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Auf der Suche nach sich selbst im wildromantischen Moseltal – Ein tiefgründiger Liebesroman mit Herz und Humor. Als Katharina überraschend ein Weingut an der Mosel erbt, ist der erste Eindruck wenig vielversprechend, und der Empfang auf dem Anwesen fällt kühl und abweisend aus. Doch aus der Not heraus entscheidet sie sich, den Betrieb ihres Onkels weiterzuführen. Stück für Stück erobern der Riesling und die Menschen der Region Katharinas Herz – und auch der attraktive Adrian weckt ungeahnte Gefühle in ihr. Bis sie im Keller des Weinguts auf einen geheimnisvollen Brief stößt, der alles zu verändern scheint ...
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Seitenzahl: 412
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Linn Greve stammt aus einem kleinen Ort an der Mosel und ist dort auf einem Weingut aufgewachsen. Sie studierte Anglistik und Französische Philologie in Trier, absolvierte ein Verlagsvolontariat und promovierte anschließend in Sprach- und Übersetzungswissenschaft. Nach Stationen in Nancy, Frankfurt und München lebt sie in Heidelberg, kehrt aber immer wieder gern an die Mosel zurück.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Andreas Harbarth/
Alamy/Alamy Stock Photos
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-132-4
Roman
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR, Hamburg.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Für meine Familie
1
Die Leute tun dauernd so, als könne man was für seine Gefühle. Für seine Taten kann man was, meistens zumindest. Dafür, ob man Sport treibt, für notleidende Menschen spendet, im Kirchenchor singt, den Job wechselt, die ganze Flasche Sekt leer trinkt. Gut, wenn man sie getrunken hat, kann man für einiges, was danach passiert, nicht mehr viel. Aber ganz sicher kann man nichts für seine Gefühle.
Sie überfallen einen, wabern ins Gehirn und dringen tief unter die Haut. Sie sind wie Hunger oder Durst. Nein. Schlimmer. Bei Hunger isst man was, bei Durst … jaja, schon klar, Wasser, keinen Sekt.
Doch bei Liebe?
Hoffnungslos. Sie überkommt dich wie das Spanische Fieber, packt dich wie ein Krake und lässt dich nicht mehr los. Du stehst morgens mit ihr auf, nimmst sie mit zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Treffen mit Freunden. Abends sitzt sie mit dir auf der Couch, kommt mit dir ins Bett, schleicht sich in deine Träume, schrecklich.
Ich hatte ganz bestimmt nicht vorgehabt, mich in Daniel zu verlieben. Allein schon, weil er sehr nett ist, Humor hat und unverschämt gut aussieht. Die Kombination ist absolut verhängnisvoll. Es ist das Ding mit dem Edelpilz und der riesigen Horde Trüffelschweine.
Der Wald, in dem ich mich mit mehreren Hunderttausend anderen witternden Schweinen befand, war Köln. Das … nein, die Frau, die den kostbaren Trüffel ausgegraben hatte und für sich beanspruchte, war meine Chefin Viola. Marketing Director ihrer eigenen Agentur.
»Katharina, ist alles klar für das Meeting um neun Uhr dreißig?«
Ich zuckte zusammen und sah auf. »Was? Ja, natürlich.«
Viola stand in der offenen Bürotür und lächelte auf die ihr eigene, leicht ironische Art. Ihre Eckzähne waren spitz, die aschblonde Mähne trug sie immer offen. Ich wusste, dass sie stolz auf ihr Haar war – ich wusste es von ihrem Mann Daniel.
Daneben hatte ich noch etliche andere Dinge über sie erfahren. Zum Beispiel, dass sie unter ihren Designerjeans mit Vorliebe Daniels Unterhosen trug. Und dass sie im Bett Mascha genannt werden wollte.
Mit dieser Art von Information ist es so eine Sache. Kennst du sie, denkst du immer daran, wenn du die betreffende Person siehst.
Mascha mit den karierten Boxershorts.
»Ist die PowerPoint fertig?« Fragend hob Viola die akkurat gezupften Brauen.
»Äh, ja, klar. Ich habe sie schon auf dem Präsentationslaptop geöffnet.« Bekräftigend nickte ich.
Viola nannte Daniel im Bett manchmal Henry. Genauer gesagt nannte sie seinen Henry Henry. »Das ist aber echt schon länger her«, hatte mir Daniel offenbart. »Seitdem ich dich kenne, ist mit Viola so ziemlich der Ofen aus.«
Ich war mir nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte. Und auch nicht, was genau »so ziemlich« hieß. Meiner Ansicht nach hatte Viola-Mascha immer noch die Zügel in der Hand.
»Du weißt, wie wichtig der Auftrag für uns ist.« In Sekundenbruchteilen konnte sie von ihrem ironischen Lächeln zu Strenge wechseln. Sie war herangekommen und stand neben meinem Schreibtisch. »Ich verlasse mich da auf dich.«
»Du, Viola, mach dir keine Sorgen. Sicher treffen wir mit unserem Konzept genau die Vorstellungen des Kunden.« Ich setzte mein Kompetenzgesicht auf. Das konnte ich gut, es war neben der Unschuld vom Lande, dem Shades-of-Grey-Luder und dem Ich-fasse-es-nicht-wie-konntest-du-nur-Gesicht meine Spezialität.
Viola verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich von oben herab. Zum einen, weil sie stand und ich saß, zum anderen entsprach es ihrer Grundeinstellung, dieses Auf-jemanden-Runterschauen. Sie konnte es sogar, wenn sie einen USB-Stick an einem unter dem Tisch stehenden Computer einstöpselte, während der Beäugte an der großen Präsentationstafel stand. Ein Phänomen. Die angeborene Giraffe.
»Du weißt«, sagte Viola mit ernster Miene, »wir verkaufen keine Werbung, wir entwickeln produktbezogene Lebensgefühle.«
»Der positive framework für das Shampoo steht«, antwortete ich im Expertenton, dabei ließ ich einen Kuli zwischen meinen Fingern tanzen. »Geheimnisvoll, erfolgreich, unwiderstehlich.«
Viola warf ihre Mähne zurück. So wie ich, drückte die Geste aus. Ich sah aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Bürogebäude.
»Dann bis gleich im Besprechungsraum.« Mit elegantem Schwung drehte sich Viola um und verließ das Büro.
Pheromonshampoo – garantiert hatte sie es schon ausprobiert. Die, sagen wir mal, »Datenlage« zu diesen Sexualduftstoffen beim Menschen war äußerst dünn. Nichts Genaues weiß man nicht. Das war aber nicht ausschlaggebend. Unser Job war das Marketingkonzept.
Mein neben der Tastatur liegendes Handy gab einen Signalton von sich. Ich nahm es auf und ließ meinen Finger über das Display gleiten. Eine Nachricht von Daniel.
»Hey, mein schnittiger Schlitten«, las ich.
Daniel war Autoverkäufer. Er arbeitete in der größten BWM-Niederlassung der Stadt. Viola tat oft so, als gehöre ihm der Laden. »Sehen wir uns heute am frühen Abend?«
Mit pochendem Herzen legte ich das Telefon zurück auf die Schreibtischplatte. Natürlich hatte ich Lust, ihn zu »sehen«. Natürlich ging es um mehr, als sich gegenseitig anzugucken. Obwohl ich das auch ziemlich gut fand, ihn zu betrachten und einfach schön zu finden. Sein welliges Haar, das markante Kinn, die meerblauen Augen, dieses jungenhafte Schmunzeln.
Ich zwang mich, nicht sofort zu antworten. Selbst für mich als Affären-Neuling war klar, dass die Angelegenheit schnell ihren Reiz verlor, wenn man immer sofort »Ja sicher, Schatz« sagte. Ich würde nach der Präsentation ein lässiges »Könnte passen, melde mich später« losschicken.
Ein versonnenes Lächeln flog über meine Lippen. Daniel und ich waren uns vor zwei Monaten an Violas Fünfundvierzigstem nähergekommen. Sie hatte eine Grillparty in ihrem Garten ausgerichtet, die ganze Agentur, Freunde und ein paar wichtige Kunden eingeladen.
An einem schmalen Biertisch sitzend war mir eine gegrillte Garnele in hohem Bogen aus ihrer Schale geflutscht und gegenüber auf Daniels Teller gelandet.
