Deep Journalism -  - E-Book

Deep Journalism E-Book

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Beschreibung

Ist Deep Journalism die Antwort auf die Erosion der Qualitätsmedien? Sparrunden und Stellenabbau haben nahezu alle Medienhäuser erfasst, immer weniger Journalisten haben in kürzerer Zeit immer mehr Ausspielkanäle zu bestücken. Journalistische Generalisten kommen kaum unter die Oberfläche, und Algorithmen befeuern Zuspitzung und Emotionalität. Gibt es Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken? Deep Journalism ist der Gegenpol: Redaktionelle Experten-Teams gehen in die Tiefe, die Sach- und Domänenkompetenz der Redaktionen wird mit Vertikalisierung und neuen Produkten (Rebundling) gestärkt. Im vorliegenden Buch wird gezeigt, in welchen Bereichen das inzwischen erprobte Konzept, zahlungsbereite, hochspezialisierte Zielgruppen und Entscheider mit verlässlich recherchierten Newslettern in ihrer jeweiligen Domäne zu versorgen und gleichzeitig einen Teil der Erkenntnisse mithilfe der breitstreuenden Medien in den öffentlichen Diskurs einzubringen, Erfolg versprechend ist. Die Herausgeber und zahlreiche Medienexperten sowie Journalisten steuern hierfür ihre Erkenntnisse und Erfahrungen bei. BEITRÄGE VON UND INTERVIEWS MIT … … Sigrun Albert, Thomas Baekdal, Axel Bojanowski, Alexandra Borchardt, Stefan Braun, Christopher Buschow, Wolfgang Büchner, Rainer Esser, Benjamin Fredrich, Alfons Frese, Gerd Gigerenzer, Christoph Hardt, Doris Helmberger-Fleckl, Carl Graf Hohenthal, Stefan Hunglinger, Christoph Keese, Berthold Kohler, Irina Lock, Henriette Löwisch, Lorenz Maroldt, Annette Milz, Serafin Reiber, Stefan Reker, Andrea Römmele, Katja Schupp, Antje Sirleschtov, Markus Spillmann, Gabor Steingart, Frank Überall, Anke Vehmaier und Kurt W. Zimmermann.

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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Sebastian Turner / Stephan Russ-Mohl (Hrsg.)

Deep Journalism.

Domänenkompetenz als redaktioneller Erfolgsfaktor

Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses, 5

Köln: Halem, 2023

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© Copyright Herbert von Halem Verlag 2023

Print:

ISBN 978-3-86962-660-4

E-Book (PDF):

ISBN 978-3-86962-658-1

E-Book (EPUB):

ISBN 978-3-86962-659-8

ISSN 2699-5832

Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im Internet unter https://www.halem-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Dieses Buch wurde auf FSC©-zertifiziertem Papier gedruckt.

UMSCHLAGGESTALTUNG: Claudia Ott, Düsseldorf

UMSCHLAGFOTO: Jay Zynism, istock, Getty Images

LEKTORAT: Rabea Wolf

SATZ: Herbert von Halem Verlag

DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

Copyright Lexicon © 1992 by The Enschedé Font Foundery

Lexicon ® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundery.

Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses

Sebastian Turner / Stephan Russ-Mohl (Hrsg.)

Deep Journalism

Domänenkompetenz alsredaktioneller Erfolgsfaktor

Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses

Warum ist der lagerübergreifende öffentlich-demokratische Diskurs gefährdet, ja geradezu ›kaputt‹? Weshalb ist der öffentliche Wettbewerb auf dem Marktplatz der Ideen ins Stocken geraten? Und welche Rolle spielen dabei Digitalisierung und Algorithmen, aber auch Bildung und Erziehung sowie eskalierende Shitstorms und – auf der Gegenseite – Schweigespiralen bis hin zu Sprech- und Denkverboten?

Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses stellt diese Fragen, denn wir brauchen Beiträge und Theorien des gelingenden oder misslingenden Diskurses, die auch in Form von ›Pro & Contra‹ als konkurrierende Theoriealternativen präsentiert werden können. Zugleich gilt es, an der Kommunikationspraxis zu feilen – und an konkreten empirischen Beispielen zu belegen, dass und weshalb durch gezielte Desinformation ein ›Realitätsvakuum‹ und statt eines zielführenden Diskurses eine von Fake News und Emotionen getragene ›Diskurssimulation‹ entstehen kann. Ferner gilt es, Erklärungen dafür zu finden, warum es heute auch unter Bedingungen von Presse- und Meinungsfreiheit möglich ist, dass täglich regierungsoffiziell desinformiert wird und sich letztlich in der politischen Arena kaum noch ein faktenbasierter und ›rationaler‹ Interessenausgleich herbeiführen lässt. Auf solche Fragen Antworten zu suchen, ist Ziel unserer Buchreihe.

Diese Reihe wird herausgegeben von Stephan Russ-Mohl, emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano/Schweiz und Gründer des European Journalism Observatory.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das Neue am Deep Journalism: Wie er wieder möglicher wird

Teil 1Einführung

Stephan Russ-Mohl / Sebastian Turner

Deep Journalism und was ihn ausmacht

Teil 2Domänenkompetenz – das Konzept

Sebastian Turner

Deep Journalism.Eine Chance für die Qualitätsmedien

Stephan Russ-Mohl

Domänenkompetenz in der Aufmerksamkeitsökonomie

Christopher Buschow

Medienwirtschaftliche Potenziale, gesellschaftliche Risiken

Alexandra Borchardt

Schluss mit dem Selbstbetrug!

Markus Spillmann

Grenzen der Domänenkompetenz.Lemmingeffekte in der Kriegsberichtserstattung

Teil 3Das Konzept auf dem Prüfstand

Domänenkompetenz in der journalistischen Arbeit

Berthold Kohler

Die FAZ – Domänenkompetenz von Anfang an

Rainer Esser

Domänenkompetenz auf vier Plattformen

Christoph Keese

Wahrheit, nichts als die Wahrheit

Lorenz Maroldt

Warum wir Verticals brauchen

Alfons Frese

Domänenkompetenz aus Sicht eines Betriebsrats

Carl Graf Hohenthal

Im Hamsterrad der Clickbaits und Narrative

Gerd Gigerenzer im Interview

Wider die mentale Pandemie der Zahlenblindheit

Thomas Baekdal

Vertrauen versus Traffic

Start-ups und Impulse

Gabor Steingart

Unbedarftheit in Wirtschaftsfragen

Benjamin Fredrich

Wie Katapult sich der Abwärtsspirale der Printmedien entgegenstellt

Antje Sirleschtov

Vom Aufstieg der unersetzlichen Experten-Journalisten

Annette Milz

Rückbesinnung auf Kernelemente des Qualitätsjournalismus

Wolfgang Büchner

Mehr Investitionen wagen.Journalistische Qualität dürfen wir uns nicht ersparen

Relevanz für spezifische journalistische Felder

Sigrun Albert / Mitarbeit: Anja Pasquay

Von Fehlentwicklungen in Amerika lernen

Anke Vehmeier im Interview

Domänenkompetenz im Lokalen

Frank Überall

Erodierende Domänenkompetenz

Axel Bojanowski

Rivalisierende Gewissheiten.Domänenkompetenz im Klimadiskurs

Katja Schupp

Vom Alpha-Tier zum Team-Player.Teamarbeit und Domänenkompetenz im Bewegtbild-Journalismus

