Das Versprechen des Bienenhüters - Christy Lefteri - E-Book
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Das Versprechen des Bienenhüters E-Book

Christy Lefteri

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Beschreibung

Eine tief berührende Geschichte über den Verlust der Heimat, die Kraft der Trauer und der Liebe und einen Neuanfang.

Nuri ist Bienenhüter, mit seiner Familie führt er ein einfaches, aber erfülltes Leben im syrischen Aleppo. Bis das Undenkbare passiert und der Krieg ihr Zuhause erreicht. Nuris kleiner Sohn Sami wird bei einem Bombenanschlag getötet, seine Frau Afra erblindet. Sie müssen fliehen, um zumindest ihr eigenes Leben zu retten. Die Trauer um Sami und Erinnerungen an das einst glückliche Leben begleiten sie auf dem langen, gefährlichen Weg durch eine Welt, die nicht auf sie gewartet hat und selbst die Mutigsten in die Knie zwingt. Doch in England wartet Nuris Cousin Mustafa mit einem Bienenstock, der neuen Honig und neues Leben verspricht. Aber die größte Herausforderung liegt noch vor Nuri und Afra: wieder zueinander zu finden und gemeinsam die Hoffnung an ein neues Leben zu bewahren.

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Seitenzahl: 430

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Buch

Nuri ist Bienenhüter, mit seiner Familie führt er ein einfaches, aber erfülltes Leben im syrischen Aleppo. Bis das Undenkbare passiert und der Krieg ihr Zuhause erreicht. Nuris kleiner Sohn Sami wird bei einem Bombeneinschlag getötet, seine Frau Afra erblindet. Sie müssen fliehen, um zumindest ihr eigenes Leben zu retten. Die Trauer um Sami und Erinnerungen an das einst glückliche Leben begleiten sie auf dem gefährlichen Weg durch eine Welt, die nicht auf sie gewartet hat und selbst die Mutigsten in die Knie zwingt. Doch in England wartet Nuris Cousin Mustafa mit einem Bienenstock, der neuen ­Honig und neues Leben verspricht. Aber die größte Herausforderung liegt noch vor Nuri und Afra: wieder zueinanderzufinden und gemeinsam die Hoffnung an ein neues Leben zu bewahren.

Die Autorin

Christy Lefteri wuchs als Tochter zypriotischer Geflüchteter in London auf. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben an der Brunel University. 2016 und 2017 verbrachte sie die Sommermonate als Freiwillige in einem von der Unicef ­unterstützten Geflüchtetenlager in Athen. Die Geschichten, die die Menschen dort ihr erzählten, inspirierten sie dazu, »Das Versprechen des Bienenhüters« zu schreiben.

CHRISTY LEFTERI

Roman

Aus dem Englischen von Bettina Spangler

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Beekeeper of Aleppo« bei Zaffre, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung August 2019 bei Limes Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe by Christy Lefteri 2019

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Limes Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv: Getty Images (Christoph Wagner/Moment; Ayham Ktait/500px); mauritius images/EyeEm/Rosley Majid; Shutterstock.com (Imagine Photographer; antalogiya)

JB · Herstellung: sam

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24459-0 V004

www.limes-verlag.de

Für Dad. Und für S.

1

Ich fürchte mich vor den Augen meiner Frau. Sie sieht nicht heraus, und niemand kann durch sie hineinschauen. Sie sind wie Steine, graue Kiesel am Meeresufer. Seht sie euch an. Seht, wie sie auf der Bettkante sitzt, das Nachthemd auf dem Boden, Mohammeds Murmel zwischen den Fingern rollt und darauf wartet, dass ich sie ankleide. Ich lasse mir Zeit mit meinem Hemd und meiner Hose, denn ich habe es so satt, sie anzuziehen. Seht euch die Hautfalten an ihrem Bauch an; sie haben die Farbe von Wüstenhonig und sind dunkler an den tiefer liegenden Stellen. Seht die hauchfeinen Linien an ihren Brüsten und ihre Fingerkuppen mit den winzigen Schnitten, das Muster aus Erhebungen und Rillen, die früher mit blauer, gelber oder roter Farbe befleckt waren. Ihr Lachen war einst reines Gold, man sah und hörte es. Seht sie euch an, denn ich befürchte, sie verschwindet allmählich.

»Ich wurde heute Nacht von Traumfetzen heimgesucht«, sagt sie. »Sie waren überall im Zimmer.« Ihre Augen heften sich auf einen Punkt ein Stück links von mir. Übelkeit steigt in mir auf.

»Was soll das heißen?«

»Sie waren zerbrochen. Meine Träume waren überall, und ich wusste nicht, ob ich wach bin oder schlafe. Es waren so viele, sie schwirrten umher wie Bienen, als wäre ein ganzer Schwarm im Zimmer. Und ich bekam keine Luft. Ich bin aufgewacht und dachte, bitte lass mich nicht verhungern.«

Verwirrt schaue ich ihr ins Gesicht, das immer noch keinerlei Regung zeigt. Ich verrate ihr nicht, dass ich mittlerweile nur noch von diesem Mord träume, immer den gleichen wiederkehrenden Traum. Da sind nur ich und der Mann, und ich halte den Schläger in meiner blutenden Hand. Die anderen sind in diesem Traum nicht anwesend. Er liegt auf dem Boden unter den Bäumen und sagt etwas zu mir, das ich nicht verstehe.

»Und ich habe Schmerzen«, sagt sie.

»Wo?«

»Hinter den Augen. Heftige, stechende Schmerzen.«

Ich gehe vor ihr auf die Knie und schaue ihr in die Augen. Die ausdruckslose Leere darin erschreckt mich. Ich hole mein Handy aus der Tasche, aktiviere die Taschenlampen-App und leuchte hinein. Ihre Pupillen weiten sich.

»Kannst du irgendetwas sehen?«, frage ich.

»Nein.«

»Nicht einmal einen Schatten, eine Veränderung in Farbton oder Helligkeit?«

»Nur Schwarz.«

Ich stecke das Telefon wieder ein und trete einen Schritt von ihr zurück. Ihr Zustand hat sich verschlechtert, seit wir hier sind. Als würde ihre Seele nach und nach verdunsten.

»Kannst du mich zu einem Arzt bringen?«, fragt sie. »Denn der Schmerz ist unerträglich.«

»Natürlich«, sage ich. »Bald.«

»Wann?«

»Sobald wir die Papiere haben.«

Ich bin froh, dass Afra das alles hier nicht sehen kann. Die ­Möwen mit ihren irrwitzigen Flugkünsten würden ihr allerdings gefallen. In Aleppo waren wir weit weg vom Meer. Diese Vögel wären ihr sicher ein willkommener Anblick, und vielleicht auch die Küste, denn sie ist am Meer aufgewachsen, während ich aus Ost-Aleppo stamme, dort wo die Stadt an die Wüste grenzt.

Als wir heirateten und sie zu mir zog, fehlte ihr das Meer so sehr, dass sie anfing, Wasser zu malen, wann immer es ihr in irgendeiner Form begegnete. Im trockenen Hochland von Syrien gibt es vielerorts Oasen, Bäche und Flüsse, die in Sümpfe und kleine Seen münden. Bevor wir Sami bekamen, folgten wir bei jeder Gelegenheit dem Wasser, und dann malte sie es in Öl. Es gibt ein Gemälde vom Quwaiq, das ich mir zu gern noch einmal ansehen würde. Darauf erinnert der Fluss an einen Hochwasserüberlauf, der sich durch den Stadtpark zieht. Afra hatte das Talent, die Wahrheit in Landschaften zu erkennen. Das Gemälde mit dem kümmerlichen Fluss ließ mich immer an den alltäglichen Kampf ums Überleben denken. Ungefähr dreißig Kilometer südlich von Aleppo kapituliert der Fluss vor der rauen syrischen Steppe und verflüchtigt sich in einer Sumpflandschaft.

