Dem Sturm entgegen - Cecelia Ahern - E-Book

Dem Sturm entgegen E-Book

Cecelia Ahern

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Beschreibung

In einer verregneten Nacht im Dezember versucht die Ärztin Enya, einen Teenager wiederzubeleben, den sie auf einer Bergstraße in der Nähe von Dublin gefunden hat. Das Opfer einer Fahrerflucht. Der Junge überlebt, aber Enyas Leben zerbricht. Schon lange kämpft sie mit ihren inneren Dämonen, diese Nacht im Sturm treibt sie zum Handeln: Sie verlässt ihre Familie und flieht aufs Land. Doch selbst in ihrem abgelegenen Zufluchtsort wird Enya von der Regennacht heimgesucht. Kann sie unter den Zweigen eines uralten Baumes, der tausend Geschichten erzählt, den Mut finden, ihre eigene zu erzählen?

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Für Breda Keoghan

© Greenlight Go Ltd 2024

Titel der englischen Originalausgabe: »Into the Storm«, Harper Collins Publishers, London 2024

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Aus dem Englischen von Ute Brammertz und Carola Fischer

Redaktion: Hanna Bauer

Illustration Jahreskreis: © Liane Payne

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Claire Desjardins

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Der Jahreskreis

I

Wintersonnenwende

21. Dezember: Die längste Nacht

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

II

Imbolc

1. Februar: Erneuerung, Geburt und neues Wachstum

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

III

Frühjahrs-Tagundnachtgleiche

März: Licht und Dunkelheit befinden sich im Gleichgewicht

29

30

31

32

IV

Beltane

1. Mai: Die Rückkehr des Lichts

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

V

Sommersonnenwende

20. Juni: Der längste Tag des Jahres

43

44

VI

Lùghnasa

1. August: Ernte, was du säst

45

46

47

48

VII

Herbst-Tagundnachtgleiche

22. September: So viel Licht wie Dunkel

49

50

VIII

Samhain

31. Oktober – 1. November: Der Schleier zwischen den Lebenden und den Toten ist am dünnsten

51

52

53

54

55

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Der Jahreskreis

I

Wintersonnenwende

21. Dezember: Die längste Nacht

1

Unerbittlich prasselt der Regen gegen die Windschutzscheibe. Es gießt wie aus Kübeln. Als wollte jemand oder etwas sie alle in böswilliger Absicht von der Landkarte tilgen wie ein teuflisches Kleinkind, das mit einer Gießkanne über einem Ameisenhügel lauert.

Jenseits der hektischen Zuckungen ihrer Scheibenwischer kann Enya nichts erkennen. Der verschwommene Regenschleier lässt die Umgebung wie ein Trugbild oder schmelzendes heißes Wachs aussehen. Alles tropft, zerfließt und löst sich langsam auf.

Als sie nicht zum ersten Mal zu schnell in eine Kurve gefahren ist, die sie nicht hat kommen sehen, nimmt sie den Fuß vom Gaspedal. Von dem jähen Ruck wird ihr übel, und ihr Herz hämmert, mit verkrampften Schultern umklammert sie verzweifelt das Lenkrad, und ihre Kieferpartie schmerzt, weil sie fest die Zähne zusammenbeißt. Zwischen den Bergen Cruagh und Kilmashogue schlingert sie in ihrem Wagen um die schmalen kurvenreichen Straßen, die von Steinmauern und Nadelwald gesäumt werden. Die Hänge sind zerklüftet, verstreut liegen Granitbrocken, die im Laufe der Eiszeit talwärts transportiert wurden; keinen der Findlinge kann sie in dieser dunkelsten aller dunklen Nächte des kürzesten Tages im Jahr sehen, aber sie weiß, dass sie da sind. Schließlich ist sie in dieser Gegend, den Dublin Mountains, aufgewachsen, und als ihre Mutter sie zu Hause unterrichtete, fanden die Schulstunden nicht im Klassenzimmer, sondern in freier Natur statt. Bildung war etwas, das man anfasste, schmeckte, roch und erspürte.

Doch trotz ihrer ausgezeichneten Ortskenntnis sollte sie eigentlich anhalten, am Straßenrand parken und abwarten, bis das Unwetter nachlässt. Dieser starke Regen kann doch bestimmt nicht noch länger andauern. Gelegentlich geben ihre Scheinwerfer einen kurzen Blick frei auf das rasch am Fahrbahnrand entlangfließende Wasser, das davonstürzt wie ein Rudel Ratten. Irland wird verschwinden, zerrinnen, als hätten die Menschen hier nie existiert. Eine kleine Insel im Atlantischen Ozean, die sich so vollgesogen hat, dass sie auf den Meeresboden sinkt und dort wie ein Tiefseeschwamm liegen bleibt; Luftblasen an der Oberfläche als die einzigen verräterischen Anzeichen für die untergegangene durchweichte Zivilisation.