Stefan Braun

Politik und Medien – ein Verhältnis in Schieflage

Blick nach Österreich und in die Schweiz

Doris Helmberger-Fleckl

Tiefenbohrung in Österreich.Die Furche als Beispiel

Kurt W. Zimmermann

Tücken des Outsourcings.Eine Schweizer Domäne verschwindet

Domänenkompetenz beim Nachwuchs

Henriette Löwisch im Interview

Gefragt sind: Vermittlungs- und Sachkompetenz.Ein Blick auf den Nachwuchs

Stefan Hunglinger

Journalismus auf einem Stand- und einem Spielbein

Serafin Reiber

Tiefer wühlen

Andrea Römmele

Die Kompetenzkrise der Medien beginnt im Medienmanagement

Relevanz für die PR

Stefan Reker

Den Trampelpfad des Mainstreams verlassen

Irina Lock

Domänenkompetenz in Public Relations.Gefragt sind Branchenkenntnis und journalistische Praxis

Christoph Hardt

Die Simulation von Journalismus?Domänenkompetenz in der Unternehmenskommunikation

Teil 4FAQ

Stephan Russ-Mohl / Sebastian Turner

Frequently Asked Questions:»Wenn Deep Journalism nach Tiefenbronn kommt …«

Autoren, Interviewpartner und Herausgeber

Vorwort

Das Neue am Deep Journalism: Wie er wieder möglicher wird

In diesem Buch geht es um Journalismus mit Tiefgang, also um guten Journalismus. Der muss nicht erfunden werden – es gibt ihn bereits. Aber er ist massiv unter Druck. Warum stellen wir dann den gründlichen, inhaltlich hochkompetenten Journalismus als ›Deep Journalism‹ sprachlich in eine Reihe mit bisherigen Versuchen, den Journalismus bedeutsam oder auch nur behutsam fortzuschreiben und weiterzuentwickeln, wie etwa mit den Bezeichnungen ›New Journalism‹, ›Gonzo Journalism‹, ›Investigative Journalism‹, ›Slow Journalism‹ und ›Constructive Journalism‹?

Wir wollen mit Deep Journalism unter den vielen zur Oberfläche drängenden Spielarten des heute praktizierten Journalismus die Form herausstellen, die für das Gemeinwesen am wichtigsten ist.

Diese Art von Journalismus braucht ein neues wirtschaftliches Fundament. Dazu wollen wir einen Beitrag leisten, indem wir unsere beiden Wirkungsfelder verbinden – die Medienforschung und die Medienpraxis – und einen publizistischen Ausweg aufzeigen aus der wirtschaftlichen und damit qualitativen Abwärtsspirale. Unsere These: Wer auf Deep Journalism setzt und sein Geschäftsmodell darauf ausrichtet, der kann nicht nur seinen publizistischen Erfolg steigern, sondern auch sein ökonomisches Ergebnis. Kurz: Deep Journalism for higher return on investment, also auch zur Ertragssteigerung im Medienbetrieb.

Wer für den Qualitätsjournalismus einen neuen publizistischen Ansatz entwirft, der sollte ihn von allen Seiten kritisch prüfen und diskutieren lassen. Genau darum haben wir einen hervorragenden Kreis von Köpfen aus Theorie und Praxis gebeten, deren Beiträge Sie in diesem Buch versammelt finden.

Die Diskussion ist damit aber nicht abgeschlossen – sie ist eröffnet. Wir bitten um Ihre Anregungen, Verbesserungen und Kritik, je tiefgehender, desto besser: [email protected] und [email protected]

Die Herausgeber, im Mai 2023

Stephan Russ-Mohl / Sebastian Turner

TEIL 1

Einführung

STEPHAN RUSS-MOHL / SEBASTIAN TURNER

Deep Journalism und was ihn ausmacht

Über Domänenkompetenz, Vertikalisierung und Rebundling

Die Hiobsbotschaften zur Entwicklung der Nachrichtenmedien und des Journalismus reißen nicht ab. In den USA sind die Redaktionen in den letzten Jahren dramatisch geschrumpft. Auf lokaler und regionaler Ebene bricht das Ökosystem des Journalismus weg, das in Amerika einmal nicht zuletzt aus beeindruckenden Regional- und zahllosen Lokalzeitungen bestand. Mancherorts fällt inzwischen der Journalismus als ›vierte Gewalt‹ und Kontrollinstanz der Mächtigen nahezu komplett aus. Aber auch bei uns häufen sich die schlechten Nachrichten: Mit Entlassungswellen und Frühpensionierungen gehen jeweils heftige Verluste an journalistischer Kompetenz und redaktionellem ›Gedächtnis‹ einher.

Da lohnt es sich – und dies ist Sinn und Zweck des vorliegenden Buches –, auf Ideen und Modelle zu schauen, welche die Spirale des Niedergangs umkehren könnten: Mit mehr journalistischer Qualität ein besseres Geschäft zu machen – das ist die Herausforderung. Die Erfolgsbeispiele in diesem Buch reichen von Berlin über Hamburg bis Greifswald, und weitere Vorbilder gibt es in Washington und Brüssel. Sie verbindet: An erster Stelle steht der Anspruch, in einer Domäne so gut zu sein, dass dies dem Publikum etwas wert ist, sich also in Zahlungsbereitschaft bestimmter Zielgruppen niederschlägt. Wir haben dafür aus der Bildungsforschung den Begriff der Domänenkompetenz übernommen. Sie ist der Schlüssel zu Deep Journalism.

Zwei medienwirtschaftliche Techniken helfen, um Deep Journalism in Erlöse zu verwandeln und damit wirtschaftlich tragfähig zu machen: Vertikalisierung und Rebundling. Vertikalisierung heißt: In den jeweiligen Domänen oder Themenfeldern wird noch mehr in die Tiefe gebohrt. Was solche Bohrungen zutage fördern, ist nicht für alle, aber für Viele Geld wert, nicht als Rohmaterial, sondern nach entsprechender Filterung, Weiterverarbeitung und Fokussierung auf das, was bestimmte Zielgruppen unbedingt wissen sollten.

Hier kommt Rebundling ins Spiel – die erarbeiteten Rechercheresultate werden in neu gebündelten Produktformen angeboten, die den jeweiligen Zielgruppen bei der Informationssuche Zeit ersparen. Bei einer Großstadtzeitung können das Bezirksnewsletter sein, bei einem Wochenblatt für das akademische Milieu Magazine rund ums Studieren und bei einer populären Zeitschrift für Sozialwissenschaft sogar Bücher. Nichts davon erscheint revolutionär. Damit kann es umso leichter auch für andere Medien, die ihre Qualität halten oder sogar steigern möchten, anregend sein.

