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Richter Di und sein Wachtmeister Hong Liang sind wegen einer Überschwemmung gezwungen, in einer Provinzherberge Zuflucht zu nehmen. Am Tag darauf wird einer der Gäste ermordet aufgefunden. Als sich die Lage zuspitzt, nimmt der Richter in dem luxuriösen, aber geheimnisvollen Wasserschloss am Tchou-An-See Quartier, in dem es in der Folgezeit zu weiteren merkwürdigen Todesfällen kommt. Im Zuge seiner Ermittlungen stellt der Richter fest, dass sich die Bewohner höchst seltsam verhalten und offenbar ein düsteres Geheimnis verbergen wollen.
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Seitenzahl: 286
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Frédéric Lenormand
Das Wasserschloss am Tchou-An-See
Reihe: Neue Ermittlungen des Richters Di
Kuebler Verlag
Das Buch
Auf dem Weg zur Amtsübernahme in Puyang sind Richter Di und sein Wachtmeister Hong Liang aufgrund einer außergewöhnlich starken Überschwemmung gezwungen, in einer Provinzherberge Zuflucht zu nehmen. Am Tag darauf wird einer der Gäste ermordet aufgefunden; die im Wasser treibende Leiche bittet offenbar eindringlich darum, dass der Mord an ihr bestraft wird.
Als sich die Lage zuspitzt, nimmt der Richter in dem luxuriösen, aber geheimnisvollen Wasserschloss am Tchou-An-See Quartier, in dem es in der Folgezeit zu weiteren merkwürdigen Todesfällen kommt. Im Zuge seiner Ermittlungen stellt der Richter fest, dass sich die Bewohner von Tchou-An höchst seltsam und beunruhigend verhalten und offenbar mit aller Kraft ein düsteres Geheimnis verbergen wollen, das über dem Schloss liegt und das mit der überlieferten Sage einer Seegöttin zusammenhängen muss.
Nur mühsam kommt Richter Di in seinen Ermittlungen voran. Die unerwartete Lösung dieses Kriminalfalls ist an Dramatik und Überraschungen nicht zu überbieten.
Der Autor
Frédéric Lenormand wurde am 5. September 1964 in Paris geboren.
Weil sein Großvater ein bekannter Sammler japanischer Kunstwerke ist, fühlte er sich bereits seit seiner Kindheit zur Kultur fernöstlicher Länder hingezogen. Nach einem Sprachenstipendium im Jahr 1982 setzte er seine Ausbildung am Institut für Politische Studien und später an der Sorbonne fort.
1988 erschienen seine ersten fünf Romane, von denen ihm gleich der erste (Le songe d‘Ursule – „Ursulas Traum“) den „Del Duca“-Preis für junge Romanschriftsteller einbrachte. In den 1990er Jahren wurden seine Werke mit weiteren Preisen ausgezeichnet, darunter war auch der François-Mauriac-Preis der „Académie française“.
Schwerpunkt seines literarischen Schaffens wurden historische Romane, darunter sind auch die beiden Serien Voltaire mène l‘enquête (Voltaire leitet die Ermittlung) und Les nouvelles enquêtes du juge Ti (Neue Ermittlungen des Richters Di).
Frédéric Lenormand
Das Wasserschloss am Tchou-An-See
Neue Ermittlungen des Richters Di
Episode 1
Roman
Aus dem Französischen übersetzt von Gerd Frank
Weitere Informationen: www.kueblerverlag.de
Impressum
Deutsche Erstveröffentlichung
Copyright © 2016 Kuebler Verlag GmbH, Lampertheim.
Französischer Originaltitel:
Le Château du lac Tchou-an de Frédéric Lenormand
© LIBRAIRIE ARTHEME FAYARD, 2004.
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten. Keine unerlaubte Reproduktion, Vervielfältigung, Vermietung, Verleih, Einspeisung ins Internet, Aufführung oder Sendung.
Übertragung aus dem Französischen von Gerd Frank.
Herausgeber der Reihe: Gerd Frank
Lektorat: Anabelle Assaf – Rotkel Textwerkstatt
Bildmaterial © Andreeva Svetlana
ISBN Printausgabe 978-3-86346-033-4
ISBN Digitalbuch 978-3-86346-292-5
I
Während er den Fluss hinabfährt, wirft sich Richter Di seinen Leichtsinn vor; in einer Herberge hört er interessante regionale Sagen.
Im Angesicht des Flusses, der auf beiden Seiten seiner Dschunke immer mehr anschwoll, sagte sich Richter Di, dass er verrückt gewesen war, trotz der Warnungen der Schiffer an Bord zu gehen. Leider duldeten die kaiserlichen Befehle keinen Aufschub; daher hatte er den Gehorsam gegenüber seinem Kaiser über seine eigene Sicherheit und sogar die Vernunft oder die grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen gestellt.
Es war schwer genug gewesen, die Seeleute zu überreden, auszulaufen. Aber ein paar Silbermünzen, das Amtssiegel und die energische Überzeugungskraft seines Wachtmeisters hatten dieses kleine Wunder bewirkt, das sie in ihr Verderben führen würde: Sie fuhren – wie lange schon? – auf diesem immer schrecklicher werdenden Fluss, auf dem der Tod mit jedem Augenblick näherkam.
Während das Ende seiner Amtszeit in Hanyuan, das nicht weit von der Hauptstadt entfernt lag, herannahte, hatte Richter Di die Ankündigung seiner Versetzung nach Puyang erhalten, eine weitaus abgelegenere Stadt, deren Bezirksrichter gestorben war. Peking legte offenbar großen Wert auf seinen Amtsantritt, dessen Dringlichkeit mit Nachdruck betonte wurde: Die Bewohner Puyangs klagten bereits seit fünf Monaten darüber, dass der Posten des Bezirksrichters nicht besetzt, die Justiz nicht gewährleistet und die gesellschaftliche Ordnung gestört seien.
