hinteren Teil des Erdkellers zu wenig Sauerstoff?

Erst als wir zurück in den vorderen Kellerbereich kamen, sah ich die lehmigen Wände. Auch Boden und Decke schienen aus Lehm hergestellt, die kühlschrankkühle Luft drang durch meine Kleidung und Feuchtigkeit ließ mich frösteln, aber den Äpfeln und den Gemüsen bescherte diese Atmosphäre Langlebigkeit. Vielleicht auch der Katze. Die Äpfel waren schrumpelig, aber weder Fäulnis noch Schimmel hatten ihnen zugesetzt.

Zurück im Haus und im Flur sah ich im Vorübergehen mein Spiegelbild. Ich ertappte mich, dass ich etwas von dem äußeren Erscheinungsbild der Alten angenommen hatte. Meine Haare waren stumpf geworden und viele weiße Strähnen ließen den Eindruck entstehen, ich sei um Jahre gealtert. Seit einiger Zeit band ich meine Haare im Nacken zu einem Knoten, wie es die Alte zu tun pflegte. Dass ich gleichzeitig abgenommen hatte und dünn geworden war, erstaunte mich. Unter den weiten Kleidern, die ich neuerdings trug, hatte ich es nicht bemerkt. Hier in diesem Spiegel, erkannte ich, dass der Stoff an mir herunterhing wie die Kittelschürzen an der Alten. Es gab noch etwas, das mir auffiel: Das Kleid, das ich seit Jahren besaß, hatte ein ähnlich altmodisches Muster wie die baumwollenen Kittelschürzen, welche die Alte trug.

In der Küche nahmen wir schweigend unsere Plätze ein und ich hatte Zeit, über den Keller nachzudenken. Einen endlosen heißen Sommer lang waren meine Gedanken in der stillen Kühle des Erdkellers gefangen. Ich kam längst nicht mehr nur an den Wochenenden in das Haus, alle Urlaubstage hatte ich bis zum Spätsommer aufgebraucht, um meine gesamte freie Zeit dort zu verbringen. Besonders unsere wöchentlichen Gänge in den Keller sehnte ich herbei. Wenn freitags der Sohn der Alten den Einkaufskorb vor der Tür abgestellt hatte und außer Sicht war, stiegen wir hinab. Tief unter dem verwilderten Garten empfingen mich feuchtkühle Luft und der Duft der Äpfel und erzeugten eine Vorstellung von Zeitlosigkeit und Ewigkeit. Obwohl unsere Besuche bei der Katze nur eine Minute dauerten, überkam mich dort in der abseits liegenden Kammer regelmäßig eine seltsame Schläfrigkeit und die Vorstellung, wie diese in einen endlosen Traum übergehen würde, falls ich länger dort verweilen würde.

Wenn wir später in der Küche saßen, übermannte mich eine geradezu zärtliche Sehnsucht nach dem Raum unter der Erde.

Die Zeit verging langsam in diesem Haus, und wenn ich hinaus in die Welt außerhalb trat, fühlte ich mich verloren und versuchte mich vor den Menschen zu verbergen, konnte jedoch dem Lärm, der Hektik und den Gesprächen nicht entkommen.

Ich reduzierte meine Arbeitsstunden, wünschte, ich könnte alles, was mein Leben bisher ausmachte, loslassen. Als der Herbst kam, die Bäume kahl wurden und der Regen endlos gegen die Fenster trommelte, stellte sich das Gefühl ein, dass ich meiner Vorbestimmung näher kam.

Der erste Schnee fiel früh im Jahr, es war erst Anfang Dezember. Er reflektierte das Licht der Straßenlaternen und warf es durch die nebelgrauen Fensterscheiben in die Küche.

In dem stillen Haus war es an diesem Tag stiller als sonst. Die Geräusche der Straße hatte der Schnee aufgesogen.

Drinnen waren Atemgeräusche vernehmbar. Die der Alten und meine. Gleichmäßig und leise waren sie Taktgeber für die Zeit, die verrann, wie der Sekundenzeiger an einer Uhr stückweise vorwärts rückt. Bis ich eine winzige Veränderung bemerkte, als sich das wiederkehrende Ein- und Ausatmen nicht zweifach wiederholte, sondern in der Stille nur noch ein Atem zu vernehmen war.

