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Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Teilens, aber auch das Fest der Vergebung und der Erinnerung an ein Wunder, das heute noch Menschen in aller Welt rührt. Ray Bradbury erzählt davon auf ungewöhnliche Art: Bei ihm gibt es auch ein Fest auf dem Mars, dem Friedhof, im Beichtstuhl und in Dublin.
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Seitenzahl: 57
Ray Bradbury
Das Weihnachtsgeschenk
und andere Weihnachtsgeschichten
Ausgewählt von Daniel Keel und Daniel Kampa
Diogenes
Es war ein Tag vor Weihnachten, und noch während die drei zum Raumschiff-Flughafen fuhren, machten Mutter und Vater sich Gedanken. Es war das erste Mal, dass ihr kleiner Sohn in den Weltraum flog, das erste Mal, dass er überhaupt in ein Raumschiff stieg, und sie wollten, dass alles vollkommen war. Als sie am Zolltisch das Geschenk für ihn zurücklassen mussten, das nur wenige Gramm schwerer war, als die vorschriftsmäßige Gewichtsgrenze erlaubte, und auch den kleinen Baum mit den weißen Kerzen, fühlten sie sich um die ganze Weihnachtsfreude und um die eigene Liebe betrogen.
Der Junge erwartete sie im Abfertigungsraum. Während sie nach dem erfolglosen Zusammenstoß mit den interplanetaren Beamten auf ihn zugingen, flüsterten sie miteinander.
»Was sollen wir tun?«
»Nichts. Nichts. Was können wir tun?«
»Diese dämlichen Vorschriften!«
»Und er hatte sich so sehr einen Weihnachtsbaum gewünscht!«
{8}Die Sirene heulte auf, und die Leute drängten sich in das Marsraumschiff. Mutter und Vater gingen schweigend am Schluss, ihren kleinen blassen Sohn zwischen sich.
»Ich werde mir schon etwas einfallen lassen«, sagte der Vater.
»Was …?«, fragte der Junge.
Das Raumschiff startete, und sie wurden kopfüber in den dunklen Weltraum geschleudert.
Das Raumschiff ließ Feuer zurück und die Erde, auf der man den 24. Dezember des Jahres 2052 schrieb; es schoss hinaus, dorthin, wo es keine Zeit gab, keinen Monat, kein Jahr, keine Stunde. Sie verschliefen den restlichen »Tag«. Um Mitternacht irdischer Zeit und nach den New Yorker Uhren wachte der Junge auf und sagte: »Ich möchte aus der Luke sehen.«
Es gab nur oben auf dem nächsten Deck eine Luke, ein ziemlich großes »Fenster« mit einer Scheibe aus ungeheuer dickem Glas.
»Jetzt noch nicht«, sagte der Vater. »Ich nehme dich später mit hinauf.«
»Ich möchte sehen, wo wir sind und wohin wir fliegen.«
»Ich möchte aber aus einem bestimmten Grund, dass du noch wartest«, sagte der Vater.
Er hatte wach gelegen, sich von einer Seite auf die {9}andere gedreht und an das zurückgelassene Geschenk gedacht, an das bevorstehende Weihnachtsfest, den verlorenen Baum mit den weißen Kerzen. Endlich, vor fünf Minuten, hatte er sich aufgerichtet und glaubte nun einen Plan gefunden zu haben. Er brauchte ihn nur auszuführen, damit die Reise wirklich schön wurde.
»In genau einer Stunde ist Weihnachten, mein Sohn«, sagte der Vater.
»Oh«, sagte die Mutter, entsetzt darüber, dass er das Fest erwähnte. Sie hatte gehofft, der Junge würde es vergessen.
Das Gesicht des Jungen rötete sich wie im Fieber, und seine Lippen zitterten. »Ich weiß, ich weiß. Ich kriege doch ein Geschenk, nicht wahr? Bekomme ich einen Baum? Ihr habt mir versprochen …«
»Ja, ja, du bekommst sogar noch mehr«, antwortete der Vater.
»Aber …«, begann die Mutter.
»Es ist mein Ernst«, sagte der Vater. »Du kannst dich darauf verlassen. All das und noch mehr, viel mehr. Entschuldigt mich jetzt. Ich komme gleich wieder.«
Er ließ sie ungefähr zwanzig Minuten allein. Als er wiederkam, lächelte er. »Gleich ist es so weit.«
»Darf ich deine Uhr halten?«, fragte der Junge. Er bekam die Uhr und hielt sie in der Hand, {10}während der Rest der Stunde in Feuer und Stille und unmerklicher Bewegung verstrich.