Zum Ruhme des Kaisers war es daher wichtig, dass dessen Diener Di Jen-dsiä sich schnellstmöglich dorthin begab. Vielleicht hatte Richter Di unrecht gehabt, als er das am Briefende stehende „schnellstmöglich“ wörtlich interpretiert hatte. Was würde es dem Sohn des Himmels denn nützen, wenn er ertrank? Wie sollte ein blau angelaufener Bezirksrichter, der zur Hälfte von Fischen gefressen worden war, seinen Auftrag erfüllen? Sein schlechtes Gewissen nagte an ihm, und er ärgerte sich über seine verhängnisvolle Bereitschaft, während er besorgt die Äste und Trümmer in der Wasserflut betrachtete, die ihn in kürzester Zeit verschlingen würde.
Seit fünf Tagen regnete es unaufhörlich. „Ich habe gut daran getan“, dachte Richter Di, „dass ich meine Ehefrauen in Hanyuan gelassen habe. Die schlammigen Wege hätten ihnen nur ein beschwerliches Vorwärtskommen erlaubt, selbst in den Sänften.“ Das Schlingern wurde stärker. Er klammerte sich an die Reling und sann darüber nach, dass ihn zumindest seine Nachkommen überleben würden, da er nicht den Fehler begangen hatte, Frauen und Kinder zu diesem selbstmörderischen Abenteuer mitzunehmen.
Für den Augenblick seine konfuzianische Schule vergessend, die ihn pragmatisches Denken gelehrt hatte, schickte er im Geiste besorgt ein Gebet an die Flussgottheit, in dem er sich für seine Überheblichkeit entschuldigte, die ihn veranlasst hatte, die derzeit entfesselten Naturkräfte so herauszufordern.
Große graue Wellen stiegen hoch und zerschellten am Rumpf des Schiffes, als versuchten die Hände von Riesen, es zu zerstören. Der Regen verdoppelte seine Heftigkeit. Wachtmeister Hong eilte mit Ölzeug in der Hand zu seinem Herrn.
„Herr Di, Sie sollten nicht so nahe am Rand stehen, da werden Sie ja völlig durchnässt! Ich bitte Sie, sich wieder unter das Schutzdach zu stellen.“
Hong Liang bedeckte den Kopf seines Herrn. Di ließ sich in die Richtung einer kleinen Kabine schieben, die sehr nützlich war, um sich an schönen Tagen vor der Sonne zu schützen, jedoch völlig ungeeignet, um die Passagiere zur Zeit des Monsuns vor Feuchtigkeit zu bewahren.
„Wenn wir wenigstens ein anständiges Schiff gefunden hätten“, fuhr Hong Liang fort, während er versuchte, das Feuer im Ofen erneut zu entfachen. „Diese Barkasse führt uns in den Tod!“
Die Konfrontation mit den wütenden Elementen schwächte das Gefühl für die guten Sitten etwas ab: Trotz der Hochachtung vor seinem verehrten Herrn, ließ die Furcht Hong eine Sprache verwenden, die er sich in normalen Zeiten niemals in dessen Gegenwart erlaubt hätte. Aber Richter Di war Tausende Meilen weit davon entfernt, ihm das übel zu nehmen.
Er war damit beschäftigt, seine Seele auf den Übertritt ins Jenseits vorzubereiten, in das sie – wie es schien – bald abberufen würden. Er befürchtete, dass sein Schuldgefühl die Suche nach dem Glück erschweren könnte, nach der jeder Mensch im Reich der Mitte strebte, um den ewigen Schlaf zu erlangen. Di war sich nicht sicher, ob er über genügend Zeit verfügte, um alle jene Manen um Vergebung zu bitten, die er in diese unüberlegte Fahrt verwickelt hatte.
Der Kapitän schob den Vorhang der Kabine beiseite, um zu verkünden, dass das Anschwellen der Fluten nicht mehr erlaube, die Fahrt fortzusetzen.
„Das haben wir schon bemerkt, stellen Sie sich vor!“, erwiderte Hong Liang, der sich fragte, ob der Magen seines Herrn sich nicht wohl bald über seine Schuhen entleeren würde.
Sie befanden sich in der Nähe einer kleinen Hafenstadt, als der Kapitän seinen hochgestellten Passagier respektvoll um die Erlaubnis bat, anlegen zu dürfen, wenngleich dies eine reine Höflichkeitsfloskel war. Richter Di nickte zustimmend, ohne das Risiko einzugehen, den Mund zu öffnen.
Beinahe eine halbe Wache[1] wurde für das heikle Anlegemanöver benötigt. Die Dschunke wurde unter großem Krachen nicht ohne Mühe am Pier festgezurrt, und der Kapitän kündigte an, dass er sich gezwungen sähe, für die Reparaturkosten einen Zuschuss zu verlangen. Der Richter versprach ihm alles, was er wollte, und beeilte sich, den Fuß auf festen Boden zu setzen, wovon er sich große Erleichterung erhoffte. Doch der Sturm machte dies zunichte, weil es dort beinahe genauso unangenehm war, wie schon der Aufenthalt inmitten der Wellen. Hong Liang und drei Seeleute nahmen das Gepäck, und die Gruppe beeilte sich unter dem peitschenden Regen in das Zentrum des kleinen Örtchens zu gelangen.
Ein Blick nach hinten zeigte dem Reisenden ein noch schrecklicheres Bild als jenes, das sich ihm bei der Ansicht der Dschunke geboten hatte. Im Fluss trieben jetzt ganze Baumstämme wie Geschosse, die sie zweifellos auf den Grund geschickt hätten, wenn sie noch länger an Bord geblieben wären.