Deep Journalism ist also das Ziel. Domänenkompetenz gilt es auszubauen, zum Teil auch wiederherzustellen, um dieses Ziel zu erreichen, statt weitere Streichkonzerte in den Redaktionen zu veranstalten. Vertikalisierung und Rebundling sind die Werkzeuge, um für journalistische Domänenkompetenz Zahlungsbereitschaft zu generieren.

Wir haben uns für Deep Journalism als Formel entschieden, weil auf Deutsch ›Tiefenjournalismus‹ oder ›vertiefender Journalismus‹ weitaus weniger attraktiv klingt, auch wenn letztlich dasselbe damit gemeint ist: ein Journalismus, der unvoreingenommen und gründlich recherchiert, der im Sinne Max Webers dicke Bretter bohrt, der Hintergründe ausleuchtet, der Zusammenhänge herstellt und sich nicht von der Flut von PR-Zulieferungen überschwemmen lässt. Das setzt voraus, dass in der Redaktion hervorragende Sachkompetenz personell verankert ist. Themen sollten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden – und statt die Mediennutzer zu missionieren, sollten Journalisten ihr Bestes geben, um ›treuhänderisch‹, also im wohlverstandenen Interesse ihrem Publikum zu den Informationen zu verhelfen, die dieses zur Bewältigung ihres jeweiligen Alltags braucht.

Unser Schlüsselbegriff hierfür ist ›Domänenkompetenz‹, sprich: Sachkompetenz im jeweiligen Berichterstattungsfeld. Redaktionen, die weiterhin einen journalistischen Anspruch haben und nicht nur mit der Copy-and-Paste-Taste Pressemeldungen vervielfältigen, sind auf solche Domänenkompetenz angewiesen – insbesondere in den Bereichen, in denen Nachrichten anfallen, die für große Segmente des eigenen Publikums wichtig sind. Es braucht in den Redaktionen Spezialisten, die sich in ihren jeweiligen Domänen auskennen, um mit Erfolgsaussichten Fake News und auch die Aushöhlung des Journalismus durch immer versiertere Public Relations einzudämmen. Aber es gilt auch, dem Alarmismus zu begegnen, mit dem tagtäglich viele Medien nicht nur die Klickzahlen nach oben treiben, sondern immer wieder den Weltuntergang einläuten – und mit ihren Übertreibungen bewirken, dass teils ihre Glaubwürdigkeit schwindet, teils Fehlentscheidungen getroffen werden. Möglichst sollten in Redaktionen mehr als nur eine Person wichtige Themen regelmäßig bearbeiten und die zuständigen Redakteure Zeit und Ressourcen haben, um an Issues auch dranzubleiben.

Wenn das so ist: Gibt es Möglichkeiten, die Domänenkompetenz der Redaktionen zu stärken? In welchen Bereichen ist das Konzept erfolgversprechend, beispielsweise zahlungsbereite, hochspezialisierte Zielgruppen und Entscheider mit verlässlich recherchierten Newslettern in ihrer jeweiligen Domäne zu versorgen und dabei einen Teil der Erkenntnisse mithilfe der breitstreuenden Medien in den öffentlichen Diskurs einzubringen?

Klärungsbedürftig erscheint uns auch, ob und inwieweit Domänenkompetenz für Journalisten und Journalistinnen bei ihrer Karriereplanung individuell wichtig ist und welche Rolle sie bei Personalentscheidungen der Chefredaktionen spielt. Ist Domänenkompetenz eine Karrierefalle (im Hinblick auf eine Festanstellung) oder ein Honorarkiller (für Freelancer)? Ist Domänenkompetenz ein Berufsmerkmal, das angestrebt wird? Wie sehen erfahrene ›Veteranen‹ des Journalismus die Entwicklung von Domänenkompetenz im Rückblick?

Sodann gilt es, zu differenzieren und weitere Erfolgsmodelle zu identifizieren: Welche Beispiele gibt es bei der Presse? Wie ist es bei ARD und ZDF um die öffentlich-rechtliche Domänenkompetenz bestellt? Wie lässt sich in vernachlässigten Feldern Domänenkompetenz entwickeln? Welche Rolle spielen Kommunikationsabteilungen, wenn sie kompetente Journalisten aufnehmen und damit auch aus Redaktionen abziehen? Welche Folgen hat es, wenn sich Domänenkompetenz in die PR verlagert?

Fragen über Fragen, denen die Einzelbeiträge in diesem Reader nachspüren. Zur Exploration haben wir sehr bewusst ein breites Spektrum von Autorinnen und Autoren gewonnen, seien das Journalisten, Medienmanager oder Wissenschaftler. Das garantiert unterschiedliche Sichtweisen, führt gelegentlich zu Widersprüchen, ergibt aber doch insgesamt ein Bild, das den apokalyptischen Visionen vom Niedergang des Journalismus und der Demokratie einen Hoffnungsschimmer am Horizont entgegensetzt.

Wer sich nicht in nostalgischer Schönfärberei verlieren möchte, wird konzedieren, dass Deep Journalism und damit Domänenkompetenz schon immer ein Programm für Minderheiten und für Bildungseliten gewesen ist und das wohl auch bleiben wird. Domänenkompetenz ist damit kein Patentrezept zur Lösung aller Probleme des Journalismus. Aber sie ist – um den Philosophen Odo Marquardt zu zitieren – nicht zuletzt »Inkompetenzkompensationskompetenz«. Das Bandwurmwort hätte Mark Twain Freude bereitet. Aber: Gibt es eine größere, eine vornehmere, eine herausforderndere Aufgabe für den Journalismus, als Inkompetenz zu kompensieren?

Die Einzelbeiträge

Die beiden Herausgeber eröffnen den Diskurs: SEBASTIAN TURNER stellt nicht nur sein Konzept von Deep Journalism und Domänenkompetenz vor, sondern skizziert auch seine bisherigen Erfahrungen bei der Umsetzung, zunächst beim Turnaround des Tagesspiegels, dessen Herausgeber und Teilhaber er viele Jahre war, dann im eigenen Medien-Start-up Table.Media, das inzwischen zehn Professional Briefings herausgibt, die auf zahlungsbereite Zielgruppen ausgerichtet sind. Dabei profitieren von der Arbeit dieser domänenkompetenten Redaktionen immer wieder auch große, breitstreuende Nachrichtenmedien.

STEPHAN RUSS-MOHL bettet in seinem Beitrag das Konzept der Domänenkompetenz in den größeren Kontext der Aufmerksamkeitsökonomie ein. Er arbeitet heraus, für welche Art von Nachrichten bei bestimmten Zielgruppen Zahlungsbereitschaft besteht – und wo nicht. Und er beschäftigt sich mit der Frage, wie sich sinkende Aufmerksamkeitsspannen, aber auch Aufmerksamkeitsschwankungen und -zyklen sowie die von Redaktionen in Echtzeit messbare Aufmerksamkeit, die Mediennutzer journalistischen Beiträgen widmen, auf die Domänenkompetenz auswirken.

