Das Versprechen - Ruth Saberton - E-Book
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Das Versprechen E-Book

Ruth Saberton

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Beschreibung

Heute, morgen und für alle Zeit.

Nach dem Tod ihres Vaters drohen Trauer und Verlust die junge Schriftstellerin Nell zu überwältigen. Da findet sie unter seinen Besitztümern ein altes Foto: Es zeigt einen jungen Soldaten, der ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Nell folgt den Hinweisen bis an die Küste Cornwalls, um die Geschichte ihrer Familie zu erforschen. Dabei begegnet sie der neunzigjährigen Estella, die sich an den Sommer 1944 erinnert, an eine verbotene Liebe und eine unvergleichliche Freundschaft. Und der charmante Josh weckt Gefühle in Nell, die sie längst verloren geglaubt hat ... 

Eine junge Frau auf den Spuren ihrer Vergangenheit: dramatisch, herzzerreißend und voller Hoffnung.

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Seitenzahl: 770

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Über das Buch

Die junge Schriftstellerin Nell hat gleich zwei Schicksalsschläge zu verkraften. Nach einer Fehlgeburt ist ihre Ehe zerbrochen, und dann stirbt auch noch ihr Vater. Beim Ausräumen seines Hauses findet sie das Foto eines amerikanischen Soldaten, der 1944 in dem kleinen Küstenort Pencallyn in Cornwall stationiert war und ihrem Vater verblüffend ähnlich sieht. Handelt es sich etwa um ihren Großvater? Kurzerhand macht sie sich auf den Weg nach Cornwall, um mehr über ihre Wurzeln zu erfahren und herauszufinden, warum ihr Vater als Kind zur Adoption freigegeben wurde. Dabei kommt sie einem alten Familiengeheimnis auf die Spur, das ihre Welt für immer verändern könnte ...

Über Ruth Saberton

Ruth Saberton wurde in London geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Cornwall. Obwohl sie weit gereist ist, gibt es für sie keinen Ort, der sich mit der rauen Schönheit dieser Küstenlandschaft messen kann. Hier findet sie immer wieder neue Inspiration für ihre Romane. In England gilt sie als absolute Bestsellerautorin.

Im Aufbau Taschenbuch ist bereits ihr Roman »Der Liebesbrief« erschienen.

Uta Hege lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Saarbrücken. Mit dem Übersetzen englischer Titel hat sie ihre Reiseleidenschaft und ihre Liebe zu Büchern perfekt miteinander verbunden und ihren Traumberuf gefunden.

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Ruth Saberton

Das Versprechen

Roman

Aus dem Englischen von Uta Hege

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Prolog: Pencallyn — Mai 1944

1: Nell — heute

2: Estella — heute

3: Nell — heute

4: Estella — heute

5: Estella — heute

6: Estella — heute

7: Nell — heute

8: Estella — heute

9: Nell — heute

10: Nell — heute

11: Nell — heute

12: Estella — heute

13: Nell — heute

14: Estella — heute

15: Nell — heute

16: Nell — heute

17: Nell — heute

18: Estella — 1939

19: Estella — 1939

20: Estella — 1939

21: Estella — 1939

22: Estella — 1939–1940

23: Nell — heute

24: Estella — Mai 1941

25: Nell — heute

26: Nell — heute

27: Nell — heute

28: Estella — heute

29: Estella — 1943

30: Estella — 1943

31: Estella — 1943

32: Estella — 1943

33: Estella — 1944

34: Estella — 1944

35: Estella — 1944

36: Estella — 1944

37: Estella — 1944

38: Estella — 1944

39: Estella — 1944

40: Estella — 1945

41: Nell — heute

42: Nell — heute

43: Nell — heute

44: Evie — 1944

45: Estella — heute

Epilog: Nell — heute

Anmerkungen der Autorin

Erläuterungen

Impressum

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Für Dadin Liebe

Prolog

Pencallyn

Mai 1944

An jenem Abend drehte sich die Welt langsamer als sonst, als versuche sie die Zeit ein wenig aufzuhalten. Beschwingte Jazzmusik drang durch die offene Tür des Tanzlokals, während ein junges Paar verstohlen in der Dunkelheit verschwand. In ungewissen Zeiten lebt man jeden Augenblick, als wäre es der letzte, und bevor man sichs versieht, gibt man Versprechen, ohne zu wissen, ob man sie halten kann. Als seine Hand sich sanft um ihre Finger legte, wusste sie, dass er so fest mit ihrem Herz verwoben war wie der Efeu und das Geißblatt mit den Bäumen, die es für alle Zeit umschlangen. Dieser Mann war tief in ihre Seele eingedrungen und würde dort für alle Zeit verwurzelt sein, was auch geschähe.

Sie kannten sich erst ein paar Monate, doch Zeit war vollkommen bedeutungslos, wenn man seinem Seelenverwandten begegnete. Sogar der Krieg rückte in den Hintergrund, es zählten einzig ihr Zusammensein und ihre Träume von der Zukunft. Und sie würden eine Zukunft haben, weil allein der Gedanke, dass sie sich je wieder trennen müssten, unerträglich war.

Aus Angst, ihn zu verlieren, verstärkte sie den Griff um seine Hand. Der Gedanke ließ ihr Herz erschaudern. Doch wie könnte sie ihn davor bewahren, dass ihm ein Unglück widerfuhr? Schließlich war in diesen Zeiten niemand sicher.

Er entzog ihr seine Hand, umarmte sie und küsste sanft ihr Haar. Die liebevolle Geste zeigte ihr, dass er verstand, wie es ihr ging, weil Trennungen und Verluste an der Tagesordnung waren. Weil jeder Tag die Nachrichten von neuen Todesfällen brachte, Telegramme auch die Leben der Daheimgebliebenen zerstörten und vielleicht die nächste Bombenexplosion die Glasscheiben des eigenen Hauses und die eigenen Knochen splittern ließ. Selbst im verschlafenen Cornwall war der Tod nie weiter als ein Flüstern von den Einwohnern entfernt. Wenn die Bomber über ihre Köpfe flogen, hielten sie den Atem an und hofften, dass sie noch nicht an der Reihe wären.

Wie konnte es sein, dass das Groteske, Unvorstellbare normal geworden war? Früher als schockierend angesehene Veränderungen hatten sich genauso in den Alltag eingeschlichen wie die Flugabwehrgeschütze, die Bunker und das Dröhnen der Panzer, die die ausgebauten Landstraßen hinunterfuhren, als hätten sie nie etwas anderes getan. Grasbüschel bedeckten die vernarbte Erde, wo die Bulldozer die neuen Straßen in den alten Wald geschnitten hatten, und als wollte die Natur die Schmerzen lindern, waren die neuen Wegesränder schon nach kurzer Zeit mit wilden Blumen übersät. Inmitten der Zerstörung gab es Schönheit, so wie es inmitten des Verderbens Liebe gab. Das war ein kleiner Trost.

Vor allem lebte man viel intensiver als zuvor. Das Leben war ein Drahtseilakt, bei dem die Menschen über einem Abgrund balancierten und in dem der Tod allgegenwärtig war. Es wurde dadurch umso kostbarer, und jung, verliebt und schwindelig vor Glück zu sein, wog mehr als jeder Schatz. In diesem Frühjahr war für sie die Sonne warm, der Himmel blau und die gesamte Welt so schön wie nie zuvor, denn wie Dornröschen hatte sie ein Kuss aus ihrem langen Schlaf erweckt. Sie würde niemals wieder schlafen, denn ihr Leben hatte sich auf wunderbare, grundlegende Art verändert, und sie war von einer unbändigen Lebenslust erfüllt.

Bereits bei ihrem ersten Treffen hatte sie gespürt, dass es für sie jetzt kein Zurück mehr gab. Sie hatte ihr Leben lang auf ihn gewartet, und nachdem sie sich gefunden hatten, war nichts anderes mehr von Bedeutung. Es gab kein Problem, das sich nicht überwinden ließ. Bei hellem Sonnenschein war der Krieg nichts weiter als ein böser Traum. Sie wünschte, der Sommer zöge sich mit glutvollen, dunklen Augen und gemurmelten Versprechen noch endlos hin. Sie wollte diese Zeit genauso festhalten wie ihn.

Also wanderten sie durch den Garten zu der alten Sonnenuhr, die ihr auch früher schon den einen oder anderen Wunsch erfüllt hatte. Hier im Zaubergarten war alles möglich. Vielleicht könnte sie sich ja sogar wünschen, dass es Hitler nicht mehr gäbe. Schließlich waren die Schleier, die die Zeit verhüllten, hier in Cornwall dünner als an anderen Orten, und die alten Mythen, Sitten und Gebräuche waren nur einen Schatten von der Gegenwart entfernt. Magie fand sich im fröhlichen Gesang der Vögel, die dieselben Melodien pfiffen wie seit Anbeginn der Zeit. Magie fand sich im Silbergrau der Flechten, die die Felsen überzogen, und in den unverwandten Schatten, die die Sonne warf. Sie müsste es sich einfach stärker und vor allem öfter wünschen, weiter nichts. Am besten, sie liefe zusätzlich durch das alte Labyrinth zum Mittelpunkt des Gartens und hinterließe an dem versteckten Ort eine geschriebene Nachricht. In ihrer Kindheit hatte das auf alle Fälle funktioniert.