Ich saß mit geschlossenen Augen im Ohrensessel, horchte in den Raum hinein. Um sicher zu sein, hielt ich für kurze Zeit den Atem an und dann hielt auch die Zeit an.

Drei Tage saß ich in der Küche neben der Alten. Ich habe mich in dieser Zeit nicht einsam gefühlt. Sie war doch da, lag still auf dem Sofa und rührte sich nicht. Was konnte ich vermissen? Gesprochen hatte sie nie und ihre Bewegungen und Gesten waren schlicht. Es war wie immer. Fast.

Ich aß nichts in diesen Tagen und trank nur hin und wieder ein wenig Wasser aus der Leitung. Ich saß in meinem Sessel, schaute auf die liegende Alte, auf den Küchenboden oder die Wand und mein Gehirn wurde ruhiger, mein Denken verlangsamte sich. Ich war vollkommen zufrieden. Es war wie eine Meditation oder wie ein Schlaf mit offenen Augen. Nein, es war viel besser. So stellte ich mir ein friedvolles Hinübergleiten in eine andere Welt vor, still, unbehelligt, sanft.

Am dritten Tag wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich hätte seit zwei Tagen auf meiner Arbeit erscheinen müssen. Vermutlich hatte niemand mein Fehlen bemerkt. Wer vermisste mich schon in diesem Kellerzimmer, das mein Büro war und in dem ich meine Statistiken führte, von denen niemand wusste, dass es sie gab. Es war Zeit, mich freizumachen von allem, was mir nicht behagte und mich fallen zu lassen in das Nichts, das vor mir lag.

Spät in der Nacht, als niemand auf der Straße war, ging ich hinaus und holte mein Auto, das ich zwei Straßen weiter geparkt hatte. Ich fuhr es in die Garage. Das Tor ließ sich tatsächlich öffnen, wenn auch unter lautem Quietschen. Ich vergewisserte mich, dass es niemand gehört hatte, doch in den Nachbarhäusern waren um diese Mitternachtszeit alle Fenster dunkel.

Die Vorkehrungen, die ich im Inneren des Hauses und im Erdkeller treffen musste, waren schwieriger. Ich war bis zum nächsten Morgen beschäftigt. Zunächst holte ich zwei der Betten aus dem Obergeschoss und brachte sie in den Erdkeller. Das nahm Stunden in Anspruch. Ich musste sie auseinanderbauen und zusammensetzen. Es war ein einfaches Stecksystem, brauchte aber seine Zeit. Zudem konnte ich mich nicht lange in der letzten Kammer des Kellers aufhalten, weil mir die Luft ausging. Dann wickelte ich die Alte in ihre Decke und brachte sie hinunter. Sie war federleicht und die Totenstarre hatte sich gelöst.

Dort legte ich sie auf eines der Betten und drapierte sie, als ob sie schliefe. Es sah ganz natürlich aus, wirklichkeitsnäher als die Katze.

Ab diesem Tag war ich allein in diesem Haus, ich musste mit niemandem reden und niemandem Rechenschaft ablegen. Es gab hier nichts Lebendiges mehr außer mir, wenn man von den Mäusen absah. Die Stille im Haus war vollkommen.

Von außen drangen keine Geräusche herein und der Efeu schützte mich vor der matten Winterhelligkeit.

Nur das Surren der auf verschneiter Fahrbahn vorbeigleitenden Fahrzeuge vernahm ich. Und freitags das Klopfen und Rufen des Mannes, welcher der Sohn der Alten war und der Äpfel und Milch brachte. Wenn ich etwas brauchte, riss ich ein Stück Papier von einer Seite der Kladde, notierte, was ich benötigte und stellte den alten Weidenkorb mit Zettel vor die Haustür.

Nun war ich es, die die Katze regelmäßig mit Milch versorgte. Wieso die Schüssel nach ein paar Tagen leer war? Nun, die Mäuse brauchten auch etwas. Für die Alte hatte ich einen Teller in den Erdkeller gebracht, auf den ich ein Stück von dem Käse legte, den ich in dem Weidenkorb fand.