„Die Götter sind mit uns“, schrie Di durch das Prasseln des Regens. „Ohne die segensreiche Existenz dieses Hafens wären wir jetzt dem Tod geweiht gewesen.“
„Daran ist kaum zu zweifeln“, antwortete Wachtmeister Hong. „Und wenn die Götter jetzt noch eine gute gastfreundliche und beheizte Herberge für uns auftreiben, will ich das voll und ganz glauben.“
Plötzlich standen sie unmittelbar vor einem Schild, das einen Silberreiher zeigte, das jedoch vom Wind wie irrsinnig hin und her gerüttelt wurde.
„Sie haben dich gehört!“, rief der Richter aus und drückte die Tür auf. Sie stellten jedoch fest, dass der vom Silberreiher angebotene Komfort nicht rechtfertigte, sich bei den Schutzgöttern groß zu bedanken: Es handelte sich um ein sehr einfaches Speiselokal, das nur von Fischern und Handelsreisenden frequentiert wurde. Der Geruch gebackenen Fisches drohte, die wenigen vor dem Sturm Geflüchteten, die sich um den Kamin versammelt hatten, zu ersticken. Dies war, wie dem auch sei, ein Ort der Wärme, wenn nicht des Friedens, an dem man sich trocknen und gleichzeitig hören konnte, wie das Balkenwerk krachte und die Dachziegel herunterfielen.
Der Herbergswirt eilte herbei, um die Neuankömmlinge zu begrüßen und ihnen seine Dienste anzubieten: eine Schale Suppe, kochend heißen Tee und ein Zimmer im Hinterhof.
„Im ersten Stock“, präzisierte Hong Liang, der Eindringlinge befürchtete.
„Alle unsere Zimmer sind oben, werter Reisender“, entgegnete der Wirt mit unterwürfigem Lächeln. „Wir mussten alle Appartements im Erdgeschoss wegen des Schlamms schließen. Gerade eben haben wir diesen Raum mithilfe von Sandsäcken vor der Feuchtigkeit bewahrt. Wenn der Regen nicht aufhört, müssen wir mit den Unannehmlichkeiten eines Hochwassers rechnen, was für uns genauso unerfreulich wäre wie für unsere werten Besucher.“
Der Richter seufzte und rieb sich die Hände, um sich zu wärmen. Das Wasser war auf dieser Reise eindeutig unheilvoll. Der Wirt hüstelte. Er witterte einen hochrangigen Gast, wagte aber nicht, ihm die Frage direkt zu stellen, die ihn quälte: „Darf ich die ehrenwerten Herrschaften fragen, ob unsere gute Stadt Tchouan-go das Ziel Ihrer Reise darstellt?“
Di dachte daran, dass seine Rangabzeichen zuunterst in seinen Truhen verwahrt waren. Nichts zwang ihn, sich als kaiserlicher Bezirksrichter zu erkennen zu geben, und der erbärmliche Zustand, in dem er sich befand, wies ihn auch nicht als solchen aus. Es war wohl besser, sein Inkognito zu wahren, das ihm mehr oder weniger unverbindliche Kommentare ersparte über die Notwendigkeit, Deiche anzulegen, die Gleichgültigkeit der Regierung oder über die schwierige Situation von Beamten auf Dienstreise.
Am meisten sehnte er sich bei all seinem Unglück nach der Ruhe.
„Ich bin Archivar vierten Ranges, versetzt an das Gericht von Puyang, wohin ich mich derzeit begebe. Dieser Mann hier ist mein Gehilfe.“
„Ich hoffe, dass Ihre Zimmer ordentlich sind und dort keine Ratten Zuflucht gefunden haben“, fügte „Gehilfe“ Hong Liang hinzu.
„Falls es welche geben sollte, werden wir sie verjagen“, antwortete der Wirt mit verkniffener Miene. Dann kehrte er ihnen den Rücken zu, um die Suppen und den kochend heißen Tee zu bestellen.
Kurz danach, als sie ihre Zimmer bezogen, bemerkten sie hinten im Hof einen großen Planwagen, aus dem Stangen, Lampions und Dekorationsgegenstände ausgeladen wurden.
„Wir haben momentan ein Ensemble von Schauspielern hier, die uns gebeten haben, ihr Material eine Zeit lang aufzubewahren“, gab ihnen der Wirt nicht ohne Anspielungen zu verstehen. Er schien damit sagen zu wollen, dass die Schauspieler offenbar ihre Rechnung aufgrund des anhaltenden Regens nicht hatten begleichen können, denn die Aufführungen fanden im Allgemeinen unter freiem Himmel statt. Zweifellos hatte der gute Mann Kulissen und Material in der Erwartung einbehalten, dass sich die Truppe in dem einen oder anderen Tempel der Stadt die Erlaubnis zur Aufführung eines sakralen Mysterienspiels besorgte, um ihn dann vom Erlös angemessen zu bezahlen.
In solchen Momenten beglückwünschte sich Richter Di, in der Verwaltung eine Stelle zu bekleiden, die ihm zumindest in schwierigen Zeiten Sicherheit bot, wenn er schon mitunter – wie jetzt die Schauspieler – gezwungen war, eine Dienstreise unter unerfreulichen Umständen zu unternehmen.
„Ich hoffe, dass der Lärm ihrer Proben meinen Meister nicht stören wird“, äußerte Hong Liang besorgt.
„Da können die Herrschaften beruhigt sein“, entgegnete der Wirt. „Diese talentierten Künstler sind zurzeit einzig damit beschäftigt, die Bedingungen ihres nächsten Auftritts vor einem ausgewählten Publikum zu verhandeln.“
Im Klartext hieß das, dass sie im Begriff waren, bei buchstäblich allen Einrichtungen der Stadt um die Gunst zu bitten, bei der nächstbesten Gelegenheit, die sich bot, auftreten zu dürfen. Bei diesem alles durchdringenden Regen dürfte dies allerdings ein schwieriges Unterfangen sein. Richter Di fühlte sich unverzüglich weit weniger unglücklich.