Wir haben sodann einen Medienforscher, eine Grenzgängerin zwischen Wissenschaft und Journalismus sowie einen erfahrenen Praktiker gebeten, ausführlich zu diesen Beiträgen Stellung zu beziehen. Als Wissenschaftler beschäftigt sich CHRISTOPHER BUSCHOW mit den medienwirtschaftlichen Potenzialen und den gesellschaftlichen Risiken von Deep Journalism und Domänenkompetenz in einem digitalen high choice media environment. Dass sich in Marktnischen mit mehr Domänenkompetenz journalistisch profitabel arbeiten lässt, bezweifelt er nicht. Aber er sieht auch die damit einhergehenden Gefahren verstärkter Spaltung der Gesellschaft in ›Haves‹ und ›Have Nots‹ qualifizierter Information. Dabei sind wir angesichts der wachsenden Komplexität der Gesellschaft und unserer eigenen begrenzten Nachrichtenverarbeitungskapazität auch bei funktionierendem domänenkompetenten Journalismus vermutlich dazu verurteilt, nur in ganz wenigen, überschaubaren Feldern als ›Informationsbesitzer‹ am öffentlichen Leben teilzuhaben, während jeder von uns in weitaus mehr Bereichen ein ›Habenichts‹ bleibt, der letztlich Experten vertrauen muss, die in einem bestimmten Feld besser Bescheid wissen.

ALEXANDRA BORCHARDT startet mit dem Verweis, der Journalismus sei in der Vergangenheit nie so gut gewesen, wie viele seiner Produzenten behaupten. In die Zukunft gewandt und vor allem den Mediennutzern zugeneigt, sieht sie viele neue Möglichkeiten, Qualität auf eine andere Ebene zu heben. Borchardt war viele Jahre in Führungspositionen bei der Süddeutschen Zeitung, bevor sie Senior Research Associate am Reuters Institute for the Study of Journalism der Universität Oxford und Coach im Table Stakes Europe Programme wurde, das Verlage in der digitalen Transformation trainiert.

Der vormalige Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung und Leiter Publizistik der NZZ AG, MARKUS SPILLMANN, schließt den ersten Teil ab und nimmt den Krieg in der Ukraine zum Anlass, um die Unverzichtbarkeit, aber auch die Grenzen von Domänenkompetenz in der Krisen- und Kriegsberichterstattung auszuloten. In seiner Funktion als Präsident des Internationalen Presseinstituts in Wien, das sich weltweit mit Fragen der Pressefreiheit und der Sicherheit von Journalisten befasst, hat er dazu Erkenntnisse und Einsichten gewonnen, die unbedingt an eine breitere Öffentlichkeit vermittelt werden sollten. Zudem erinnert er an vorteilhafte Eigenschaften, die Domänenkompetenz ergänzen sollten: Sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch einer guten, gehört für ihn zu den journalistischen Grundtugenden. Distanz halten könne aber nur, wer über solides handwerkliches Können und fachliches Wissen verfügt und sich den digitalen Verlockungen der Selbstinszenierung entzieht.

Die Beiträge im zweiten Teil sind kürzer und lassen sich nur zum Teil thematisch gruppieren. Wir haben die Autoren gebeten, aus ihrer Sicht Stellung zu beziehen, aber auch frei zu assoziieren, ob und wie ein verstärkter Fokus auf Domänenkompetenz – und damit einhergehend auf Verticals und Rebundling – ein Erfolg verheißender Beitrag zur Qualitätssicherung und -verbesserung im Journalismus sein kann. In wenigen Fällen haben wir den eigenen Beitrag durch ein schriftliches Interview ersetzt.

Wichtig war uns, dass einige Protagonisten zu Wort kommen, die mit ihrer journalistischen Arbeit selbst für Domänenkompetenz stehen. Dazu gehören BERTHOLD KOHLER, den wir als Herausgeber der FAZ und somit als Gralshüter von ›Deep Journalism‹ gebeten haben, sich in die Karten blicken zu lassen, wie sich bei seiner Zeitung über Jahrzehnte hinweg Domänenkompetenz entwickelt hat, und RAINER ESSER, der als gelernter Journalist und Geschäftsführer der Zeit-Verlagsgruppe und ihrer vielfältigen Produkt-Familie zeigt, wie Deutschlands erfolgreichste Wochenzeitung Domänenkompetenz, Vertikalisierung und Rebundling zum Motor des wirtschaftlichen Erfolges gemacht hat. Zu nennen ist hier auch CHRISTOPH KEESE, der bei Axel Springer in den Kauf von Politico involviert war, in seinem Beitrag zu Wahrheitssuche und -findung allerdings Domänenkompetenz von ganz anderer Seite beleuchtet.

Last not least unter den etablierten Medienmarken gewährt der Chefredakteur des Tagesspiegels, LORENZ MAROLDT, Einblicke, wie in seiner Redaktion die Newsletter-Produktion die journalistische Arbeit verändert und inspiriert hat und wie seine Zeitung auf dem heiß umkämpften Berliner Zeitungsmarkt mit Investment in Domänenkompetenz und in Verticals zur Nr. 1 unter den Qualitätstiteln aufgestiegen ist. Seine Perspektive ergänzt ALFONS FRESE, der die Transformation des Tagesspiegels als langjähriger Betriebsratsvorsitzender begleitet hat.

CARL GRAF HOHENTHAL, langjähriger Wirtschaftsredakteur und -korrespondent bei der FAZ, dann stellvertretender Chefredakteur bei der Welt und zuletzt PR-Berater, wirft einen Blick zurück und zeigt, wie dem Journalismus über Jahrzehnte hinweg allmählich als Folge der Digitalisierung Domänenkompetenz abhanden kam. Quer zu dieser nostalgischen Betrachtung richtet GERD GIGERENZER seinen Blick auf die Zahlenblindheit vieler Journalisten und fordert – sozusagen als Basisdomänenkompetenz – mehr Wissen im Umgang mit Statistiken und bei Risikoabschätzungen ein.

Der Medienanalyst THOMAS BAEKDAL zeigt am dänischen Beispiel von Politiken, wie die Fokussierung auf Clickbaiting, also maximale Aufmerksamkeit online statt Domänenkompetenz, das Vertrauen der Kernleserschaft untergräbt, die ihre Zeitung dann nicht mehr wiedererkennt.

Im nächsten Unterkapitel geht es zunächst um Start-ups mit Domänenkompetenz. GABOR STEINGART geht in seinem Beitrag auf die Besonderheiten seines werbefreien Portals The Pioneer ein – in scharfer Abgrenzung vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk –, und BENJAMIN FREDRICH erläutert am Beispiel des Startups Katapult, wie sich bei einem Newcomer im Mediengeschäft Domänenkompetenz entfaltet. ANTJE SIRLESCHTOV wiederum beschreibt als ehemals geschäftsführende Redakteurin der Tagesspiegel-Verticals und heutige Chefredakteurin von Table.Media, dem Start-up von Sebastian Turner, wie der Schwerpunkt auf Domänenkompetenz den Spezialisten befördert, während der Allrounder an Bedeutung verliert.