Wenn ich vom Keller zurück in die Küche ging, wo ich mich die meiste Zeit aufhielt, kam ich an dem Spiegel im Flur vorbei. Mit einem leichten Kribbeln unter der Haut nahm ich wahr, dass mein Äußeres mehr und mehr das Aussehen der Alten annahm. Ich war nicht nur dünner geworden, es kam mir vor, als sei ich geschrumpft. Mein Haar wurde grauer und meine Haut runzelig. Nur meine Augen blieben blau und meine Haut war bleicher als die der Alten. Hier hatte sich die Angleichung andersherum vollzogen. Die Haut der Alten war bleicher geworden. Wenn ich sie bei meinen Besuchen im Erdkeller betrachtete, dachte ich, sie sei jünger geworden. Glatt und porenlos und zart erschien mir ihre Haut. Wie mit einer Schicht aus Wachs überzogen.

Zunächst behielt ich den Platz in dem Sessel in der Küche bei. Ich wollte der Alten das Sofa nicht streitig machen. Das Sofa war auf eine seltsame Weise unantastbar für mich. Das dicke Buch auf dem Tisch war es aber nicht. Ich zog es zu mir heran und schlug es auf. Mehr als die Hälfte des Buches war leer. Die Alte hatte nicht viel geschrieben. Oft nur einen einzigen Satz. Manchmal ein einzelnes Wort. Nichts von allem, was sie niedergeschrieben hatte, habe ich gelesen. Ich hatte das Gefühl, es ginge mich nichts an. Es wäre mir vorgekommen wie eine Störung der Totenruhe. Die beschriebenen Seiten überschlug ich und begann an der ersten leeren Seite meine Geschichte zu schreiben.

Das zweite Bett im Keller war für mich gedacht. Ich stellte mir vor, dort zu liegen, still, in der Abgeschiedenheit dieses Erdkellers, unbehelligt von den Dingen, die draußen in der Welt vorgingen, konserviert für die Ewigkeit. Einsam wäre ich nicht, neben mir läge die Alte und vorn beim Eingang die Katze, daneben die Schüssel mit Milch, die, wenn ich endgültig in den Keller einziehen würde, leer bliebe. Und dann waren da all die Äpfel im Vorraum, die nicht gegessen würden. Die Katze brauchte die Milch nicht mehr und die Mäuse kamen allein zurecht. Und die Äpfel? Sie werden ebenso still liegen wie wir in der hinteren Kammer. Vielleicht werden sie mit der Zeit schrumpfen.

CRASH DOWN

Mirko Klein war Anfang vierzig, circa einen Meter achtzig groß und sah ausgesprochen gut aus. Das sagte seine Mutter jedem, ganz gleich, ob er es hören wollte oder nicht. Mirko hörte es selten, weil er sie bestenfalls zweimal im Jahr besuchte. In seinem dunkelgrauen Armani-Anzug wirkte er noch größer und schlanker. Sein dunkles Haar, in dem hier und dort ein helles aufblitzte, war millimetergenau geschnitten. Und wenn er millimetergenau sagte, dann meinte er es auch.

Peinlich achtete er darauf, seine 14-tägigen Friseurbesuche einzuhalten, ganz gleich, wie viel er zu tun hatte.

Bei diesen Friseurterminen schnitt Giacomo, der Starfriseur, exakt 3 Millimeter an exakt den richtigen Stellen ab. Im Nacken wurde leicht ausrasiert und über der Stirn, dort, wo sich die Haare durch einen grade gezogenen linksseitigen Scheitel teilten, ragten die Haare schräg zur Mitte in die Stirn hinein und endeten zwei Zentimeter über der Nasenwurzel. Von der Spitze dieser Strähne führte der Schnitt schräg zurück nach oben, sodass seine Haare hier eine Art Dreieck bildeten.

Mirko erledigte seine Friseurbesuche in der Mittagspause und sie dauerten in der Regel nicht länger als eine halbe Stunde, dann war er zurück an seinem Schreibtisch und notierte die Börsenkurse. Sobald er im vierten Stock des Bankhauses eintraf, dauerte es vier Minuten, dann stellte ihm seine Sekretärin Lina einen frisch gebrühten Kaffee neben seinen Bildschirm und erinnerte ihn an seine Nachmittagstermine.