Das Wunder in Roberts Leben - Hatice Aktas - E-Book

Das Wunder in Roberts Leben E-Book

Hatice Aktas

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Beschreibung

Robert, ein junger Software-Ingenieur, kämpft gegen eine plötzlich aufgetretene Sinn- und Lebenskrise, die er sich nicht erklären kann. Um auf andere Gedanken zu kommen und vom regnerischen Herbstwetter Abwechslung zu haben, bucht er spontan einen kurzen Strandurlaub. Während es Urlaubs macht er unerwartete nette Bekanntschaften mit ein paar Einheimischen. Manche unbedachten Bemerkungen und Fragen dieser fremden Menschen führen dazu, dass er nach seiner Rückkehr besonders einer Frage nachgeht. Zu seiner großen Überraschung findet er dadurch ein Geheimnis seiner Familie heraus, das ihn völlig erschüttert, wodurch seine heile Welt und sein geordnetes Leben ins Wanken gerät. Erst nach mühsamen Recherchen und auf ungewöhnlichem Weg findet er die Antwort auf seine Frage. Er erfährt auch einige andere verborgene Geheimnisse seiner Familie, die ihm sogar Antworten auf die Fragen aus seiner Kindheit geben

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„Mache dir keine Sorgen, wenn dein geordnetes Leben durcheinandergewirbelt wird und aus den Fugen gerät; woher willst du wissen, dass es nicht besser sein wird als dein bisheriges geordnetes Leben…“

Semsi Tebrizi

(persischer Mystiker und Dichter; 1185-1248)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Die Leere und die Sehnsucht

Kapitel 2: Urlaub mit unerwarteten Erlebnissen

Kapitel 3: Schockierende Entdeckung

Kapitel 4: Mühsame Recherche

Kapitel 5: Hoffnungsvolle Anreise

Kapitel 6: Unerwartete Entdeckung

Kapitel 7: Wunder des Lebens

Kapitel 1: Die Leere und die Sehnsucht

Robert ist mit seinem Fahrrad unterwegs und macht seine kleine Fahrradtour in die nahe Umgebung. Es ist Freitagnachmittag. Freitags macht er immer nach dem Mittag Feierabend. Er nutzt den freien Nachmittag meistens für das Fahrradfahren in der Natur. Denn am Ende einer Arbeitswoche tut es ihm gut, sowohl vom Arbeitsstress der Woche abzuschalten und einen freien Kopf zu bekommen als auch an der frischen Luft körperlich aktiv zu sein. Deshalb versucht er meistens vom Frühling bis Herbst bei trockenem Wetter nach der Arbeit mit dem Rad zu fahren, wie jetzt auch, Mitte September.

Er ist nun seit über zwei Stunden unterwegs. Nach einer Weile merkt er, dass er müde wird und macht Halt an einem Feldweg. Etwas weiter oben sieht er einen Baum. Er steigt von seinem Fahrrad runter, nimmt seine Trinkflasche, die seitlich an seinem Fahrrad befestigt ist und setzt sich unter den Baum. Nachdem er einige Schluck Wasser getrunken hat, lehnt er sich zurück und schaut sich um. Auf der linken Seite gibt es ein Feldweg, der in das nahegelegene Dorf führt, auf der rechten Seite sieht er Felder und Wiesen. Die Wiesen sind nicht mehr grün, sondern mittlerweile gelblich. Weit und breit ist niemand zu sehen. Es ist sehr ruhig.

Er schließt seine Augen. Seine Gedanken schweifen ab und er fängt zu grübeln an. Er spürt wieder dieses komische Gefühl der Leere. Warum fühlt er sich so? Warum ist er seit den letzten Wochen und Monaten so antriebs- und lustlos?

Warum macht ihm nichts mehr Spaß? Warum kommt ihm alles belanglos und sinnlos vor? Er kann sich nicht erinnern, dass er früher derartige eigenartige Gedanken und Gefühle gehabt hat. Eigentlich müsste er sehr zufrieden und glücklich sein, denn er arbeitet seit ein paar Jahren als Software-Ingenieur in seinem Traumberuf, der ihm großen Spaß macht und auch sehr gut bezahlt wird. Er hat nette Kollegen und einen Vorgesetzten, der seine Leistungen schätzt.

Er hat eine Freundin, mit der er seit drei Jahren glücklich zusammen ist. Auch über seinen kleinen, aber langjährigen Freundeskreis kann er sich nicht beklagen. Er ist gesund und hat keine körperlichen Handicaps oder Beschwerden.

Aber seit einiger Zeit kommen in ihm immer wieder diese komischen Gedanken hoch, vor allem wenn er allein ist, wie jetzt auch. Ihm fällt ein, dass er diese Gefühle der Leere in letzter Zeit auch dann verspürt, wenn er nicht allein ist, wie zum Beispiel letztes Wochenende bei der Geburtstagsfeier eines Freundes. Inmitten vieler Leute hat er sich auf einmal einsam gefühlt und alles um ihn herum erschien ihm so belanglos. Was ist mit ihm los? Hat er etwa eine Depression oder Burnout? Derartige psychischen Probleme sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Deshalb ist es auch oft in den Medien und man spricht mittlerweile offen über dieses Thema, weil viele Menschen davon betroffen sind. Auch sogar Schulkinder. Burnout kann er nicht haben, denn er fühlt sich nicht im Berufsleben überfordert. Klar, dass im Berufsalltag manchmal sehr stressig ist, vor allem, kurz bevor ein Projekt zum Abschluss kommt und die Projektvorstellung beim Kunden ansteht. Aber so etwas ist normal. Positiver Stress soll sogar nützlich sein, denn sonst wäre es zu langweilig und eine Unterforderung kann genauso krank machen wie ständige Überforderung. Hat er etwa eine Depression? Er kann es sich nicht vorstellen, dass er depressiv ist. Leidet er eventuell an einem sogenannten Herbstblues? Dann fällt ihm ein, dass er sich eigentlich bereits seit dem letzten Frühling so eigenartig fühlt. Mit seinen erst siebenundzwanzig Jahren kann er auch nicht unter der sogenannten Midlife-Crisis leiden. Was hat er nur? Soll er zum Arzt gehen?

Was soll er dem Arzt sagen? Dass ihn alles langweilt, ihm nichts mehr Spaß macht und eine komische Leere in ihm gibt? Der Arzt würde ihm bestimmt empfehlen, einen Psychologen aufzusuchen. So etwas will er auf keinen Fall. Denn er ist nicht der Typ Mensch, der über sich und seine Gefühle oder Sorgen vor anderen sprechen kann. Auch nicht vor einem Psychologen. Er kann mit niemandem über so etwas sprechen, nicht einmal mit seiner Freundin. Es ist, als ob er eine Schwäche zeigen würde. Er will auf keinen Fall, dass sie so ein Bild von ihm hat. Sie würde bestimmt denken, dass er depressiv wäre.