Von diesem Plan getröstet, lehnte sie sich an ihn. Sie nahm kaum wahr, wie sich der raue Stoff seiner Uniform an ihrer Wange rieb. Vielleicht hätten andere das Gesicht verzogen und verächtliche Bemerkungen gemacht, aber sie wusste, dass das Schicksal sie füreinander bestimmt hatte. Sie wusste, dass es schwierig würde, außerhalb des Gartens dauerhaft mit ihm zu leben, doch sie würden eine Lösung finden.

Die Abenddämmerung brach an und tauchte die Umgebung in ein violettes Licht. Nach den Stürmen der vergangenen Tage hing der durchdringende Geruch von nasser Erde in der Luft, und am inzwischen wieder wolkenlosen Himmel tauchten die ersten Sterne auf. Doch klare Nächte waren gefährlich, denn das trügerische Licht des Monds war von Vorteil für ihre Feinde. In Nächten wie diesen sollte man das Haus besser nicht verlassen. Sie hatten bereits einmal jede Vorsicht über Bord geworfen, aber heute Abend roch es richtiggehend nach Gefahr.

Arm in Arm betraten sie das Dickicht. In einer anderen, genauso warmen Sommernacht hatte ihr Liebster einmal festgestellt, sie könnten statt in Cornwall auch in Georgia, Virginia, South Carolina sein. Die Namen waren nicht weniger aufregend als dieser Garten oder ihre Liebe, und in seinen Worten hatte sie das Versprechen eines abenteuerlichen Lebens voll wunderbarer Möglichkeiten gehört. Inmitten dieser Bäume kam der Krieg ihr wie der halb vergessene Alptraum eines Kindes vor.

Hier könnte ihnen nichts geschehen, denn sie waren jung und verliebt. Sie träumten von der Zukunft, und die Pläne, die sie machten, waren helle Hoffnungsschimmer, um das Grauen eines Krieges einzudämmen, der niemals mehr zu enden schien.

»Es wird dir einen Riesenspaß machen, in meinem kleinen Segelboot über den See zu jagen«, hatte er gesagt. »Und meine Familie wird dich sofort ins Herz schließen.«

Sie hatte sich gefragt, ob das wohl stimmte, denn bei diesen Worten hatten seine Augen unsicher geflackert. So, wie er nicht der Mann war, den ihr Vater mit offenen Armen willkommen heißen würde, war auch sie ganz sicher nicht das Mädchen, das seine Eltern sich für ihn wünschten. Sie wusste, wie wichtig ihm seine Familie war und wie sehr sie ihm fehlte. Er hatte ihr schon oft von seiner freundlichen und klugen Mutter, einer Grundschullehrerin, und seinem gut aussehenden Vater, der die Felder der Familie bestellte und am Sonntag in der kleinen Kirche ihres Ortes predigte, erzählt. Genau wie von dem See, der sich vom Rande ihres Grundstücks bis zum Horizont erstreckte, von der Schaukel mit der abblätternden Farbe, die auf der Veranda stand, und von dem kleinen Holzboot, das sein ganzer Stolz war. Die Welt, die er zurückgelassen hatte, war ein ganzes Universum von den Bomben und von der allnächtlichen Verdunkelung entfernt und kam ihr fast wie eins der Märchen ihrer Kindheit vor. »Erzähl mir noch mal von Amerika«, bat sie ihn ein ums andere Mal.

»Wir haben einen kleinen Hof in einem Tal, in dem die Sonne scheint und sich der Weizen im Wind wiegt. Wenn wir nach Hause kommen, nehmen wir den Weg zwischen den Feldern, setzen uns auf unsere Schaukelstühle, die auf der Veranda stehen, und beobachten, wie die Sonne langsam hinter den Hügeln untergeht. Meine Mutter wird dir beibringen, wie man Apfelkuchen backt, du wirst in meinem Truck zum Einkaufen in den Ort fahren, wir werden jede Menge Kinder kriegen, zusammen alt werden und mit unseren Enkelkindern spielen. Versprochen«, fügte er am Ende immer voller Leidenschaft hinzu. »Du bist mein Mädchen, und ich liebe dich. Für mich gibt es nur dich. Heute, morgen und für alle Zeit.«

Heute, morgen und für alle Zeit. Dies war der Schwur, der sie für immer aneinander band. Es war ein genauso bindendes Versprechen wie die Worte, die man in der Kirche sprach, und als sie es neben der alten Sonnenuhr geflüstert hatten, hatte sicher jemand zugehört und seinen feierlichen Ernst erkannt. Die Vögel waren verstummt, und ein besonderer Zauber hatte in der Luft gelegen. Sie waren eins.

Je weiter sie sich auf dem Pfad vom Dorf entfernten, umso leiser wurde die Musik. Die Dunkelheit um sie herum vertiefte sich. Selbst hier in Cornwall holte sie der Krieg allmählich ein. Das zeigten ihr das pausenlose Dröhnen der Motoren, die betonierten Rampen unten am Strand und die unzähligen Kriegsschiffe, die dort versammelt waren.

Und ihnen lief die Zeit davon.

Sie waren auf dem Weg zu dem Gehöft, das ganz am Grundstücksende lag. Es stellte einen wunderbaren Treffpunkt dar, und wenn der Garten unter einem dichten Regenschleier lag, zogen sie einfach eine Decke über sich und horchten auf die Melodie der Regentropfen auf dem Dach. Hier waren sie vor neugierigen Blicken sicher, weil sonst niemand in die Nähe dieses halb verfallenen Hauses kam. Es war ihr Zufluchtsort in einer Welt, die völlig aus dem Gleichgewicht geraten war.

Er umfasste ihre Hände.

»Werde meine Frau.«

Sie brachte keinen Ton heraus. Ihr wurde schwindelig, denn sie wusste, alles, was in ihrem Leben je passiert war, hatte sie an diesen Punkt geführt. Natürlich würde sie ihn heiraten und dann mit ihm zusammen in die Staaten gehen. Sie würden alle Hindernisse überwinden, die die Welt versuchte, ihnen in den Weg zu stellen.

Er aber fürchtete, dass er sie überrumpelt hätte.

»Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber ich verspreche dir, dass es für mich nie eine andere geben wird. Ich habe dir nicht viel zu bieten, aber ich liebe dich und werde dich bis an mein Lebensende lieben.«

»Heute, morgen und für alle Zeit«, wisperte sie.

»Ist das ein Ja?«

»Natürlich! Ja, natürlich werde ich dich heiraten!«

Freudestrahlend zog er sie an seine Brust und gab ihr einen Kuss, der gleichzeitig von Hoffnung und Verlangen und der Furcht vor der bevorstehenden Trennung sprach. Es war ein Kuss, an den sie sich ihr Leben lang erinnern würde, weil er ihr lebenslange Liebe schwor.

»Ich habe allerdings keinen Verlobungsring für dich«, gestand er ihr.

»Den brauche ich auch nicht.«

»Was für ein Mann bittet ein Mädchen, seine Frau zu werden, und hat nicht mal einen Ring für sie?«

»Ein Mann, der Tausende von Meilen fern der Heimat kämpft!«

»Das ist keine Entschuldigung. Vor allem kann ich euch Briten keinen zusätzlichen Vorwand liefern, auf uns Yanks herabzuschauen.«

Sie hätte sagen wollen, dass die Briten nicht auf die Amerikaner heruntersahen, aber ihnen beiden wäre klar gewesen, dass das eine Lüge war. Auch wenn die jungen Frauen in Calmouth und Pencallyn von dem Zustrom attraktiver junger Männer und die Kinder von den Kaugummis, die sie bekamen, ganz begeistert waren, war der Unmut bei den Älteren über die beschlagnahmten Gehöfte oder Häuser und die abgesperrten Strände groß.

Vor allem machte ihr der Hass, den erschreckend viele Menschen plötzlich offen zeigten, Angst.

Die bösen Blicke, abfälligen Worte und die unverhohlene Ablehnung eines Menschen, der Millionen Mal mehr wert war als die, die ihn verachteten, hätte sie weder ihrer eigenen Familie noch einem ihrer Gäste jemals zugetraut. So etwas tat kein anständiger Mensch. Wenn sie nicht gegen diese Dinge kämpften, worum ging es dann in diesem Krieg? Auf welcher Seite standen Menschen, die so dachten, überhaupt?

»Ich habe etwas als Ersatz, bis du dir einen Ring aussuchen kannst«, stellte er leise fest und zog ein kleines Silberkreuz an einer zarten Kette aus der Tasche seiner Uniform.