Ich fürchte mich vor ihren Augen. Aber diese feuchten Wände, die Stromkabel in der Decke und die Anschlagtafeln – ich weiß nicht, wie sie mit alldem umgehen würde, wenn sie es sehen könnte. Auf dem Plakat gleich draußen vor der Tür steht, wir seien zu viele, und diese Insel werde unter unserem Gewicht nachgeben. Ich bin froh, dass sie blind ist und all das nicht sehen muss. Natürlich ist mir bewusst, wie das klingt! Wenn ich ihr den Schlüssel zu der Tür in eine andere Welt geben könnte, würde ich mir für sie wünschen, sie könnte wieder sehen. Aber es müsste eine Welt sein, die sich grundlegend von dieser hier unterscheidet. Eine Welt, in der eben die Sonne aufgeht und die Mauer rund um die Altstadt und die zellenartigen Quartiere außerhalb dieser Mauer berührt, die Wohnhäuser und Apartmentblöcke und Hotels und die engen Gassen und den Markt unter freiem Himmel, wo an Ständen Tausende Halsketten hängen und im ersten Licht des Tages glänzen, und wo in der Ferne, jenseits der Wüste, Gold auf Gold und Rot auf Rot trifft.

Sami wäre dort; immer noch lachend würde er in seinen abgetragenen Sneakers durch diese Gassen rennen, das Kleingeld in der Hand, auf dem Weg zum Milchladen. Ich versuche, nicht an Sami zu denken. Aber was ist mit Mohammed? Ich warte immer noch darauf, dass er den Brief und das Geld findet, das ich unter dem Glas mit dem Schokoladenaufstrich für ihn zurückgelassen habe. Ich glaube, eines Morgens wird es an der Tür klopfen, und wenn ich aufmache, wird er vor mir stehen, und ich werde fragen: »Wie hast du es geschafft, den weiten Weg hierherzukommen, Mohammed? Woher wusstest du überhaupt, wo du uns finden würdest?«

Gestern habe ich im beschlagenen Spiegel des Badezimmers, das wir uns mit den anderen teilen, einen Jungen gesehen. Er trug ein schwarzes T-Shirt, aber als ich mich umdrehte, war es der Mann aus Marokko, der auf dem Klo saß und pinkelte. »Du solltest die Tür abschließen«, sagte er in seinem eigenen Arabisch.

Ich erinnere mich nicht an seinen Namen, aber ich weiß, dass er aus einem Dorf in der Nähe von Taza am Fuße des Rif-Gebirges stammt. Gestern Abend hat er mir erzählt, dass sie ihn wahrscheinlich in ein Abschiebezentrum namens Yarl’s Wood verlegen werden – die Sozialarbeiterin hält es zumindest für möglich. Heute Nachmittag habe ich ein Gespräch mit ihr. Der Marokkaner sagt, sie sei sehr schön; sie sieht angeblich aus wie eine Tänzerin aus Paris, mit der er einmal in einem Hotel in Rabat geschlafen hat, lange bevor er seine Frau heiratete. Er hat sich nach meinem Leben in Syrien erkundigt. Ich habe ihm von meinen Bienenstöcken in Aleppo erzählt.

Abends bringt die Hauswirtin uns Tee mit Milch. Der Marokkaner ist alt – schätzungsweise achtzig, vielleicht sogar neunzig. Er sieht aus wie aus Leder und riecht auch so. Er liest ein Buch mit dem Titel Wie man Brite wird, und manchmal lächelt er dabei spöttisch vor sich hin. Er hat sein Telefon auf dem Schoß liegen, und am Ende jeder Seite hält er inne und wirft einen kurzen Blick darauf, aber nie ruft jemand an. Ich weiß nicht, auf wen er wartet, ich weiß nicht, wie er hergekommen ist, und ich weiß nicht, warum er so spät im Leben eine solche Reise auf sich genommen hat, denn er sieht mir aus wie ein Mann, der nur noch auf den Tod wartet. Er findet es unmöglich, dass die nicht muslimischen Männer ihr Geschäft im Stehen verrichten.

Wir wohnen ungefähr zu zehnt in dieser heruntergekommenen Pension am Meer, alle aus verschiedenen Gegenden, und alle warten wir auf etwas. Vielleicht lassen sie uns bleiben, vielleicht schicken sie uns wieder zurück, aber darauf haben wir kaum mehr Einfluss – es gibt keine Entscheidungen mehr zu treffen, welchen Weg wir einschlagen, wem wir vertrauen, ob wir noch einmal diesen Schläger erheben und einen Mann töten sollen. Das alles ist Vergangenheit. Die Erinnerung daran wird sich verflüchtigen, genau wie der Fluss.

Ich nehme Afras Abaya vom Kleiderbügel im Schrank. Sie hört es, steht auf und hebt die Arme. Sie sieht älter aus, benimmt sich aber nicht ihrem Alter entsprechend; es ist, als hätte sie sich in ein Kind verwandelt. Ihr Haar hat die Farbe und Textur von Sand – wir haben es für die Fotos gefärbt und das Arabische herausgebleicht. Ich binde es ihr zu einem Knoten, lege ihr den Hidschab um den Kopf und befestige ihn mit Haar­nadeln. Sie führt dabei meine Finger, wie sie es immer tut.

Die Sozialarbeiterin hat sich für ein Uhr angekündigt, sämtliche Gespräche finden in der Küche statt. Sie wird wissen wollen, wie wir hergekommen sind, und einen Grund suchen, uns wieder wegzuschicken. Aber ich weiß, wenn ich das Richtige sage und sie überzeuge, dass ich kein Mörder bin, dürfen wir bleiben, denn wir haben das große Glück, vom schlimmsten Ort der Welt geflohen zu sein. Der Marokkaner hat es da schwerer, er wird einiges nachweisen müssen. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer an der Terrassentür und hält eine bronzefarbene Taschenuhr in den Händen. Er schmiegt sie in seine Hand­flächen, als wolle er ein Ei ausbrüten, starrt sie an und wartet. Worauf? Als er mich bemerkt, sagt er: »Sie läuft nicht, weißt du. Sie ist in einer anderen Zeit stehen geblieben.« Er hebt sie an ihrer Kette ins Licht und lässt sie sanft hin und her schwingen, diese gefrorene Uhr aus Bronze.

BRONZE

glitzerte die Stadt tief unter uns, es war ihre Farbe. Wir wohnten auf einer Anhöhe in einem Bungalow mit zwei Schlafzimmern. Von dort oben konnten wir die ganze planlose Architektur, aber auch die schönen Kuppeln und Minarette sehen, und in der Ferne schimmerte etwas undeutlicher die Zitadelle.

Es war angenehm, im Frühling auf der Veranda zu sitzen. Wir konnten den Wüstenboden riechen und sehen, wie die rote Sonne über dem Land unterging. Aber im Sommer saßen wir drinnen unter dem Ventilator mit einem nassen Handtuch auf dem Kopf, die Füße in einer Schüssel mit kaltem Wasser, denn es war heiß wie in einem Backofen.

Im Juli war die Erde verdorrt, doch im Garten hatten wir Aprikosen- und Mandelbäume und Tulpen und Iris und Schachblumen. Wenn der Fluss austrocknete, ging ich hinunter zum Bewässerungsbecken und holte Wasser, damit der Garten überlebte. Als es August wurde, kam es mir so vor, als wollte ich einen Leichnam wiederbeleben, und so schaute ich machtlos zu, wie alles abstarb und eins wurde mit dem restlichen Land. Sobald es kühler wurde, machten wir einen Spaziergang und sahen den Falken zu, wie sie den Himmel in Richtung Wüste überquerten.