»Hoppla.« Grinsend hatte er mir direkt in die Augen gesehen. Dann hatte er das Tierchen auf die Gabel gespießt und sie mir über den Tisch hingestreckt. »Bitte schön. Guten Appetit.«
Mir war das Blut in den Kopf geschossen. Verlegen öffnete ich den Mund, Daniel schob behutsam die Garnele hinein.
Vermutlich war es die beste, die ich je gegessen hatte, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl gehabt, vor Aufregung daran zu ersticken. Ich hatte mit einem großen Glas Weißwein nachgespült. Zwei oder drei Cocktails waren später auch noch im Spiel gewesen und ein bisschen Prosecco.
Viola hatte sich angeregt auf der Veranda unterhalten, Daniel goss mir beim Small Talk mit den anderen Gästen immer wieder nach. »Fisch muss schwimmen.«
Bereitwillig hatte ich mein Glas hingehalten. »So ist es. Nicht fliegen.« Die Garnelen lagen in meinem Magen längst im Alkoholkoma, ich war auf dem besten Weg zu folgen.
»Interessierst du dich für Autos?«, hatte Daniel irgendwann mit rauchiger Stimme gefragt.
»Klar«, antwortete ich voller Überzeugung, ich konnte gar nicht anders. Im Prinzip musste mich das Ding auf vier Rädern nur von A nach B bringen, doch das war in der gegebenen Situation definitiv die falsche Einstellung. »Ich hab sozusagen Benzin im Blut. Mein Papa hatte eine Autowerkstatt.« Frei erfunden, aber gute Güte, bei meinem Job kein Wunder.
»Ich zeige dir meine beiden Schätzchen in der Garage.« Daniel machte eine auffordernde Handbewegung. »Komm.«
Zwischen einem Mercedes SL aus den sechziger Jahren und einem BMW-Coupé war die Sache außer Kontrolle geraten.
Ich hatte überhaupt nicht begriffen, warum Daniel mich küsste, doch vor lauter Verwunderung war mir nichts anderes eingefallen, als den Kuss zu erwidern. Wieso tut ein Mann, der eine Frau wie Viola hat, so etwas?, hatte ich mich den Rest des Abends, die Nacht und viele Tage danach gefragt. Erst später hatte ich verstanden, warum.
Ich sah auf die Uhr, es war kurz vor halb zehn. Seufzend griff ich nach meiner Handtasche, nahm Lippenstift und Kosmetikspiegel heraus und besserte ein wenig nach. Ich mochte meinen Mund mit der vollen, geschwungenen Oberlippe. Wenn ich etwas hätte austauschen können, wären es meine Ohren gewesen.
»Mein kleines Fledermäuschen«, hatte meine Mutter mich früher manchmal genannt. Zum Glück fallen meine Locken drüber, dachte ich noch heute.
Ich klappte den Spiegel zu, dabei rutschte mein Blick zum Handy. Wie ferngesteuert folgte meine Hand und griff nach dem Gerät.
»Total gern. Ich freu mich, um halb sieben bei mir?«, tippte mein Daumen von selbst ins Nachrichtenfeld. Zack, schon flog die Botschaft zu Daniel.
Mist. Fehler. Aber mein verliebter Daumen konnte nichts dafür. Die Kilos, die an ihm dranhingen und deren genaue Zahl ich grundsätzlich nicht wusste, wenn ich verliebt war, waren ebenfalls unschuldig.
Ich stand auf und machte mich auf den Weg.
Auf dem Gang begegnete ich unserer Grafikerin Ariane.
»Morgen, Katharina.« Ihr blonder Pagenkopf vibrierte in einem angedeuteten Nicken. »Wie war dein Wochenende?«
»Super. Sehr schön. Danke.«
Ich hatte den ganzen Samstag darauf gewartet, dass Daniel sich meldete. Vergeblich.
»Na, meins auch.« Ariane verzog die Mundwinkel. »Mein Freund hatte Magen-Darm.«
»Oh.« Mein Oberkörper bog sich ein Stück von ihr weg. »Shit.«
»Kann man so sagen.«
Gemeinsam gingen wir über den hell ausgeleuchteten Gang zum Besprechungsraum. Die Flurwände waren mit gerahmten Fotos von Produkten verziert, für die wir Kampagnen gemacht hatten – Lakritz, Autolack, Duschgel, Katzenfutter, Damenbinden … Manchmal versuchte ich im Vorbeigehen, die Dinge miteinander in Beziehung zu setzen. Bei Autolack und Damenbinden gelang mir das irgendwie, der Rest war schwierig.
Mit einem frischen »Guten Morgen« betraten Ariane und ich den Raum. An dem großen ovalen Glastisch saßen ein kahlköpfiger Mann und eine Frau mit burgunderrot gefärbter Kurzhaarfrisur, Herr Metzger und Frau Torf von der Firma X-Ray Beauty. Viola goss Ralf Metzger gerade aus der chromglänzenden Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein.
Freundlich begrüßte ich ihn und seine Kollegin. »Katharina Korn, wir haben ja bereits telefoniert. Das ist unsere Grafikerin Ariane Marker.«
Ralf Metzger rieb über seinen blanken Schädel. »Genau. Schön, Sie zu sehe. Jetzt simma escht g’spannt, was Sie für uns Feines g’zaubert henn.«
Grundsätzlich hatte ich nichts gegen Dialekte. Wobei einige einen Mann – und sei es der Zwillingsbruder von Brad Pitt – in ein Neutrum verwandelten.
»Ich bin sicher, unser Konzept wird Sie überzeugen«, erwiderte ich und begab mich nach vorn zum Präsentationspult. Der Laptop lief schon, ich schaltete den Beamer an.
Frau Torf, ihren Vornamen kannte ich nicht, griff nach einem Keks, schob ihn zwischen die schmalen Lippen und kaute.
»Wir sehen das Alleinstellungsmerkmal Ihres Produkts, des neuartigen X-Ray-Shampoos, natürlich in seiner Wirkung«, begann ich, die erste Folie der PowerPoint öffnend. Viola saß mittlerweile mit übereinandergeschlagenen Beinen am Glastisch, ihr rechter Fuß wippte in einem Acht-Zentimeter-Stiletto.
»Elektrisierend, fesselnd, unwiderstehlich. Mit zwei verschiedenen Ausführungen des Shampoos sprechen wir einmal Männer und einmal Frauen an. Das heißt, wir haben auch bei den Werbemitteln eine klare Zielgruppentrennung nach Geschlechtern: das Produkt für den Mann, der auf Frauen wirken möchte, und umgekehrt.« Ich zwinkerte Ralf Metzger zu. »So weit logisch.«
»Und was ist mit den ganzen Lesben und Schwulen?«, warf Frau Torf ein. »Gerade hier in Köln wimmelt’s doch davon.«
»Guter Punkt.« Ich hob den Zeigefinger. »Diese Zielgruppe adressieren wir nach erfolgreicher Markteinführung in einer zweiten Phase, vornehmlich über Anzeigenschaltungen in einschlägigen Print- und Onlinemedien.«
Ralf Metzger nickte zufrieden und schlürfte einen Schluck Kaffee.
»Zunächst zu dem Produkt für die Frau, ›X-Ray Tamara‹.« Ich klickte die nächste Folie an, eine dunkelrote, phallusartige Shampooflasche wurde an die weiße Wand hinter mir projiziert. »Das ist unser Verpackungsentwurf«, erklärte ich. »Klare Linienführung, assoziationsstarke Haptik, Eyecatcher im Supermarktregal.«
»Ui.« Anerkennend klappte Ralf Metzger die Unterlippe nach vorn. »Da kommt schonemal en gewisses Interesse auf.«
Seine Kollegin nahm noch einen Keks.
»Sie sagen es«, bestätigte ich. Neben Frau Torf setzte Viola ihr leicht spöttisches Lächeln auf.
»Für den Werbespot fahren wir ein stringentes Konzept«, erklärte ich weiter. »Die Kernfrage bei der Ausarbeitung war: Wovon sind Männer am meisten fasziniert?«
Ich dachte an meine Freundin Valerie. »Ach Kat, Männer sind eher einfach. Mehr so wie Pflanzen«, pflegte sie zu sagen. »Stell sie ins Licht und gib ihnen zu trinken.«
Mit einem Klick auf die Fernbedienung blendete ich die nächste Folie ein. »Die Antwort ist klar: Fußball und Autos.«
»Na ja.« Frau Torf blickte skeptisch. »Da gibt es schon noch ein paar andere Dinge, die …«
Viola unterbrach sie. »Sicher, sicher. Erfolg, eine schöne Frau, ein nettes Eigenheim.« Mein Mann hat das alles, schwang in meinen Ohren bei ihren Worten mit. »Doch diese Männer sind nicht unsere Zielgruppe. Sie sind versorgt und wenig abenteuerlustig.«
Wenn du wüsstest, dachte ich.