»Das kann ich unmöglich annehmen. Du hast gesagt, es gehört deiner Mum. Es ist seit Jahren im Besitz eurer Familie. Sie hat es dir mitgegeben, weil es dich beschützen soll.«

»Ich weiß, Schatz, aber wenn ich kämpfe, muss ich wissen, dass dir nichts passiert. Wie könnte ich mein Mädchen einfach hier zurücklassen, ohne zu wissen, dass es sicher ist?«

Bei diesen Worten wogte ein Gefühl des Unbehagens in ihr auf. »Aber du brauchst es selbst! Du bist schließlich in größerer Gefahr als ich.«

»Ich habe keine Angst vor diesen Krauts. Du kannst mir glauben, wenn sie Onkel Sam an ihren Küsten landen sehen, nehmen sie die Beine in die Hand.«

Sie sprach nicht von den Deutschen, doch sie wusste nicht, wie sie ihm sagen sollte, was der wahre Grund für ihre Ängste war.

Er legte ihr die Kette um den Hals und machte einen Schritt zurück.

»So. Jetzt bist du sicher«, stellte er zufrieden fest.

»Ich liebe dich«, erklärte sie, und wieder presste er ihr sanft die Lippen auf den Mund.

»Und ich dich. Jetzt bist du meine reizende Verlobte, und ich werde bis zum Ende meines Lebens für dich da sein und dich glücklich machen. Das verspreche ich.«

So glücklich sie in diesem Moment auch war, sie wusste, dass die Wolkenwand sich über dem Meer immer mehr zusammenzog. In den Flussmündungen und an den Stränden lagen Hunderte von Schiffen, nachts flogen die Bomber dicht über die Häuser, und der Himmel über Calmouth ging in Flammen auf. Täglich kamen mehr Soldaten an. Sie hatten außerhalb des Dorfs ein großes Camp errichtet, eins der Herrenhäuser beschlagnahmt und selbst in Pencallyn House zwei Offiziere einquartiert. Sie wünschte sich, die beiden Männer wären niemals aufgetaucht. Vor allem nicht der mit den Augen, die so kalt wie Gletscher waren, und dem besonderen Talent, sich anzuschleichen und dann plötzlich völlig unvermutet direkt vor einem zu stehen.

Bei dem Gedanken rann ein kalter Schauder über ihren Rücken, und ihr Liebster fragte: »Ist dir kalt?«

Sie schüttelte den Kopf, konnte ihm aber nicht erklären, was ihr durch den Kopf gegangen war. Wie hätte sie ihr ungutes Gefühl auch in Worte fassen und beschreiben sollen, welche Furcht ein Fremder in ihr hervorrief, der ihr doch im Grunde nichts zuleide tat?

»Es geht mir gut.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust, und die gleichmäßigen Schläge seines Herzens vertrieben ihre Angst. Wenn sie mit ihm zusammen war, fühlte sie sich stark und mutig. Alles würde gut.

Im Dunkeln fühlte sich der Garten von Pencallyn wie ein Urwald an, als brächen jeden Augenblick vor Tausenden von Jahren ausgestorbene Kreaturen daraus hervor. Sie hatte das Gefühl, als würde irgendwas im Schatten der uralten Bäume lauern, und erschauerte ein zweites Mal.

»Mein kleines Frostbeulchen«, murmelte er, zog seine Jacke aus und hängte sie ihr um. »Es ist schon spät. Du solltest langsam reingehen und dich aufwärmen.«

Hand in Hand durchquerten sie den Garten, und als sie dem Haus so nahe waren, wie sie ihm nahezukommen wagten, legte er noch einmal das Versprechen ihrer Zukunft in den sanften Abschiedskuss, den er ihr gab.

»Werde ich dich morgen sehen?«

Er lächelte sein wunderbares Lächeln, und ihr Herzschlag setzte aus. Wie schön er war. Wie mutig, klug und freundlich – und er würde sie zur Frau nehmen. Womit in aller Welt hatte sie dieses grenzenlose Glück verdient?

»Ich zähle schon die Stunden«, antwortete er und zog mit seinem Daumen die Konturen ihrer Wange nach.

Am liebsten hätte sie die Uhr zurückgedreht, sich abermals auf dem verlassenen Hof versteckt und ihm die Arme um den Hals geschlungen. Sie liebte ihn, ja, sie betete ihn an. Und sie fühlte sich lebendiger als je zuvor.

Sie wusste, dass sie nie für einen anderen so empfinden würde wie für ihn.

»Was auch geschieht, ich werde zu dir zurückkommen, und dann werden wir die Segel hier in Cornwall streichen und für alle Zeit zusammen sein«, murmelte er.

»Heute, morgen und für alle Zeit«, wisperte sie.

Am liebsten hätte sie ihn angefleht, noch einen Augenblick zu bleiben, sich an ihm festgeklammert wie der Efeu an den Mauern ihres Hauses und das Moos an den uralten Bäumen. Doch er musste seine Pflicht in diesem Krieg erfüllen.

Nach einem letzten Kuss verschwand er wie so häufig in der Dunkelheit des Gartens, und sie nahm den Weg zurück zum Haus.

Natürlich wusste sie, dass das Gefühl der drohenden Gefahr nur ihrer Phantasie entsprang, aber sie wäre trotzdem froh, läge der dunkle Garten hinter ihr. Da wegen der Verdunkelung kein Licht durch irgendwelche Fenster auf den Kiesweg fiel, musste sie sich darauf konzentrieren, dass sie den Weg zur Haustür fand.

Wenn der Mond noch einmal durch die Wolkenwand geschienen hätte, hätte sie womöglich die Gestalt bemerkt, die hinter der Hausecke verschwand, so aber lag die Welt in samtig schwarzer Dunkelheit.

Und als sie, den Kopf voller Träume und das Herz voller Hoffnung, durch die Haustür trat, drehte das Rad des Schicksals sich ein letztes Mal.

1

Nell

heute

Ich weiß nicht, ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin.

Um mich herum stapeln sich Kisten, auf dem Boden liegen alte Aufzeichnungen und Dokumente verstreut. Bücherregale und Fensterbretter dienen als Ablage für ungelesene Bücher, leere Umschläge, vergilbte Zeitungen. Auf der Couch türmen sich Kataloge und Prospekte, die für irgendwelche Waren werben, die man garantiert nicht braucht. Die Kleiderschränke sind zum Bersten mit Hemden, Anzügen und Schuhen gefüllt, die nur zu besonderen Anlässen getragen worden sind, und dann ist da auch noch der Schuppen, der vor Einzelteilen sorgfältig zerlegter Rasenmäher, wirren Drahtknäueln und den geliebten Schrauben, die mein Vater vielleicht eines Tages hätte brauchen können, überquillt.

Mein Magen zieht sich zusammen. Keiner dieser Schätze wird jetzt noch Verwendung finden. Sie haben ihren Sinn verloren. Brauchte er wirklich drei kaputte Radios? Oder Staubsaugerbeutel, ohne dass er auch nur einen Staubsauger besaß? Wie so oft in letzter Zeit drohe ich in Tränen auszubrechen, weil ich ihn jetzt nicht mehr danach fragen kann. Ich werde nie erfahren, warum er niemals irgendetwas weggeworfen hat. Jetzt gibt es niemanden mehr, der mich tröstend in den Arm nimmt, wenn ich traurig bin. Keine weise, ruhige Stimme, keinen Menschen, der mich so gut kennt, mich trotz meiner Fehler und der Schwächen liebt und sich am Telefon über den Klang meiner Stimme freut.

Jetzt bin ich ganz allein.

Ich kämpfe gegen die in meinem Innern aufsteigende Panik an. Ich bin inzwischen über dreißig. Ich bin erwachsen. Und ich hatte schon seit Längerem damit rechnen müssen, dass mein Vater stirbt, denn schließlich habe ich ihn wochenlang gepflegt. Sein Tod kam alles andere als überraschend, doch ich habe keine Ahnung, wie ich jetzt die Überreste seines Lebens durchgehen und entscheiden soll, welche dieser unzähligen Dinge ich entsorgen und welche ich aufbewahren soll. Mein Vater war beim Horten offensichtlich überhaupt nicht wählerisch. Ich nehme an, dass ihm entweder alles oder gar nichts wirklich wichtig war.

Bevor mich die Panik überwältigt, gehe ich hinaus auf die Terrasse. Die Augustsonne wirft leuchtend gelbe Flecken auf den alten Schaukelstuhl, in dem mein Dad so gerne saß. Als Kind saß ich dort oft auf seinem Schoß, während er mir Geschichten vorgelesen oder mir die Tränen getrocknet hat. Jetzt steht er leer und reglos da, und das Bewusstsein, dass mein Vater niemals wieder darin schaukeln wird, bricht mir das Herz.

Soll ich den Schaukelstuhl behalten? Ihn verkaufen? Auf den Sperrmüll werfen? Was würde mein Vater wollen? Und was will ich selbst?