Ich hatte vier Bienenstöcke im Garten, sie waren übereinandergestapelt, denn ich war nicht gern ohne Bienen. Die anderen standen auf einem Stück Land am östlichen Rand von Aleppo. Morgens wachte ich sehr früh auf, noch vor Sonnenaufgang, bevor der Muezzin zum Gebet rief. Dann fuhr ich die dreißig Meilen bis zu den Bienenhäusern und traf rechtzeitig zum Sonnenaufgang dort ein, die Felder lichtdurchflutet und das Summen der Bienen ein einzelner glasklarer Ton.

Die Bienen waren das Idealbild einer Gemeinschaft, ein kleines Paradies inmitten des Chaos. Die Arbeiterinnen legten weite Strecken zurück auf der Suche nach Nahrung, am liebsten zu den entlegensten Feldern. Dort sammelten sie Nektar aus Zitronenblüten und Klee, Schwarzkümmel und Anis, Eukalyptus und Baumwolle, in Dornengestrüpp und Heide. Ich sorgte für die Bienen, fütterte sie, überprüfte die Stöcke regelmäßig auf Schädlingsbefall und Krankheiten. Manchmal baute ich neue Stöcke, teilte die Völker oder züchtete Königinnen; ich nahm dazu die Larven aus einer anderen Kolonie und sah zu, wie die Ammenbienen sie mit Gelée royale fütterten.

Später, in der Erntezeit, kontrollierte ich die Stöcke und überprüfte, wie viel Honig die Bienen produziert hatten, dann hängte ich die Waben in die Schleuder und füllte die Kübel, ich schabte die Rückstände ab und sah den goldenen Honig darunter. Es war meine Aufgabe, die Bienen zu beschützen und sie gesund und kräftig zu erhalten, und dafür machten sie ­Honig und befruchteten das Land, das uns am Leben erhielt.

Es war mein Cousin Mustafa, der mich in die Bienenzucht einführte. Sein Vater und sein Großvater waren Imker in den grünen Tälern westlich des Anti-Libanon-Gebirges gewesen. Mustafa war ein Genie mit dem Herzen eines Knaben. Er studierte und wurde Professor an der Universität von Damaskus, wo er die exakte Zusammensetzung von Honig erforschte. Während er zwischen Damaskus und Aleppo hin und her pendelte, sollte ich auf seine Bienenhäuser aufpassen. Er brachte mir eine Menge über das Verhalten der Bienen bei und lehrte mich, sie zu beherrschen. Die einheimischen Bienen reagierten bei Hitze aggressiv, aber er half mir, sie zu verstehen.

Wenn die Universität die Sommermonate über geschlossen war, blieb Mustafa die ganze Zeit bei mir in Aleppo. Wir arbeiteten hart und viele Stunden lang, und am Ende dachten wir wie die Bienen – ja, wir aßen sogar wie die Bienen! Wir aßen Pollen gemischt mit Honig, damit wir in der Hitze durchhielten.

In der ersten Zeit, als ich mit dieser Arbeit noch nicht so vertraut war – ich war gerade Anfang zwanzig –, bestanden unsere Stöcke aus Pflanzenmaterial, das mit Lehm verputzt wurde. Später ersetzten wir die Stämme von Korkeichen und die Terrakotta-Stöcke durch Holzkästen, und bald hatten wir über hundert Kolonien! Wir erzeugten mindestens zehn Tonnen Honig im Jahr. Es waren so viele Bienen, sie gaben mir das Gefühl, lebendig zu sein. Wenn ich ihnen fern war, fühlte ich mich, als sei eine ausgelassene Feier zu Ende gegangen. Jahre später eröffnete Mustafa im neuen Teil der Stadt einen Laden. Dort verkaufte er neben Honig auch Kosmetik auf Honigbasis, üppig süß duftende Cremes und Seifen und Haarpflegemittel von unseren eigenen Bienen. Er hatte diesen Laden für seine Tochter eröffnet. Sie war noch jung zu der Zeit, aber sie hatte vor, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und Agrarwissenschaften zu studieren. Mustafa nannte den Laden Ayas Paradies und versprach ihr, dass er eines Tages ihr gehören würde, wenn sie fleißig studierte. Sie liebte den Duft der Seifen und Cremes. Aya war intelligent für ihr Alter. Einmal sagte sie: »So wie es hier im Laden duftet, so würde die Welt duften wenn es keine Menschen gäbe.«

Mustafa lag nichts an einem ruhigen Leben. Er war immer so sehr darauf aus, mehr zu tun und mehr zu lernen, wie ich es bei keinem anderen Menschen je erlebt habe. So groß unser Betrieb auch wurde – und selbst als wir bedeutende Kunden aus Europa, Asien und den Golfstaaten hatten –, war ich derjenige, der sich um die Bienen kümmerte, der Einzige, dem er sie anvertraute. Er sagte, ich hätte ein Einfühlungsvermögen, das den meisten Menschen fehlte, und ich verstünde ihre Rhythmen und Muster. Er hatte recht. Ich lernte, den Bienen wirklich zuzuhören, und sprach mit ihnen, als wären sie ein einziger atmender Körper mit einem Herzen, denn wisst ihr, Bienen arbeiten zusammen, und selbst wenn die Drohnen am Ende des Sommers von den Arbeiterinnen getötet werden, um Nahrungsvorräte zu sparen, agieren sie trotzdem als Einheit, und sie kommunizieren miteinander durch einen Tanz. Es war jahrelange harte Arbeit, bis ich sie verstand, und als es mir schließlich gelang, sah die Welt um mich herum nie wieder so aus wie vorher.

Aber die Wüste dehnte sich aus, das Klima wurde rauer, die Flüsse trockneten aus, die Bauern hatten zu kämpfen. Nur die Bienen widerstanden der Dürre. »Seht euch diese kleinen Krieger an«, sagte Afra, wenn sie mit Sami zu Besuch in der Imkerei war. »Seht sie euch an, wie sie unbeirrt weiterarbeiten, während um sie herum alles stirbt!« Sie betete um Regen, immer um Regen, denn sie hatte große Furcht vor Staubstürmen und Trockenheit. Wenn ein solcher Staubsturm aufzog, konnten wir von unserer Veranda aus sehen, wie der Himmel über der Stadt sich violett färbte. Dann hörten wir ein Pfeifen in den Tiefen der Atmosphäre, und Afra lief hektisch im Haus umher, schloss alle Türen und verriegelte Fenster und Läden.

Jeden Sonntagabend gingen wir zu Mustafa zum Essen. Dahab und Mustafa kochten zusammen, und Mustafa maß jede Zutat, jedes Gewürz, gewissenhaft auf der Waage ab, als könnte ein winziger Fehler die gesamte Mahlzeit verderben. Dahab war eine hochgewachsene Frau, beinahe so groß wie ihr Mann, kopfschüttelnd stand sie neben ihm, wie ich es sie auch bei Firas und Aya hatte tun sehen. »Beeil dich!«, sagte sie dann. »Beeil dich! Wenn das so weitergeht, essen wir dieses Sonntagsmahl erst nächsten Sonntag.« Er summte beim Kochen vor sich hin, und ungefähr alle zwanzig Minuten legte er eine Rauchpause ein. Dann stand er im Hof unter dem blühenden Baum, hielt das Ende seiner Zigarette zwischen den Zähnen und zog daran.

Ich gesellte mich oft zu ihm, aber er war bei diesen Gelegenheiten schweigsam; seine Augen waren glasig von der Hitze in der Küche, und er war mit seinen Gedanken woanders. Mustafa fing vor mir an, das Schlimmste zu befürchten, das verrieten mir die tiefen Sorgenfalten auf seiner Stirn.

Sie wohnten im Erdgeschoss eines Wohnblocks, der Hof war zu drei Seiten von den Wänden der Nachbargebäude umschlossen. So blieb es dort immer kühl und schattig. Von den Balkonen über uns wurden Geräusche zu uns heruntergetragen – Gesprächsfetzen, Musik oder das leise Murmeln eines Fernsehgeräts. Weinranken voller Trauben wuchsen in diesem Hof, ein Spalier mit Jasmin bedeckte eine Wand, und an einer anderen stand ein Regal mit leeren Gläsern und Wabenstücken.