Das ist er aber nicht. Es muss etwas anderes sein, aber er weiß nicht, was es ist. Vielleicht sind diese eigenartigen und unguten Gefühle nur vorübergehend da und sind bald wieder weg. Er schaut auf seine Sportuhr an seinem Armband und stellt fest, dass es schon spät ist. Es wird auch langsam dunkel. Am Himmel haben sich bereits dunkle Wolken gebildet. Gleich könnte es anfangen zu regnen. Höchste Zeit zurückzufahren. Er nimmt sein kleines tragbares Radio aus seiner kurzen Hosentasche, macht es an, um die aktuelle Wettervorhersage des Regionalsenders zu hören. Es läuft gerade ein sehr bekanntes altes Lied von der früher berühmten Pop Gruppe Abba. Robert kennt fast alle Lieder von Abba, weil seine Mutter seit ihrer Jugend ein großer Abba-Fan ist und zu Hause oft Lieder von Abba gespielt wurden. Manchmal hatte sie laut mitgesungen. Robert schließt die Augen und hört diesem schönen, aber etwas traurigem Lied zu.

Chiquitita tell me what’s wrong…

You’re enchained by your own sorrow…

In your eyes there is no hope for tomorrow… Als ob dieses Lied seine jetzige Psyche beschreiben würde. Nachdem das Lied zu Ende ist, sitzt er immer noch mit geschlossen Augen da.

Auf einmal hat er einige Szenen aus seiner Kindheit vor seinen Augen. Er erinnert sich an die glücklichen Momente mit seiner Mutter, in denen sie zusammengespielt und gemeinsam gebastelt oder gemeinsam Kinderlieder gesungen haben. Wenn er manchmal Trost gebraucht hat, dann war er zu seiner Mutter gelaufen und sie hatte ihn in die Arme genommen und geküsst. Danach fühlte er sich wieder besser. Er verspürt eine große Sehnsucht nach seiner Kindheit. Oder ist es eher die fehlende Geborgenheit, die er als kleiner Junge bei seiner Mutter hatte? Plötzlich fängt es zu regnen an. Er steht sofort auf, steigt auf sein Fahrrad und fährt los. Er muss schnell zurückfahren, bevor er völlig nass wird. Während der Rückfahrt hat er den Song von Abba immer noch im Ohr…

Chiquitita tell me what’s wrong…

You’re enchained by your own sorrow…

In your eyes there is no hope for tomorrow…

Als er an einer großen Kreuzung ankommt, schaltet die Verkehrsampel gerade auf Rot um. Er ärgert sich, weil es lange dauert, bis diese Ampel auf Grün umschaltet. Der Regen wird viel stärker. Es schüttet buchstäblich viel Wasser vom Himmel. Während er wartet und gebannt auf die Ampel schaut, fällt ihm ein großes Werbeplakat auf, das über der Ampel quer über die Straße angebracht ist. Es zeigt einen sehr schönen und sonnigen Sandstrand, grüne Palmen, bunte Liegen und ein grenzenloses blaues Meer. ‚Wie wäre es mit Sonne tanken, bevor der kalte Winter kommt?‘ steht in großen Buchstaben über dieses Bild. Am liebsten wäre er jetzt dort.

Während er das Bild anschaut, stellt er sich gedanklich vor, dort zu sein. Plötzlich hört er ein Hupen. Er hat nicht bemerkt, dass die Verkehrsampel bereits auf Grün umgeschaltet hat.

„Genug geträumt“ sagt er sich und fährt los.

In Schweden gibt es aufgrund seiner geographischen Lage viel weniger sonnige Tage als in südlicheren europäischen Ländern. Hat sein negatives Gemüt etwa mit weniger Sonne zu tun?

Das kann aber eigentlich nicht der Grund sein, denn er lebt seit seiner Geburt in Schweden und kennt es nicht anders. Als Kind war er mit seinen Eltern auch in Italien und Spanien im Urlaub gewesen, aber meistens war es für ihn zu heiß und jedes Mal hatte er sich gefreut, als sie wieder zurück waren. Wieder daheim zu sein war schön. Irgendwie fühlt er sich aber nicht mehr so sehr daheim. Jedenfalls nicht innerlich.

Endlich kommt er an der Wohnung seiner Freundin an. Er ist vom starken Regen völlig durchnässt.

Schnell schließt er die Wohnungstür auf und läuft rein. Er riecht bereits in der Diele den Essensgeruch und merkt, dass er großen Hunger hat. Seine Freundin hat wie jeden Freitag Fisch gebraten. Dazu gibt es meistens gebratene Kartoffeln und Salat.

„Schatz, ich gehe schnell duschen!“ ruft er laut von der Diele aus und geht direkt ins Badezimmer. Er zieht schnell seine nasse Kleidung aus und springt in die Dusche. Als das warme Wasser über seinen Kopf und Körper runter-fließt, schließt er seine Augen. Er hat das Reisewerbeplakat mit dem sonnigen Strand vor den Augen, welches er soeben gesehen hat. Er stellt sich gedanklich vor dort zu sein, wie er am Strand liegt, die Sonne sein Gesicht und seinen Körper erwärmt.

„Schatz, ist bei dir alles ok?“ hört er plötzlich seine Freundin rufen. Er schiebt die Duschkabinentür zur Seite und sieht seine Freundin an der halb geöffneten Badezimmertür stehen.

„Ja, klar! Warum fragst du?“

„Weil Du so lange unter der Dusche bist!“

„Ach so! Ich bin gleich raus!“

Er hat gar nicht gemerkt, dass er diesmal viel länger unter der Dusche war als sonst. Wahrscheinlich, weil seine Gedanken bei diesem sonnigen Strandbild hängengeblieben sind.

Wochenenden verbringt Robert immer bei seiner Freundin. Manchmal übernachtet er bereits ab donnerstags bei ihr, wenn sie Donnerstagabend ausgehen oder wenn er manchmal den Freitag frei nimmt. Samstags gehen sie fast immer aus. Sonntags gegen Abend fährt er nach Hause zurück. Er wohnt noch bei seiner Mutter, beziehungsweise lebt noch mit seiner Mutter in dem elterlichen Einfamilienhaus zusammen. Nach dem unerwarteten plötzlichen Tod seines Vaters durch einen Herzinfarkt vor etwa zwei Jahren wollte er seine Mutter nicht sofort allein lassen und ist deshalb nicht mit seiner Freundin zusammengezogen.