Inzwischen ist er seit acht Wochen tot, und immer noch habe ich keinen blassen Schimmer, was ich mit den ganzen Sachen machen soll. Ich habe fast automatisch seinen Tod gemeldet, unzählige Formulare ausgefüllt und die Beerdigung organisiert, ohne dass ich mich daran erinnern kann. Früher hätte ich noch Andy fragen können, ob er mir beim Ausräumen des Hauses hilft. Das könnte ich wahrscheinlich immer noch, da ich inzwischen aber seine Ex‑Frau bin, erscheint es mir nicht fair, ihn für diesen Knochenjob zu rekrutieren. Natürlich haben wir gesagt, dass wir weiterhin Freunde sind, aber er hat mit seiner Arbeit und seiner neuen Freundin sicherlich genug zu tun, auch ohne dass jetzt noch ein Hilferuf von seiner Ex‑Frau kommt.

Entschlossen kehre ich zurück ins Haus und wende mich dem nächsten Berg Papiere zu. Versicherungen, Zulassungen und Werkstattrechnungen zu allen Autos, die mein Dad seit 1975 je besessen hat. Ich schätze, dass ich dieses Zeug entsorgen kann. Aber ich habe kein Auto und dementsprechend keine Ahnung, ob davon noch irgendetwas wichtig ist. Ich bin das genaue Gegenteil von Dad, denn ich bewahre nur die Dinge auf, die ich wirklich brauche. Auch wenn ich es noch nicht mit Marie Kondo aufnehmen kann, bin ich sehr ordentlich, was Andy regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Vielleicht habe ich mit meinem übertriebenen Ordnungssinn gegen Dads Chaos rebelliert? Ist es womöglich an der Zeit für eine Therapie? Die hätte ich wahrscheinlich nach den letzten Jahren schon gebraucht, und jetzt noch mehr, wenn ich über dem Aussortieren der Sachen meines Dads nicht vollends den Verstand verlieren will.

Wie dem auch sei, zurück zu der Versicherungspolice von 1998. Weg oder aufheben? O Gott, ich weiß es nicht. Was hat mein Dad sich nur dabei gedacht, dass er nie irgendetwas weggeworfen hat? Ich wünschte, dass ich ihn fragen könnte. Doch ich werde ihn nie wieder irgendetwas fragen können, und das tut so weh, dass ich nicht weiß, wie ich mit meiner Trauer weiterleben soll. Egal, was ich tue, der Schmerz lässt sich nicht vertreiben. Ich kann und darf jetzt nicht zusammenklappen, ich habe noch viel zu viel zu tun.

Um mich von meinem Elend abzulenken, rufe ich bei meiner besten Freundin an. Im Gegensatz zu mir weiß Lou bestimmt, wie ich mir meine Arbeit hier erleichtern kann. Sie weiß immer, was als Nächstes zu tun ist, egal in welcher Lebenslage. Vielleicht ist das der Grund, warum sie Juniorpartnerin in einer angesehenen Kanzlei in London ist, während ich selbst als Romanautorin kaum genügend Geld verdiene, um die Miete meiner Wohnung zu bezahlen.

»Besorg dir eine Firma, die das Haus entrümpelt, Nell«, schlägt sie mir dann auch vor. »Das Haus deines Vaters war schon voller Zeug, als wir noch Kinder waren. Da stelle ich mir lieber gar nicht erst vor, wie es dort jetzt aussieht.«

»Zehnmal so schlimm?« Tatsächlich hat mein Vater, ohne dass es mir besonders aufgefallen wäre, das gesamte Haus vom Keller bis zum Speicher mit Gerümpel gefüllt. Ein Psychologe würde sicher sagen, dass er seine eigene Identität in all dem Zeug gefunden hat und sein Bedürfnis, sich an den Dingen festzuklammern, daher rührte, dass er adoptiert war und niemals erfahren hat, wer seine Eltern waren. Das mag natürlich stimmen, aber bei der Durchsicht all der Sachen bringen die Erklärungen mich leider nicht voran.

»Im Ernst?«

Erschöpft lehne ich mich an die Wand. »Ja, im Ernst.«

»Aber ist dir nicht aufgefallen, wie schlimm es war, bevor er krank geworden ist?«

Auch wenn ich mich dafür jetzt furchtbar schäme, war ich bis vor einem Vierteljahr, als mir mein Dad endlich von seinem Leberkrebs erzählt hat, eher selten bei ihm zu Besuch. Zu Zeiten meiner Ehe kam mein Vater häufiger zu uns nach London, aber dann zog ich in eine Wohngemeinschaft, und obwohl mein Dad es niemals sagte, wusste ich, dass meine Scheidung eine furchtbare Enttäuschung für ihn war. Deshalb fuhr ich nur selten nach Hause, weshalb wir uns – was ich inzwischen fürchterlich bereue – oft längere Zeit nicht sahen.

Und als ich dann zurück nach Bristol kam, um ihn zu pflegen, merkte ich, dass sich die Haustür wegen all der Werbepost und Kisten, die dahinter aufgestapelt waren, kaum noch öffnen ließ und ich mich nur noch seitwärts durch den Flur bewegen konnte, weil der noch verbliebene Durchgang nicht mehr breit genug für einen Menschen war. Als das Krankenbett fürs Wohnzimmer geliefert wurde, räumte ich einfach alles aus dem Weg und schob es unter das Fenster.

Einzig mein altes Kinderzimmer war noch leer. Auch wenn es ein bisschen seltsam war, in meinem schmalen Jugendbett die Augen aufzuschlagen und auf das Take That-Poster an meiner Wand zu starren, lief ich zumindest nicht Gefahr, dass eine umstürzende Kiste mich erschlug.

Am Ende blieb mein Vater nur noch ein paar Wochen in dem Haus, und während seiner letzten Tage im Hospiz kampierte ich auf einer Isomatte neben seinem Bett und hatte völlig andere Probleme als ein zugemülltes Haus.

»Ich nehme an, ich habe es durchaus bemerkt«, erkläre ich. »Aber ich hatte einfach anderes im Kopf.«

»Das kann ich verstehen, Nell. Schließlich hast du ein paar wirklich schlimme Jahre hinter dir. Mach es dir bitte nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist. Du hast alles getan, was du konntest.«

Ich hoffe, sie hat recht. Natürlich habe ich mein Möglichstes getan, aber da ich allein war, war das alles andere als leicht. Mitunter war ich ungeduldig und am Ende meiner Nerven, wenn er nach mir rief, und in den letzten Wochen, als ich selbst vor Erschöpfung krank war, habe ich ihn mehrmals angeschrien. Diese Momente gehen mir nicht aus dem Kopf, und ich hoffe, dass mein Vater, ganz egal, wo er jetzt ist, versteht, dass ich ihn niemals kränken wollte. Ich war einfach hundemüde und habe bereits um ihn getrauert, ehe er mich endgültig verlassen hatte.

Ich hoffe, er weiß, dass niemand mir in meinem Leben je so wichtig war wie er.

Ob er wohl jetzt nach meinem Kind sieht? Dem kleinen Wesen, dem ich nie begegnet bin? Der letzte mir verbliebene Trost ist der Gedanke, dass mein Vater mein und Andys Kind jetzt vielleicht gefunden hat.

Ich habe einen dicken Kloß im Hals und bin nur froh, dass Lou jetzt wieder spricht, denn sicher hätte ich in diesem Augenblick kein Wort herausgebracht.

»Du musst allmählich wieder rausgehen und dich amüsieren, Nell. Am besten, du fährst erst mal in den Urlaub und entspannst dich.«

Wenn Lou mein Konto sehen könnte, hätte sie mir diesen Vorschlag nie gemacht. Ich habe in den letzten Monaten fast nichts geschrieben, kaum noch eine Zeitung fragt mich nach Artikeln, und meine Agentin meint, ich sollte mich erst wieder melden, wenn ich irgendetwas vorzuweisen hätte – womit sie wohl kaum den leeren Bildschirm meines Laptops meint. Davon darf meine Freundin jedoch nichts erfahren, denn in der ihr eigenen großzügigen Art würde sie sonst wahrscheinlich eine Kreuzfahrt für mich buchen oder irgendetwas anderes Verrücktes tun. Genau wie Dad lege ich größten Wert auf meine Unabhängigkeit. Ich kann genau wie er nicht wirklich gut mit Geld umgehen.

»Dann fahren wir zumindest übers Wochenende weg. Ich lade dich zu einem Kurztrip ein, okay?«

»Danke, Lou, aber das geht jetzt gerade nicht.«

»Liegt es am Geld? Zahl es mir einfach zurück, wenn du die nächste J. K. Rowling bist.«

Da J. K. Rowling tonnenweise Bücher schreibt, während ich selbst kaum noch eine Einkaufsliste hinbekomme, kann ich mir nicht vorstellen, dass aus mir tatsächlich je noch etwas werden wird.