»Im Kern sind Fußball und Autos die Themen des Mannes, den wir mit X-Ray adressieren.« Viola stand auf und stakste auf ihren High Heels nach vorn. »Einfache, starke Konzepte. Doch der Clou ist: ›X-Ray Tamara‹ ist stärker.« Sie machte eine auffordernde Geste. »Bitte, Katharina.«
Ich ließ die nächste Folie an der Wand erscheinen. »Hier sehen Sie, grafisch skizziert, das Setting für unseren Werbespot.« Meine Stimme klang verheißungsvoll. »Eine gut besuchte Eckkneipe, ein Hort männlicher Geselligkeit. Auf einem Großbildschirm wird ein EM-Endspiel übertragen. Es steht unentschieden nach Verlängerung, das Elfmeterschießen beginnt. Die Spannung erreicht ihren Siedepunkt, die Kneipe gleicht dem Heizraum der Titanic. Das Testosteron läuft förmlich die Fensterscheiben runter, geballtes Hoffen und Bangen, gefletschte Zähne.« Ich hielt inne. Seiner Miene nach zu urteilen wusste Ralf Metzger genau, wovon ich sprach. Einige Sekunden ließ ich die Szenerie wirken. »Unser Protagonist«, fuhr ich fort, »wir dachten an den Typus George Clooney in jung, starrt wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Und dann …«
Ralf Metzger hatte den Mund halb geöffnet. »Und dann?«, fragte er gespannt.
»Dann kommt sie.« Ich klickte auf die Fernbedienung, die Folie wechselte. Arianes Visualisierung der nächsten Szene erschien. »Die ›X-Ray Tamara‹-Verwenderin. Wir dachten hier an den Typus Frau Müller, durchschnittlich attraktiv, Mitte, Ende dreißig. Sie öffnet die Kneipentür, kommt rein, schüttelt ihr brünettes Haar. Suchend schaut sie sich um. Unzählige Männeraugenpaare huschen kurz zu ihr hin und wieder zurück zum Bildschirm. Frau Müller kommt auf George zu. Als sie neben ihm steht, hebt er den Kopf, nimmt Witterung auf, wendet sich vom Fußballspiel ab. Gebannt sieht er sie an.« Ich fixierte Ralf Metzger. »Die Blicke der beiden hängen aneinander fest.« Mein Blick klebte an dem kahlen Kopf von Ralf Metzger. »Es ist pure Magie. ›Ich habe einen Platten‹, sagt Frau Müller. ›Können Sie mir helfen?‹ – ›Natürlich‹, haucht George und erhebt sich mit fasziniertem Ausdruck. ›Lassen Sie uns gehen. Ich habe nichts anderes vor.‹ Wie in Trance verlässt er mit Frau Müller das Lokal. Eine kernige Männerstimme, untermalt von Saxofonklängen, intoniert unser Motto. ›X-Ray – du bist stärker‹.« Ich klickte auf eine Taste, an der Wand erschien der Slogan in purpurroter Schrift auf schwarzem Grund.
»Donnerwetter.« Ralf Metzger hob den Daumen. »Des isch stark.« Er wischte ein paar Schweißtropfen von der Stirn. G’kauft, tät ich sage.«
2
Es war mir nur knapp gelungen, rechtzeitig aus der Agentur rauszukommen. Ich hatte mit einem anderen Kunden eine Verabredung zum Mittagessen gehabt, danach lag der übliche Schreibtischkram an. Und als ich gegen siebzehn Uhr aufbrechen wollte, kam Viola in mein Büro. Es ging um Kinkerlitzchen, denen sie den Stempel »dringend und wichtig« aufgedrückt hatte. »Katharina, das muss heute noch erledigt werden, kümmerst du dich bitte darum?«
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass ich vor einem Date mit Daniel von Viola aufgehalten worden war. Das ungute Gefühl, dass sie Verdacht geschöpft haben könnte, war wieder aufgekommen.
Vor einer Weile hatte ich Daniel darauf angesprochen. »Meinst du, sie ahnt etwas?«
»Ach was. Viola ist mit sich beschäftigt und von sich überzeugt. Eine betrogene Frau zu sein, kommt für sie überhaupt nicht in Frage. Und ganz sicher käme sie nicht auf dich.« Er hatte kurz aufgelacht und an meinem Ohrläppchen gezupft.
»Wie soll ich denn das verstehen?«
»Du sollst gar nichts verstehen. Küss mich.«
Es gab eine Redensart, wonach man, beschönigend ausgedrückt, seinen Haufen nicht dorthin setzen sollte, wo man seine Nahrung aufnahm. Mir war klar, dass ich mit dieser Daniel-Affäre nicht nur mein Seelenheil, sondern auch meinen Job riskierte.
Abgehetzt schloss ich die Tür zu meiner Zwei-Zimmer-Wohnung in der Kölner Südstadt auf und trat in die Diele. Es duftete nach Zimt, ich mochte diesen Geruch – auch im Sommer. Er erinnerte mich an meine Mutter.
Ich ließ meine Handtasche auf die kleine Kommode fallen, an dem Spiegel darüber hing ein Foto meines Katers Tobi. Er war immer angetapst gekommen und hatte mich begrüßt, wenn ich zur Tür hereingekommen war, darin war er einem Hund ähnlich gewesen. Oder einem Mann, der sich freut, dass seine Liebste wieder da ist.
Letztes Weihnachten dann hatte ich Tante Elfie, eine Cousine meiner Mutter, zum Essen eingeladen. Ein schlimmer Fehler, wie sich herausgestellt hatte. Sie hatte einen Fisch für Tobi mitgebracht.
»Ist der auch ohne Gräten?«, fragte ich.
»Aber natürlich, Kindchen.«
Noch immer habe ich Tobis Röcheln im Ohr. Während Tante Elfie den Truthahn tranchierte, kotzte er auf den Wohnzimmerteppich, japste und schrie. Sein Maul krampfte, die Augen traten aus ihren Höhlen.
»Oh, mein Gott! Luftröhrenschnitt!«, schrie Elfie. Als ehemalige Krankenschwester sprang sie beherzt mit dem Truthahnmesser zu Tobi. »Halt ihn fest!«
Ich war starr vor Schreck.
»Los, mach! Der erstickt sonst.«
Zitternd hatte ich versucht, den panischen Tobi zu fixieren. Er wehrte sich und kratzte, blutige Striemen liefen über meinen Unterarm, ich fühlte keinen Schmerz. Elfie kniff die Augen zusammen, zielte und stach das Messer in Tobis Kehle.
Ein noch nie gehörtes Kreischen war in meine Ohren gedrungen. Unmittelbar darauf wurde mit einem pfeifenden Geräusch Luft durch den Schnitt in die kleine Katzenlunge gesogen. Der nächste Atemzug folgte, dann weitere. Ich starrte Tobi an, sein getigertes Fell, das Köpfchen, die weißen, spitzen Zähne. Nach einigen Sekunden schien sich sein Körper zu entspannen, er schlug nicht mehr um sich, wurde ruhiger, atmete fiepend ein und aus.
»Wir müssen in die Tierklinik«, hatte ich gestammelt.
»Und der Truthahn?«
Ich hatte geglaubt, mich verhört zu haben.
Ein paar Minuten später waren wir mit meinem Wagen durch die Stadt gerast. Als wir bei der Klinik ankamen, war Tobi bereits sehr schwach gewesen. Er hatte es nicht geschafft.
Elfie hatte ich seitdem nicht mehr gesehen.
Ich ging in mein Wohnzimmer und warf die eben aus dem Briefkasten gezogene Post auf den Esstisch. Die Uhr an der Wand gegenüber zeigte zwanzig nach sechs.
Frisch machen, Make-up erneuern, Wohnung aufräumen, Wein entkorken, Häppchen richten, entspannt aussehen … illusorisch, in zehn Minuten nicht zu schaffen. Prioritäten setzen. Erstens: auf Toilette gehen.