Er ist schon immer Mamas-Liebling gewesen. Als er klein war, hat er immer viel mehr Zeit mit seiner Mutter verbracht als mit seinem Vater.

Zu seinem Vater hat er nie ein enges und vertrautes Verhältnis gehabt; deshalb haben sie auch nicht viel Zeit miteinander verbracht.

Oder weil sie wenig Zeit miteinander verbracht haben, war das Verhältnis nicht so nah wie mit seiner Mutter? Er weiß es nicht. Er erinnert sich nur daran, dass sein Vater ihm das Fahrradfahren beigebracht hat und ein paar Mal mit ihm angeln war. Auch da war sein Vater immer sehr ruhig und hatte kaum mit ihm geredet.

Vielleicht weil sein Vater ein eher ruhiger Mann war, der wenig gesprochen hat? Wie Robert auch. Aber dennoch war immer eine unsichtbare Wand zwischen ihnen. Er hatte kein inniges Verhältnis zu seinem Vater. Deshalb hat seine Mutter ihm immer die Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, dann seine vielen Fragen beantwortet und ihm einen Gute-Nacht-Kuss gegeben, bevor sie das Licht ausgemacht hat. Seitdem Robert denken kann, hat er eine sehr enge Beziehung zu seiner Mutter. Seitdem Tod seines Vaters ist sein Verhältnis zu seiner Mutter noch enger geworden.

Aber langsam könnte er seine Mutter eigentlich allein lassen und zu seiner Freundin ziehen.

Seine Mutter ist über den plötzlichen Tod seines Vaters schon lange hinweg. Durch ihren Beruf als Lehrerin ist sie auch viel unter Menschen. Nebenbei arbeitet sie als ehrenamtliche Mitarbeiterin in einer sozialen Einrichtung, in der sie zweimal in der Woche den Kindern von ausländischen Familien Nachhilfestunden gibt.

Des Weiteren ist sie auch Mitglied in der Kirchengemeinde und arbeitet aktiv an den Veranstaltungen der Kirche mit, um Spenden für karitative Zwecke zu sammeln. Seine Mutter ist deshalb sehr bekannt und geschätzt sowohl in der Kirchengemeinde als auch in der Kleinstadt, in der sie leben. Ihre freundliche und hilfsbereite Art kommt bei vielen Menschen gut an. Er ist sehr stolz auf sie. Seine Freundin Annika ist wie seine Mutter zufällig auch Lehrerin, aber sie arbeitet nicht in der gleichen Schule.

Annika ist Mitte zwanzig und ist eine hübsche Frau mit hellblonden Haaren und blauen Augen.

Kennengelernt haben sie sich auf der Geburtstagsparty eines gemeinsamen Freundes. Sie hatte sogar den ersten Schritt gemacht und Robert angesprochen. Nach einem kurzen Smalltalk hatten sie ihre Telefonnummern ausgetauscht und sich bereits am nächsten Abend in einem Café getroffen. An dem Abend hatten sie sich lange unterhalten und gemerkt, dass sie sich sehr sympathisch sind. Bereits vier Wochen später waren sie schon zusammen. Seitdem sind fast drei Jahre vergangen. Robert könnte langsam ans Heiraten denken, aber irgendwie hat er gar keine Lust auf eine Heirat. Er hofft, dass der Wunsch auf eine Heirat und Ehe noch kommen wird. Seine Mutter hat ihn auch schon ein paar Mal gefragt, ob es nicht langsam Zeit wäre, mit seiner Freundin zusammenzuziehen und eine eigene Familie zu gründen. Mit eigener Familie meint sie selbstverständlich Kinder. Robert ist nicht einmal sicher, ob er überhaupt Kinder will.

Noch kann er sich mit so etwas nicht anfreunden. Vielleicht kommt das noch.

„Hey, wo bist Du mit deinen Gedanken?“

„Oh, habe ich gar nicht gemerkt. Vielleicht an diesem großen Reisewerbeplakat, das mir auf dem Weg hierher aufgefallen ist, worauf ein sehr schönes sonniges Strandbild abgebildet ist.

Wenn ich das regnerische Wetter hier sehe, möchte ich am liebsten sofort in den Flieger und für ein paar Tage irgendwohin, wo noch viel Sonne scheint.“

„Leider ist der Sommer hier schon vorbei. Jetzt müssen wir warten bis wieder Frühling ist.“

„Oh je noch so lange!“ seufzt Robert.

„Oder wir machen unseren Thailandurlaub bereits in den Winterschulferien“ schlägt sie vor.

„Das ist aber dann kein Strandurlaub, sondern eher eine Rundreise“ antwortet Robert, nachdem er einen Schluck von seinem Wein getrunken hat.

Erst zwei Monate zuvor hat er mit seiner Freundin und einem befreundeten Paar Urlaub gemacht, aber es war nur ein Wanderurlaub. Das Wetter war zwar meistens trocken und warm, aber es war kein Strandurlaub. Als Abwechslung wollten Sie eine Fernreise machen und nach Thailand fliegen. Eine zehntägige Rundreise mit ein paar Tagen Strandurlaub im Anschluss.

Nach dem Abendessen haben Robert und seine Freundin fast immer den gleichen Ablauf. Er räumt den Esstisch auf, seine Freundin räumt das Geschirr in die Spülmaschine ein. Danach schauen sie gemeinsam einen Film an und liegen kuschelnd auf der Couch. Der Abend endet mit Zärtlichkeiten auf der Couch und dann im Bett.

Mitten in der Nacht wacht Robert plötzlich auf.

Er hat einen trockenen Hals. Er steht auf und geht in die Küche, um Wasser zu trinken. Während des Trinkens schaut er aus dem Küchenfenster nach draußen. Es ist zwar dunkel, aber man merkt, dass es immer noch regnet, denn die Regentropfen schlagen gegen die Fensterscheibe.

Ihm fällt wieder das Werbeplakat ein. Sonne, Strand, Leben. Leben wie Lebendigkeit. Genau das ist es. Er fühlt sich nicht mehr lebendig.

Als würde er nur noch existieren und funktionieren, aber nicht mehr leben. Als wäre die Lebendigkeit in ihm erloschen und ausgestorben.

Vielleicht würde ihm ein kurzer Tapetenwechsel guttun. Wenn er doch kurzfristig ein paar Tage frei nehmen und einfach wegfliegen könnte! Egal wohin. Hauptsache irgendwohin, wo viel Sonne ist. Seufzend stellt er das leere Glas hin und geht wieder zurück ins Bett. Er kann nicht sofort einschlafen und liegt noch lange wach.