Der Beitrag von ANNETTE MILZ, der Herausgeberin des medium magazins, unterstreicht, wie zukunftsweisend die Rückbesinnung auf Domänenkompetenz für den Qualitätsjournalismus ist. WOLFGANG BÜCHNER, heute Stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, schöpft aus breiter Erfahrung als Chefredakteur von dpa, Spiegel und RND und wirft einen Blick zurück auf die bisherige Transformation des Journalismus ins Digitale. Seinen Beitrag schreibt er ausdrücklich nicht in seiner derzeitigen Funktion als Regierungssprecher, sondern als erfahrener Medienprofi. Er hebt in seinem Beitrag hervor, dass das Zeitungssterben und die Redaktionszusammenlegungen auch das Geschäftsmodell für die wichtigste deutschsprachige Nachrichtenagentur dpa unterminieren, die bisher ein Eckpfeiler des domänenkompetenten Nachrichtenjournalismus war.

Weitere Beiträge befassen sich mit spezifischen Feldern, in denen es auf Deep Journalism und Domänenkompetenz ankommt. SIGRUN ALBERT, die wir für den von ihr als Geschäftsführerin geleiteten BDZV um eine Stellungnahme gebeten haben, widmet sich dabei dem Lokaljournalismus. Sie verweist auf dessen Niedergang in den USA, der sich so möglichst nicht bei uns wiederholen sollte. Darin ist sie sich mit ANKE VEHMEIER einig, die bei der Bundeszentrale für politische Bildung das Lokaljournalisten-Programm leitet und mit aktuellen Beispielen unterstreicht, wie sich auch im Lokalen mehr Expertenwissen und Sachkompetenz einbringen lassen. Dass gerade in der Lokalberichterstattung Nachrichtenmedien domänenkompetente Stärke zeigen können, betont auch der Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbands FRANK ÜBERALL. In seinem Beitrag unterstreicht er, wie sehr angemessene Bezahlung Voraussetzung von Domänenkompetenz ist – und dass weiterhin viele Journalisten entweder ganz in die PR abwandern oder ihr Gehalt mit PR-Arbeit aufbessern – oftmals ohne dabei klare Grenzen zu ziehen, auf welcher Seite sie stehen.

Nicht zuletzt der journalistische Umgang mit der Corona-Krise hat uns vor Augen geführt, welche Defizite an Domänenkompetenz es im Journalismus und insbesondere in der Wissenschaftsberichterstattung gibt. Dass das leider bei einem seit Langem eingeführten, über die Jahre hinweg dominanten Thema der Medien nicht anders aussieht, belegt AXEL BOJANOWSKI am Beispiel der Klimaberichterstattung: Der Beitrag des heutigen Welt-Chefreporters, der zuvor in Personalunion Chefredakteur von natur und Bild der Wissenschaft war, ist nicht nur selbst ein herausragendes Beispiel für Domänenkompetenz im Klimadiskurs. Er zeigt auch exemplarisch, weshalb gerade bei solch existenziellen Themen journalistische Unvoreingenommenheit wichtig ist und wie Erkenntnisse der Medienforschung auch für den medialen Klimadiskurs fruchtbar gemacht werden können.

Für das Aufzeigen eines Auswegs für den Fernseh- und Videojournalismus ist dann KATJA SCHUPP zuständig, Journalistik-Professorin an der Universität Mainz und langjährige Redakteurin für Außenpolitik sowie im Programmbereich Zeitgeschichte/Zeitgeschehen beim ZDF. Sie plädiert für mehr Teamarbeit – auch, um der Domänenkompetenz im Bewegtbild-Journalismus aufzuhelfen.

Schweigen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Schmerzlich ist dagegen, dass es uns trotz mehrerer Anläufe nicht gelungen ist, hochrangige aktive Vertreter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, darunter drei Intendantinnen und Intendanten, zu einer Stellungnahme zu bewegen, obschon vom Programmauftrag her ja gerade ARD und ZDF gefordert wären, wenn es Deep Journalism und Domänenkompetenz hochzuhalten gilt. Es soll an den Senderspitzen ja auch gut ausgestattete Kommunikationsabteilungen geben, die sich hier hilfreich hätten betätigen können. Fehlanzeige, trotz intensivsten Bemühens. Es fällt uns schwer, uns den Spott über Entspannungsmöglichkeiten auf Massagesitzen auch in Dienstwagen zu verkneifen, in denen man ausgeruht einen klugen Text hätte verfassen können.

STEFAN BRAUN widmet sich dem Verhältnis von Politik und Medien. Unter den sich rapide verändernden Rahmenbedingungen setzten sich beide Seiten unter Stress – domänenkompetente Berichterstattung bleibe so vielfach auf der Strecke.

Blick nach Österreich und in die Schweiz

Wichtig waren uns auch Stimmen aus Österreich und der Schweiz. Wir unterschätzen ja in Deutschland gerne die beträchtlichen kulturellen Differenzen zu unseren Nachbarn. Bemerkenswert ist, wie in Wien eine kleine, aber feine katholische Wochenzeitung, Die Furche, immer wieder Deep Journalism und Domänenkompetenz zelebriert, auch bei Themen, die weit über Religiöses hinausreichen. Die Chefredakteurin, DORIS HELMBERGER-FLECKL, verrät uns, wie ihr das gelingt.

In puncto Domänenkompetenz hat indes vor allem die Schweiz Vorzeigbares zu bieten, was vielleicht nicht nur mit der Wirtschaftskraft und dem Bildungsbürgertum des Landes zu tun hat, sondern auch mit der direkten Demokratie und einem zum Dienst an der Gemeinschaft verpflichtenden Milizsystem, das es nicht nur beim Militär gibt. Beides trägt dazu bei, das Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten unter den Bürgerinnen und Bürgern wachzuhalten – und regt die Nachfrage nach erstaunlich domänenkompetenten Medien an. Das gilt nicht nur für die Deutsch-Schweiz, wo allein in Zürich mit der NZZ und dem Tages-Anzeiger zwei Qualitätszeitungen um die Gunst der Leserinnen und Leser konkurrieren, die man mit vergleichbaren redaktionellen Ressourcen in größeren Städten wie Hamburg, Stuttgart, Köln oder Wien vergeblich sucht. Sondern auch für einen überschaubaren Sprachraum wie das Tessin, wo mit dem Corriere del Ticino und La Regione zwei kleine Regionalzeitungen tagtäglich vorführen, wie domänenkompetent selbst in der Nische Redaktionen sein können.

Wie andererseits Domänenkompetenz durch Outsourcing untergraben wird, belegt der Medienkolumnist KURT W. ZIMMERMANN ausgerechnet an der Auslandsberichterstattung des größten privaten Medienunternehmens der Schweiz, der TX Group. Um dem Druck der Digitalisierung Stand zu halten, hat sie nicht nur ihre Redaktionen radikal zusammengelegt, sondern teilt sich mit der Süddeutschen Zeitung ihre Auslandskorrespondenten, die dementsprechend aus Deutschland stammen. Das wiederum geht nicht gut, weil Auslandsberichterstattung immer auch mit Gegebenheiten zu Hause korrespondiert, die in der Schweiz sich eben doch historisch ganz anders entwickelt haben als im Nachbarland. Redaktionen, so Zimmermann, verzichteten aus finanziellen Gründen auf geistige Autonomie. Der Zürcher Tages-Anzeiger sei so in seiner Auslandsberichterstattung journalistisch »eine deutsche Kolonie« geworden.