Ein Gartentisch aus Metall nahm den meisten Platz in Anspruch; er stand direkt unter dem Zitronenbaum. An den Mauern entlang reihten sich Vogelhäuser aneinander, und ein rechteckiges Stückchen Erde diente als Beet, auf dem Mustafa Kräuter zu ziehen versuchte. Sie wurden aber meistens welk, denn es gab nicht genug Sonne. Ich sah zu, wie Mustafa eine Zitronenblüte zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückte und den Duft einatmete. In Momenten wie diesem, in der Stille eines Sonntagabends, fing er an, alles Mögliche zu überdenken und abzuwägen. Seine Gedanken kamen nie zur Ruhe, waren niemals still. »Stellst du dir manchmal vor, wie es wäre, ein anderes Leben zu haben?«, fragte er mich an einem solchen Abend.

»Wie meinst du das?«

»Es ängstigt mich manchmal, mir vorzustellen, dass das Leben so oder so verlaufen kann. Was wäre denn, wenn ich irgendwo in einem Büro arbeiten würde? Oder wenn du auf deinen Vater gehört hättest und in den Stoffhandel eingestiegen wärst? Wir können aus vielerlei Gründen dankbar sein.«

Darauf wusste ich keine Antwort. Mein Leben hätte leicht einen anderen Weg nehmen können, aber es war ausgeschlossen, dass Mustafa in einem Büro gelandet wäre. Seine düsteren Gedanken kamen aus einer anderen Richtung, er fürchtete bereits, alles zu verlieren, als werde ein Echo aus der Zukunft zurückgetragen und flüstere ihm ins Ohr.

Zu Mustafas großem Verdruss konnte Firas sich nie von seinem Computer losreißen, um beim Essen zu helfen. »Firas!«, rief Mustafa immer und ging zurück in die Küche. »Steh auf, bevor du an diesem Stuhl festwächst!« Aber Firas blieb in Unterhemd und Shorts auf dem Korbstuhl im Wohnzimmer sitzen. Er war ein schlaksiger Junge mit einem schmalen Gesicht und etwas zu langem Haar, und wenn er lächelte, statt seinem Vater zu gehorchen, sah er für einen Sekundenbruchteil aus wie ein Saluki-Jagdhund, wie man sie in der Wüste findet.

Aya, die nur ein Jahr älter als ihr Bruder war, trug Sami auf der Hüfte und deckte den Tisch. Er war gerade drei Jahre alt und fühlte sich schon sehr wichtig. Aya reichte ihm einen leeren Teller oder eine Tasse und er hielt sie fest in der festen Überzeugung, ihr zu helfen. Sie hatte langes goldenes Haar wie ihre Mutter, und Sami nahm ihre Locken in den Mund und saugte daran und kaute darauf herum. Schließlich packten doch alle mit an, sogar Firas – Mustafa zerrte ihn an einem dürren Arm von seinem Stuhl herunter –, und wir trugen dampfende Platten und farbenprächtige Salate und Dips und Brot zu dem Tisch draußen im Hof. Manchmal gab es Suppe aus roten Linsen und Süßkartoffeln mit Kreuzkümmel, Kawaj mit Rindfleisch und Zucchini oder gefüllte Artischockenherzen oder Eintopf aus grünen Bohnen oder Bulgursalat mit Petersilie oder Spinat mit Pinien- und Granatapfelkernen. Später folgten honiggetränktes Baklava und siruptriefende Awameh-Teigklößchen oder Gläser mit Aprikosen, die Afra eingekocht hatte. Firas telefonierte, und Mustafa riss ihm das Gerät aus der Hand und warf es in eins der leeren Honiggläser, aber er wurde nie wirklich wütend auf seinen Sohn – es lag immer ein gewisser Humor im Umgang zwischen ihnen, selbst wenn sie mit­einander im Clinch lagen.

»Wann kriege ich es zurück?«, fragte Firas etwa.

»Wenn es in der Wüste schneit.«

Wenn dann schließlich der Kaffee auf dem Tisch stand, wanderte das Telefon aus dem Honigglas wieder zurück in Firas’ Hände. »Beim nächsten Mal, Firas, werfe ich es nicht in ein leeres Glas!«

Solange Mustafa kochte oder aß, war er glücklich. Erst später, wenn die Sonne untergegangen war und der Duft von ­Jasmin uns umwehte, und vor allem, wenn die Luft still und drückend war, legte sich eine Schwermut auf seine Züge, und dann wusste ich, dass er nachdachte und die lautlos dunkle Nacht erneut ein Flüstern der Zukunft zu ihm trug.

»Was ist denn, Mustafa?«, fragte ich eines Abends, als Dahab und Afra nach dem Essen die Spülmaschine einräumten und Dahabs schallendes Lachen die Vögel an den Fassaden empor in den Nachthimmel hinaufflattern ließ. »Du bist in letzter Zeit nicht du selbst.«

»Die politische Lage verschlechtert sich zusehends«, sagte er. Ich wusste, er hatte recht, auch wenn keiner von uns beiden wirklich darüber reden wollte. Jetzt aber drückte er seine Zigarette aus und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Es wird noch richtig übel werden – das wissen wir alle, oder? Aber wir bemühen uns, weiterzuleben wie bisher.« Er stopfte sich ein Teigklößchen in den Mund, als wollte er damit unterstreichen, was er sagte. Es war Ende Juni, der Bürgerkrieg hatte erst im März mit Protesten in Damaskus begonnen und Gewalt und Unruhe nach Syrien gebracht.

Offenbar hatte ich in diesem Moment den Kopf hängen lassen, vielleicht sah er auch die Sorge in meinem Gesicht, denn als ich wieder aufschaute, lächelte er.

»Ich sag dir was! Wie wär’s, wenn wir ein paar neue Rezepte für Aya entwickeln würden? Ich habe da ein paar Ideen – Eukalyptushonig mit Lavendel zum Beispiel!« Mit glänzenden Augen klappte er seinen Laptop auf und arbeitete die genaue Zusammensetzung seiner neuen Seife aus, und dann rief er Aya zu uns, die mit Sami spielte. Wie sehr der Junge sie liebte! Er wollte ihr nicht von der Seite weichen, fixierte sie immerzu mit seinen großen grauen Augen. Sie hatten die gleiche Farbe wie die seiner Mutter. Steingrau. Wie die Augen eines neugeborenen Kindes, bevor sie braun werden, nur dass seine sich nicht veränderten; sie wurden auch nicht blauer. Sami folgte Aya auf Schritt und Tritt und zupfte an ihrem Rock, woraufhin sie ihn mit gestreckten Armen hochhob, um ihm die Vögel in den Futterhäuschen zu zeigen oder die Insekten und Eidechsen, die über die Wände und die betonierte Terrasse huschten.

Für jedes Rezept sahen sich Mustafa und Aya Farbe und Säure- sowie Mineralstoffgehalt der verschiedenen Honigsorten an, um eine Kombination zu schaffen, die perfekt zusammenwirkte, wie er sagte. Sie berechneten Zuckerdichte und Granulation, die Tendenz zur Feuchtigkeitsaufnahme aus der Luft sowie die Haltbarkeit. Ich machte Vorschläge, die sie lächelnd zur Kenntnis nahmen, aber es war Mustafa, dessen Verstand so unermüdlich arbeitete wie die Bienen. Er war der mit dem umfangreichen Wissen und den Ideen, während ich es war, der alles in die Tat umsetzte.