Der Wirt zeigte ihnen nun das, was er sein „schönstes Zimmer“ nannte, die „Hochzeitssuite“. Die bestand aus zwei kärglich möblierten Zimmern, die den Geschmack des Herrn Archivar vierten Ranges sicherlich treffen sollten. Hong Liang legte nur ihre notwendigsten Habseligkeiten ab, während Richter Di argwöhnisch den Zustand der Bettwäsche beäugte. Er hatte wohl weiterhin für seinen Leichtsinn zu büßen.
Nachdem sie sich von dem üblen Eindruck etwas erholt hatten, beschlossen sie, sich zum allgemeinen Abendessen hinunterzubegeben, um sich durch Unterhaltung etwas zu zerstreuen. Ihre Tischgenossen gehörten nicht zu dem ausgewählten Publikum, vor dem die Schauspieler aufzutreten hofften. Es gab zwei oder drei Kaufleute, die daran gewöhnt waren, Widrigkeiten geduldig zu ertragen, und wohl ebenso viele Fischer von durchschnittlichem Format, die weniger bereit waren, sich in ihr Schicksal zu ergeben, und deshalb ihren Unmut gegenüber den Launen des Himmels viel offener zum Ausdruck brachten.
„Wenn es nur der Regen wäre!“, sagte einer. „Aber mit diesem Wasseranstieg ist auch die Fieberepidemie zu uns gekommen, die uns alle wegraffen wird, wenn das nicht schon die Flut erledigt! Die Götter haben unsere Gegend vergessen.“
„Genau, im Drei-Quellen-Dorf wurden schon zehn Personen beerdigt, etwa fünf Meilen von hier entfernt. Wenn das so weitergeht …“
Richter Di bekam einen Hustenanfall, und man warf ein paar schräge Blicke auf ihn. Hong Liang beeilte sich, ihm eine Tasse Tee einzuschenken.
„Was wollt ihr?“, sagte einer von ihnen. „Wir sitzen doch alle im gleichen Boot! Wir müssen einfach auf die Vorsehung vertrauen.“
Ein anderer zuckte mit den Schultern: „Im gleichen Boot? Das ist ja zum Lachen! Die Geldsäcke kommen doch immer davon. Nehmt doch mal nur die Familie Tchou, bei Weitem die wohlhabendste der ganzen Gegend. Seit dem Bekanntwerden der Epidemie haben die sich in ihre Sommerresidenz außerhalb der Stadt hinter die Mauern ihrer Burg zurückgezogen. Die Krankheit müsste schon sehr tückisch sein, wenn sie es schafft, auch sie heimzusuchen. Die werden immer noch ihren frischen Teint und die fetten Bäuche haben, wenn wir schon alle längst tot sind! Diese Epidemien sind nicht für die Reichen da, sie meiden die Paläste sorgfältig.“
Richter Di spitzte die Ohren: Gab es hier im Seengebiet also doch einen angenehmen Ort, um das Ende des Hochwassers abzuwarten, falls dieses noch länger andauern sollte?
„Wohnen denn diese Tchou so komfortabel?“, fragte er, betont gleichgültig.
„Oh, ja!“, antwortete sein Gesprächspartner. „Sie haben ein prachtvolles Schloss, das mitten auf einem idyllischen Landgut liegt und von einer langen Mauer umgeben ist und wie eine Festung bewacht wird. Der Park ist so groß, dass er den ganzen See einschließt, auf dem das Gebäude erbaut worden ist.“
„Dann ist das also ein Wasserschloss?“, staunte Richter Di. „In einem solchen Fall besteht doch das Risiko, dass es als Erste überschwemmt wird!“
Die Fischer brachen einstimmig in Gelächter aus. „Man sieht, dass Sie diese Gegend nicht kennen“, entgegnete einer von ihnen. „Das Wasserschloss von Tchou-An wird niemals überschwemmt. Es wird von einer Gottheit beschützt, die hier wohnt. Die Herrin des Sees hat seit Langem mit ihren Gästen, die sie glühend verehren, eine Vereinbarung. Das Land kann unter Katastrophen zusammenbrechen, aber dieses Gebiet bleibt – was immer auch passiert – eine Zufluchtsstätte der Ruhe und Harmonie, die durch nichts gestört wird. Das ist gesegneter Boden. In Zeiten wie diesen würde jeder Bewohner von Tchouan-go regelrecht darum kämpfen, dort zu leben, und sei es als Sklave.“
„Es ist etwa zehn Jahre her“, fügte ein anderer hinzu, „dass Söldner diese Gegend verwüstet haben, doch das Landgut ist verschont geblieben. Und man erzählt, dass vor fünfzig Jahren, während eines schrecklichen Erdbebens, nur das Schloss vom Tchou-An-See verschont blieb, es hat nicht den geringsten Schaden erlitten. Das ist der Ort, an dem man sein will, wenn vor der Nase ein Unglück passiert. Die Tchous hatten auch noch nie Probleme, wenn es darum ging, ihre Kinder zu verheiraten, und das liegt nicht nur an ihrem immensen Vermögen.“
„Woher haben sie denn all das Geld?“, fragte Richter Di, der immer interessierter wurde. „Sind sie denn ranghohe kaiserliche Beamte oder Kriegsherren?“
Einer der Händler lachte höhnisch: „Leute wie die haben so etwas nicht nötig, damit sie zu Geld kommen. Ihnen gehört heutzutage die Hälfte dieser Gegend. Ihre Besitztümer hören nicht an den Mauern ihres Parks auf, sie erstrecken sich auf alle Täler, die man vom Yi Peng-Berg aus sehen kann. Das sind Leute, die es nicht nötig haben, sich abzuhetzen, um sich ihr tägliches Brot zu verdienen!“
„Oder aber bei jedem x-beliebigen Wetter mit dem Boot auszulaufen!“, schimpfte einer der Fischer.