Gerade hatte ich mich dort niedergelassen, als es klingelte. Unverrichteter Dinge stand ich wieder auf, zog meine Jeans hoch und sauste zur Sprechanlage neben der Wohnungstür.
»Hallo?« Es war erstaunlich, wie viel sinnliche Vorfreude man, selbst mit voller Blase, in fünf Buchstaben packen konnte.
»Ich bin’s.« Es klopfte an der Tür.
Die Stimme war knarzig und definitiv nicht Daniels. Allerdings war sie mir ebenfalls gut bekannt. Ich öffnete.
Mein dreiundsiebzigjähriger Nachbar stand auf dem Gang und hielt mir eine Glasschale hin.
»Herr Wientapper. Was fehlt denn diesmal?«, fragte ich.
»Ach, Fräulein Korn, hätten Sie etwas Mehl für mich? Ich wollte Pfannkuchen machen. Die Eier habe ich schon aufgeschlagen, da hab ich bemerkt, dass …« Das faltige Gesicht wirkte ratlos, die wasserblauen Augen hatten einen verschwommenen Glanz.
»Ja, sicher. Moment, ich hole welches.«
Ich hastete in die Küche, öffnete einen der Hängeschränke, fing eine Packung Pfefferminztee ab, die mir entgegenfiel, und griff auf Zehenspitzen gereckt nach dem Mehl. Damit kehrte ich zu der offen gelassenen Wohnungstür zurück – Herr Wientapper war verschwunden. Mal wieder.
»Hier bin ich«, kam es verhalten aus meinem Wohnzimmer.
Klar, dachte ich und betrat den Raum.
Ernst Wientapper saß zusammengesunken am Esstisch, vor ihm stand ein kleines Fläschchen Underberg, das er vermutlich aus der Tasche seiner braunen Cordhose gezogen hatte. Er drehte ihm den mit Papier umwickelten Hals auf. »Mir war gerade nicht so gut. Ich dachte, ich setze mich kurz hin.« Zitternd hob er die kleine Flasche an seine dünnen Lippen und trank.
Ich nahm neben ihm Platz. »Das tut mir leid. Wieder wegen Ihrer Frau?«
Traurig nickte Ernst Wientapper, sein grauer Haarkranz lief um einen altersfleckigen Kopf herum. »Es ist so einsam in meiner Wohnung ohne Maria.«
»Das kann ich gut verstehen.« Mitfühlend legte ich meine Hand auf den Ärmel der fusseligen Strickweste.
»Ich weiß.« Ernst Wientapper sah auf die Tischplatte. »Deshalb fehlt mir ja so oft was in der Küche.«
Ich konnte ihn wirklich verstehen. Nach dem Tod meiner Mutter war ich wochenlang wie ferngesteuert durch die Gegend gelaufen. Ich hatte nicht mehr schlafen und nicht mehr essen können, die Trauer hatte in meinem Körper wie Säure gefressen.
Mein Blick huschte zur Uhr, hörbar atmete ich ein.
»Herr Wientapper, ich bekomme gleich Besuch. Aber ich könnte später noch einmal kurz bei Ihnen vorbeischauen.« Mein aufmunterndes Lächeln geriet etwas schief. »Es wäre toll, wenn Sie mir einen Pfannkuchen aufheben würden.«
Ernst Wientapper griff in seine Westentasche, ein weiterer Underberg-Zwerg kam zum Vorschein.
»Och, nee, Herr Wientapper. Das ist doch auch keine Lösung.«
Schon knackte der Drehverschluss, mein Nachbar kippte sich den Schnaps in den Hals. »Wenigstens macht es warm im Bauch«, sagte er matt.
Vom Flur her schrillte die Klingel, ich sprang auf. Daniel war pünktlich. Was allerdings daran lag, dass er meist auch pünktlich wieder gehen wollte.
Dazwischen kamen einmal »Ferrari« und einmal »Limousine«.
»Pfannkuchen im Bauch wärmt auch«, meinte ich noch zu Herrn Wientapper, drei Sekunden später stand ich an der Sprechanlage.
Mein »Hallo« hatte dieses Mal eher Paketbotenqualität.
»Ich bin’s.« Daniel klang ausgesprochen gut gelaunt.
Ich drückte auf den Öffner, zog mir den Zopfgummi heraus, schüttelte mein Haar zurecht, klopfte mir ein bisschen Röte in die Wangen und riss die Wohnungstür auf.
In trainiertem Sprint erschien Daniel am Treppenabsatz. Er spurtete über den Gang, stürmisch drückte er mir einen Kuss auf den Mund.
»Gut siehst du aus.«
Und du erst, dachte ich. Fatal gut. Sein Haar war zurückgegelt, die oberen Knöpfe des seidigen hellblauen Hemds standen offen.
Im Dunst seines Hermès-Dufts, der allein schon ausreichte, um mich ihm vor die Füße zu werfen, betrat er die Wohnung.
»Ich brauche erst mal ein Glas Wasser.« Schnurstracks begab er sich ins Wohnzimmer.
Seinen trapezförmigen Rücken und den knackigen Hintern bewundernd folgte ich ihm dorthin.
»Hallo?« Fragend schaute er zu Herrn Wientapper, dann zu mir.
»Das ist mein Nachbar. Er wollte gerade gehen.«
Herr Wientapper blieb sitzen.
»Gell, Herr Wientapper«, sagte ich auffordernd.
Zögerlich erhob er sich. »Gut, dann will ich mal.« Er griff nach seiner leeren Glasschale und schlurfte zur Tür.
»Stopp, Ihr Mehl.« Ich schnappte die neben den zwei Underberg-Fläschchen stehende Packung vom Tisch und reichte sie ihm.
»Ach so, stimmt. Danke.«
»Bis später.« Lächelnd nickte ich ihm zu. Anschließend verschwand ich in der Küche, um Mineralwasser und zwei Gläser zu holen. Die Wohnungstür fiel ins Schloss.
Zurück im Wohnzimmer, stellte ich Flasche und Gläser vor Daniel. Er saß mit breit ausgestreckten Beinen am Esstisch.
»Stilles Wasser hast du nicht?«
»Oh. Nein, gerade nicht. Leitungswasser könnte ich dir bringen.«
»Nee, lass mal, geht schon.« Er goss sich ein und trank, die Schlucke glucksten in seiner Kehle, der spitze Adamsapfel hüpfte auf und ab.
»Bin gleich wieder da«, säuselte ich und eilte ins Bad.
Kurz darauf rauschte die Toilettenspülung. Leider war das eher unromantisch. Zu Beginn einer Liebesbeziehung möchte man am liebsten ein Wesen ohne Ausscheidungen sein. Ist biologisch aber schwierig.
Erleichtert kam ich wieder ins Wohnzimmer. Daniel saß da, er grinste herausfordernd. In seinem Mund befanden sich eindeutig die schönsten Männerzähne, die ich kannte. Mir wurde warm.
»Ich habe heute ein 8er Coupé verkauft.« Er klang so was von unanständig.
»Ach.«
»Allerdings. In Sunset Orange metallic.« Demonstrativ leckte er über seine Oberlippe. »Cognacfarbene Ledersitze, 530 PS, von null auf hundert in 3,7 Sekunden. Höchstgeschwindigkeit zweihundertfünfzig.«
»Das ist schnell, oder?« Unschuld-vom-Lande-Gesicht.
»Acht Zylinder, 4,4-Liter-Motor. Modifiziertes Kurbelgehäuse, Turbolader, Benzin-Di-rekt-ein-sprit-zung.« Komm-her-du-Luder-Gesicht.
»Oh«, hauchte ich.
»Doppelquerlenker-Vorderachse, Fünflenker-Hinterachse bei maximaler Steifigkeit.« Auf Daniels Stirn glitzerten Schweißtropfen, sein Becken schob sich auf dem Stuhl ein Stück nach vorn. »Der Schlitten geht ab wie die Luzzi. Allererste Sahne. Liegt auf der Straße wie ein Brett.« Er verengte die Augen zu Schlitzen. »So hart.«
»So hart?«
»Wie ein B-r-e-t-t.« Langsam stand er auf und öffnete seinen Gürtel. »Ein PS-Bolide. Ein Wunderwerk der Technik, spektakuläre Optik, engagiertes Fahrwerk, knackiges Heck.« Die graue Anzughose glitt an seinen Beinen entlang zu Boden, in der dunkelblauen Boxershorts zeichnete sich eine beeindruckende Beule ab. »Willst du ihn dir ansehen?«
Verlegenes Backfischgesicht. »Wenn ich darf.«
»Nur zu.« Forsch zog mich Daniel zu sich heran, meine Hand wanderte zu seiner Körpermitte. Kurz darauf lagen wir auf dem Teppich.