Eine Zeit lang waren wir an diesen Abenden, da wir süße Aprikosen aßen und den nächtlichen Duft des Jasmins einatmeten, da Firas an seinem Computer und Aya bei uns saß, während sie Sami auf dem Arm hielt, der an ihren Haaren kaute, im Hintergrund Afras und Dahabs Lachen, das aus der Küche zu uns herausschallte – eine Weile waren wir noch glücklich. Das Leben war noch annähernd normal, sodass wir unsere Zweifel vergessen oder sie zumindest in die dunklen Winkel unseres Bewusstseins verbannen konnten, während wir bereits Pläne für die Zukunft schmiedeten.

Als die ersten Unruhen auftraten, gingen Dahab und Aya fort. Mustafa überredete sie, sich ohne ihn auf den Weg zu machen. Und kaum sah er seine ärgsten Befürchtungen bestätigt, standen seine Pläne schnell fest, aber er musste noch eine Weile bleiben, um seine Bienen zu versorgen. Im ersten Moment dachte ich, er würde die Sache völlig überstürzen; der frühe Tod seiner Mutter in seiner Kindheit – er hatte ihn verfolgt, solange ich ihn kannte – habe ihn irgendwie überbehütend in seinem Umgang mit den Frauen in seinem Leben werden lassen, und infolgedessen gehörten Dahab und Aya zu den Ersten, die die Nachbarschaft verließen, und blieben glücklicherweise verschont von dem, was kommen sollte. Mustafa hatte einen Freund in England, einen Soziologieprofessor, der aus Karrieregründen vor einigen Jahren dort hingezogen war, und dieser hatte Mustafa angerufen und ihn gedrängt, nach Großbritannien zu kommen. Er war davon überzeugt, dass die Lage sich noch verschlimmern würde. Mustafa gab seiner Frau und seiner Tochter ausreichend Geld für die Reise und blieb selbst mit Firas in Syrien.

»Ich kann die Bienen nicht einfach im Stich lassen, Nuri«, sagte er eines Abends und strich sich mit der großen Hand über Gesicht und Bart, als wollte er den ernsten Ausdruck wegwischen, der sich dauerhaft auf seine Züge gelegt zu haben schien. »Sie sind unsere Familie.«

Bevor es wirklich schlimm wurde, kamen Mustafa und Firas abends immer zu uns zum Essen, und dann saßen wir zusammen auf der Veranda, schauten hinunter auf die Stadt, hörten das Donnern einer fernen Bombe und sahen den Rauch in den Himmel aufsteigen. Als die Lage sich dramatisch verschlechterte, sprachen wir davon, zusammen wegzugehen. Im Dämmerlicht des frühen Abends versammelten wir uns um meinen Leuchtglobus, und Mustafa folgte mit der Fingerspitze dem Weg, den Dahab und Aya genommen hatten. Für sie war es leichter gewesen. In einer dicken Ledermappe hatte Mustafa die Namen und Nummern mehrerer Schleuser. Wir gingen die Bücher durch, überprüften die Finanzen und stellten Berechnungen über die möglichen Kosten unserer Flucht an. Natürlich war so etwas schwer kalkulierbar; Schleuser änderten ihre Tarife nach Lust und Laune, aber wir hatten einen Plan, und Mustafa liebte Pläne und Listen und Landkarten. Sie gaben ihm ein Gefühl der Sicherheit. Aber ich wusste, es war nur leeres Gerede. Mustafa war nicht bereit, die Bienen zu verlassen.

Eines Nachts im Spätsommer zerstörten Vandalen die Bienenstöcke. Sie zündeten sie an, und als wir am Morgen zur Imkerei kamen, waren die Häuser restlos verkohlt. Die Bienen waren tot, das Land war schwarz. Die Stille werde ich nie vergessen, diese tiefe, endlose Stille. Ohne die Bienenwolken über dem Feld sahen wir uns mit der lähmenden Regungslosigkeit von Licht und Himmel konfrontiert. In diesem Augenblick, als ich so am Rand des Feldes stand und die Sonnenstrahlen schräg auf die zerstörten Stöcke trafen, ergriff mich ein Gefühl der Leere, ein lautloses Nichts, das mit jedem Atemzug tiefer in mich eindrang. Mustafa saß im Schneidersitz mit geschlossenen Augen mitten auf dem Feld. Ich ging umher und suchte den Boden nach lebenden Bienen ab, um sie zu zertreten, weil sie keinen Stock und kein Volk mehr hatten. Die meisten Bienenhäuser waren restlos niedergebrannt, aber ein paar standen da wie Skelette, auf denen Überreste von Nummern sichtbar waren: zwölf, einundzwanzig, hunderteinundzwanzig – die Völker von Großmutter, Mutter und Tochter. Das wusste ich, weil ich sie selbst geteilt hatte. Drei Generationen von Bienen, aber jetzt waren sie alle fort. Ich fuhr nach Hause und brachte Sami ins Bett, eine Weile saß ich noch neben seinem Bett. Dann setzte ich mich auf die Veranda und betrachtete den dunkler werdenden Himmel und die brütende Stadt darunter.

Am Fuße der Anhöhe verlief der Quwaiq. Als ich den Fluss das letzte Mal sah, war er voller Müll. Im Winter fischten sie die Leichen von Männern und Jungen heraus. Ihre Hände waren gefesselt, und man hatte ihnen in den Kopf geschossen. An jenem Wintertag im südlichen Teil von Bustan al-Quasr sah ich, wie sie die Toten herauszogen. Ich folgte ihnen zu einer alten Schule, wo sie sie auf dem Hof nebeneinanderlegten. Im Schulgebäude war es dunkel, brennende Kerzen steckten in einem Eimer mit Sand. Eine Frau mittleren Alters kniete auf dem ­Boden neben einem anderen Eimer, der mit Wasser gefüllt war. Sie wollte die Gesichter der Toten waschen, sagte sie, damit die Frauen, die sie liebten, sie erkennen könnten, wenn sie kämen und sie suchten. Wäre ich einer der toten Männer im Fluss gewesen, wäre Afra auf hohe Berge gestiegen, um mich zu finden. Sie wäre bis auf den Grund dieses Flusses getaucht, aber das war, bevor sie sie erblinden ließen.

Vor dem Krieg war Afra anders. Sie sorgte laufend für Unordnung. Wenn sie buk, war zum Beispiel immer alles voller Mehl, sogar Sami. Er war von oben bis unten bedeckt davon. Wenn sie malte, verursachte sie ein Chaos. Und wenn Sami ebenfalls malte, war alles noch viel schlimmer – als hätten sie farbtriefende Pinsel ausgeschüttelt. Selbst wenn sie redete, brachte sie alles durcheinander, sie warf mit Wörtern um sich, nahm sie zurück und versuchte es mit anderen, und manchmal unterbrach sie sich sogar selbst. Wenn sie lachte, lachte sie so sehr, dass das ganze Haus erbebte.

Aber wenn sie traurig war, verdunkelte sich meine Welt. Dagegen war ich machtlos. Sie war stärker als ich. Sie weinte wie ein Kind, lachte wie ein Glockenspiel, und ihr Lächeln war das schönste, das ich je gesehen habe. Sie konnte stundenlang ununterbrochen diskutieren. Afra liebte, sie hasste, und sie atmete die Welt ein wie den Duft einer Rose. Aus all diesen Gründen liebte ich sie mehr als mein Leben.

Die Kunst, die sie schuf, war fantastisch. Sie bekam Preise für ihre Gemälde, die das städtische und ländliche Syrien zeigten. Sonntagmorgens gingen wir alle auf den Markt und bauten einen Stand auf, direkt gegenüber von Hamid, der Gewürze und Tee verkaufte. Der Stand war im überdachten Teil des Souks. Es war dunkel und ein bisschen muffig dort, aber es roch auch nach Kardamom, Zimt, Anis und Millionen anderen Gewürzen. Selbst im dortigen Dämmerlicht waren die Landschaften ihrer Bilder nicht starr; es war, als bewegten sie sich, als bewegte sich der Himmel, als bewegte sich das Wasser darin.