Als Robert am nächsten Morgen aufwacht und sich zur Seite dreht, bemerkt er, dass seine Freundin nicht neben ihm liegt. Er schaut auf die Uhr und stellt fest, dass es bereits elf Uhr ist. Ihm ist klar, wo seine Freundin sein muss, denn sie ist bestimmt wie jeden Samstagvormittag auf den Wochenmarkt gegangen, um frisches Gemüse und Obst zu kaufen. In dieser Hinsicht ist seine Freundin genauso wie seine Mutter.

Seine Mutter geht auch immer jeden Samstagvormittag auf den Wochenmarkt. Gut, dass die beiden gerne einkaufen gehen, denn so etwas ist überhaupt nichts für ihn. Generell mag er einkaufen nicht. Er schaut aus dem Fenster. Es regnet immer noch. Wahrscheinlich wird die nächsten Tage weiter regnen. Wenn der Regen einmal anfängt, dann dauert er einige Tage. Er wird langsam auch keine Fahrradtouren mehr machen können, auch weil schneller dunkel wird.

Dafür wird er wieder ins Fitnessstudio gehen oder bei trockenem Wetter in dem nahegelegenen Park oder in dem Wald joggen.

Samstag abends gehen Robert und seine Freundin immer aus. Entweder allein oder mit Freunden.

Vorher gehen die beiden meistens zu ihrem Lieblingsitaliener. Danach gehts in eine Bar oder Diskothek. Heute Abend hat Robert keine Lust auszugehen. Er hat das Gefühl, unendlich müde zu sein, obwohl er ausgeschlafen ist. Aber er will kein Spielverderber sein und mit seiner Freundin ausgehen. Vielleicht wird ihm das Weggehen und Freunde zu sehen guttun. Oft wird es ein feucht fröhlicher Abend mit viel Trinken und Tanzen bis in die frühen Morgenstunden.

Als Robert und seine Freundin in der Bar ankommen, gibt er sich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass er heute lustlos ist. Seine Freundin will unbedingt tanzen und sich amüsieren.

In der Bar treffen sie auch ein paar Freunde.

Nachdem sie sich etwas unterhalten haben, geht Robert Getränke holen. Als er zurückkommt, sieht er seine Freundin auf der Tanzfläche. Es läuft gerade das Lied ‚She‘s got the look‘ von der ehemaligen Musikgruppe Roxette.

Kissings a colour…

Her loving is a wild dog…

She’s got the look…

Das Lied hat eine besondere Bedeutung für beide, denn als sie sich das erste Mal auf der Geburtstagsparty sahen, lief gerade dieses Lied. Er war gerade zur Party gekommen, als sie bei diesem Lied am Tanzen war. Er konnte seine Blicke von ihr nicht lösen, denn sie tanzte sehr verführerisch. In der einen Hand hielt sie lässig eine Bierflasche, mit der anderen Hand spielte sie mit ihren langen blonden Haaren.

Ihre Blicke hatten sich plötzlich getroffen.

Robert hatte sofort weggeguckt und sich nicht mehr getraut, sie wieder anzuschauen, weil er eher zurückhaltend, sogar etwas schüchtern ist.

Er ist nicht der Typ, der Frauen anmacht oder den ersten Schritt macht. Man würde es von ihm gar nicht denken, weil er gut aussieht und groß ist. Er fällt deshalb meistens sofort auf. Er hatte sich umgedreht und hoffte, dass sie den ersten Schritt macht, und ihn anspricht, was sie auch zu seiner großen Erleichterung auch später tat. So hatten sie sich kennengelernt.

Sonntag gegen Abend fährt Robert wie immer zurück nach Hause. Seine Mutter ist bestimmt noch nicht da. Sie ist jeden Sonntag mit ihrer besten Freundin zusammen. Vormittags sind sie in der Kirche und danach gehen sie gemeinsam Mittagessen. Nachmittags machen sie lange Spaziergänge und abends gehen sie manchmal ins Kino oder in ihre Stammkneipe. Ihre Freundin ist auch alleinstehend, beziehungsweise geschieden und lebt allein.

Da Robert von letzter Nacht noch müde ist, weil sie erst gegen morgens von der Bar zurück waren und er auch wenig geschlafen hat, will er sich etwas hinlegen. Deshalb geht er direkt in sein Zimmer und legt sich auf sein Bett. Er kann nicht einschlafen, sondern liegt lange da und starrt die Decke an. Es ist still. Nur der Regen, beziehungsweise die Regentropfen sind zu hören, weil diese gegen die Fensterscheiben schlagen. Ihm fällt schon wieder dieses Reisewerbeplakat mit dem sonnigen Strandbild ein, das er einen Tag zuvor gesehen hat. Er würde so gerne für ein paar Tage wegfliegen. Genauso wie er es bis vor ein paar Jahren als Student noch gemacht hatte, wie zum Beispiel spontane Wochenendtrips nach Kopenhagen, Oslo, Amsterdam oder London. Aber er ist kein Student mehr.

Könnte er nicht dennoch kurzfristig ein paar Tage freinehmen und einen Kurztrip machen? Irgendwohin fliegen, wo um diese Jahreszeit noch sonnig ist. Insbesondere nach Abschluss eines Kundenprojektes wäre es für ihn kein Problem, ein paar Tage oder sogar eine Woche frei zu nehmen. Aber da ist das Problem mit seiner Freundin, denn als Lehrerin kann sie nicht spontan freinehmen und in Urlaub fahren, weil sie an die Schulferienzeiten gebunden ist. Deshalb hat er seit der Beziehung mit ihr seine Urlaube immer in den Schulferienzeiten. Genauso wie Familien mit schulpflichtigen Kindern. Er ärgert sich etwas über diese vorgegebenen festen Zeiträume, weil er nicht wie früher spontan sein kann. Auf einmal spürt er große Sehnsucht auf die Zeit als er Student war, auf die Ungebundenheit, in der er allein entscheiden konnte. Er vermisst auch die Spontanität, die er nicht mehr hat. Warum könnte er nicht allein weg? Er will sich nur erholen und keine wilden Partys machen oder mit anderen Frauen etwas anfangen. Sein Kundenprojekt wird Mitte dieser Woche fertig. Danach könnte er ein paar Tage frei nehmen und spontan irgendwohin fliegen.