»Jetzt ist Weihnachten! Weihnachten! Wo ist das Geschenk?«
»Hierher«, sagte der Vater, fasste den Jungen bei der Schulter und führte ihn aus dem Raum, durch einen Flur und eine schräge Treppe hinauf; seine Frau kam nach.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie immer wieder.
»Du wirst schon verstehen. Wir sind da«, sagte der Vater.
Sie blieben vor der Tür einer großen Kabine stehen. Der Vater klopfte dreimal und dann zweimal, ein Signalzeichen. Die Tür öffnete sich, das Licht in der Kabine erlosch, und man hörte Stimmen flüstern.
»Geh hinein, mein Sohn«, sagte der Vater.
»Es ist so dunkel.«
»Ich halte dich an der Hand. Komm, Mama.«
Sie traten in den Raum, die Tür schloss sich hinter ihnen, und der Raum war wirklich sehr dunkel. Vor ihnen tauchte ein großes Glasauge auf, die Luke, ein Fenster, etwa einen Meter zwanzig hoch und einen Meter achtzig breit, durch das sie in den Weltraum hinausschauen konnten.
Der Junge erschrak.
Hinter ihm erschraken auch die Eltern, aber jetzt {11}fingen in der dunklen Kabine ein paar Menschen an zu singen.
»Fröhliche Weihnachten, mein Sohn«, sagte der Vater.
Die Stimmen sangen die alten, vertrauten Weihnachtslieder. Der Junge ging langsam vorwärts und presste dann sein Gesicht an das kalte Glas der Luke. Da stand er lange Zeit und schaute hinaus in den Weltraum, in die tiefe Nacht, in der zehn Milliarden hübsche weiße Kerzen brannten …
Draußen, vorm kalten Fenster, tuschelte der Schnee. Ein Wind aus dem Nirgendwo ließ das mächtige Haus ächzen.
»Was?«, fragte ich.
»Ich habe nichts gesagt.« Charlie Simmons stand hinter mir am Kamin und schüttete leise Popcorn in ein riesiges Metallsieb. »Kein Wort.«
»Verdammt noch mal, Charlie, ich hab dich doch gehört …«
Verwirrt sah ich zu, wie der Schnee auf ferne Straßen und kahle Äcker fiel. Es war so recht eine Nacht für Gespenster in weißen Gewändern, die am Fenster erscheinen und wieder verschwinden.
»Du bildest dir was ein«, sagte Charlie.
Tue ich das?, dachte ich. Hat denn das Wetter Stimmen? Gibt es eine Sprache der Nacht und der Zeit und des Schnees? Was passiert zwischen der Finsternis dort draußen und meiner Seele hier drinnen?
Denn dort im Dunkel schien just in diesem {13}Moment, ungeleitet vom Schein des Mondes oder einer Laterne, ein riesiger unsichtbarer Taubenschwarm zu landen.
Und war es wirklich der Schnee, der da draußen tuschelte, oder war es die Vergangenheit, eine Wehe von altvertrauten Nöten und Sorgen, die sich zu Ängsten aufgetürmt hatten und nun endlich einen Ausdruck fanden?
»Gott, Charles. Gerade eben, ich könnte schwören, dass du gesagt hast …«
»Was soll ich gesagt haben?«
»Du hast gesagt: ›Wünsch dir etwas.‹«
»Das soll ich gesagt haben?«
Ich hörte sein Gelächter hinter mir, doch ich drehte mich nicht um. Ich schaute weiter in den fallenden Schnee und sagte ihm, was ich sagen musste: »Du hast gesagt: ›Heute ist eine besondere Nacht, eine gute, eine denkwürdige Nacht. Und darum musst du dir das Beste, Teuerste, Denkwürdigste wünschen, was du dir je im Leben gewünscht hast, aus tiefstem Herzen, und es wird dir gewährt werden.‹ Das hab ich dich sagen hören.«
»Nein.« Im Fensterglas sah ich, wie sein Spiegelbild den Kopf schüttelte. »Aber Tom, du stehst seit einer halben Stunde da und bist wie gebannt von dem Schnee. Das war das Feuer im Herd, das da gesprochen hat. Wünsche werden nicht wahr, Tom. {14}Aber …«, und hier hielt er inne und fügte dann einigermaßen verwundert hinzu: »Großer Gott, du hast tatsächlich etwas gehört, nicht wahr? Da. Trink.«
Das Popcorn war fertig. Er goss Wein ein, den ich nicht anrührte. Unaufhörlich fiel vorm dunklen Fenster in fahlen Schwaden der Schnee.