Ihr hättet erleben sollen, wie sie mit den Kunden umging, die an den Stand kamen – Geschäftsleute und Frauen, hauptsächlich aus Europa und Asien. Bei diesen Gelegenheiten saß sie dann vollkommen still da, hielt Sami auf dem Schoß und hatte den Blick fest auf die Kunden gerichtet, wenn sie näher an ein Gemälde herantraten und ihre Brille hochschoben, sofern sie eine trugen, und dann zurückwichen, oft so weit, dass sie mit Hamids Kunden kollidierten, und dann blieben sie lange Zeit wie erstarrt stehen. Oft fragten die Kunden schließlich: »Sind Sie Afra?«, und sie antwortete: »Ja, ich bin Afra.« Und das genügte. Bild verkauft.

Sie trug eine ganze Welt in sich, das entging den Kunden nicht. In diesem Moment, wenn sie das Gemälde anstarrten und dann sie anschauten, konnten sie sehen, woraus sie gemacht war. Afras Seele war so groß wie die Felder und die Wüste und der Himmel und das Meer auf ihren Bildern und genauso geheimnisvoll. Es gab immer noch mehr zu erfahren und zu verstehen, und so viel ich auch wusste, es war nicht genug, ich wollte mehr. Aber bei uns in Syrien gibt es eine ­Redensart: In dem Menschen, den du kennst, verbirgt sich einer, den du nicht kennst. Ich liebte sie vom ersten Tag an, als ich ihr auf der Hochzeit des ältesten Sohnes meines Cousins Ibrahim im Dama-Hotel in Damaskus begegnete. Sie trug ein gelbes Kleid mit einem seidenen Hidschab, und das Blau ihrer Augen war nicht das Blau des Meeres oder des Himmels, sondern das Tintenblau des Flusses Quwaiq, mit braunen und grünen Einsprengseln. Ich erinnere mich an unsere Hochzeitsnacht zwei Jahre später; sie wollte, dass ich ihr den Hidschab abnehme. Behutsam zog ich die Haarnadeln heraus, eine nach der anderen, nahm den Stoff ab und sah zum ersten Mal ihr langes schwarzes Haar, so dunkel wie der Himmel über der Wüste in einer sternenlosen Nacht.

Aber was ich an ihr am meisten liebte, war ihr Lachen. Sie lachte, als wäre sie unsterblich.

Nach dem Tod der Bienen war Mustafa bereit, Aleppo zu verlassen. Wir machten uns bereit für den Aufbruch, als Firas verschwand; also warteten wir auf ihn. Mustafa sprach kaum ein Wort. Er war ganz in Gedanken versunken und malte sich dieses und jenes aus. Ab und zu äußerte er eine Vermutung darüber, wo Firas sein mochte. »Vielleicht ist er auf der Suche nach einem Freund, Nuri« oder »Vielleicht bringt er es nicht über sich, Aleppo zu verlassen, und versteckt sich irgendwo, damit wir bleiben.« Einmal sagte er auch: »Vielleicht ist er gestorben, Nuri. Vielleicht ist mein Sohn tot.«

Unsere Taschen waren gepackt, wir waren reisefertig, aber die Tage und Nächte vergingen ohne eine Spur von Firas. Also fand Mustafa Arbeit in einem Leichenschauhaus, das in einem verlassenen Gebäude eingerichtet worden war, dort verzeichnete er die detaillierten Todesursachen – Kugeln, Splitterhagel, Explosionen. Es war eigenartig, ihn drinnen zu sehen, eingesperrt und ohne Sonne. Rund um die Uhr schrieb er mit einem Bleistiftstummel die Namen der Toten in ein schwarzes Buch. Wenn er bei einer Leiche einen Ausweis fand, vereinfachte ihm das seine Aufgabe; bei anderen notierte er ein besonderes Merkmal: die Farbe von Augen oder Haaren, die besondere Form der Nase oder des Körperbaus, einen Leberfleck auf der linken Wange, eine Narbe oder die tödliche Verletzung. Das tat Mustafa bis zu jenem Wintertag, an dem ich seinen Sohn vom Fluss hereinbrachte. Ich hatte den halbwüchsigen Jungen, der tot auf den Steinplatten des Schulhofs lag, sofort erkannt. Ich bat zwei Männer, die ein Auto hatten, mir zu helfen, den Leichnam in das Leichenschauhaus zu bringen. Als Mustafa Firas sah, bat er uns, ihn auf den Tisch zu legen, und dann drückte er dem Jungen die Augen zu, nahm seine Hand und stand lange Zeit reglos da. Ich blieb in der Tür stehen, die Männer gingen wieder, ich hörte ein Motorengeräusch, das Auto fuhr davon, und dann war es still, so still, und das Licht fiel schräg durch das Fenster über dem Tisch herein, auf dem der Junge lag und neben dem Mustafa stand und seine Hand hielt. Eine Zeit lang war kein Laut zu hören – keine Bombe, kein Vogel, kein Atemzug.

Dann wandte Mustafa sich von dem Tisch ab, setzte seine Brille auf, spitzte den kurzen Bleistiftstummel sorgfältig mit seinem Messer an, nahm an seinem Schreibtisch Platz, schlug das schwarze Buch auf und schrieb:

Name – Mein wunderschöner Junge.

Todesursache – Diese kaputte Welt.

Es war das letzte Mal, dass Mustafa den Namen eines Toten verzeichnete.

Genau eine Woche später starb Sami.

2

Die Sozialarbeiterin sagt, sie ist hier, um uns zu helfen. Sie heißt Lucy Fisher, und sie wirkt beeindruckt, weil ich so gut Englisch spreche. Ich erzähle ihr von meiner Arbeit in ­Syrien, von den Bienen und den Kolonien, aber sie hört nicht richtig zu, das sehe ich ihr an. Sie ist in die Unterlagen vertieft, die sie vor sich liegen hat.

Afra wendet ihr noch nicht einmal das Gesicht zu. Wenn man nicht wüsste, dass sie blind ist, könnte man denken, sie schaut aus dem Fenster. Heute spitzt sogar gelegentlich die Sonne durch, das Licht lässt die Iris in beiden Augen funkeln, sodass sie aussehen wie Wasser. Ihre Hände liegen ineinander verschränkt auf dem Küchentisch, ihre Lippen sind fest zusammengepresst. Sie beherrscht ein paar Brocken Englisch, genug, um sich durchzuschlagen, aber sie redet mit niemandem außer mir. Die einzige andere Person, mit der ich sie habe sprechen hören, war Angeliki. Angeliki, aus deren Brüsten Milch tropfte. Ich frage mich, ob sie wohl aus diesen Wäldern hinausgefunden hat.

»Wie gefällt Ihnen die Unterbringung, Mr. und Mrs. Ibrahim?« Lucy Fisher mit den großen blauen Augen und der silbergerahmten Brille konsultiert ihre Unterlagen, als fände sich darin die Antwort auf ihre Frage. Ich bemühe mich, ihre Schönheit zu sehen, von der der Marokkaner gesprochen hat.

Jetzt blickt sie zu mir auf, und ihr Gesicht strahlt vor Wärme.

»Es ist sehr sauber und sicher dort«, sage ich. »Im Vergleich zu anderen Orten.« Ich erzähle ihr nichts von diesen anderen Orten, und auf keinen Fall erwähne ich die Mäuse und Kakerlaken in unserem Zimmer. Ich befürchte, das könnte undankbar wirken.