Der Rennbolide riss mich in einer wilden Fahrt mit sich. Mein Körper verschmolz mit Daniels, mit seiner warmen Haut, den kräftigen Muskeln, eine unglaubliche Energie durchlief mich. Ich war gleichzeitig hellwach und völlig woanders. Das Gefühl war nicht von dieser Welt, und manchmal machte es mir Angst.
Einige sagen, dass sich eine Frau spätestens in einen Mann verliebt, wenn sie zum dritten Mal Sex mit ihm hat. Demnach hätte ich schon am ersten gemeinsamen Abend mit Daniel keine Chance mehr gehabt.
Nach ein paar Minuten lagen wir erschöpft nebeneinander, Daniels Atem klang heiß an meinem Ohr.
Die Abendsonne fiel durchs Fenster und kitzelte meine Stirn. Das Licht war mild, es gab Daniels gebräunter Haut den Ton von Waldhonig.
»Ich hab heute nicht so viel Zeit.« Seine Fingerspitzen strichen über meine Schulter. »Viola hat für halb acht einen Tisch im ›Eclaire‹ reserviert. Sie will irgendwas mit mir besprechen.«
In meiner Magengegend grummelte es. Gleichzeitig stieg Enttäuschung auf.
»Keine Ahnung, um was es geht. Vielleicht um unseren Sommerurlaub«, fügte Daniel an.
Die Teppichwolle juckte an meinem Rücken.
»Sie hat mal was von Barbados gesagt.« Daniel neigte den Kopf zur Seite und schmunzelte. »Mir soll’s recht sein. Mit meiner Provision von heute können wir dort schon ein paar Rumcocktails trinken.«
Meine rechte Hand schob sich nach hinten und kratzte. Dabei verdrängte ich aufkommende Bilder von Daniel und Viola, wie sie Arm in Arm am Strand entlangschlenderten.
»Wie war’s bei euch heute?«, hörte ich ihn fragen.
Meistens sagte er »euch«, und meistens störte es mich. Wollte er wissen, wie es bei mir gewesen war oder bei Viola? Oder saßen sie und ich zusammen im selben Job-Topf, und er wollte einfach hören, ob die Tagessuppe gelungen oder versalzen war?
»Gut«, antwortete ich. »Meine Präsentation kam super beim Kunden an. Wir bekommen den Auftrag für dieses Shampoo.«
»Toll. Das ist klasse.«
Ich glaubte, Erleichterung in seiner Stimme zu hören.
Er drückte mir einen Kuss auf die Schläfe. »Du bist überhaupt klasse.« Seine Lippen rutschten herunter zu meinem Hals, er begann, sanft daran zu saugen. »Ich bin ein echter Glückspilz«, flüsterte er. »So eine klasse Frau zu haben.«
Meine Hand kam zwischen Teppich und Rücken hervor. Behutsam griff Daniel danach und lenkte sie zu seinem Bauch. Dann tiefer. Unverkennbar wurde die Limousine aus der Garage gefahren, bereit für den Sonntagsausflug.
»Lass uns rüber ins Schlafzimmer«, hauchte ich. Ein bisschen mehr Bequemlichkeit konnte nicht schaden.
»Gern.« Daniel stand auf.
Einige derangierte Kleidungsstücke hingen an verschiedenen Stellen meines Körpers. Mir kam eine Vogelscheuche in den Sinn. Charmant lächelnd drängte ich den Gedanken zur Seite, richtete mich auf und streifte überflüssigen Stoff ab. Daniel reichte mir seine Hand, um mich ins Schlafzimmer zu führen.
Ich fand es etwas befremdlich, nackt Wege zurückzulegen, einzig mit der Absicht, am Zielort Sex zu haben. Gehen diente sonst immer anderen Zwecken, einkaufen gehen, spazieren gehen, zur Arbeit gehen, ausgehen. Zum Sexzielort hingegen müsste man eigentlich schweben oder sich hinbeamen.
Mein Bettzeug lag so da, wie ich am Morgen herausgekrochen war, die Daunendecke formte noch eine kleine Höhle. Hätte ich vorhin mehr Zeit gehabt, wäre das Plumeau jetzt aufgeschüttelt, frisch gefaltet und … zack, egal, ich lag schon drauf. Mit gierigem Blick hatte mich Daniel auf die Matratze geschubst, unmittelbar darauf presste sich sein Körper auf meinen.
Der gefederte Jaguar Sovereign schnurrte, die Fahrt begann.
Er glitt durch üppig grüne, hügelige Landschaften, an einem schattigen Wald entlang und durch kleine verträumte Dörfer. Ich genoss es in vollen Zügen, die Sonne schien, am blauen Himmel standen weiße Schäfchenwolken.
Irgendwann erreichten wir einen funkelnden See. Daniel parkte den Wagen, stieg aus und hielt mir die Tür auf. Hand in Hand liefen wir zu dem kleinen Ruderboot, das am Ufer schaukelte.
Kurze Zeit später trieben wir aufs Wasser hinaus. Es war magisch. Gemeinsam sprangen wir über Bord in die Fluten und versanken aneinandergeklammert darin.
»Hättest du Lust, übernächstes Wochenende mit mir nach Hamburg zu fahren?« Daniels Stimme klang von weit her.
»Hm?« Einen Moment lang wusste ich nicht genau, wo ich war und ob wir mit unserem Bötchen tatsächlich bis zur Elbe kämen.
»Ein kleiner Ausflug. Nur wir beide. Ich habe dort eine Verkaufsschulung.« Er drehte sich auf die Seite, seine Miene war zärtlich und entspannt.
»Echt?« Über dem See ging förmlich ein Feuerwerk los, ich freute mich riesig. »Natürlich. Wahnsinnig gern. Endlich haben wir mal ein bisschen mehr Zeit für uns.«
»Na ja.« Über Daniels Nase kerbte sich eine Furche ein. »Tagsüber werde ich beschäftigt sein, womöglich auch den Samstagabend, essen gehen und so, du weißt, wie das ist. Aber du kannst durch die Stadt bummeln, ein bisschen shoppen, ins Café …«
Eine der Feuerwerksraketen plumpste ins Wasser, ohne zu zünden. Der romantische Wochenendtrip hatte kleine Schönheitsfehler.
Egal.
Es ging ums Prinzip. Daniel wollte mehr von mir als kurze, heimliche Treffen.
»Die Sekretärin der Geschäftsleitung hat für mich nur ein Einzelzimmer reserviert«, fuhr er fort. »Ich schaue, ob ich noch was für dich im selben Hotel bekomme.«
»Wie? Schlafen wir nicht zusammen?« Rakete Nummer zwei zischte kläglich und blieb in ihrer Abschussvorrichtung stecken.
»Machst du Witze?« Daniel lachte auf. »Natürlich schlafen wir zusammen. Was denn sonst?«
Er bemerkte meine kritische Miene, sanft küsste er mich. »Du bist hinreißend. Ich bin verrückt nach dir. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es mich so erwischen würde.«
Puff. Ein riesiger Goldregen funkelte herab. Ich schmiegte mich an Daniels Brust, die Haut duftete nach seinem Eau de Toilette.
Mein Ex-Freund Tim hatte im Bett oft nach Zwiebeln gerochen, einmal hatte ich ihn darauf angesprochen. Er war tagelang beleidigt gewesen.
Wir hatten uns im letzten Jahr an Karneval kennengelernt, Tim war als Spaceshuttle verkleidet gewesen und ich als Rotkäppchen. Immerhin hatte es bis zum Karneval in diesem Jahr gehalten. Allerdings war die Beziehung so eine gewesen, die man hat, damit man eine hat. Freunde, einen Job, eine Wohnung, Urlaubsreisen, zwei, drei Leute, die man nicht leiden kann, Figurprobleme, Partyeinladungen, eine Beziehung …
Das mit Daniel fühlte sich völlig anders an.