„Obwohl einem Gerücht zufolge der Ursprung ihrer Familie gar nicht so glänzend gewesen sein soll, wie es einen all ihr Prunk glauben lassen könnte. Man erzählt, dass sie von einem einfachen Fischer abstammen, dem ärmsten unserer Stadt. Er soll von einem Tag auf den anderen reich geworden sein, in einer Geschwindigkeit übrigens, die alle redlichen Mittel ausschließt.“
„Keineswegs!“, fiel ihm ein anderer ins Wort. „Kennst du nicht ihre Geschichte? Der Fischer hat eines Tages, als er seine Netze in den Tchou-An-See geworfen hat, in seinen Maschen die Herrin des Sees gefangen, eine wunderschöne Frau, wenn man mal davon absieht, dass sie dort einen Fischschwanz hat, wo andere ihre Beine haben. Die Gottheit flehte Tchou an, sie wieder in ihren geliebten Sumpf zurückzuwerfen und sie in Frieden zu lassen. Tchou war gerührt wegen ihren Tränen, zumal es sich dabei um graue Perlen handelte, die man nur ganz selten findet. Er übergab sie also wieder den Wellen und sie bot ihm und den Seinen zum Dank dafür ihren Schutz an – und zwar so lange, wie sie dort leben würden. Mit dem Geld für die Perlen konnte der Fischer das ganze Gebiet kaufen. Er ließ ein prunkvolles Gebäude errichten und eine prächtig verzierte Pagode bauen. Von Generation zu Generation erwiesen seine Nachfahren der Gottheit, der sie all ihren Wohlstand verdanken, gleichfalls ihre Verehrung. Deshalb verbieten sie auch jedem ausdrücklich, in diesem Gewässer zu fischen, sehr zum Nachteil von uns rechtschaffenen Leuten.“
Seine Kameraden seufzten und betäubten gleichzeitig ihren Kummer mit Reiswein.
Richter Di dachte lächelnd, dass dies den Reiz der ländlichen Umgebung ausmachte: Diese Art von Sagen zirkulierte nahezu über alle alteingesessenen Familien in kleineren Städtchen. Sobald sie es geschafft hatten, ein gewisses Kapital anzusammeln, unterstellte man den örtlichen Herren, Beziehungen zu den Naturgöttern, wenn nicht sogar zu den Dämonen, zu unterhalten.
Die Bauern liebten es, auf diese Weise zu erklären, weshalb sie in Armut oder Elend verblieben waren: Sie hätten nämlich nicht das Glück gehabt, einer Fee zu begegnen, und auch keinen Pakt mit einer Zauberin schließen können, weshalb sie den üppigen Wohlstand ihrer Nachbarn mehr oder weniger wohlgesinnt beäugten. In Wirklichkeit durfte der See vermutlich von den Plagen der Natur aufgrund seiner geografischen Lage verschont geblieben sein, was auch als Erklärung dafür genügte, dass die reichste Familie der Gegend ihn als Wohnsitz auserwählt hatte. Keinerlei Notwendigkeit, den Himmel, den Fluss oder das Hirngespinst mit dem Fischschwanz anzurufen.
„Jede Medaille hat auch eine Kehrseite“, meinte nun einer der Fischer. „Sie vergessen den Schluss dieser Sage. Man sagt nämlich, dass an dem Tag, an dem die Abmachung zwischen den Tchous und der Gottheit gebrochen wird, wird sie ihre Gefälligkeiten zurücknehmen und ihrem Wohlstand ein Ende bereiten.“
„Nun auch noch himmlische Rache!“, dachte Richter Di mit Bestürzung. Es fiel ihm immer schwer, sich einzugestehen, dass der Konfuzianismus, den die Akademiker verehrten, kaum die administrativen Grenzen zu überschreiten und in die Kreise der weniger Gebildeten einzudringen vermochte. Die kleinen Leute beharrten darauf, in ihrer beklagenswerten Unaufgeklärtheit stecken zu bleiben, indem sie fröhlich lokale Sitten, überspannte Fantasien und verrückte Prophezeiungen miteinander vermengten, die auf der fälschlichen Auslegung universeller Wahrheiten beruhten. Es war absolut nicht notwendig, zehn Jahre lang klassische Studien betrieben zu haben, um erkennen zu können, dass die Welt von unabänderlichen, zeitlosen Kräften regiert wurde und eben nicht von Halbfischen, auf der Suche nach Zuneigung und Bücklingen.
„Wann werden sie endlich begreifen, dass Erfolg lediglich auf Tugenden und Arbeit begründet ist?“, fragte sich der Richter, der seinerseits von einer Familie abstammte, in der der Vater Präfekt und der Großvater Minister gewesen waren.
Wachtmeister Hong, der seinen Meister bereits seit dessen Kindheit kannte, hatte das diskrete Interesse bemerkt, das dieser dem Thema entgegenbrachte.
„Demnach werden diese Tchou wohl hochgeschätzt im Lande?“, fragte er, um das Gespräch wieder auf diesen Punkt zu lenken.