Plötzlich packt ihn die Reiselust. Er steht auf, setzt sich an seinen Schreibtisch, macht seinen Laptop an und schaut im Internet nach aktuellen Urlaubsangeboten. Bereits nach kurzer Suche findet er drei Urlaubsziele, die aufgrund der aktuellen Wetterlage und der nicht sehr weiten Entfernung in Frage kommen könnten, und zwar Ägypten, Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Türkei. Alle drei Länder sind islamisch. Er war noch nie in einem islamischen Land. Ob Einschränkungen für Europäer gibt? Ägypten und Dubai erscheinen ihm viel zu heiß und mit längeren Flugzeiten etwas weiter weg. Was ist mit Türkei? Türkei sagt ihm nichts. Ob es dort ähnlich ist wie in Italien oder Spanien? Oder ist es dort eher wie in arabischen Ländern? Laut den Fotos sieht es eher europäisch aus als arabisch. Das Wetter in den Urlaubsgebieten soll auch noch sehr warm, sogar heiß sein. Die Strände und die Hotelanlagen sehen auch schön und gepflegt aus. Insbesondere viele Touristen aus Russland würden dahin reisen. Aber auch viele Touristen aus Deutschland und England würden Urlaub in der Türkei machen.

Die Bewertungen der europäischen Urlauber sind auch zum größten Teil positiv. Das Essen wäre gut und die Einheimischen wären sehr gastfreundlich.

Nachdem er nun die Bilder von den sonnigen Strandbildern gesehen hat, verspürt er noch mehr Lust sofort wegzufliegen. Er will wie früher spontan sein. Es kommt ihm wie vor einer Ewigkeit vor, dass er spontan war. Er kann sich fast nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal etwas Spontanes und Verrücktes gemacht hat.

Er ist doch noch jung und unabhängig. Die Kosten sind auch nicht mehr das Problem wie zu seiner Studentenzeit. Da fällt ihm der berühmte Spruch ein, den er mal gelesen hat, und zwar

‚Lebe deinen Tag so, als wäre er dein letzter Tag‘.

Ein Kurzurlaub an der Sonne könnte eventuell auch gegen seine momentane negative Stimmung guttun. Die Sonne hat bekanntlich sehr positive Wirkungen auf die Psyche und das Wohlbefinden von Menschen. Nach über zwei Monaten stressiger Projektarbeit wird ihm ein kurzer Erholungsurlaub auch guttun, bevor das nächste Kundenprojekt beginnt. Aber was sagt er seiner Freundin?

Sie wird bestimmt sehr erstaunt und enttäuscht sein, dass er allein und ohne sie Urlaub machen will. Das kann ihre Beziehung belasten und sogar ein Beziehungsaus verursachen. Er muss es ihr gut begründen oder sich eine gute Ausrede einfallen lassen. Was könnte er sagen? Am besten die Wahrheit? Denn er war und ist immer ehrlich zu ihr. Aber irgendwie sträubt er sich innerlich dagegen, ihr zu sagen, dass er vor allem auch aus psychischen Gründen einen Tapetenwechsel braucht. Aber auf der anderen Seite will er sie auch nicht anlügen. Fakt ist, dass er sofort Erholung braucht, und zwar an der Sonne. Er möchte wie früher spontan sein. Nach langer Zeit wieder nur an sich denken. Am liebsten will er sofort buchen. Oder lieber doch nicht, um die Beziehung mit seiner Freundin nicht zu gefährden, sogar ein Beziehungsaus zu riskieren? Das eigene Wohlbefinden, also die eigenen Bedürfnisse zurückstellen, damit seine Freundin nicht enttäuscht und unglücklich wird?

Er ist hin und her gerissen zwischen Beziehungspflicht und Eigenbedürfnis, zwischen Vernunft und Gefühlen. Er ist ratlos.

Es ist Mittwochnachmittag. Robert fährt gerade von dem Kundentermin zurück. Er ruft seinen Chef an und informiert ihn zuerst kurz über den erfolgreichen Abschluss des Projekts beim Kunden und sagt dann, dass er ein paar Tage frei nehmen möchte. Sein Chef hat nichts dagegen. Er sagt sogar, dass es eine gute Idee wäre, ein paar Tage frei zunehmen, bevor Robert das nächste große Kundenprojekt beginnt. Jetzt muss er sein Vorhaben nur noch seiner Freundin beichten. Das macht er am besten heute Abend.

Er hat seine Freundin für heute Abend zum Essen eingeladen, sozusagen zur Feier des Tages, dass er sein Projekt erfolgreich beendet hat. Immer wenn er ein Projekt erfolgreich abschließt, lädt er an dem Abend seine Freundin zum Essen ein und dann gehen sie Feiern.

Robert kommt bereits viertel Stunde früher ins Restaurant und überlegt, wann und wie er es seiner Freundin am besten sagen soll. Direkt nach dem Essen oder lieber nicht, damit der Abend keinen schlechten Ausgang hat? Oder nach dem Essen zu ihr fahren und es ihr dort sagen?

Er ist unschlüssig. Dann sieht er seine Freundin in das Restaurant reinkommen. Er steht auf und winkt ihr zu.

„Hallo Schatz!“ sagt er und küsst sie.

„Wartest du schon lange?“

„Nein, nicht lange.“

„Wie ist es gelaufen?“

„Sehr gut.“

„Das freut mich sehr für dich!“

„Danke. Ich bin auch sehr froh, dass die Arbeit von über zwei Monaten endlich zu Ende ist und dass der Kunde sehr zufrieden ist.“

„Hast du jetzt ein paar Tage frei oder musst du sofort dein neues Projekt beginnen?“

„Nein nicht sofort. Ich könnte es auch nicht, denn ich fühle mich völlig ausgelaugt. Es ist wie nach wochenlangen lernen für eine schwierige Prüfung in der Uni. Es wäre toll, wenn ich ab morgen für ein paar Tage irgendwohin fliegen könnte. Am besten ein Badeurlaub in einem sonnigen Land!“ sagt Robert vorsichtig und beobachtet dabei seine Freundin.

„Schatz, wie du weißt können wir jetzt doch kein Urlaub machen. Unseren nächsten Urlaub haben wir doch frühestens in den Weihnachtsferien. Dann ist aber eher Ski-Urlaub als Strand-urlaub. Oder wir machen unsere Fernreise in den Weihnachtsferien“ schlägt sie vor.

Robert hätte am liebsten erwartet, dass sie sagt, dass er allein irgendwohin fliegen kann, damit er sich erholt. Irgendwie ist er enttäuscht von ihr, sogar etwas über sie verärgert, dass sie nicht merkt, was sein Bedürfnis ist oder bewusst ignoriert. Aber er will es sich nicht anmerken lassen.

„Lass uns das Essen bestellen. Ich bin sehr hungrig und auch sehr müde“ antwortet er knapp.