»Ich kann nicht, Lou.«

»Dann lass mich wenigstens den Nachlass und die anderen Sachen für dich regeln, ja? Wenn du darauf bestehst, mich dafür zu bezahlen, stell einfach meinen Ex in deinem nächsten Bestseller als Serienkiller dar. Und zwar als möglichst hässlichen, der keinen hochbekommt!«

»Aber ich schreibe doch historische Romanzen!«

»Schade, denn was nützt es einem, wenn man Bücher schreibt und darin nicht einmal die größten Arschlöcher, die man im Leben trifft, vorführen kann? Aber im Ernst, du brauchst jetzt erst mal etwas Zeit für dich.«

»Die werde ich mir nehmen – versprochen –, wenn das Haus entrümpelt ist.«

»Hol dir auf alle Fälle eine Firma, die das übernimmt. Such einfach aus, was du behalten willst, und überlass den Profis dann den Rest.«

Ich sehe wieder in den Garten, wo ein Rotkehlchen im ersten abendlichen Schatten sitzt und mich mit einem bösen Blick aus seinen schwarzen Knopfaugen bedenkt. Manche Menschen glauben, dass die Geister unserer Lieben in Gestalt von Rotkehlchen zurückkehren, um Hallo zu sagen. Falls das Wesen in dem Busch mein Dad ist, wünschte ich, er hätte sich für seine Rückkehr eine hilfreichere Gestalt als die von einem kleinen Vogel ausgesucht. Am besten die von einem muskulösen Kerl, der sich mit Umzügen sein Geld verdient.

»Es kann noch eine ganze Weile dauern, alles durchzusehen. Mein Vater hat hier schließlich Zeug aus über siebzig Jahren angehäuft.«

»Es fällt mir schwer, mir Sam als Rentner vorzustellen. Als Teenie habe ich total für ihn geschwärmt, und wie es aussieht, lag ich damit durchaus richtig, denn nicht mal die Mitglieder von Boyzone sind so gut gealtert wie dein Dad! Aber vor allem war er nett. Ein wirklich netter Mann.«

Ich lächele. Obwohl mein Vater wirklich attraktiv war und die Frauen sich immer zweimal nach ihm umdrehten, um sich zu vergewissern, dass sie sich so einen schönen Mann nicht eingebildet hatten, zog er die Menschen nicht nur durch sein gutes Aussehen, sondern auch durch sein nettes Lächeln und seine großzügige Art in den Bann.

»Er fehlt mir«, stoße ich mit rauer Stimme hervor.

»Ich weiß. Er war ein wirklich toller Mensch. Hör zu, du musst dich nicht allein mit diesem Haus herumschlagen. Am besten komme ich nach Bristol und gehe das Zeug mit dir zusammen durch.«

»Das musst du nicht.«

»Ich weiß, aber ich möchte es. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass du das ganz alleine machst. Ich weiß, du hast jetzt gerade eine schlimme Zeit, aber wir könnten trotzdem unseren Spaß haben. Sam würde es hassen, wenn er wüsste, dass du ganz allein dort hockst und Trübsal bläst.«

»Ich weiß, Lou. Danke.«

»Nichts zu danken. Ich helfe dir gern. Und was hast du geplant, wenn du mit dieser Arbeit fertig bist?«

»Nachdem ich bisher keinen Prinzen finden konnte, der bereit ist, mich zur Frau zu nehmen, werde ich mich wohl oder übel aufraffen müssen, um endlich einen Bestseller zu schreiben.«

»Ich bitte dich. Dich würde jeder Prinz mit Handkuss nehmen, weil du schließlich Finchleys Antwort auf die Herzogin von Sussex bist«, erklärt die stets loyale Lou.

Jetzt muss ich einfach lachen, und als ich mein Spiegelbild im länger schon nicht mehr geputzten Fenster sehe, wird mir klar, dass ich durchaus dieselbe Hautfarbe, die Sommersprossen und die oft zu einem wirren Knoten aufgesteckten, dunklen Haare wie der jüngste Neuzugang des Königshauses habe, mit den abgebissenen Fingernägeln, meinen abgewetzten, abgeschnittenen Levi’s und meinem schlabberigen Polohemd aber wohl kaum für königliche Auftritte geeignet bin. Vor allem habe ich die großen blauen Augen meiner Mutter, weshalb Fremde, die versuchen, unauffällig meine Herkunft zu ergründen, meistens aufgeschmissen sind. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich schon gefragt wurde, woher ich komme, und wenn ich dann »Bristol« sage, sind die Menschen hoffnungslos verwirrt. Manche werden sogar unverhohlen gemein.

»Das ist mein Ernst! Ich habe eine ellenlange Liste ausnehmend begehrter Junggesellen, die dich gerne kennenlernen würden.«

»Schmeichel mir, so viel du willst, aber ich bin nicht interessiert«, erkläre ich ihr nachdrücklich. »Das Letzte, was ich brauche, ist, dass du den Amor spielst. Ich habe kein Problem damit, allein zu sein, und du weißt auch, warum.«

Sofort lässt sie das Thema fallen. »Also zurück zum Haus – du hast bestimmt schon nachgesehen, ob unter all dem Müll etwas von Wert verborgen ist. Erbstücke, Münzen, Goldbarren? Gibt es vielleicht irgendwo Verwandte, die du bisher nie gesehen hast und die plötzlich aus den Löchern krabbeln, weil sie dir dein Erbe streitig machen wollen?«

»So, wie ich mich gerade fühle, wäre ich darüber sogar froh. Aber das Haus ist nur gemietet, worauf also hätten sie es abgesehen haben sollen? Auf irgendwelches altes Werkzeug? Das Gerümpel, das sich in der Werkstatt türmt? Den Stapel alter Autozeitschriften, den man zur Seite schieben muss, wenn man die Tür zum Garten öffnen will?«

»Ich habe keine Ahnung, aber Leute können wirklich seltsam sein.«

»Von seiner Adoptivfamilie ist niemand mehr übrig.«

»Und von seiner leiblichen Familie hat er nie jemanden aufgespürt?«

»Ich kann mir vorstellen, dass er das versucht hat – aber meine Nanna Summers, die ihn damals adoptiert hat, ist erst letztes Jahr gestorben, und er meinte immer, dass er damit warten wollte, bis sie nicht mehr lebt.«

»Wow. Da ist sie aber wirklich alt geworden.«

»Hundertsechs.«

Nanna Summers hatte zwei Weltkriege überlebt, doch manchmal frage ich mich, ob ein langes Leben eher ein Fluch oder ein Segen ist.

»Such raus, was du behalten willst, und überlass den Rest dann jemand anderem. Und werde bloß nicht rührselig«, empfiehlt mir Lou.

Eine Träne kullert über meine Wange. Erleichtert, dass Lou sie nicht sehen kann, wische ich sie fort.

»Am besten rufst du noch heute die Entrümpler an«, empfiehlt mir Lou. »Hör zu, ich muss jetzt los, aber falls du mich brauchst, kannst du mich jederzeit erreichen.«

Ich bedanke mich und lege auf. Dann konzentriere ich mich wieder auf das Entrümpeln des Hauses. Woher soll ich wissen, was sich aufzuheben lohnt? Die Bilder, ja, natürlich. Auf den Tischen, dem Kaminsims und den Fensterbrettern sind Kisten voll alter Aufnahmen verteilt. Sie sind vollkommen ungeordnet, und so mache ich eine kurze Reise durch die Zeit von mir als Kindergartenkind mit Zahnlücke zu mir als ungelenkem Teenager bis zu meinem Schulabschluss. Auch Momente aus dem Leben meines Vaters tauchen auf. Er sitzt auf einem Fischerboot und hält voller Stolz die selbst gefangene Makrele in die Kamera. Er hat immer gern geangelt und ist gern gesegelt. Es gibt sogar ein Bild von ihm und meiner Mutter bei einem Segelurlaub, noch vor ihrer Hochzeit, außerdem eins von mir als pausbackigem Kleinkind, das sie lächelnd in den Armen hält. Ich streiche eine weitere Aufnahme mit meinen Fingerspitzen glatt und stelle fest, dass es das Hochzeitsfoto meiner Eltern ist. Das hatte Dad immer in seiner Brieftasche. Er trug meine Mutter über all die Jahre immer dicht an seinem Herzen, und ich nehme an, sie hat ihm bis zum Schluss gefehlt.

Ich sehe mir das Foto an. Wie hoffnungsvoll sie aussehen. Mein Vater wirkt in seinem Frack ausnehmend stolz, und meine Mutter lächelt ihn durch den Spitzenschleier an. Zum Glück war ihnen damals nicht bewusst, wie plötzlich sich das Leben ändern kann. Nur ein paar Jahre später hat meine Mutter mich in den Kindergarten bringen wollen. Zum Abschied hat sie ihrem Mann die Lippen auf den Mund gepresst. Wenig später hat ein Raser unser aller Leben für immer verändert.

Nun denke ich an all die anderen Momente, in denen sich mein Leben innerhalb von Sekunden unwiederbringlich verändert hat. Ein Ultraschall, ein leiser Atemzug …

Ich reiße mich gedanklich davon los, denn dies ist einfach nicht der rechte Augenblick für eine Depression. Dafür gibt es zu viel zu tun. Ich arbeite mich durch diverse dicke Briefbündel und in der wunderbar geschwungenen, am Ende krakeligen Handschrift meines Dads verfasste Merkzettel und werfe haufenweise alte Zeitschriften und Werbung in den Müll.