Sie stellt nicht viele Fragen, sondern erklärt, dass wir schon bald ein Gespräch mit jemandem von der Einwanderungsbehörde haben würden. Dabei schiebt sie ihre Brille auf der Nase hoch und versichert mir mit sanfter, präziser Stimme, dass Afra wegen der Schmerzen in ihren Augen zum Arzt gehen kann, sobald wir die Papiere haben, die zum Nachweis unseres Asylantrags dienen. Sie schaut Afra an, und mir fällt auf, dass Lucy Fisher die Hände auf genau die gleiche Weise vor sich verschränkt hat. Das finde ich irgendwie eigenartig. Dann reicht sie mir einen Stapel Dokumente, einen ganzen Packen vom Innenministerium: Informationen zum Asylantrag und zur Asylberechtigung sowie Anmerkungen zum Screening und zum Befragungsverfahren. Ich blättere alles durch, während sie geduldig wartet und mir dabei zusieht.

Um als Flüchtling im Vereinigten Königreich zu ­bleiben, muss es Ihnen unmöglich sein, in irgendeinem Teil Ihres ­Heimatlandes ungefährdet zu leben, weil Sie überall ­Verfolgung zu befürchten haben.

»In irgendeinem Teil?«, frage ich. »Schicken Sie uns in einen anderen Landesteil zurück?«

Sie runzelt die Stirn, zupft an einer Haarsträhne und presst die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, als hätte sie etwas abscheulich Schmeckendes gegessen.

»Eine Sache ist jetzt ganz wichtig«, sagt sie. »Sie müssen Ihre Geschichte überzeugend vorbringen können. Überlegen Sie sich gut, was Sie dem Beamten von der Einwanderungs­behörde sagen werden. Sehen Sie zu, dass Sie alles so klar, zusammenhängend und geradlinig wie möglich darlegen.«

»Aber schicken Sie uns in die Türkei oder nach Griechenland zurück? Was verstehen Sie denn unter Verfolgung?« Ich stelle meine Fragen lauter als beabsichtigt, in meinem Arm fängt es an zu pochen. Ich reibe über den dicken Wulst aus harter Haut und rotem Gewebe und erinnere mich an das Messer. Lucy Fishers Gesicht verschwimmt vor meinen Augen, meine Hände zittern. Ich knöpfe meinen Hemdkragen auf und ver­suche, mich zu beruhigen.

»Ist es heiß hier drin?«, frage ich.

Sie sagt etwas, aber ich kann sie nicht verstehen, ich sehe nur, dass ihre Lippen sich bewegen. Jetzt steht sie auf, und ich spüre, dass Afra nervös auf ihrem Stuhl herumrutscht. Ich höre das Geräusch von fließendem Wasser. Ein rauschender Fluss. Dann sehe ich etwas aufblitzen, etwas wie die Klinge eines sehr scharfen Messers. Lucy Fisher dreht den Wasserhahn zu, legt meine Hände um ein Wasserglas und führt es an meinen Mund, als wäre ich ein kleines Kind. Ich leere das Glas in einem Zug, und sie setzt sich zurück an ihren Platz. Jetzt sehe ich sie wieder deutlich vor mir, sie wirkt besorgt. Afra legt eine Hand auf mein Bein.

Die Himmelsschleusen öffnen sich, es fängt zu regnen an. Ein wahrer Sturzregen. Schlimmer noch als auf Leros, wo das Land von Regen- und Meerwasser durchtränkt war. Mir wird bewusst, dass sie etwas gesagt hat, ich höre ihre Stimme durch den Regen, ich registriere das Wort »Feind«. Stirnrunzelnd starrt sie mich an, eine leichte Röte überzieht ihr weißes Gesicht.

»Wie bitte?«, sage ich.

»Ich habe gesagt, wir sind dazu da, Ihnen zu helfen, so gut wir können.«

»Ich habe das Wort Feind gehört«, erwidere ich.

Sie strafft die Schultern, schiebt die Unterlippe vor und wirft noch einmal einen Blick auf Afra, und in dem Anflug von Wut, der in ihren Gesichtszügen und in ihren Augen aufflackert, sehe ich, wovon der Marokkaner gesprochen hat. Aber sie ist nicht wütend auf mich; sie nimmt mich gar nicht richtig wahr.

»Ich habe lediglich gesagt, dass ich nicht Ihr Feind bin.« Jetzt liegt ein reumütiger Ton in ihrer Stimme; sie hätte das nicht sagen dürfen, es ist ihr herausgerutscht. Sie steht unter Druck, das erkenne ich an der Art, wie sie diese Haarsträhne um ihren Finger zwirbelt. Aber die Worte klingen im Raum nach, noch während sie ihre Sachen zusammenpackt und sich an Afra wendet, die ihr kaum merklich zunickt, und sei es nur, um ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.

»Ich hoffe, es geht Ihnen gut, Mrs. Ibrahim«, sagt sie, als sie sich zum Gehen wendet.

Ich wünschte, ich wüsste, wer mein Feind ist.

Später gehe ich hinaus in den betonierten Garten und setze mich auf den Stuhl unter dem Baum. Ich erinnere mich an das Summen der Bienen, an den Klang des Friedens. Beinahe kann ich den Honig riechen, die Zitronenblüten und den Anis, aber plötzlich verschwindet der Duft unter dem hohlen Geruch von Asche.

Ich höre ein Brummen. Nicht das kollektive Geräusch von Tausenden von Bienen in den Stöcken, sondern ein separates Summen, das vom Boden kommt. Da unten neben meinen ­Füßen sitzt eine Biene. Erst bei genauerem Hinsehen stelle ich fest, dass sie keine Flügel hat. Ich strecke die Hand aus, und sie krabbelt auf meinen Finger und weiter bis zur Handfläche – eine Hummel, rund und flauschig mit ihrem weichen Pelz, mit breiten gelben und schwarzen Streifen und einer langen Zunge, die sich unter ihren Körper schmiegt. Jetzt kriecht sie über die Oberseite meines Handgelenks. Ich nehme sie mit hinein, setze mich in den Sessel und sehe zu, wie sie sich in meiner Handfläche zum Schlafen bereit macht. Im Wohnzimmer bringt uns die Hauswirtin Tee mit Milch. Heute Abend herrscht hier reger Betrieb. Die meisten Frauen sind schlafen gegangen; nur eine unterhält sich flüsternd mit einem Mann neben ihr auf Farsi. Daran, wie sie den Hidschab lose auf dem Haar trägt, erkenne ich, dass sie sehr wahrscheinlich aus Afghanistan stammt.

Der Marokkaner schlürft den Tee, als hätte er nie etwas Köstlicheres getrunken. Nach jedem Schluck schmatzt er mit den Lippen. Er wirft gelegentlich einen Blick auf sein Telefon. Dann klappt er sein Buch zu und tätschelt es mit der flachen Hand, als wäre es der Kopf eines Kindes.

»Was hast du da in der Hand?«, fragt er.

Ich halte sie ihm entgegen, damit er das Tier sehen kann. »Sie hat keine Flügel«, sage ich. »Ich vermute, sie hat das Flügeldeformationsvirus.«

»Weißt du«, sagt er, »in Marokko gibt es eine Honigstraße. Die Leute kommen aus der ganzen Welt, um von unserem Honig zu kosten. In Agadir gibt es Wasserfälle und Berge und reichlich Blumen, die Menschen und Bienen anlocken. Ich frage mich, wie diese englischen Bienen wohl sind …« Er beugt sich vor, damit er besser sehen kann, und hebt die Hand, als wollte er sie mit dem Finger streicheln wie einen winzigen Hund, aber dann lässt er es bleiben. »Sticht sie?«, fragt er.

»Sie könnte.«

Er bringt seine Hand auf dem Schoß in Sicherheit. »Was hast du mit ihr vor?«

»Viel kann ich nicht machen. Ich bringe sie wieder hinaus. Aber sie wird nicht lange überleben – sie ist von ihrem Volk verstoßen worden, weil sie keine Flügel hat.«

Er schaut durch die Terrassentür hinaus in den Garten, ein kleines betoniertes Viereck mit einem Kirschbaum in der Mitte.