Leise seufzte er auf. »Ich wünschte, ich könnte ewig hier liegen bleiben.«
»Dann tu’s doch.« Versonnen strich ich über sein Brusthaar. »Wir lassen uns eine Pizza kommen, und du rufst Viola an, dass du noch in der Firma zu tun hast.«
»Bitte, Katharina, du weißt, dass das nicht geht.« Behutsam schob er meinen Arm zur Seite und sah auf seine Uhr. »Ich muss los. Viola hasst es, wenn man zu spät kommt.«
Ich kräuselte die Lippen. »Fühlst du dich nicht komisch dabei, mit einer Frau das Bett zu teilen und kurz darauf mit der anderen den Tisch?«
»Och, Kati, nicht schon wieder. Ich hatte dir das doch erklärt.«
»Hattest du?«
Daniel stand auf. »Ja. Viola und ich sind eben ein gutes Team. Ein eingespieltes power couple. Etliche meiner Kunden verdanke ich ihren Kontakten.« Sein Ton war trocken. »Nenn es Win-win-Beziehung.«
»Und was bringst du ein? Naturalien?« Ich konnte mich nicht beherrschen.
»Pfh.« Daniel verließ das Schlafzimmer.
Schmollend zog ich die Decke bis zum Kinn hoch. Das war noch so eine fiese Sache an der Liebe. Es machte einen schier krank, zu teilen oder auch nur einen Krümel Mann abzugeben. Im Prinzip hielt ich mich für einen großzügigen Menschen. Aber beim Verliebtsein hörte der Spaß auf.
Angezogen kam Daniel zum Bett zurück. Er beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Tschüss, Süße.«
»Mrrh«, murrte ich. »Grüß Viola.«
»Mach ich … nicht.« Er steuerte die Tür an und hauchte mir von dort einen Luftkuss zu. »Ich freu mich auf Hamburg.«
Gegen meinen Willen flog ein Lächeln über mein Gesicht. »Ich mich auch.«
Augenzwinkernd verschwand er.
In seinen Duft gehüllt lag ich da, die Decke umklammernd, als sei sie sein Körper. Ich ließ meine Gedanken treiben, sie wanderten Richtung Norden. Daniel und ich saßen zusammen in einem kleinen Café an der Elbe, mächtige Schiffe zogen an uns vorbei, eine sanfte Brise spielte mit meinem Haar.
»Kati, ich glaube, ich lasse mich scheiden. Im Gegensatz zu Viola wollte ich immer eine Familie gründen. Wir könnten zusammen ganz von vorn anfangen.«
Der Kellner kam heran und stellte zwei Gläser Prosecco vor uns. Ich stieß mit Daniel an und versuchte, meine überwältigende Freude im Zaum zu halten.
»Arrgh!« Die Phantasie schickte mir Schauer über den Rücken, ich vergrub mein Gesicht im Kissen und biss hinein. Ich wollte Daniel so sehr wie noch keinen Mann zuvor.
In einer Mischung aus Vorfreude und Verzweiflung schälte ich mich aus den Federn und tappte auf blanken Sohlen ins Wohnzimmer. Staubteilchen tanzten in den durchs Fenster fallenden Sonnenstrahlen. Ich griff nach Daniels Wasserglas und trank es leer.
Meine Fingerspitzen streiften den kleinen Stapel Post auseinander, der auf dem Esstisch lag. Zuunterst kam ein beiges Kuvert zum Vorschein, »Amtsgericht Bernkastel-Kues« stand als Absender darauf. Verwundert setzte ich mich und öffnete den Brief.
3
»Geerbt? Von Ihrem Onkel?« Ernst Wientapper überflog das auf dem Tisch liegende Schreiben. Ich spießte ein Stück Apfelpfannkuchen auf die Gabel und steckte es in meinen Mund. Es schmeckte ausgezeichnet, nach heiler Welt an einem gemütlichen Nachmittag. Wer brauchte schon Pasta mit Périgord-Trüffeln und teuren Rotwein?
Daniel und Viola.
Weg mit dem Bild.
»Sieht so aus«, meinte ich. »Onkel Balthasar war der Bruder meiner Mutter, aber wir hatten so lang keinen Kontakt, dass ich mich gar nicht richtig an ihn erinnern kann. Ich weiß nicht, was mich bei dieser Testamentseröffnung auf dem Amtsgericht erwartet.« Kauend runzelte ich die Stirn. »Sie waren doch bei der Stadt beschäftigt. Können Sie mir sagen, um was es da geht?«
»Nun ja.« Ernst Wientapper schob das bedruckte Blatt Papier ein Stück von sich weg. »Offenbar liegt dem Amtsgericht Bernkastel ein Testament Ihres Onkels vor. Der Rechtspfleger hat die in Betracht kommenden Personen zu einem Eröffnungstermin geladen. Dabei wird der Letzte Wille des Verstorbenen verlesen.«
»Vorher erfahre ich nicht, was ich geerbt haben soll?«
»Im Prinzip nicht. Nachdem Sie es erfahren haben, bleiben Ihnen sechs Wochen Zeit, das Erbe anzutreten oder auszuschlagen.«
»Eine ziemliche Wundertüte.« Ich griff nach meinem Pilsglas. Sein Goldrand war stumpf und abgerieben, aber das Bier schön frisch. Ein ordentlicher Schluck floss meine Kehle herunter.
»Womöglich schon«, sagte Ernst Wientapper. »Einfach ist es natürlich mit Barvermögen, Schmuck, Aktien. Da sagt man selten Nein. Bei Immobilien kann die Angelegenheit schon anders aussehen, sie sind aber oft ein Gewinn.« Er hielt inne und trank ebenfalls, sein faltiger Hals erinnerte mich an den eines Leguans. »Heikel sind Unternehmen, kleine genauso wie größere Betriebe. Damit verbunden sind Personalverantwortung, laufende Verbindlichkeiten, mitunter schlechte Bilanzen. Manchmal erbt man einfach einen Berg Schulden.«
»Tolle Aussichten.« Ich strich über die gemusterte Wachsdecke des Küchentischs. An der Wand gegenüber hing ein großes gerahmtes Foto von Herrn Wientapper und seiner Frau. In die obere rechte Ecke war eine goldene Fünfzig geklemmt. Kurz nach der Goldenen Hochzeit war Maria Wientapper gestorben.
»Haben Sie gar keine Ahnung, was Ihnen Ihr Onkel Balthasar hinterlassen hat?« Ungefragt landete ein weiterer Pfannkuchen auf meinem Teller. Somit musste ich morgen wieder ins Fitnessstudio.
»Nun ja, ich habe im Internet nachgeschaut. Balthasar Glück besaß ein Weingut.«
»Oha.« Ernst Wientapper trank noch einen Schluck Bier.
»Das heißt?«
»Es gibt solche und solche. Wo liegt es?«
»An der Mosel.«
»Hm.«
»Was hm?« Etwas nervös beförderte ich einen großen Bissen Pfannkuchen in den Mund.
»Maria und ich waren mal dort. Damals mit unserer Clique, auf einer Weinprobiertour. Zweiundachtzig war das, glaube ich. Nein, dreiundachtzig. Im Herbst. Der Wein war nicht schlecht, schön süß. Maria hat sich die Finger nach einer Beerenauslese geleckt.« Ernst Wientappers Blick wanderte zu dem Goldhochzeitsfoto, die Augen wurden feucht. Er nestelte ein kariertes Stofftaschentuch aus seiner Cordhose und schnäuzte sich.