Domänenkompetenz beim Nachwuchs

Mangelnde Domänenkompetenz ist wohl auch deshalb zum Problem des Journalismus geworden, weil in vielen Redaktionen altgediente Journalistinnen und Journalisten frühpensioniert wurden – und mit ihrem Ausscheiden auch das redaktionelle ›Gedächtnis‹ drastisch geschrumpft ist. Zumal in vielen Medienunternehmen in Zeiten von Google auch die hauseigenen Archive nicht mehr gepflegt werden. Vor diesem Hintergrund ist es besonders spannend und wichtig, wie es beim Nachwuchs um Domänenkompetenz bestellt ist. Was Berthold Kohler in seinem Beitrag über die Nachwuchsförderung bei der FAZ schreibt, bestätigt in einem Interview für die Deutsche Journalistenschule (DJS) in München deren Leiterin, HENRIETTE LÖWISCH: Gerade weil der Fokus der Ausbildung an der Schule auf Vermittlungskompetenz liegt, achtet die jeweilige Auswahlkommission bei den Bewerbern penibel darauf, dass sie spezifische Fachkompetenzen mitbringen.

Wie der Nachwuchs selbst die heutigen Qualifikationsanforderungen sieht, haben ergänzend zum Beitrag von Henriette Löwisch die DJS-Absolventen STEFAN HUNGLINGER und SERAFIN REIBER für unser Buch notiert. Hunglinger arbeitet als Nachwuchsjournalist unter anderem für die taz, Reiber ist beim Spiegel tätig. ANDREA RÖMMELE, Professorin für politische Kommunikation an der Hertie School in Berlin, blickt ebenfalls auf den Nachwuchs und beleuchtet die Ausbildung. Dabei sieht sie ein großes Defizit beim Medienmanagement. Ihr Vorschlag, nach einem Blick auf die sichtbarsten Innovatoren: Es gilt, Journalisten vermehrt auch im Management auszubilden und einzusetzen.

Relevanz für die PR

Dass Domänenkompetenz nicht nur im Journalismus, sondern auch in der vorgelagerten Presse- und Öffentlichkeitsarbeit relevant ist, betonen die Beiträge von STEFAN REKER, IRINA LOCK und CHRISTOPH HARDT. Stefan Reker, der nach langjähriger journalistischer Praxis in angesehenen Medien zum Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) in die PR gewechselt ist, erläutert, weshalb der Mangel an Domänenkompetenz in vielen Redaktionen inzwischen Unternehmen und Verbände geradezu zwingt, mit den eigenen Zielgruppen direkt und damit an den Massenmedien vorbei zu kommunizieren.

Irina Lock, Professorin für strategische Kommunikation an der Universität Jena, akzentuiert, dass für sie die Kenntnis von Journalisten und journalistischer Praxis zur Kern- ›Domänenkompetenz‹ von PR-Expertinnen und -Experten zählt. Christoph Hardt skizziert, wie er erst bei Siemens und dann beim Gesamtverband der Versicherungswirtschaft einen Newsroom eingerichtet hat, der Mitarbeiter, Medien und Öffentlichkeit unmittelbar mit Nachrichten versorgt.

… der Vorhang zu und alle Fragen offenbart

Bei der Vorbereitung dieses Buchs sind den Herausgebern viele kluge und kritische Fragen gestellt worden. Ehe der Vorhang fällt und mit Brecht viele Fragen offenbleiben, haben sie versucht, die wichtigsten zu beantworten. Dabei präzisieren die Herausgeber noch einmal, warum Domänenkompetenz, Vertikalisierung und zielgruppengerechtes Bundling drei Erfolgsfaktoren für die wirtschaftliche Grundlage des digitalisierten Qualitätsjournalismus der Zukunft sind.

Dank

Abschließend gebührt allen unser Dank, die zu diesem Buch etwas beigesteuert haben. Das Projekt hat sich verwirklichen lassen, weil die Autorinnen und Autoren auf ihr Honorar verzichtet haben. Die Herausgeber wiederum werden ihren Erlös aus dem Buch ›Reporter ohne Grenzen‹ spenden, um damit ukrainischen Journalistinnen und Journalisten zu helfen – sowie Berufskolleginnen und Kollegen aus Russland und Belarus, die sich im Exil befinden. Sie gehen hohe Risiken für eine freie Presse ein.

TEIL 2

Domänenkompetenz – das Konzept

SEBASTIAN TURNER

Deep Journalism.Eine Chance für die Qualitätsmedien

Es gibt Hoffnung für die Qualitätsmedien: Die Abwärtsspirale aus sinkenden Einnahmen und schrumpfenden Redaktionen ist nicht unabänderlich. Ein neuer Ansatz schafft jetzt die Schubumkehr. Mit ausgebauten Redaktionen und Deep Journalism lässt sich der wirtschaftliche Erfolg steigern. Der Schlüssel dazu ist die Domänenkompetenz. Wer sie entwickelt, kann bei Publikum und Einnahmen gewinnen. Dabei entsteht ein neues Mediensegment: die Domänen-Leitmedien.

Die Medien kämpfen mit einem Kompetenz-Paradox. Noch nie war das Bildungsniveau von Journalisten höher. Doch zugleich nimmt in den Redaktionen seit zwei Jahrzehnten ab, was die Wissenschaft als ›domänenspezifische Kompetenz‹ bezeichnet: die tiefe, gründliche Kenntnis von Zusammenhängen und Entwicklungen in umfassenden Fachgebieten, die über Jahre gepflegt wird und auch dann bereitsteht, wenn sich ein Thema nicht oben auf der Tagesordnung befindet. Nur mit dieser Domänenkompetenz können die Medien ihre Rolle für Gesellschaft und Demokratie wahrnehmen – als unabhängiges Frühwarnsystem, bevor Entscheidungen getroffen und Entwicklungen weit fortgeschritten sind.

Die Tragweite zeigt aktuell Russlands Überfall auf die Ukraine: Es gab eine breite öffentliche Diskussion über die Pipeline Nordstream 2. Was aber kaum oder gar nicht in der Öffentlichkeit verhandelt wurde: Wichtige deutsche Energieverteilernetze und Gasspeicher wurden in den letzten Jahren an Russland verkauft und sie leerten sich, je mehr russischen Truppen die Ukraine umzingelten. Dass es so kam, ist die Verantwortung von Politik und Wirtschaft. Dass dies nicht rechtzeitig breit diskutiert wurde, zeigt die mangelnde Domänenkompetenz der Medien. Wer verstehen will, warum die Domänenkompetenz in den Redaktionen so gelitten hat, muss den Zwiespalt kennen, in den diese die Digitalisierung geführt hat. Die digitale Revolution stellte die Medien vor eine einfache, aber schicksalhafte Frage: Sollen sie ihre Einnahmen lieber von den Lesern holen oder von der Werbung? Viele haben sich für die Werbung entschieden und damit erst ihre Inhalte und dann ihr Publikum gravierend verändert.