Nachdem der Boden leer ist, trete ich vor die Regale, wo zwischen den Büchern jahrzehntealte Weihnachts- und Geburtstagskarten klemmen, deren Absender zum Teil schon längst verstorben sind. Eine dieser Karten fällt mir auf, weil sie so schief zwischen den Büchern steckt, als ob mein Vater sie oder ein Buch hätte herausziehen wollen und aufgegeben hat, als ihn die Kraft verließ.

Ich stelle ihn mir vor, wie er vor Anstrengung die Stirn in Falten legt und seine Zunge zwischen seine Zähne schiebt, während er an der Karte oder vielleicht auch dem Buch daneben zerrt. Verärgert lässt er davon ab, weil seine Kraft nicht reicht, um sie herauszuziehen, bevor er sich erschöpft vornüberbeugt und sich geschlagen gibt. Es hat uns beiden wehgetan, mit anzusehen, wie ihn die Kraft verließ. Die Arme, die mich früher so problemlos in die Luft gehoben haben, wurden immer dünner und waren mit blauen Flecken übersät. Die breiten Schultern beugten sich, und die einst muskulösen Beine zitterten so sehr, dass er am Ende ohne Hilfe nicht mal mehr ins Badezimmer kam. Der Gedanke, dass er in den letzten Wochen sogar zu schwach war, um ein Buch aus dem Regal zu ziehen, bricht mir abermals das Herz.

Ich frage mich, was er sich hatte ansehen wollen. Statt für Romane hatte er sich vor allem für Gartenzeitschriften und die Biographien großer Segler interessiert.

Neugierig ziehe ich das Buch heraus und reiße überrascht die Augen auf, weil es ein abgegriffener Cornwall-Reiseführer ist. Warum in aller Welt hätte sich Dad für Cornwall interessieren sollen? Wollte er etwa ein letztes Mal verreisen?

Ich sehe mir das Bücherregal noch mal genauer an, doch alles, was ich finde, sind ein paar alte Handbücher für Ingenieure und ein paar Bücher übers Angeln. Über Cornwall findet sich dort weiter nichts.

Ich will mich gerade abwenden, als ich noch etwas anderes bemerke, das ganz hinten im Regal hinter den Büchern steckt. Ein Umschlag, den die vielen Bücher derart fest gegen die Rückwand pressen, dass er kaum zu sehen ist. Ich glaube nicht, dass er dort zufällig gelandet ist. Mein Vater muss ihn dort versteckt haben, wo niemand anderes ihn entdeckt. Womöglich hatte er es statt auf einen Cornwall-Reiseführer ja auf diesen Umschlag abgesehen. Aber wenn er ihn so dringend hätte haben wollen, warum hatte er mich nicht gebeten, ihn für ihn hervorzuziehen? Warum hatte er sich lieber selbst damit abgemüht?

Vielleicht hatte mein Vater versucht, den Inhalt dieses Umschlags vor mir zu verstecken, oder wollte erst überlegen, was er damit machen soll.

Ich zögere. Einerseits will ich natürlich wissen, was in dem Umschlag ist, doch andererseits auch nicht. Ich habe das Gefühl, wieder ein Kind zu sein und meinem Vater gegen seinen Willen hinterherzuspionieren. Wenn ich den Inhalt dieses Umschlags hätte sehen sollen, hätte er ihn sicher nicht so sorgfältig versteckt.

»Was ist das, Daddy?«, frage ich ihn laut, obwohl ich nicht mit einer Antwort rechnen kann. Ich sehe nur den Staub, der sich jetzt auf die Stellen legt, wo noch vor ein paar Wochen seine Hand gelegen hat.

Wenn mir etwas an einer Antwort liegt, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Umschlag aufzumachen. Also schiebe ich die Finger in den Umschlag, um herauszufinden, welches Geheimnis Dad so kurz vor seinem Tod noch hat bewahren wollen.

2

Estella

heute

Der Hochsommer in Cornwall war wie immer wunderschön. Seit mehr Jahren, als Estella hätte zählen wollen, hatte sie mit angesehen, wie das hoffnungsvolle Grün des Frühjahrs dem Goldgelb des Sommers gewichen war. Links und rechts der schmalen Straßen, die sich durch die Landschaft schlängelten, wuchs weißer Wiesenkerbel, und man musste blinzeln, wenn man auf das leuchtend blaue Meer hinuntersah. Dies war die Zeit, in der das Land am schönsten war. Dann stellte es den grenzenlosen Reichtum der Natur zur Schau und überzog sie sorgfältig, wie man Orangenmarmelade auf knusprigem Vollkorntoast verteilte, mit den Gold- und Kupfertönen des anbrechenden Herbsts. Der Sommer hatte seinen Wendepunkt erreicht, und in die milde Brise mischte sich ein erster frischer Hauch, als wolle er den Menschen sanft daran erinnern, dass die erste Jahreshälfte jetzt vorüber war.

»Ist Ihnen kalt, Miss Kellow? Kommen Sie am besten noch mal rein und warten drinnen, bis Ihr Taxi kommt.«

Estella blickte hoch. Das Auftauchen der jungen Frau in blauer Schwesternkluft hatte sie überrascht. Dem Namensschild nach zu urteilen war sie Oberschwester Sally Jones. Estella hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass Schwestern heutzutage keine Hauben und gestärkten weißen Schürzen mehr trugen, doch natürlich war sie eine Schwester. Schließlich stand sie hier vor einem Krankenhaus. Sie war gekommen, weil sie mit dem Doktor über …

Estella schnalzte mit der Zunge. Nun, auf alle Fälle hatte sie den Doktor sprechen wollen, auch wenn sie sich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern konnte. Und wenn sie sie jetzt wieder gehen ließen, konnte es nichts Ernstes sein. An so einem wunderbaren Tag würde sie ganz bestimmt nicht in der Eingangshalle warten, bis ihr Taxi käme. Zum einen machten Krankenhäuser sie nervös, weil sie in ihrer Kindheit einmal dort gelegen hatte und dann erst nach Wochen wieder rausgekommen war, vor allem aber käme es ihr wie Verschwendung vor, an einem derart schönen Tag nicht draußen an der frischen Luft zu sein.

»Alles in Ordnung, Miss Kellow?«

»Alles bestens«, antwortete sie. »Ich mag die frische Luft, und obendrein wimmelt’s im Krankenhaus doch nur so vor Bakterien.«

»Da haben Sie recht«, pflichtete ihr die Schwester bei. »Aber wenn Sie schon draußen warten wollen, können wir es Ihnen auch gemütlich machen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte ihr die Schwester eine Decke um die Schultern.

»Besser, Schätzchen?«

Schätzchen? Früher hätte sich Estella über eine solche Anrede empört, doch jetzt war sie zu müde, um sich gegen diese gönnerhafte Art des Umgangs zu verwahren. Inzwischen war sie fünfundneunzig Jahre alt. Doch was hatte es für einen Sinn, ein solches Alter zu erreichen, wenn man dann behandelt wurde wie ein kleines Kind? Hatte sie vielleicht darum gebeten, dass ihr jemand eine Decke brachte? Dass man einen solchen Wirbel darum machte, dass sie lieber draußen saß als im Foyer? Oder dass die Fürsorge ihr Arzttermine machte, die im Grunde gar nicht nötig waren? Sie kam sehr gut allein zurecht. Sie wollte keine Decke, und sie wollte nicht, dass jemand mit ihr sprach, als wäre sie ein kleines Mädchen, aber für Proteste war sie zu erschöpft. Vor allem wusste sie genau wie früher, ob ein Kampf sich lohnte oder nicht. Diese Schwester wollte ihr nur Gutes tun und machte so wie alle anderen einfach ihren Job.

Die Schwester überprüfte noch mal, ob die Decke richtig lag, und kehrte dann ins Krankenhaus zurück. Estella hatte kein Problem damit, alleine auf der Bank zu sitzen und hinunter auf die Flussmündung zu sehen. Sie sah praktisch noch genauso aus wie vor achtzig Jahren. Zwar hatte sich Calmouth im Verlauf der Jahre etwas verändert, aber die hämmernden Geräusche der Werft waren noch dieselben, und auch auf dem Wasser herrschte dasselbe Treiben wie früher. Die Möwen tanzten laut schreiend am Himmel, und obwohl Estella es mit ihren zwischenzeitlich etwas trüben Augen nicht mehr sehen konnte, wusste sie, dass sich die Eisvögel kopfüber in die Fluten stürzten und die Reiher wie zu Salzsäulen erstarrt im flachen Wasser warteten, bis ein Fisch vorbeigezogen kam.

Das Meer und auch der Fluss waren unverändert, aber irgendetwas schien doch anders. Oje! Wo war sie noch einmal?