Ich stehe auf und drücke das Gesicht an die Scheibe. Es ist neun Uhr, die Sonne geht eben unter. Der Kirschbaum ragt als schwarze Silhouette in den leuchtenden Himmel empor.

»Jetzt scheint die Sonne«, sage ich, »aber in drei Minuten wird es regnen. Bei Regen kommen Bienen nicht heraus. Bei Regen kommen sie nie heraus, und hier regnet es zu siebzig Prozent der Zeit.«

»Ich glaube, die englischen Bienen sind anders«, sagt er. Als ich mich zu ihm drehe und ihn ansehe, lächelt er wieder. Es gefällt mir nicht, dass er sich über mich zu amüsieren scheint.

Hier unten gibt es ein Badezimmer, einer der Männer ist dort zur Toilette gegangen. Sein Strahl in der Kloschüssel klingt wie ein Wasserfall.

»Verdammte Ausländer«, sagt der Marokkaner und steht auf, um schlafen zu gehen. »Kein Mensch pinkelt im Stehen. Setzt euch gefälligst hin!«

Ich gehe in den Garten und setze die Biene auf eine Blüte der Heidekrautpflanze direkt am Zaun.

In einer Ecke des Wohnzimmers steht ein Computer mit Internetzugang. Ich setze mich davor, um nachzusehen, ob Mustafa mir eine Nachricht geschickt hat. Er hat Syrien vor mir verlassen, wir haben während unserer Reisen die ganze Zeit per E-Mail korrespondiert. Er wartet in Nordengland auf mich, in Yorkshire. Ich weiß noch, wie seine Worte mich immer weiter vorangetrieben haben. »Wo es Bienen gibt, gibt es auch Blumen, und wo es Blumen gibt, gibt es Hoffnung und neues Leben.« Mustafa ist der Grund, weshalb ich hierhergekommen bin. Er ist der Grund, weshalb Afra und ich nicht aufgegeben haben, bis wir es nach Großbritannien geschafft hatten. Aber jetzt starre ich nur noch mein Spiegelbild auf dem Display an, zu mehr bin ich nicht in der Lage. Mustafa soll nicht wissen, was aus mir geworden ist. Endlich sind wir im selben Land. Aber wenn wir uns treffen, wird er einen gebrochenen Mann sehen. Ich glaube nicht, dass er mich erkennen wird. Ich wende mich vom Bildschirm ab.

Ich warte, bis das Zimmer sich geleert hat, bis alle Bewohner mit ihren fremden Sprachen und fremden Gebräuchen gegangen sind und ich nur noch das ferne Rauschen des Verkehrs höre. Ich stelle mir einen Bienenstock vor, schwärmende Bienen, die vom Flugloch aus geradewegs in den Himmel hinauf- und davonfliegen, um Blüten zu suchen. Und ich versuche, mir das Land vorzustellen, das jenseits davon liegt, die Straßen mit ihren Lichtern und das Meer.

Plötzlich lässt der Bewegungsmelder das Licht im Garten anspringen. Von meinem Sessel an der Terrassentür aus bemerke ich einen Schatten, etwas Kleines, Dunkles, das flink über den Betonboden huscht. Es sieht aus wie ein Fuchs. Ich stehe auf und will nachsehen, aber in dem Moment geht das Licht wieder aus. Ich lege das Gesicht an die Scheibe: Das Ding ist größer als ein Fuchs und steht aufrecht. Es bewegt sich, und die Lampe leuchtet wieder auf. Es ist ein Junge, der mir den Rücken zugewandt hat. Er späht durch eine Lücke im Zaun in den Nachbargarten. Ich klopfe laut an die Scheibe, aber er dreht sich nicht um. Ich suche nach dem Schlüssel und finde ihn an seinem Platz an einem Nagel hinter dem Vorhang. Als ich neben dem Jungen stehe, dreht er sich zu mir um, als habe er mich erwartet, und schaut mich mit diesen schwarzen Augen an, die sich von mir die Antwort auf alle Fragen der Welt zu erhoffen scheinen.

»Mohammed«, sage ich leise; ich will ihn nicht erschrecken.

»Onkel Nuri«, sagt er, »siehst du den Garten da – er ist so grün!«

Er tritt zur Seite, damit ich es auch sehen kann, aber es ist so dunkel, dass ich kein Grün erkennen kann, sondern nur die weichen Schatten von Büschen und Bäumen.

»Wie hast du mich gefunden?«, frage ich, aber er antwortet nicht. Ich glaube, ich muss ganz behutsam vorgehen. »Möchtest du hereinkommen?« Aber er setzt sich mit gekreuzten Beinen auf den Betonboden und späht wieder durch die Lücke im Zaun. Ich setze mich neben ihn.

»Es gibt einen Strand hier«, sagt er.

»Ich weiß.«

»Ich mag das Meer nicht.«

»Ich weiß. Ich erinnere mich.« Er hält etwas in der Hand. Es ist weiß, und ich rieche Zitronenduft, obwohl es hier keine ­Zitronen gibt.

»Was ist das?«, frage ich.

»Eine Blüte.«

»Woher hast du sie?« Ich halte die Hand auf, und er reicht sie mir. Sie ist von dem Zitronenbaum in Aleppo.

ALEPPO

versank im Staub. Afra wollte nicht weggehen. Alle anderen waren schon fort. Sogar Mustafa drängte jetzt verzweifelt darauf, sich auf den Weg zu machen. Aber nicht Afra. Mustafa wohnte an der Straße zum Fluss, wenn ich ihn besuchte, lief ich immer den Hang hinunter. Der Weg war nicht weit, aber es gab Heckenschützen, deshalb musste ich vorsichtig sein. Normalerweise zwitscherten die Vögel. Der Klang ihres Gesangs ändert sich nie. Das hat Mustafa gesagt, vor vielen Jahren schon. Und immer wenn die Bomben schwiegen, kamen die Vögel heraus und sangen ihr Lied. Sie saßen auf den Skeletten der Bäume, auf Kraterrändern, Stromkabeln und eingestürzten Mauern, und sie sangen. Sie flogen hoch oben im von alldem unberührten Himmel und sangen.

Wenn ich mich Mustafas Haus näherte, hörte ich schon aus einiger Entfernung leise Musik. Ich fand ihn dann immer in seinem halb ausgebombten Zimmer; er saß auf dem Bett und spielte eine Schallplatte auf einem alten Plattenspieler, hielt das Ende seiner Zigarette zwischen den Zähnen und zog daran. Rauchwolken stiegen über ihm auf, und auf dem Bett neben ihm schnurrte eine Katze. Aber als ich an diesem Tag dort ankam, war Mustafa nicht da. Die Katze schlief an der Stelle, wo sie immer lag, und hatte den Schwanz dicht um ihren Körper gelegt. Auf dem Nachttisch stand ein Foto von uns beiden aus dem Jahr, in dem wir unser gemeinsames Geschäft eröffnet hatten. Wir blinzelten beide in die Sonne, Mustafa war mindestens einen Kopf größer als ich, und hinter uns befanden sich die Bienenhäuser. Ich weiß noch, dass wir von Bienen umgeben waren, aber auf dem Bild sind sie nicht zu sehen. Vor dem Foto lag ein Brief an mich.

Lieber Nuri,

manchmal denke ich, wenn ich immer nur weitergehe, finde ich ein wenig Licht. Aber ich weiß, ich kann bis ans andere Ende der Welt gehen, und es wird immer noch dunkel sein. Nicht dunkel wie die Nacht, die ja noch ein wenig Licht von den Sternen und vom Mond erhält. Diese Dunkelheit ist in mir. Sie hat nichts zu tun mit der Außenwelt.

Jetzt sehe ich im Geiste meinen Sohn vor mir, wie er auf diesem Tisch liegt, und nichts kann bewirken, dass dieses Bild verblasst. Ich habe es jedes Mal vor mir, sobald ich die Augen schließe.