Werbung als zentrale Einnahmequelle hat ihre Ursprünge schon vor einem halben Jahrhundert. In den 1970er-Jahren begann die Blüte werbefinanzierter Qualitätsmedien. Sie überzeugten mit der Leseranalyse Entscheidungsträger (LAE) die Werbetreibenden davon, dass es nicht nur die breite Masse als Zielgruppe für Kaffeepulver und Waschmittel gibt. Mit Anzeigen in den Leitmedien konnten sie den ›Entscheidern‹ alles anbieten, was teuer und anspruchsvoll war, von der Bürotechnik bis zum Luxusparfüm. Die Zeitungen und Zeitschriften druckten immer mehr Anzeigen, und um die immer zahlreicheren Seiten zu füllen, bauten sie ihre Redaktionen aus. Je dicker die Hefte, desto breiter gefächert das Wissen der Redaktionen. Zugleich wurde von den Verlagen immer weiter gefasst, wer zu den Entscheidungsträgern zählt. In den 1970er-Jahren war es gut ein Prozent der Bevölkerung, bis heute hat sich der Wert verdreifacht. Drei Jahrzehnte – bis zur Jahrtausendwende – führte das werbezentrierte Modell zu besserer redaktioneller Qualität. Die Werbeeinnahmen und die redaktionelle Leistung drehten sich in einer Aufwärtsspirale. Das Betriebssystem der Qualitätsmedien funktionierte. Wer in redaktionelle Qualität investierte, verbesserte sein wirtschaftliches Ergebnis – auch wenn er nur nach den Werbeeinnahmen schielte und aus dem Blick verlor, was die ›Entscheider‹ als Medienpublikum ausmacht. Das verstärkte noch die Bezeichnung, die die Verlage dieser Gruppe anhefteten. Die Marketingdefinition ›Entscheider‹ betont die berufliche Position, aber verstellt, worum es dieser Gruppe bei der Lektüre besonders geht. Es ist das Publikum mit besonders großer Sachkenntnis, dessen Berufserfolg von better informed decisions abhängt, bei ihm verbindet sich höchste Aufmerksamkeit mit ausgeprägter Domänenkompetenz. Man könnte es von den ›Opinionleadern‹ und den ›Influencern‹, die sich durch Ichstärke und Multiplikationsfreude auszeichnen, abgrenzen als ›Competence-Leader‹ oder ›Competencer‹. Sie können in ihren Themenfeldern journalistische Qualität besonders gut beurteilen. Mit der Digitalisierung kam das Dilemma. Die seit der Jahrtausendwende boomende Digitalwerbung folgt anderen Spielregeln als die Printwerbung. Es muss nicht zuerst ein kompetenter Entscheider als zahlender Leser gewonnen werden, damit dann Anzeigen beachtet werden können. Das Publikum für die digitale Werbung kommt – oft nur für Sekunden – über Suchmaschinen und soziale Medien.

Deren Algorithmen folgen einer anderen Logik. Sie machen uns nicht entscheidungskompetent, sie reizen unsere Gefühle und bestätigen unsere Vorurteile, sie leben von der Zuspitzung und nicht von der Differenzierung. Durch immer feinere Messung der immer falscheren Signale prägte sich der Journalismus neu aus – hin zur Zuspitzung und Emotion, weg vom einordnenden, zusammenhängenden Wissen. Besonders viele Klicks bekommen die journalistischen Formate, die polarisieren. Das ist denkbar ungeeignet als Wissensbasis für umsichtige Entscheidungen. Dafür findet sich aber ein flüchtiges Millionenpublikum, das oft nur für Sekunden vorbeischaut. Dessen Werbeklicks bringen nur noch einen Bruchteil der früheren Umsätze der Printwerbung – aber immerhin etwas Geld in die Kasse. Denn die Einnahmen aus gedruckten Anzeigen brachen dramatisch ein. So sahen sich die Verlagsleute – seit Jahrzehnten fixiert auf die Werbeeinnahmen – gezwungen, den kleineren Digitalwerbeumsätzen nachzujagen. Ihre Erfahrungen sprachen dagegen, dass man bei den Lesern neue Einnahmen erzielen könnte. So schrumpften mit den Anzeigeneinnahmen auch viele Redaktionen. Das alte Betriebssystem der Qualitätsmedien kam an sein Ende. Wer nach altem Stil werbeorientiert das wirtschaftliche Ergebnis verbessern will, stutzt notgedrungen die redaktionelle Qualität.

Besonders lehrreich ist die Berg- und Talfahrt von Gruner + Jahr. Der Verlag profitierte wie kaum ein anderer vom Anschwellen der gedruckten Entscheiderwerbung. Capital, Impulse, Börseonline, die kurzlebige Financial Times Deutschland und sogar der Stern fischten mit der Leseranalyse Entscheidungsträger gewaltige Anzeigenumsätze. Inzwischen sind die meisten Medienmarken aufgegeben, der Rest dient zur Massenvermarktung als Sendeplatzlabel bei RTL. Eine klare Entscheidung für die Breite, gegen die entscheidenden Leserinnen und Leser mit höchster Kompetenz. Das ist zwar konsequent, aber letztlich auch enttäuschend.

Bei vielen Medien vollzieht sich die Abwendung von den ›Competence Leaders‹ dagegen schleichend. Die Printredaktionen wurden Jahr für Jahr reduziert und sollten zugleich die Online-Ausgaben von früh bis spät befüllen. Bei nahezu allen Medien müssen weniger Köpfe mehr Output produzieren. Die Fachleute füttern jetzt themenübergreifend im Schichtdienst das klickende Publikum, frühere Bildungsexperten schreiben über Verteidigung und Chinakundige über Sport, wo immer sie die Nachrichtenlage hintreibt, und es fehlt die Zeit, im angestammten Fachgebiet in die Tiefe zu gehen und auf dem Laufenden zu bleiben. Agenturmaterial, PR-Zulieferungen, die sich auch hinter dem Etikett ›Content Marketing‹ verbergen, und Übernahmen aus den sozialen Medien breiten sich aus. Der britische Journalist Nick Davis gab der verdünnten redaktionellen Qualität den Namen ›Churnalism‹, er beschrieb schon 2008 den »Churn«, das Abwandern der Domänenkompetenz (zit.n. PONSFORD/DAVIS 2022).

Der Kompetenzverlust zeigt sich auch bei den eingesparten Auslandskorrespondenten. In Moskau begrüßte der deutsche Botschafter um die Jahrtausendwende neunzig Korrespondenten. Selbst vor den Kriegs-Gleichschaltungsgesetzen Putins waren davon kaum mehr als zwanzig übrig. Die Aufgabe übernehmen häufig flexible Auslandsteams in den Heimatredaktionen, die gestern aus dem Hindukusch und heute aus Lwiw berichten, meist ohne örtliche Vernetzung und Sprachkenntnisse. Auch der Personalhunger der Pressestellen schmälert die Domänenkompetenz der Redaktionen. Unternehmen und Verbände betreiben eigene Newsrooms und locken ihre Fachbeobachter aus den Redaktionen mit mehr Geld und weniger Wochenendarbeit. Der Chef eines großen Verbandes wunderte sich darüber, dass er in den Redaktionen kaum noch auf Kenner seiner eigenen Branche stieß. Erst als es zu spät war, dämmerte ihm, dass er für seinen Verbandsnewsroom selbst den Markt leergekauft hatte, wie Oligarchen Torjäger für ihre Clubs. Ein Eigentor: In den Redaktionen findet seine Branche dürftiger statt, dafür sind jetzt die Ausgaben des Verbandes für PR besonders hoch.