»Ich habe so eine vage Kindheitserinnerung«, beeilte ich mich zu sagen, um ihn vom Weinen abzulenken. »Wir waren einmal zu dritt bei Onkel Balthasar, als Papa noch lebte, ich war acht oder neun. Das ist fast dreißig Jahre her. Ich erinnere mich, dass wir bei einer Schweinekälte in einem richtig steilen Weinberg standen und klamm-feuchte Trauben in Bütten gepflückt haben. Die musste man hinter die Weinstöcke klemmen, damit sie nicht auf Nimmerwiedersehen den Hang runtergerollt sind. Die Reben waren tropfnass, ich konnte meine Hände kaum bewegen, und auf der Erde unter den Stöcken gab es unzählige kleine Nacktschnecken.« Überzeugt schüttelte ich den Kopf. »Wenn Sie mich fragen, eigne ich mich überhaupt nicht zur Winzerin.«
»Ja, die Hänge an der Mosel sind steil«, pflichtete Ernst Wientapper bei. »Das macht eine Menge Arbeit.«
»Meine Menge Arbeit wartet in der Agentur«, erwiderte ich. »Dort ist es warm und trocken, und unter dem Schreibtisch leben keine Tiere.« Ich brachte das Apfelaroma in meinem Mund mit einem Schluck Bier zusammen. »Ihr Pfannkuchen schmeckt übrigens ausgezeichnet.«
Ernst Wientapper lächelte wehmütig. »Das Rezept ist von Maria.«
Schon wieder trauervermintes Gebiet. »Ich habe versucht, mir Onkel Balthasar in Erinnerung zu rufen«, sagte ich rasch. »Er war älter als meine Mutter, ich habe ein Bild von einem großen, kräftigen Mann im Kopf. Er wirkte auf mich streng und nicht besonders freundlich. Wir haben in dem Weingut übernachtet, das Haus war riesig und kalt. Ich habe mich in der Dunkelheit gefürchtet und bin über knarzende Dielen aus meinem Zimmer in den Flur geschlichen. Aus dem Erdgeschoss klangen Mamas und Balthasars Stimmen hoch, sie stritten.« Während ich sprach, wurde das Gefühl von damals seltsam greifbar. Ich presste meinen Rücken an die gepolsterte Lehne der Eckbank.
In Herrn Wientappers Küche schien die Zeit langsamer zu laufen, das Leben war gelebt, und für den unbedeutenden Rest gab es keine Eile mehr.
»Irgendwie hatte ich das alles vergessen«, fügte ich leise an. »Diesen Besuch an der Mosel. Balthasar ist nicht auf der Beerdigung meiner Mutter vor sechs Jahren gewesen und hat auch nichts von sich hören lassen. Ich habe mich darüber gewundert, stand aber selbst so neben mir, dass ich mich nicht weiter darum gekümmert habe.«
»Und nun erben Sie offenbar«, sagte Ernst Wientapper nachdenklich. »Fahren Sie am Freitag zu der Testamentseröffnung?«
»Habe ich denn eine Wahl?«
»Sie müssen nicht. In dem Fall ist das Erscheinen freiwillig.«
»Ach so?« Eigentlich ändert das aber nichts, dachte ich. Ich bin viel zu neugierig, um nicht zu fahren.
»Doch, ich werde hingehen.«
Verklärung trat in Herrn Wientappers Züge. »Es könnte sein, dass damals an der Mosel unser Robert entstanden ist.« Er kicherte leise. »Maria hat seinerzeit so etwas angedeutet.«
Robert. Soweit ich wusste, war der Sohn der Wientappers Manager bei einer größeren Firma in Süddeutschland und hatte wenig Zeit für seinen Vater.
»Ich würde so gern noch mal an die Mosel«, sagte Ernst Wientapper sehnsüchtig.
Was aber nicht bedeutete, dass ich Zeit für ihn hatte.
Die Vorstellung, mich bei dieser Fahrt ins Ungewisse auch noch um meinen trauernden, schnapsaffinen Nachbarn kümmern zu müssen, schreckte mich ab.
Ich aß einen letzten Bissen und schob den Teller von mir weg.
»Puh, ich kann nicht mehr. Außerdem muss ich wieder in meine Wohnung, um noch ein paar Sachen zu erledigen.«
»Ich packe Ihnen den Rest ein.« Ernst Wientapper deutete zur Servierplatte, auf der noch zwei fette Pfannkuchen lagen. »Der schmeckt auch zum Frühstück gut.«
»Nein, nein. Bitte nicht.« Energisch winkte ich ab. »Ich trinke morgens nur einen Detox-Smoothie.«
»Bitte was?«
»So einen Saft.«
»Das reicht doch nicht.«
»Doch, da sind ganz viele Nährstoffe drin, Mineralien und …«
»Unsinn.« Erstaunlich flink erhob sich Ernst Wientapper. Er angelte eine Rolle Frischhaltefolie aus einem der Hängeschränke und zog eine durchsichtige Haube über die Servierplatte. Mit strengem Gesicht reichte er sie mir.
»Mitnehmen. An Ihnen ist ohnehin nichts dran.«
Widerstand erschien mir zwecklos. »Okay, danke. Dann noch einen schönen Abend.«
»Bis bald.« Ernst Wientapper blinzelte mir zu, er wirkte, als sei ein Funken Leben in ihn zurückgekehrt.
Wenig später kamen die Kalorienbombe und ich in meiner Wohnung an. Ich stellte den Pfannkuchenteller auf dem Esstisch ab, um sofort nach meinem danebenliegenden Handy zu greifen. Junkie Katharina. Seit zwei Monaten abhängig von Nachrichten eines gewissen Daniel S.
Tatsächlich hatte er geschrieben.
»Das war spitze eben. Ich denk an dich.« Dahinter standen ein Kuss-Smiley und eine Rakete.
Sofort durchströmte mich wieder diese Wärme. Zu gern hätte ich Daniel angerufen, um ihm die Neuigkeiten mit der Testamentseröffnung zu erzählen. Doch vermutlich war der Zeitpunkt gerade unpassend.
»Magst du Moselwein?«, fragte ich geheimnisvoll zurück.
Gespannt auf seine Antwort trat ich ans Fenster. Unten auf der Straße herrschte wie immer Betrieb. Menschen eilten ihrem Ziel entgegen, Autos verstopften die Fahrbahnen, jeder wollte irgendwohin. Mein Blick blieb an einer Frau hängen, die ein kleines Mädchen in einem geblümten Kleid an der Hand hatte.
Ich überlegte, versuchte, Bilder und Eindrücke aus meiner Kindheit hervorzuholen und einzuordnen.
Nicht allzu lang nach unserem damaligen Besuch bei Onkel Balthasar musste Papa gestorben sein. Er war oft von zu Hause weg gewesen, arbeitete bei einem großen Unternehmen, das Asphaltmischanlagen herstellte. Bei der Inbetriebnahme einer Anlage in Tunesien war er abgestürzt und tödlich verunglückt. Er war einfach nicht mehr heimgekommen.
Wahrscheinlich war es für meine Mutter damals schlimmer als für mich gewesen. Ich kannte Papa fast nur von gemeinsamen Urlauben oder den Weihnachtsferien, den Rest des Jahres war er dauernd unterwegs. Nach seinem Tod lebten Mama und ich allein. Manchmal hatte sie so traurig ausgesehen, dass ich alles getan hatte, um sie aufzumuntern.
Heute wusste ich, dass der Schmerz, einen geliebten Menschen verloren zu haben, tatsächlich nicht mehr wegging. Doch ich hatte gelernt, damit zu leben. Die Trauer riss mich nicht mehr als Monsterwelle mit sich fort, mittlerweile war sie eher ein plätschernder Bach, der nur noch ab und zu anschwoll.
Auf dem Fensterbrett vor mir stand meine kleine Kakteensammlung, ich hatte sie von Mama übernommen. Den drei größten hatte ich Namen gegeben: Torben, Rita und Fiffi. Der dicke, runde Torben hatte eine pinkfarbene Blüte bekommen. Sie war noch nicht geöffnet, ich freute mich darauf, sie demnächst in ihrer ganzen Pracht zu bewundern.
Kakteen konnten ziemlich alt werden, einige bis zu zweihundert Jahre. Meine Drillinge schafften es bei guter Pflege vielleicht bis zur Volljährigkeit.
Ich griff nach der kleinen Messingkanne und gab jedem von ihnen ein paar Tropfen Wasser.
Mein Handy piepte. Sofort stellte ich die Kanne ab, huschte zum Tisch und ließ meinen Finger über das Display gleiten.
»Brrr. Nee.«
Daniels Antwort.
»Bin gerade auf der Toilette«, kam es hinterher. »Im Resto wartet ein satter Bordeaux auf mich.«
Ich nestelte die Folie von Herrn Wientappers Teller und riss ein Stück von dem obersten Pfannkuchen ab, um es in meinen Mund zu stopfen. Kauend schlurfte ich zur Couch und ließ mich darauf fallen.
Eine mitteljunge, berufstätige Singlefrau sah sich am Abend einem bunten Strauß häuslicher Aufgaben gegenüber: Wäsche waschen, bügeln, aufräumen, putzen, etwas Leichtes zu essen richten … Ich schluckte den süßen, fettigen Pfannkuchenbrei runter, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher an.