Estella blinzelte, und plötzlich saß sie wieder vor dem Krankenhaus. Natürlich. Ihre zunehmende geistige Verwirrung war beängstigend, vor allem aber wirklich ärgerlich. Sie war der Grund, aus dem sie heute mit dem Arzt gesprochen hatte und warum sie letzten Monat beim Notar gewesen war. Sie hatte ihre Angelegenheiten regeln müssen, bevor irgendwer erklärte, dass sie dazu nicht mehr in der Lage wäre, denn was gab es Wichtigeres, als ein ordentliches Testament zu machen? Als Letzte der Familie hatte sie sich gründlich überlegen müssen, wer Pencallyn House bekommen sollte, wenn sie einmal nicht mehr war. Dann war ihr plötzlich mitten in der Nacht die Lösung eingefallen, und sie hatte laut gelacht. Natürlich!

Sobald der kleine Zeiger der antiken Standuhr auf der Neun gestanden hatte, hatte sie den Anwalt der Familie kontaktiert und den Termin gemacht. Sie wusste ganz genau, dass die Entscheidung, die sie in der Nacht getroffen hatte, richtig war. Ihr Erbe – der noch nichts von seinem Glück ahnte – wäre bestimmt in der Lage, sich zum einen um das Haus zu kümmern und zum anderen den vernachlässigten Garten wieder so auf Vordermann zu bringen, wie es ihr unmöglich war.

»Und Sie sind sich völlig sicher, dass Sie diesem Menschen das gesamte Anwesen vermachen wollen?«, hatte der Anwalt nachgehakt. »Und dass Sie nicht dazu gezwungen worden sind?«

»Junger Mann«, hatte sie darauf streng erklärt und ihn mit einem herablassenden Blick bedacht. »Sehe ich etwa aus, als würde irgendjemand mich zu irgendwas zwingen können?«

Lachend hatte er den Kopf geschüttelt. »Nein. Ganz sicher nicht.«

»Dann wäre das geklärt. Für Sie ergibt diese Entscheidung vielleicht keinen Sinn, aber für mich und für Pencallyn tut sie das allemal. Also können wir das Testament jetzt unterschreiben, oder nicht?«

Mit ernster Miene hatte er die Kappe des Montblanc-Füllers, den er für offizielle Unterschriften nutzte, abgeschraubt und ihn ihr überreicht.

»Bitte sehr, Miss Kellow.«

Schwungvoll hatten erst sie selbst und dann der Anwalt und sein Juniorpartner unterschrieben, und sofort war eine lebenslange Last von ihren Schultern abgefallen. Sie hätte diese Last nie tragen sollen, und wenn Alex nicht gestorben wäre, hätten ihm Pencallyn und der Garten sowie alles andere gehört. Wenn ihr eigenes Leben einen anderen Weg genommen hätte, hätte sie vielleicht sogar eine Tochter oder einen Sohn gehabt …

Darüber dachte sie am besten nicht nach. Es nützte nichts, sich etwas anderes zu wünschen, das hatte sie bereits vor langer Zeit gelernt. Das führte zu Verzweiflung und Wahnsinn und zu sonst nichts.

Wenigstens hatte der Anwalt nicht an ihrem Verstand gezweifelt, überlegte sie, während sie in der Sonne saß. Ganz im Gegensatz zu den Ärzten, die anscheinend alle dachten, dass sie langsam verrückt würde. Sie wäre in der »frühen Phase der Demenz«, so hatte der junge Arzt es formuliert und sie dabei betroffen angesehen. Estella selbst fand diese Diagnose lächerlich, denn die Vergangenheit sah sie immer noch genauso klar wie früher. Das Einzige, was sie gelegentlich vergaß, waren die Ereignisse der Gegenwart, aber was spielten die für eine Rolle? War es wirklich wichtig, was Estella Kellow sich zum Frühstück machte oder ob sie überhaupt etwas aß? Und war es von Bedeutung, ob die Socken, die sie an den Füßen hatte, zueinanderpassten oder nicht?

Als sie nun auf den Fluss hinuntersah, fuhren dort statt der Fischkutter und Ausflugsdampfer Kriegsschiffe, Amphibienfahrzeuge und Patrouillenboote auf und ab. Vergnügungsboote durften längst nicht mehr fahren, und die tief hängenden Äste der uralten Bäume, die die gut bewachten Ufer säumten, verbargen die Spionageschiffe, die im Schutz der Dunkelheit in See stachen. Die Tiere eroberten sich die abgesperrten Strände zurück, und hin und wieder konnte man im flachen Wasser Otter planschen sehen. Hässliche Betonrampen ragten ins klare blaue Wasser, und der Zugang zu den Stränden war mit Stacheldraht versperrt. Die Betonbunker, die die Klippen überzogen, zeugten von der unsichtbaren Gefahr am Horizont, und helle Scheinwerfer suchten den dunklen Nachthimmel nach deutschen Bombern ab. Die Geschäftigkeit am Strand und auf dem Fluss wies darauf hin, dass jederzeit mit einer Invasion zu rechnen war. Die Sperrballons am Himmel waren inzwischen ein ebenso gewohnter Anblick wie die Wolken. Die Panzersperren, die Geschütze und die buckeligen Nissenhütten waren längst ebenso ein Teil der Landschaft Cornwalls wie die rauen Klippen und die silbrig weißen Strände, die man als Zivilperson nicht mehr betreten durfte, seit sie von den Amerikanern abgeriegelt worden waren.

Estella wäre gern noch mal am Strand spazieren gegangen und hätte ihre Hand ins kühle Nass getaucht, doch dafür war ihr Körper zu erschöpft. Also nutzte sie den Zauber der Erinnerung, wie sie es häufig tat, wenn sie daheim in ihrem Sessel saß. Dann döste sie, während ihr Geist durchs Fenster Richtung Wasser und zurück in alte Zeiten schwebte, als sie jung, gewitzt und schnell gewesen war. Wenn sie aus einem solchen Traum erwachte, waren ihre Wangen tränennass, und melancholisch dachte sie, dass die Estella aus den alten Bildern ihr viel näher war als die erschöpfte alte Frau, die sie inzwischen jeden Morgen nach dem Aufstehen im Badezimmerspiegel sah.

Manchmal war es ihr unmöglich, die Erinnerungen von der Wirklichkeit zu trennen, weil in ihrem altersmüden Hirn das Früher mit dem Jetzt verschwamm. Dann war die Trauer über die vor langer Zeit erlittenen Verluste wieder frisch, und wenn sie bitterlich um die geliebten Menschen weinte, konnte niemand sie verstehen. Wie aber hätten sie die anderen auch verstehen sollen, wenn sie Ereignisse beweinte, die für alle anderen längst vergessen waren? Denn sie war alt und kehrte in Gedanken in die Zeit zurück, um die es heutzutage in Geschichtsbüchern und Fernsehdokus ging. Es war für sie ein Schock, wie schnell die Zeit vergangen war. Wer war die alte Frau, die sie im Spiegel sah? Wo war ihr wahres Ich? Wo war das junge Mädchen, das sie einst gewesen war?

»Wo bin ich?«, stieß sie leise aus, obwohl sie hätte fragen wollen: »Wer und was bin ich? Wo bleibt das Ich, sobald sich das Gehirn auf Wanderung begibt?«

Statt aber weiter über diese Fragen nachzudenken, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Sie dachte an den Garten von Pencallyn, an die Sonnenuhr und zwei junge Mädchen, die ihre Köpfe zusammensteckten. Ihre Hände waren fest verschränkt, und auf dem Boden lag ein kleines Taschenmesser, dessen Klinge blutig war.

»Blutsschwestern«, erklärte eins der Mädchen feierlich. »Wir haben uns geschworen, immer füreinander da zu sein, und falls wir das Versprechen jemals brechen, werden wir verflucht und werden sterben. Oder Schlimmeres.«

»Was gibt’s denn Schlimmeres als den Tod?« Das andere Mädchen zog verständnislos die dunklen Brauen hoch.

»Ich weiß es nicht. Es muss etwas so Schlimmes sein, dass man es sich nicht einmal vorstellen kann, denn schließlich haben wir den alten Zauber angewandt. Er ist sehr mächtig und erinnert sich an jedes Versprechen.«

Das Mädchen hatte recht. Estella wusste aus Erfahrung, dass der Zauber nie etwas vergaß. Sie müsste die beiden warnen. Sie müsste ihnen deutlich zu verstehen geben, dass man nicht mit diesen Dingen spielen durfte, weil man dann das Unglück regelrecht heraufbeschwor.

Estella wollte zu den beiden Mädchen laufen und nach ihnen rufen, doch sie stand wie angewurzelt da und brachte keinen Ton heraus. Sie musste tatenlos mit ansehen, wie sie sich umarmten und versprachen, ihren Schwur niemals zu brechen. Sie waren Schwestern, nicht mehr nur der Herzen, sondern jetzt sogar des Bluts, und sie wären immer füreinander da.

Zumindest gingen sie zu dem Zeitpunkt davon aus.

Dann wechselte die Szene abermals, und sie saß wieder auf der Bank vor dem Krankenhaus. Die Türen öffneten sich und spien einen steten Strom an Menschen aus, Krankenwagen fuhren im Schritttempo an ihr vorbei. Estella sah sich suchend nach den beiden Mädchen um, aber sie waren verschwunden.