Er entscheidet sich nichts mehr zu diesem Thema zu sagen. Nach so einem langen und anstrengenden Tag hat er keine Lust auf Diskussionen oder Rechtfertigungen. Der Abend soll lieber ruhig zu Ende gehen. Nach dem Essen will er sofort nach Hause und früh schlafen gehen.

Am nächsten Morgen ist Robert fast gegen Mittag wach. Für heute hat er frei genommen. Er geht runter in die Küche, macht sich erstmal einen Kaffee und schaut aus dem Fenster. Es regnet immer noch. Er geht in sein Zimmer zurück und legt sich auf sein Bett und überlegt, wie er seiner Freundin klar machen soll, dass er sofort einen Erholungsurlaub an der Sonne braucht. Er entscheidet sich, sie anzurufen, und es ihr am Telefon zu sagen, sobald sie gegen Nachmittag zu Hause ist.

Endlich ist Nachmittag. Er ruft seine Freundin an und kommt sofort zum Thema.

„Schatz, ich habe mir den ganzen Tag Gedanken gemacht und habe beschlossen, für ein paar Tage irgendwohin zu fliegen, wo noch sonnig ist. Wie ich es dir bereits gestern Abend beim Essen gesagt habe, fühle ich mich völlig ausgelaugt und deshalb brauche ich unbedingt sofort Erholung, und zwar an der Sonne. Das Werbeplakat mit dem Strandbild, das ich letzte Woche gesehen habe, hat sich so fest in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich es immer wieder vor den Augen habe. Der Dauerregen zieht mich auch runter und von Tag zu Tag habe ich große Sehnsucht auf Sonne und Strand. Deshalb habe ich beschlossen

für ein paar Tage irgendwohin zu fliegen wo noch warm ist.“ Stille. Es vergehen einige Sekunden.

„Du hast dich entschieden, allein Urlaub zu machen? Wie ein Single? Findest du nicht, dass du etwas egoistisch bist?“ sagt laut. Ihre Stimme klingt sehr verärgert.

„Und du hast kein Verständnis für mich! Sorry, aber ich bin völlig ausgelaugt und urlaubsreif!

So kann ich nicht das nächste schwierige Projekt starten. Ich habe Null Motivation!“

„Was soll ich dazu sagen? Ich kann es dir nicht verbieten!“ antwortet sie verärgert.

„Ich weiß, aber ich hätte eher Verständnis von dir erwartet! Ich will doch nur ein paar Tage irgendwohin, wo noch die Sonne scheint.“

„Und wann und wohin willst du fliegen?“

„Ich weiß es noch nicht. Aber am besten direkt morgen oder Samstag. Egal wohin, Hauptsache Sonne und Strand.“

„Was soll ich noch sagen. Du hast dich schon entschieden. Dir schönen Urlaub!“ sagt sie und beendet abrupt das Gespräch. Robert hat selbstverständlich gemerkt, dass sie sehr verärgert ist. Aber komischerweise ist es ihm völlig egal. Er ist genauso über sie verärgert, weil sie kein Verständnis für ihn und seine Bedürfnisse hat. Auf einmal ist es ihm sogar egal, was sie denkt und ob es ihr nicht gefällt, dass er allein Urlaub macht. Es ist ihr Problem. Er will sich doch nur ein paar Tage erholen und weder wilde Partys machen, noch hat er vor, sich mit anderen Frauen zu amüsieren oder sie zu betrügen. Er atmet tief durch. Geschafft! Auf einmal ist er sehr erleichtert und froh, dass er es endlich hinter sich hat. Dann setzt er sich sofort an seinen Laptop und sucht nach passenden Reiseangeboten. Schnell entscheidet er sich für eines der Reiseangebote und bucht sofort, damit das Angebot nicht weg ist oder seine Freundin anruft und versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

Bereits Samstag, also übermorgen wird es losgehen! Er steht auf, geht an das Fenster, macht es auf und atmet tief ein. „Lieber Dauerregen, ich werde für eine Woche an die Sonne fliegen!“ ruft er laut lachend. Auf einmal ist er sehr glücklich und freut sich wie ein kleines Kind.

Er verspürt so etwas wie eine Abenteuerlust. Es ist so lange her, dass er so spontan war! Dabei ist es doch nur eine Woche Strandurlaub. Dann macht er das Fenster wieder zu und holt seinen Reisekoffer, der auf seinem Kleiderschrank liegt und fängt an zu packen. Morgen will er kurz in die Stadt fahren, um ein paar Kleinigkeiten wie Sonnencreme und Reiseutensilien für den Urlaub zu kaufen. Er schaut auf die Uhr.

Seine Mutter müsste bereits da sein. Er geht runter, um seine Mutter zu informieren. Sie ist sehr überrascht, sogar fast erschrocken.

„Robert, stimmt etwas zwischen euch nicht?“

fragt sie und schaut ihn sehr besorgt an.

„Nein Mutter, es ist alles ok“ sagt er und erklärt ihr den Grund.

„Ich verstehe dich zwar, aber dennoch sehr schade, dass du ohne Annika fliegst. Nicht, dass du dort zufällig andere Frauen kennen-lernst und etwas unschönes passiert“ sagt sie mit nachdenklicher Stimme und kritischem Blick.

„Ach Mutter, ich habe doch gar kein Interesse an anderen Frauen. Ich will mich doch nur erholen und nur an der Sonne liegen.“

„Und wohin gehts?“

„Türkei“

„Türkei? Wie kommst du denn gerade auf Türkei?“ fragt sie und schaut Robert sehr überrascht an.

„Nur zufällig und rein pragmatisch. Der Urlaubsort ist mit Direktflug erreichbar und der Flug ist nicht so lang. Um die Jahreszeit soll dort sogar über Dreißig Grad sein! Die Fotos von den Stränden und den Hotelanlagen sehen auch sauber und gepflegt aus“ erklärt er.

„Ok, aber pass bitte auf dich auf!“

„Ach Mutter, was soll schon passieren?“ antwortet er lachend zurück. Dann küsst er sie auf die Wange und umarmt sie. Sie ist überrascht, dass er sehr glücklich ist und sich wie ein kleines Kind freut, das gerade ein schönes Geschenk bekommen hat.

Woher hätte Robert wissen sollen, dass sein zufällig gewählter Urlaubsort einen Stein ins Rollen bringen und dadurch einige Kettenreaktionen auslösen würde, die er niemals erwartet hätte? Wenn er gewusst hätte, dass er nach seinem Urlaub ein jahrelang gehütetes Familiengeheimnis entdecken würde, wodurch sein Leben völlig aus den Fugen geraten und ihn eine noch tiefere Lebenskrise stürzen würde, hätte er diesen Urlaub niemals gebucht… Oder doch?