„Oh“, sagte der Porzellanhändler, „wenn sie es nur halb so sehr wären wie sie von Hochmut erfüllt sind, würde man ihnen Statuen errichten. Die Familie vom See bildet sich nämlich auf ihren Reichtum und ihre Stellung sehr viel ein – trotz der Gerüchte, die über ihre Abstammung im Umlauf sind. Sie sind die ersten, die diese Geschichten von der Allianz mit der Fischgöttin verbreiten, die ihnen angeblich diese riesigen Reichtümer eingebracht hat. Übrigens weiß heutzutage kein Mensch mehr, ob sie den Namen des Sees angenommen haben oder ob es umgekehrt war.“
„Sie machen aber wenigstens regelmäßige Schenkungen an die Religionsgemeinschaften, wie ich vermute?“
„Zweifellos erfüllen sie ihre Verpflichtungen“, sagte ein Fischer. „Aber mit uns verkehren sie kaum, mit uns, den kleinen Leuten. Sie bevorzugen die Ufer ihres Lotusteiches und die erlesene Atmosphäre ihres goldenen Palastes. Das halbe Jahr über sieht man sie nicht in der Stadt. Sei verschanzen sich immer noch beim ersten Anzeichen von Gefahr hinter ihren Mauern. Es reicht schon viel weniger als eine Epidemie, damit sie monatelang ganz verschwinden!“
Richter Di fand, dass er nun genügend Klatsch gehört hatte. Er stand auf, um sich zurückzuziehen.
„Ich bin müde“, sagte er. „Morgen erwartet mich ein langer Weg, um nach Puyang zu kommen. Mein Gehilfe und ich müssen uns unbedingt erholen.“
Die Stammgäste der Herberge nickten verständnisvoll. „Es ist eine gute Idee, die Kräfte zu schonen“, entgegnete ein Seidenstoffhändler. „Was Ihr Vorhaben von morgen betrifft, so können Sie damit aber kaum rechnen! Der Fluss wird sich noch mehrere Tage lang nicht beruhigen, und die Wege sind daher unpassierbar. Ich fürchte, dass der Bezirksrichter von Puyang auf seinen Archivar im vierten Rang noch ein wenig verzichten muss, und wünsche ihm, dass er sich bei diesem Ungemach in Geduld fasst.“
„Das wünsche ich ihm auch“, dachte Richter Di und verbeugte sich, bevor er den Raum verließ; Hong Liang folgte ihm auf den Fersen.
„Herr!“, sagte Letzterer, als sie allein waren. „Schenken Eure Exzellenz der Rede dieser Menschen Glauben? Denken Sie, dass wir dazu verurteilt sind, mehrere Tage in dieser widerlichen Spelunke zu bleiben?“
Richter Di verharrte einen Moment lang in Schweigen, dann entgegnete er gelassen: „Ich glaube nichts von alldem, Hong Liang. Die Vorsehung kümmert sich immer um die Sicherheit des Weisen und Rechtschaffenen. Übrigens sieht es so aus, als ließe dieser Regen ein wenig nach.“
Der Wachtmeister bewunderte diese Ruhe des Geistes, die lediglich durch lange literarische Studien erlangt werden kann. Er beeilte sich, Gefäße unter den lecken Stellen des Dachs aufzustellen, während sich sein Herr, der bereits zur Hälfte entkleidet war, schwor, keine weitere Nacht auf der verschimmelten Matte dieses armseligen Brautlagers zu verbringen.
***
[1] entspricht der Zeit von zwei Stunden
II
Die Herberge bekommt einen unerwarteten Besucher; Seidenkleider werden zu Zeugen.
Am Tag darauf regnete es – ungeachtet der Philosophie des Richters Di – auch weiterhin heftig.
„Der Fluss wird heute wohl ganz entfesselt sein“, murmelte er, am Fenster stehend, angesichts des grau perlenden Vorhangs, der den Himmel verdunkelte.
Wachtmeister Hong setzte die betrübteste Miene auf, die ihm möglich war. „Es sei denn, eine unsichtbare Hand diese Fluten in irgendeinen Abgrund umleiten würde“, sagte er mit düsterer Ironie.
Sie kleideten sich an und stiegen dann in den allgemeinen Aufenthaltsraum hinunter, um zu frühstücken. Es blieben ihnen wenigstens die Annehmlichkeit eines ziemlich starken Tees und eines Sojafladens mit gegrillten Krabben.
„Wie schade, meine guten Freunde!“, sagte der Wirt, als er sie – die Arme gen Himmel gestreckt – begrüßte; aus seiner Stimme war aufrichtiges Bedauern herauszuhören. „Es ist eine Katastrophe! Unsere Küchen sind überschwemmt! Wir können unsere lieben Gäste nicht bedienen, solange nicht alles neu angeschlossen und eingerichtet worden ist!“
So vergingen mehrere Stunden. Das Material war aufgeweicht, das Holz wässrig, der Ofen ausgegangen und das komplette Geschirr trieb zwischen den Tischen dahin.
„Nun“, erwiderte Richter Di, „überspringen wir eben das Frühstück. Benachrichtigen Sie uns, wenn Sie die Situation im Griff haben.“
„Es ist eine Katastrophe“, wiederholte der Wirt und drehte sich zu seinen Leuten um. Er trug ihnen auf, einen provisorischen Ofen über den Brettern bereitzustellen. Das Gästehaus beinahe voll zu haben und die tausend kleinen Wünsche seiner Kundschaft mit wohlgefüllten Taschen nicht erfüllen zu können, ärgerte ihn. „Mein Haus ist verflucht!“, dachte er.
Er bemühte sich, die Laterne vor den Bildern der Schutzgeister seines Geschäfts anzuzünden, die ziellos auf dem Holzregal umherschwankten, auf dem man sie abgestellt hatte wie Schiffbrüchige auf einem Floß in Seenot.
Richter Di machte es sich in seinem Zimmer so bequem wie nur möglich und versuchte, sich vom Knurren seines Magens durch das Lesen irgendwelcher Rollen mit guter Literatur abzulenken, von der er sich nie trennen würde, egal welch schweren Belastungen er ausgesetzt sein würde.