Der Arzt war nett gewesen, hatte aber furchtbar viel zu tun gehabt. Er hatte sie für eine starrsinnige alte Dame gehalten, die sich nicht mehr gut bewegen konnte, mit einem schwachen Herzen und einem Gedächtnis wie ein Sieb. Wenn er sich ein wenig Zeit für sie genommen hätte, hätte sie erklären können, dass sie schon seit ihrer Streptokokken-Infektion in jungen Jahren unter einem schwachen Herzen litt. Womöglich hätte es ihn interessiert, zu hören, dass die Klinik mal ein Sanatorium gewesen war. Wusste er, warum der alte Backsteinbau mit sonnigen Balkonen und Terrassen ausgestattet war, die eine wunderbare Aussicht auf den Fluss und seine Mündung boten, oder dachte er, der alte, unpraktische Kasten sollte abgerissen werden, um dann ein modernes Krankenhaus mit jeder Menge Stahl und Glas zu bauen? Es gab genügend Leute, die darauf warteten, auch das Haus, in dem Estella lebte, abzureißen, sofern sie irgendwann so freundlich wäre, endlich ihren letzten Atemzug zu tun.

Noch aber war es nicht so weit. Sie war noch nicht bereit, und sie ließe sich bestimmt nicht in ein Heim verfrachten, weil sie angeblich zu schwach für ein selbstständiges Leben war. Es gab eine Geschichte, die sie noch erzählen musste, und bevor die richtige Person erschien, um sie sich anzuhören, ginge sie nirgends hin.

»Und wie kommen wir zurecht?«, hatte der Doktor von ihr wissen wollen und sie lächelnd über seinen Schreibtisch hinweg angesehen.

Estella hatte sich bei dieser Frage suchend umgeschaut.

»Wir? Soweit ich sehe, bin ich ganz allein, junger Mann.«

Der Arzt hatte ein Seufzen unterdrückt. Wahrscheinlich war er all die streitsüchtigen alten Schachteln, die ihm täglich gegenübersaßen, einfach leid und hätte sich mehr Abwechslung in seinem Job gewünscht. Vielleicht als Feldchirurg in einem Lazarett? Oder in einer eleganten Praxis in der Harley Street mit Berühmtheiten, die es zu verjüngen und verschönern galt? Es war bestimmt nicht lustig, wenn man Tag für Tag nur alte Leute fragte, welches Jahr gerade war oder wie der Premierminister hieß. Estella war versucht gewesen, »Winston Churchill« zu erwidern, nur, um sein Gesicht zu sehen, doch ihre Zukunft in Pencallyn war zu wichtig, um ihm einen Grund zu geben, ihren Umzug ins betreute Wohnen zu forcieren.

»Und wie stehen die Aktien zu Hause? Ihr Hausarzt schreibt, dass Sie sich weigern, eine Pflegerin zu engagieren. Sie leben ganz allein, nicht wahr?« Er hatte blinzelnd auf die Unterlagen, die auf seinem Tisch lagen, gesehen.

Am liebsten hätte sie erklärt, dass sie mit ihrem jugendlichen Liebhaber zusammenlebte, der ihr inner- und außerhalb des Betts zu Diensten war. Wenn Evie hier gesessen hätte und mit fünfundneunzig Jahren von einem jungen Schnösel so herablassend behandelt worden wäre, hätte sie ganz sicher etwas in der Art gesagt. Evie hatte sich nie etwas bieten lassen, und der Tag, an dem die Köchin sie als »elendige Schmeißfliege« bezeichnet hatte, war in die Annalen von Pencallyn eingegangen, denn die farbenfrohen Kraftausdrücke, die das Mädchen ihr als Antwort an den Kopf geworfen hatte, hatten sich den anderen Bewohnern unauslöschlich eingeprägt.

»Miss Kellow? Haben Sie mich gehört?«

Estella war zusammengezuckt und entschlossen in die Gegenwart zurückgekehrt.

»Ja, ich lebe ganz allein. Aber es geht mir gut. Ich brauche niemanden, der mich versorgt.«

»Es freut mich, dass Sie zurechtkommen, aber wir brauchen trotzdem einen Plan. Sie sind im Frühstadium einer Demenz, Miss Kellow, und ich nehme an, Sie wissen, was das heißt?«

»Natürlich weiß ich das«, hatte sie ihn angeraunzt. »Aber es geht mir noch lange nicht so schlecht, dass ich nicht allein zu Hause bleiben kann. Ich habe eine Hilfe aus dem Dorf, die täglich zu mir kommt, und ich habe diesen Notfallknopf, den Sie mir gegeben haben.«

Sie hatte den vermaledeiten Piepser unter ihrem Oberteil hervorgezogen und damit vor ihm herumgefuchtelt. Das Ding war wirklich lästig, weil es ständig gegen ihre Rippen schlug und sich in allem Möglichen verfing. Kein Wunder, dass es meistens auf der Ablage in ihrer Küche lag – auch wenn sie ihm das sicher nicht verriet. Am besten war es immer, den Erwachsenen zu sagen, was sie hören wollten.

Augenblick. War sie nicht selbst erwachsen? Wie war das passiert?

»Das ist natürlich gut, Miss Kellow, aber laut Ihrem Hausarzt fallen Ihnen viele Dinge nicht mehr leicht, zum Beispiel das Treppensteigen.«

Estella hatte ihn mit einem bösen Blick bedacht. »Junger Mann, ich bin inzwischen fünfundneunzig Jahre alt. Da melde ich mich ganz bestimmt nicht mehr zu irgendwelchen Sportwettkämpfen an.«

Errötend hatte er ihr zugestimmt. »Natürlich nicht, aber wir müssen überlegen, welche Umbauten in Ihrem Haus Ihnen womöglich eine Hilfe wären. Vielleicht kann ja die Gemeindeschwester mal bei Ihnen vorbeischauen und sehen, wie man Ihnen das Leben dort etwas erleichtern kann. Vielleicht mit weiteren Geländern, einem Treppenlift oder mit einem Bad im Erdgeschoss?«

Der gute Junge hatte keine Ahnung von Pencallyn House, wenn er der Ansicht war, dass das so einfach wäre, dachte sie und hätte beinah laut gelacht. Die Eichentreppe mit den kunstvoll geschnitzten Pfosten, die auf halber Höhe eine elegante Kurve machte, war für einen Treppenlift ganz sicher nicht geeignet, auch wenn es wahrscheinlich durchaus lustig wäre, trüge sie ein flotter Fahrstuhl in das obere Geschoss. Das wäre sicher fast so amüsant wie ihre wilden Rutschpartien ins Erdgeschoss vor vielen Jahren. Und eine neue Dusche käme noch viel weniger infrage, denn der Wasserdruck reichte mit Mühe, um den Teekessel unter dem Hahn über der Spüle in der Küche aufzufüllen. O nein, Estella würde sich auch weiter so wie all die Jahre dort am Spülstein waschen, weil sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr ohne fremde Hilfe in die alte gusseiserne Badewanne kam.

Genau wie sie würde Pencallyn House so bleiben, wie es immer gewesen war.

»Ich schlafe unten«, hatte sie behauptet, was auf jeden Fall nur halb gelogen war. Inzwischen war ihr Schlafzimmer fast unbenutzt, weil sie statt nachts den größten Teil des Tags schlief und dabei entweder auf der Terrasse oder, wenn es kalt war, in dem alten Sessel vor dem Ofen in der Küche saß.

»Gut.« Er hatte weitere Möglichkeiten, ihr das Leben zu erleichtern, aufgezählt, Estella aber hatte abgewinkt. Genauso hatte sie auch dem Sozialarbeiter, der ein paar Tage zuvor bei ihr geklingelt hatte, deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht auf Hilfe angewiesen war. Was hatte dieser Mensch denn überhaupt in ihrem Haus verloren? Die arme Evie hätte 1939 sicher Hilfe brauchen können, aber es war damals eben eine andere Zeit gewesen, in der vieles deutlich schwerer, aber anderes auch deutlich einfacher gewesen war. Zumindest hatte man in jenen Zeiten ganz genau gewusst, wer seine Feinde waren.

Denn manchmal hatte man mit seinen Feinden sogar unter einem Dach gelebt …

Nach Ende des Gesprächs war sie mit vorsichtigen Schritten Richtung Tür gegangen, ehe ein verlegenes Räuspern sie noch einmal hatte innehalten lassen.

»Miss Kellow?«

Langsam hatte sich Estella wieder zu ihm umgedreht, und das Gesicht des jungen Arztes hatte ihr sofort verraten, was er wissen wollte. Sie hatte diesen aufgeregten Blick schon tausend Mal gesehen und wusste, dass es jetzt nicht mehr um irgendwelche Jahreszahlen oder um den Namen des Premierministers ging.

Ohne dass er hatte fragen müssen, hatte sie erwidert, was sie jedes Mal als Antwort gab.

»Ich bin die Autorin des geheimnisvollen Gartens, aber jeder muss für sich allein entscheiden, was für ein Geheimnis dieser Garten birgt und ob es die Gesichter wirklich gibt.«