Kapitel 2: Urlaub mit unerwarteten Erlebnissen

Es ist Samstag früh morgens. Robert sitzt in dem Schnellzug in Richtung Flughafen. Da er in einem Vorort von Stockholm wohnt, dauert die Fahrt bis zum Flughafen nur eine halbe Stunde.

Er schaut aus dem Zugfenster. Es regnet. Seit genau einer Woche regnet es ununterbrochen. Er macht die Augen zu und denkt an das sonnige Strandbild, das er eine Woche zuvor gesehen hat. Dieses Bild ging ihm seitdem nicht mehr aus Kopf. Er stellt sich vor, wie er in nur ein paar Stunden an einem Strand liegen wird, der fast genauso aussehen müsste, wie auf diesem Reisewerbeplakat.

Am Flughafen checkt er schnell ein und geht direkt in das Warteterminal. Er setzt sich auf einer der Sitze hinten. Es sind viele dunkelhaarige Menschen da. Er weiß nicht, ob alle Türken sind oder auch eventuell Araber, denn einige der Frauen tragen Kopftücher und haben dunklere Haut. Sehr wahrscheinlich sind es hauptsächlich Türken, die in ihre Heimat fliegen. Robert kennt bisher keinen einzigen Türken. In seiner Klasse und in der Nachbarschaft gab es keine türkischen Kinder. In der Uni hat er auch keine türkischen Studenten kennengelernt. Im Büro gibt es auch keine Kollegen aus der Türkei. Er fliegt auch zum ersten Mal mit einer türkischen Fluggesellschaft, denn das Pauschalurlaubsangebot ist inklusive Flug mit einer türkischen Airline. Vor der Buchung hat er über die Türkische Fluggesellschaft gelesen und zu seiner Überraschung erfahren, dass die sogar Mitglied der Star Alliance sind, also der Luftfahrtallianz der großen Fluggesellschaften, bei denen die Sicherheits- und Qualitätsstandards sehr hoch sind. Das hat ihn beruhigt.

Nachdem endlich die Passagiere aufgerufen werden, sich für das Boarding bereitzumachen, ist Robert froh, dass die Warterei ein Ende hat und der Flug endlich starten kann.

Beim Einsteigen in das Flugzeug begrüßen die Stewardessen die Passagiere sehr herzlich. In ihren roten Kostümen mit den bunten Halstüchern sind sie zwar sehr auffällig, aber hübsch anzusehen. Robert setzt sich in die letzte Sitzreihe. Er hat extra einen Sitz ganz hinten gebucht, damit er seine Ruhe hat und etwas schlafen kann, weil der Flug so früh ist. Nachdem er sich angeschnallt hat, schließt er die Augen.

Da leider die anderen Passagiere etwas zu laut sind, kann er bei dem Geräuschpegel nicht einschlafen. Er bemerkt, dass sich jemand auf den freien Sitz neben ihm hinsetzt. Er macht kurz die Augen auf und sieht, dass es eine junge dunkelhaarige hübsche Frau ist. Als sie sieht, dass er sie anschaut, lächelt sie ihn an. Aus Höflichkeit lächelt er zurück und hofft, dass sie ihn hoffentlich nicht in ein Gespräch verwickeln wird. Deshalb schließt er sofort wieder die Augen und tut so, als ob er schlafen will.

Er stellt sich vor, wie er gleich am Strand liegen wird. Es ist unglaublich, dass er vor einer Woche sehnsuchtsvoll davon geträumt hat und in nur ein paar Stunden sein Traum wahr wird. Er kann kaum abwarten, bis der knapp vierstündige Flug vorbei ist. Es ist unglaublich, wie eine kleine Änderung des Alltags so eine große positive Auswirkung hervorruft. Es sind nur ein paar Tage Abwechslung, ein paar Tage Auszeit vom Alltag, aber die positive Wirkung auf seine Psyche spürt er jetzt schon.

Nachdem das Flugzeug seine normale Flughöhe erreicht hat und etwas Zeit verstrichen ist, ist es Gott Sei Dank ruhiger geworden. Nach einer Weile hört er seine Sitznachbarin sprechen. Er versteht nicht, was sie sagt. Es muss wohl türkisch sein. Er öffnet die Augen, um zu sehen mit wem sie die ganze Zeit redet. Sie spricht mit einer der hübschen Stewardessen. Er bemerkt, dass die Stewardess ein kleines Tablet mit kleinen verpackten Teilchen hält. Sie reicht Robert auch eins davon. Er zögert für einen Moment, aber damit es nicht unhöflich ist, nimmt er eins.

„Keine Angst, das sind nur Turkish Delights“ sagt seine Sitznachbarin. „Es sind traditionelle türkische Süßigkeiten, die mit süßem Sirup, Pistazien und Puderzucker überzogen sind.

Diese werden bei uns Türken immer Gästen als Willkommens-Geste angeboten. Auf Türkisch heißen die ‚Lokum‘ erklärt sie.

„Interessant. Ich probiere es nachher. Ich habe noch nicht gefrühstückt und auf leerem Magen vertrage Süßes nicht“ erklärt Robert. Er will dieses komische Ding nicht jetzt probieren, denn es kann sein, dass es ihm gar nicht schmecken wird und er es ausspucken würde; aber das wäre unhöflich und beleidigend.

„Sie sind dann also aus der Türkei, leben aber in Schweden?“ fragt er sie aus Höflichkeit.

„Ja, ich bin in Stockholm geboren und aufgewachsen. Meine Eltern stammen aus der Türkei.“

„Fliegen Sie das erstmal in die Türkei?“ fragt sie.

„Ja, das erste Mal in meinem Leben“

„Hoffentlich wird es Ihnen gefallen, denn wir Türken sind sehr gastfreundliche und warmherzige Menschen“ sagt sie lächelnd.

„Das stelle ich gerade fest“ antwortet er auch lächelnd.

„Und was machen Sie beruflich?“

„Ich bin Softwareingenieur.“

„Wow, dann sind Sie bestimmt sehr intelligent!“ ruft sie begeistert und schaut Robert mit bewundernden Blicken an.

„Ach nein, ich hatte nur großes Interesse am Programmieren. Da ich nicht sehr kommunikativ bin, habe ich mich mehr mit Computern beschäftigt“ erklärt er lächelnd.

„Nicht sehr kommunikativ? Das wird sich in der Türkei bestimmt schnell ändern, weil wir Türken neugierige Menschen sind und immer viel fragen, auch viel Privates! Also stellen Sie sich schon mal darauf ein.“ antwortet sie lächelnd.

„Oh je! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich die Reise in die Türkei nicht gebucht!“ kontert Robert augenzwinkernd zurück. Beide lachen.