Nicht zu überhören waren freilich die gurgelnden Geräusche, die von der Liege kamen, auf der Wachtmeister Hong versuchte einzuschlafen.
Zur Mittagszeit gab es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute kündigte sich durch den köstlichen Duft von Gemüse und Reis an, der ihnen verführerisch in die Nasen stieg, als sie sich schon beinahe entschlossen hatten, eine Ratte zu töten, und sie über einer Öllampe zu grillen. Die schlechte war, dass der Wirt keine bessere Lösung gefunden hatte, als seine Küchenausstattung in den Fluren des Hauses zu verteilen, der ihrige eingeschlossen. Das bedeutete, dass der Frittiergeruch immer penetranter wurde und nicht so bald wieder verschwinden würde.
Nachdem ihnen einiges von der zur Verfügung stehenden Verpflegung gebracht worden war, schlugen sie sich aus Mangel an Optimismus den Bauch voll und starrten in den Regen. Kurz darauf ließ Richter Di Wachtmeister Hong auf seiner Liege weiterschnarchen und ging zum nächsten Treppenabsatz, um sich eine volle Kanne Tee zu besorgen. Es war aber niemand da, und so schnappte er sich ein Wachstuch und stieg ins Erdgeschoss hinab.
Die Räumung des Hofes war abgeschlossen. Der Wasserspiegel war gestiegen, daran bestand kein Zweifel. Seinem geschulten Geist, der es gewohnt war, auch unwichtige Details zu bemerken, fiel jedoch auf, dass der Wagen der Schauspieler verschwunden war. „Sehr gut“, dachte er. „Sie haben gewiss ein Engagement gefunden. Bei der drohenden Überschwemmung werden die Leute zusammengelegt haben, um irgendwelche Tänze oder irgendeine sakrale Vorstellung zu Ehren Buddhas aufführen zu lassen, damit sie auf andere Gedanken kommen. Mit etwas Glück und einigen Weihrauchstäbchen wird uns bald aus der Klemme geholfen sein.“
Um den Aufenthaltsraum war es noch kläglicher bestellt als bisher. Die Ratten verließen dieses sinkende Schiff nicht: stattdessen wurden sie immer aufdringlicher. Die Bediensteten der Herberge wateten im Wasser. Sie schlugen kräftig mit Schlegeln auf die Tiere ein, um zu versuchen, diese zu betäuben, da sie ihnen sonst fast immer entwischten, indem sie wild umherschwammen.
Von den Mauern hallten ein ohrenbetäubendes Platsch-Platsch und die wütenden Flüche der Domestiken wider, jedes Mal, wenn sie ihr Ziel verfehlt hatten. Di Jen-dsiä bewertete die Schlacht von vornherein als verloren. Da konnte man genauso gut eine Opfergabe an der Pagode des Rattengottes niederlegen, um den Rückzug von dessen Truppen zu bewirken.
„Könnte man eine Tasse Tee bekommen?“, fragte er in den Tumult hinein und erntete allgemeine Gleichgültigkeit.
Eine volle Viertelstunde lang achtete man nicht auf seine Anwesenheit, bis ein Diener die schwächste seiner Angreiferinnen triumphierend am Schwanz hin und her schwenkte, deren Schwestern sich zurückgezogen hatten, um sich neu zu formieren.
Im Raum kehrte wieder eine relative Ruhe ein. Jetzt konnte man auch hören, dass etwas oder jemand mit dumpfen Schlägen an die Tür klopfte.
„Nun mach schon auf!“, schrie der Wirt eine seiner Bediensteten an, während er sich fragte, warum der Himmel ihm diesen Andrang ausgerechnet in jenem Moment bescherte, in dem er so wenig in der Lage war, ihm angemessen zu begegnen.
Kaum hatte die Frau die Tür aufgemacht, stieß sie einen schrillen Schrei aus. Jeder erstarrte, alle Blicke richteten sich auf den Eingang. Man erwartete, aus dem Nichts irgendein Wesen mit verzerrtem Gesichtsausdruck auftauchen zu sehen, das gekommen war, um Schutz vor den entfesselten Elementen zu suchen, die selbst vor Dämonen keinen Halt machten.
Richter Di sah erst einmal gar nichts und nahm dann eine Art gräuliches Brett wahr, das mit einer vom Strudel verursachten leichten Wellenbewegung langsam in den überfluteten Raum gespült wurde. Als das Brett etwas näherkam, sah er, dass es an einem Ende etwas aufwies, das Haaren ähnelte, am anderen Ende aber unzweifelhaft auch ein Paar Füße hatte, von denen einer noch einen Schuh trug.
Der Körper trieb direkt an den Tisch heran, an dem der Richter saß. Große, düstere und glasige Augen hefteten sich mit der Starre eines verendeten Fisches auf die seinen. Die Magd stieß erneut kleine entsetzte Schreie aus, die aber bald von den Klagen und Gebeten der anderen Diener übertönt wurden.
„Mächtiger Buddha, bewahre uns davor, dass Tote als Gäste zu uns kommen wollen!“, schrie der Wirt. „Was für ein grauenvolles Omen! Schnell, lasst uns Weihrauch verbrennen!“
„Das ist die Pest! Das ist die Pest!“, rief ein Diener und rannte eilig davon.
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Richter Di. Er hatte auf der Stirn der Leiche eine lange Wunde bemerkt, die ihn viel eher an einen Sturz denken ließ, dem ein Tod durch Ertrinken gefolgt war. „Ruft einen Arzt“, befahl er, nachdem er reflexartig seine als Bezirksrichter gewohnte Autorität wiedergewonnen hatte. „Er wird die Todesursache feststellen und sie uns mitteilen. Macht schnell!“
Der Wirt beauftragte damit einen seiner Diener, ärgerte sich aber gleichzeitig über diese kleinen Archivare vierten Ranges, die mit ihrer Arroganz bewiesen, wie groß ihre Unverfrorenheit sogar in einer Stadt, die nicht einmal die Ihre war, sein konnte.