Wie handeln gut ausgebildete, kritische Journalisten, die aber Domänenkompetenz nicht mehr ausprägen können, wenn sie dem Stoffdruck der Interessengruppen begegnen? Natürlich folgen sie nicht unkritisch der Meinungslinie eines Verbandes. Sie verschaffen sich einen Überblick über die schnell zugänglichen wesentlichen Pole im Kosmos der Interessengruppen, etwa indem sie die Standpunkte von Gewerkschaften und Arbeitgebern zu einem Thema einholen oder von Regierung und Opposition oder Industrie und NGOS.

Wenn sie ihren Standpunkt innerhalb dieses Meinungskorridors zwischen den dominanten Polen der organisierten Interessengegensätze formulieren, handeln sie nicht unkritisch, und zugleich gehen sie nicht das Risiko ein, sich mit einer abseitigen Meinung zu blamieren. Mangels eigener Domänenkompetenz sind sie zugleich im engen Spektrum des Meinungskorridors der Interessengruppen gefangen. Das geht solange gut, wie die Interessengruppen ein Interesse haben, die relevantesten Argumente ins Schaufenster zu stellen. Bilden sie ein Meinungskartell, das wichtige Aspekte ausblendet, ist der domänen-inkompetente Journalist schnell ein Kartellbruder, ob er will oder nicht.

Ein anschauliches Beispiel liefert wieder Deutschlands verfahrene Lage angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine. Die Regierung propagierte wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit mit Russland, die Opposition sprach sich vehement gegen Frackinggas aus. Die Wirtschaft trat für das günstige Pipelinegas aus Russland ein und die NGOS lagen auf Linie der Opposition – kein Flüssiggas. Es gab im konventionellen Interessenorchester einfach keine prominente Stimme, die Deutschlands gefährliche Rohstoffabhängigkeit von einem Führerstaat problematisierte oder gar LNG-Terminals forderte. Nicht einmal die hochbezahlten Risikoerspürer in den Kapitalsammelstellen erkannten die existenzbedrohende Abhängigkeit der Unternehmen, in die sie investieren. Im Meinungskorridor der Interessengruppen kam das Thema Rohstoffabhängigkeit nicht vor, und der meinungsbildende Journalismus hat es nicht gemerkt, weil er sich nicht kompetent genug fühlte, den Meinungskorridor unbegleitet zu verlassen. In nahezu allen Nachbarländern führte die öffentliche Debatte zum Aufbau von Flüssiggas-Häfen. Nicht einmal das kam im deutschen Meinungskorridor an.

Ein anderes Beispiel für einen irreführenden Meinungskorridor – harmloser und doch Bände sprechend – begegnet einem in der Kultur- und Kreativwirtschaft, zu der die Medien selbst gehören. Es gibt einen offiziellen Jahresbericht der Bundesregierung, der jedes Jahr die Entwicklung dieses Sektors dokumentiert. Bei jährlichen Gipfeltreffen von Kabinettsmitgliedern und den Spitzenvertretern der Teilbranchen vom Musikinstrumentebau über die Buchverlage und Filmer bis zu den Werbeagenturen wird der Bericht vorgestellt, und die Medien berichten darüber. Als Sprecher auf dem Kreativwirtschaftsforum der Bundesregierung im Jahr 2019 stieß ich im öffentlich zugänglichen Bericht auf einen merkwürdigen Widerspruch. Der wirtschaftliche Branchentrend war über alle Teilbranchen hinweg positiv, obwohl man im Laufe des Jahres kaum positive Nachrichten von einzelnen Unternehmen hören konnte. Es stellte sich bei der Lektüre heraus, dass in der Erhebung eine Verzerrung angelegt war, die den tatsächlichen Branchentrend in das Gegenteil verkehrte.

Die Kreativwirtschaft hatte in Wahrheit ein schlechtes Jahr. Für die Teilbranche der Spieleentwickler bestand aber keine eigene Auswertung. Um die Gamer dennoch in der Kreativwirtschaft mitzählen zu können, wurden die Zahlen der gesamten Softwarebranche einbezogen. Die Softwarebranche ist allerdings so groß und erfolgreich, dass sie alle negativen Trends der Kreativbranche mühelos überstrahlt. Die Absurdität wird deutlich, wenn man weiß, dass allein das größte deutsche Softwareunternehmen SAP größer ist als der gesamte Kunstmarkt, die gesamten darstellenden Künste, die gesamte Musikwirtschaft und die gesamte Filmwirtschaft – zusammen!

Ich konnte das nicht glauben und fragte im federführenden Wirtschaftsministerium nach. Doch – es gehe halt nicht anders, wurde mir gesagt. Ich fragte bei den Verbänden. Die meisten hatten den Bericht noch nie gelesen. Vereinzelt aber wurde mir gesagt: Ja, wir wissen von der Absurdität, das ist seit Jahren so, aber wir hängen das nicht an die große Glocke, denn so stehen wir besser da. Das Ergebnis ist ein in die Irre führender Meinungskorridor, in dem sich Verwaltungsunsinn, Verbandsoberflächlichkeit und Funktionärseitelkeit begegnen. Dass die Medien sich sogar in ihrer eigenen Domäne über Jahre in diesem irreführenden Meinungskorridor aufgehalten haben, spricht für sich.

Wer die Welt der Interessengruppen, zu denen in Deutschland allein laut Lobbyregister des Bundestages über fünftausend juristische Personen und Plattformen gehören, beobachtet, stellt immer wieder fest, dass auch die schärfsten Gegenpole in einem Themengebiet oft übereinstimmen, wenn sie eine gemeinsame Forderung zulasten der Allgemeinheit haben. Der Meinungskorridor der Interessengruppen ist naturgemäß so gut wie nie deckungsgleich mit dem öffentlichen Wohl. Wenn Journalisten nicht über die Domänenkompetenz verfügen, diese Differenzen zu erkennen, leidet die Qualität ihrer Arbeit.

Man ahnt, wie die kompetentesten Leser auf das Ausdünnen der Medien reagieren. Sie wenden sich ab. Die Auflagen fallen mit wenigen Ausnahmen und oft dramatisch. Um ihren Informationsbedarf zu füllen, nehmen die Entscheider heute dafür ganz andere Summen in die Hand: Beratungsunternehmen, Medienauswerter und deutlich ausgebaute interne Informationsabteilungen kosten deutlich mehr Geld, als je für Abonnements ausgegeben wurde. Großunternehmen zahlen für die Medienbeobachtung gerne eine Million Euro und mehr im Jahr. Davon landen bei den Verlagen, ohne deren Inhalte die Medienbeobachtung nichts zu melden hätten, aber nicht einmal ein Zehntel, was nicht zwingend für die Verhandlungsgüte der Verlage spricht.