»Innerhalb der einzelnen Gruppen gibt es häufige Sexualkontakte mit wechselnden Partnern, mitunter auch im Austausch gegen Nahrung.«
Gebannt starrte ich auf den Bildschirm.
»In rund einem Drittel der Fälle erfolgt die Kopulation mit zugewandten Gesichtern, unterschiedlichste Stellungen werden praktiziert. Es gibt Zungenküsse und Oralverkehr.«
Vor einem grünen Blätterdach betätigten sich zwei kleine Affen in einer eindeutigen Position.
»Man geht davon aus, dass das Sexualverhalten dem Abbau von Spannungen und der Bestätigung von Hierarchien innerhalb der Gruppe dient. Es erscheint als völlig selbstverständlicher Teil des Soziallebens.«
Die beiden Affen lösten sich voneinander und sprangen in entgegengesetzte Richtungen davon.
»Bei einer Kopulationsdauer von zehn bis fünfzehn Sekunden erfolgen die einzelnen Akte beiläufig zwischen Nahrungsaufnahme und Körperpflege.«
Eigentlich müsste ich mir noch die Haare waschen, dachte ich. Morgen früh ist wieder keine Zeit dafür.
Ich schaltete den Fernseher aus und hievte mich von der Couch. Im Vorbeigehen nahm ich den Rest des obersten Pfannkuchens vom Teller und aß ihn auf.
4
»Ähj, das ist so eine Scheißschinderei.« Valerie keuchte auf dem Crosstrainer neben mir, Schweiß lief ihr das puterrote Gesicht herunter. »Ich hasse Sport. Am liebsten würde ich’s lassen.«
»Dann tu’s doch.« Meine Beine taten weh, mein Puls erreichte demnächst zweihundertzehn.
»Damit ich noch fetter werde?«
»Du bist nicht fett.«
»Als meine Freundin musst du das ja sagen.« Sie japste nach Luft.
»Als deine Freundin muss ich dir die Wahrheit sagen.«
Es war die Wahrheit. Valeries Figur war weiblich gerundet, Ecken und Kanten zeigte sie nur in ihrem Charakter. Die Kurven standen ihr ausgezeichnet, wäre ich ein Mann gewesen, hätte ich mich sofort in ihr Dekolleté und ihren Hintern verliebt. In die inneren Werte sowieso.
Sie schüttelte eine weizenblonde Haarsträhne zurück, die sich aus dem geflochtenen Zopf gelöst hatte. »Danke schön. Aber warum du dich in diesem Laden quälst, ist mir nach wie vor ein Rätsel.«
»Erstens, weil ich deine Freundin bin, und zweitens, weil ich drei Tonnen Apfelpfannkuchen davon abhalten muss, sich auf meinen Hüften niederzulassen.«
Das Surren und Klackern der Fitnessgeräte erfüllte den Raum. In heller Neonbeleuchtung schindeten sich etwa zwei Dutzend Städter nach einem hektischen Bürotag an unterschiedlichen Foltermaschinen.
»Wenn du bald im Weinberg stehst, brauchst du ein paar Reserven auf den Hüften.« Valerie kicherte. »Und von dem ganzen Auslesetrinken wirst du eh aus dem Leim gehen.«
»Haha. Vermutlich erbe ich nur ein paar alte Fotoalben oder allenfalls das Familiensilber«, erwiderte ich außer Atem. Der Schmerz in meinen Beinen wurde stechend. »Offenbar hatten Mama und Balthasar kein gutes Verhältnis zueinander. Warum sollte er mir irgendwas Wertvolles vererben?«
»Stimmt auch wieder.« Valeries Armbewegungen wurden langsamer, sie schaltete einen Gang zurück. »Hast du Daniel schon die Neuigkeiten erzählt?«
»Nee. Er hat sich seit gestern Abend nicht mehr gemeldet. Violas gute Laune heute im Büro fand ich reichlich ätzend.« Ich wollte das Thema wechseln. »Wie war’s bei dir in der Praxis?«
»Och, über gute Laune konnte ich mich nicht beschweren.« Valerie reduzierte ihr Tempo weiter, mittlerweile wirkten ihre Bewegungen wie in Zeitlupe. »Mir ist ein Sechser abgebrochen. Die Reste rauszuoperieren, hat mir total den Zeitplan versaut. Dabei guckt der Alte mich an, als sei es meine Schuld, dass die Zähne des Patienten so marode waren wie aufgegebene Plattenbauten.«
Der »Alte« war Dr. Rudolph Schneidmüller und Valerie eine in seiner Praxis angestellte Zahnärztin. Ihr zufolge unterbezahlt und ausgebeutet.
»Eine eigene Praxis wäre was«, meinte sie zum wiederholten Mal. »Wenn bloß diese horrende Finanzierung nicht wäre.«
»Reich heiraten«, stieß ich hervor.
»Phh. Wenn ich reich heirate, überlege ich mir zweimal, ob ich noch arbeiten gehe.« Sie hielt an. Mit dem um ihren Nacken gelegten Handtuch wischte sie über das schweißglänzende Gesicht. »Hängt ein bisschen von den Aussichten auf eine reiche Scheidung ab.«
»Falls ich ein Vermögen erbe, teile ich mit dir.« Abrupt hörte ich ebenfalls mit dem Arme-Beine-vor-Zurück auf. »Mir reicht’s. Lass uns was trinken gehen.«
»Jep.«
***
Etwa eine halbe Stunde später saßen wir frisch geduscht mit glänzenden Nasen vor unseren Cocktailgläsern.
Genüsslich schlürfte ich ein Schlückchen Strawberry Margarita über den gezuckerten Glasrand. Das Tolle an Alkohol nach dem Sport war, dass schon nach kleinsten Mengen die rosa Watte im Kopf aufpuffte. Man wurde quasi von Millilitern angenehm beduselt und konnte am nächsten Morgen ohne Kater ins Büro.
Natürlich waren hinsichtlich Kondition und Kalorienverbrennung Cocktails nach dem Sport wie die Echternacher Springprozession: zwei Schritte vor, einer zurück. Andererseits wäre es ohne den Cocktail danach motivationstechnisch womöglich gar nicht zum Sport gekommen.
Valerie und ich hatten zwei Plätze am Tresen ergattert. Das »Saga« war eine unserer Lieblingsbars. Dunkles Holz, gemütliche Ledersessel, eine schummerig warme Beleuchtung, attraktive Gäste in den Dreißigern und Vierzigern. Und heute ein neuer Barmann hinter der Theke.
Valerie war in Stimmung, der gute Mann fiel in die Kategorie »Schnittchen«. Sie drückte ihren Rücken durch und brachte den wesentlichen Teil des Oberkörpers zur Geltung. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, leckte sie über ihre Lippen und lächelte vielsagend. Der Barmann lächelte zurück. Sein kaffeebrauner Teint ließ die weißen Zähne regelrecht leuchten.
Valerie setzte den Schlafzimmerblick auf. »Sie haben wundervolle Inzisivi.«
Im Leben weiß der Typ nicht, was das ist, dachte ich. Ich wusste es nur, weil meine Freundin den Spruch nicht zum ersten Mal gebracht hatte. Normalerweise funktionierte er gut, um ins Gespräch zu kommen. Nach einer kurzen Erklärung freuten sich erstaunlich viele Männer über das Kompliment zu ihren Schneidezähnen.
»Danke schön«, sagte der Barmann ohne einen Anflug von Überraschung. »Sie auch.«
»Ich bin vom Fach«, hauchte Valerie.
Mit gesenkten Lidern trank ich einen ordentlichen Schluck Erdbeerglück. Manchmal war es mir ein bisschen peinlich, wie Valerie ranging.
»Ich auch«, sagte der Barmann. »Zehntes Semester Zahnmedizin.«
»Ach. Tatsächlich?« Ihr Interesse steigerte sich hörbar. »Wenn das kein Zeichen ist.« Glockenhell lachte sie auf. »Also, ich praktiziere seit drei Jahren selbstständig in einer kleinen, nun ja, mittelgroßen Praxis …«
Ich drehte mich auf meinem Barhocker zur Seite und klinkte mich mental aus. Beiläufig lockerte ich mit der linken Hand mein Haar, griff mit der rechten nach dem Cocktailglas und hob es an die Lippen. Dabei sah ich zur Eingangstür. Sie öffnete sich.