Richter Di bat die beiden Diener, die am wenigsten verstört waren, die Leiche auf einen trockenen Tisch zu legen.
„Kennt jemand diesen Mann?“, fragte er.
Einige verneinten durch Zeichen, aber die meisten waren zu entsetzt, um sie aufmerksam betrachten zu können. Der Haarknoten des Unbekannten hatte sich gelöst. Der Richter schob mithilfe eines Tuches die langen Haare, die auf dem Gesicht klebten, beiseite. Er überwand seinen Abscheu und versuchte sich vorzustellen, wie der Tote ausgesehen haben mochte, bevor er aufgrund seines Aufenthalts im Wasser so aufgedunsen und ausgebleicht war.
Jetzt erkannte er in ihm einen der Tischgenossen, mit denen er am Abend zuvor zusammen geplaudert hatte.
„Das ist doch Herr Li Pei!“, rief eine Dienerin. „Der Seidenhändler! Wenn man bedenkt, dass er vor noch nicht mal einem halben Tag hier in diesem Raum gesessen hat! Er hat meine gegrillten Krabben so sehr gemocht!“
„Was für ein Unglück!“, schrie der Wirt, der daran dachte, dass sein Gast es am Vortag aufgeschoben hatte, seine kleine Rechnung zu begleichen. „Was für ein nicht mehr gutzumachender Verlust!“
Der Arzt, ein älterer Mann, der sehr gut gekleidet war und einen langen, mit Sorgfalt in zwei Hälften geteilten Bart trug, legte soeben an der Herberge mit einem kleinen, flachen Kahn an, der ihm wohl dazu diente, in seiner Freizeit Goldkarpfen zu fischen. Er watete in dem Aufenthaltsraum und war offensichtlich verärgert, weil man es für angebracht gehalten hatte, ihn wegen einer solchen Kleinigkeit zu stören. Mit der Untersuchung der Leiche war er nicht länger als drei Minuten beschäftigt.
„Nun, er ist tot. Und was die Ursache anbelangt, so ist er ertrunken“, erklärte er und schickte sich an, wieder zu gehen. „Es gibt genug davon seit einiger Zeit.“
„Und die Verletzung auf der Stirn?“, fragte Richter Di.
Der Arzt warf einen ärgerlichen Blick auf den angeblichen Archivar vierten Ranges und fragte sich gleichzeitig, warum man ihn wegen Toten störte, während so viele Lebende als Folge der Epidemie dem Tod entgegensahen und daher seine wertvollen Dienste erflehten. Er geruhte dennoch, sich ein zweites Mal über die Leiche zu beugen, die die krankhafte Neugier des Fremden erregt hatte, und erklärte dann: „Er wird sich verletzt haben, als er ins Wasser gefallen ist. Es könnte aber auch sein, dass ihn ein im Wasser treibender Baumstamm getroffen hat. Doch es ist nichts Seltsames zu erkennen. Auf Wiedersehen.“
Er verschwand, und kein Archivar der Welt hätte ihn noch eine Minute länger von seinen Kranken fernhalten können, die zudem die Mühen zu belohnen wussten, die er – infolge seiner unverbesserlichen Liebe zur Menschheit, aber auch wegen der vielen Wechsel auf sein Landhaus – auf sich nahm, um sie mit seinem flachen Kahn zu besuchen.
„Dieser Arzt ist vielleicht fähig, Lebende zu behandeln, mit Toten aber kann er nichts anfangen“, dachte Richter Di.
Der Wirt war zu beschäftigt, als dass er sich gefragt hätte, was er mit diesem unerwünschten Besucher anfangen sollte und aus welchem Grund der unbedeutende Archivar sich derart für die Leiche interessierte. Mit Abscheu sah er, wie dieser dem Ertrunkenen die Kleider auszog, sich die Ärmel hochstülpte, seine Bluse öffnete und die Hose hochkrempelte, auf der Suche nach was auch immer.„Der ehrenwerte Tote ist mir die Kosten für drei Nächte und die entsprechenden Mahlzeiten schuldig“, dachte der Wirt und rechnete vorausschauend damit, dass dieser perverse Archivar eventuell auf eine Börse oder ein paar Sapekenligaturen[2] stoßen könnte. „Der Rest kann für seine Beerdigung verwendet werden“, fügte der Wirt hinzu und dachte, dass es immer noch genug übrig bleiben würde, um ihn ins erstbeste Loch zu werfen – nachdem er sich erst mal ausgiebig bedient hatte.
Weil Richter Di schon oft unter äußerst heiklen Umständen ermittelt hatte, bemerkte er im Rahmen der gegenwärtigen Untersuchung schnell, dass es auch noch andere verdächtige Merkmale gab, nämlich am Hinterkopf und auf dem Rücken. Außerdem trug der Händler unter seinem Mantel eine Bluse aus hübscher heller Seide, die in der Höhe der Wunde fleckig war.
Wenn die Leiche also während des Aufenthalts im Wasser in Mitleidenschaft gezogen worden wäre, so wären die Blutungen sofort verwässert worden; sie hätten demnach die Seide kaum beschmutzt … Noch ein Detail beunruhigte den Richter. Wenn der Tote ertrunken wäre, hätten sich seine Lungen mit Wasser gefüllt, und die Leiche hätte nicht sofort nach dem Tod auf dem Wasser getrieben.
„Helft mir, ihn hochzuheben“, befahl er. „Fasst ihn an den Füßen.“