„Wo genau in Antalya werden Sie Urlaub machen?“

fragt sie plötzlich. „Sehen Sie, ich bin auch neugierig!“ fährt sie dann lachend fort.

„Ja, das merke ich grade“ antwortet Robert lächelnd und augenzwinkernd. „Den genauen Ort weiß ich nicht, aber in der Nähe von Antalya“ antwortet er und hofft, dass sie nicht nach dem Hotelnamen fragt.

„Antalya ist sehr schön. Dort ist fast das ganze Jahr sonnig!“ schwärmt sie.

„Genau deshalb fliege ich dahin. Fliegen Sie auch dahin, um Urlaub zu machen?“

„Teilweise; ich besuche meine Eltern, die eine Ferienwohnung in Antalya haben. Also Familienbesuch und Urlaub.“

„Dann leben ihre Eltern in der Türkei?“

„Ja, aber erst seit ein paar Jahren seitdem sie Rentner sind. Vom Frühling bis Herbst leben sie in Antalya, weil es dort warm ist; im Winter kommen sie nach Schweden. Ich studiere in Stockholm und wohne in einem Studentenwohnheim.“

„Was studieren Sie?“

„Betriebswirtschaftslehre.“

„Schön. Und in welchem Semester?“

„Ich bin bereits im vierten Semester.“

„Genießen Sie die Zeit als Studentin, denn die Zeit wird nie wieder kommen!“ sagt Robert.

„Ja stimmt. Es ist zwar etwas stressig zu studieren und gleichzeitig zu arbeiten, aber dennoch macht es großen Spaß!“ antwortet sie.

Nach etwa dreieinhalb Stunden kommt die Ansage des Piloten, dass der Landeanflug beginnt und dass das Wetter in Antalya sonnige dreißig Grad hätte. „Wow“, denkt sich Robert und kann es kaum abwarten, endlich anzukommen. Als die Ansage auf Türkisch wiederholt wird, jubeln fast alle Türken im Flugzeug. Robert lächelt vor sich hin. Als das Flugzeug landet, klatschen die Türken lautstark. Robert ist sehr überrascht, dass geklatscht wird und schmunzelt.

„Wie Sie sehen, klatschen Türken immer noch.

Die haben hohe Achtung und Respekt vor Piloten, die so eine schwere Maschine fliegen. Und es wird länger geklatscht, wenn die Landung sanft war, sozusagen als Lob, wie jetzt“ erklärt seine türkische Sitznachbarin, als hätte sie die Verwunderung aus seinem Gesicht gelesen.

„Aha, interessant“ sagt er lächelnd.

Nach ein paar Minuten kommt erneut die Ansage des Piloten, dass momentan viele Flugzeuge gleichzeitig gelandet wären und sie deshalb etwas warten müssen, bis sie die endgültige Parkposition anfahren dürfen; die Passagiere sollen bitte sitzen bleiben. Obwohl die Ansage auch auf Türkisch erfolgt, stehen viele Passagiere dennoch auf. Manche öffnen sogar die Türen vom Handgepäckstauraum und holen ihr Handgepäck raus. Die Stewardessen bitten die Leute, das Gepäck noch nicht rauszuholen und sich hinzusetzen. Türken scheinen sich nicht sehr an Anweisungen zu halten. Plötzlich läuft Musik über die Lautsprecher.

„Wow! Das ist ein sehr bekannter türkischer Pop-Song! Es heißt ‚Dudu‘ und ist von dem erfolgreichsten türkischen Pop-Sänger ‚Tarkan!“ ruft seine junge türkische Sitznachbarin mit begeisterter Stimme und strahlenden Augen. Ein paar junge Mädchen in den vorderen Reihen stehen sogar auf und bewegen sich rhythmisch zu diesem Pop-Song. Robert schmunzelt und schüttelt den Kopf, weil es sehr lustig aussieht.

Liegt es an dem Lied, dass die Türken gut drauf sind oder weil sie in der Heimat angekommen sind, oder ist es die Vorfreude auf die Sonne, oder Mentalität dieser ihm völlig unbekannten Türken? Wahrscheinlich von allem etwas.

Nach einigen Minuten kommt wieder die Ansage des Piloten, dass er jetzt die Parkposition anfahren darf und die Passagiere bitte sich hinsetzen sollen. Nach Ansage auf Türkisch bricht ein Jubel aus. Nachdem das Flugzeug endlich an seiner Parkposition ist und die Anschnallzeichen ausgeschaltet werden, springen viele schnell von ihren Sitzen auf, machen hastig die oberen Fächer auf und holen ihr Handgepäck raus. Es sieht sehr chaotisch aus. Als wäre Feueralarm und sie müssten schnell aus dem Flieger raus.

„Wie Sie sehen, sind viele meiner Landsleute ungeduldig“ erklärt seine türkische Sitznachbarin etwas verlegen, weil sie sieht, wie fassungslos Robert guckt.

„Ich verstehe schon, dass die Leute in den vorderen Reihen aufstehen, weil sie zuerst aussteigen werden, aber die hier hinten? Außerdem warum diese Hektik und Eile? Auch wenn die hier schnell raus sind, müssen die doch noch warten, bis ihr Gepäck ausgeladen ist, das noch dauern kann“ sagt Robert und schüttelt lächelnd den Kopf. Eigenartige Leute, diese Türken. Beachten keine Ansagen, befolgen keine Anweisungen und scheinen sehr ungeduldige Menschen zu sein.

Nachdem viele Passagiere aus dem Flugzeug raus-gegangen sind, steht seine Sitznachbarin auf, dann er.

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub in meiner Heimat. Hoffentlich wird es Ihnen gefallen!“ sagt sie lächelnd zum Abschied.

„Vielen Dank. Ich freue mich insbesondere auf die Sonne, weil ich nur deshalb hier bin“ antwortet Robert lächelnd zurück.

Als Robert an der Passkontrolle ankommt, traut er seinen Augen nicht. Es sind so viele Menschen da! Vor allen Schaltern gibt es lange Schlangen, obwohl sehr viele Schalter gibt.

„Oh je, das kann dauern!“ murmelt er etwas ge-frustet vor sich hin. Um diese Jahreszeit hätte Robert so viele Touristen nicht erwartet. Aber auf der anderen Seite wundert es ihn bei dreißig Grad Temperatur doch nicht.

Nach über einer halbe Stunde Warterei ist Robert endlich durch die Passkontrolle. Er holt dann schnell seinen Koffer vom Band und geht in Richtung Ausgang. Endlich. Auf gehts an die Sonne. Nur noch die kurze Fahrt bis zum Hotel.