Enya beugt sich näher zum Lenkrad, ihr Rücken krümmt sich darum, sie hält es gepackt, so fest, dass ihre Knöchel hervortreten. Trotz der körperlichen Anstrengung und ihrem Versuch, sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren, schweifen ihre Gedanken ab. Hinter ihr tauchen grelle Scheinwerfer auf und erleuchten ihr Wageninneres, das andere Auto kommt gefährlich nah. Sie nimmt den Fuß vom Gaspedal, um dem Fahrer zu signalisieren, dass er zu dicht auffährt. Lautes Hupen ertönt, und in einer scharfen Biegung startet der Fahrer ein riskantes Überholmanöver und rast weiter. Mit klopfendem Herzen sieht sie den Hecklichtern nach, die in der Ferne verschwinden wie verschwommene, über ihre Scheibe rinnende Blutstropfen.

Ihr Handy klingelt. Sie drückt die Taste am Lenkrad zum Annehmen des Telefonats, und die Stimme ihrer Schwester Flora hallt während Enyas Achterbahnfahrt im Wagen wider.

»Hi«, schreit Enya, um den Regen zu übertönen. Sie geht noch ein wenig mehr vom Gas herunter.

»Wo treibst du dich an diesem verregneten Sonntag herum?«

Enya und Flora Considine, das waren ihre Mädchennamen, ehe sie beide geheiratet hatten. Irische Zwillinge, zwischen denen nur elf Monate liegen. Ihre freigeistige Mutter war ihrer Zeit voraus gewesen. Sie hatte für alle Frauen gekämpft und das Göttlich-Weibliche verehrt; eine freimütige Zeitungskolumnistin und Frauenrechtsaktivistin, die ihre beiden Töchter zu Hause unterrichtete, damit sie selbstständig denken lernten und sie selbst sein konnten. Als Enya zwölf Jahre alt war, begab sich ihre Mutter zu ihrer wöchentlichen Schwimmrunde in den Atlantischen Ozean, erlitt einen Herzinfarkt und ertrank.

»Ich bin gerade mit dem Auto unterwegs«, sagt Enya und tritt auf die Bremse, während sie um eine Kurve biegt.

»Bei dem Wetter? Pass bloß auf!« Aber Flora redet dennoch weiter. »Wir haben gemeinsam Newgrange besucht, obwohl es so geregnet hat.«

Flora ließe sich durch kein Gewitter und keinen Sturm von dem Hünengrab in der County Meath fernhalten, wo sie früher jedes Jahr zum Hill of Tara pilgerten, dem uralten sagenumwobenen Sitz der Hochkönige von Irland. In aller Frühe brachen sie auf, um sich mit ihrer Mutter, der Lichtsuchenden, an einem kalten Wintertag, dem kürzesten Tag mit der längsten Nacht, den Sonnenaufgang anzusehen. Flora ist in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten, und es ist auch ihr gelungen, fröhliche, lichterfüllte Kinder großzuziehen, die mit neugierigen Augen in die Welt hinausblicken. Enya dagegen ist seit ihrer Jugend nicht mehr nach Newgrange zurückgekehrt und würde noch nicht einmal bei strahlendem Sonnenschein in Erwägung ziehen, ihren Ehemann und ihren Sohn mitzunehmen, geschweige denn an einem Tag wie diesem.

Enya reißt das Steuer herum, das Herz pocht ihr in der Brust. Sie hat die Biegung nicht gesehen und ist direkt auf eine Steinmauer zugefahren. Ihr Mund ist wie ausgedörrt, sie hat den Atem angehalten. Die Scheinwerfer erhellen ein Warnschild für eine kurvenreiche Strecke, und sie macht sich auf den nächsten rasanten Schleuderkurs gefasst.

»Warum ich anrufe: Das Sitzordnungs-Karussell dreht sich weiter. Cormac und Jane haben sich getrennt, und er wäre an Weihnachten alleine, also laden wir ihn zum Abendessen ein. Wenn ich ihn am Tischende bei den Kindern platziere, treten sie in Streik, weil er so rabiat kitzelt, und wenn ich ihn neben Ultan setze, kriegen die beiden sich wieder wegen dieses vermaledeiten Grundstücks in die Haare.«

»Ich setze mich neben ihn.«

»Aber ich will neben dir sitzen.«

»Setz ihn auf meine andere Seite.«

»Den Platz habe ich schon Dad gegeben.«

»Dann bekommt eben Cormac Dad als Tischgenossen«, schlägt Enya vor und schaltet das Gebläse gegen die beschlagene Windschutzscheibe ein. Doch da der Ventilator zu laut für das Gespräch ist, stellt sie es wieder ab.

»Dad redet mit keinem, das weißt du. Sein gutes Ohr wird er dem Fernseher zudrehen.«

»Vielleicht braucht Cormac genau das. Wer will schon am ersten Weihnachten nach einer Trennung Konversation treiben?«

Die Fahrbahn ist glatt, Enyas Bremsen reagieren langsamer als gewöhnlich, das synchrone Arbeiten der Scheibenwischer hat etwas Wahnsinniges, und doch schaffen sie es nicht, die Sicht zu verbessern. Einen schwindelerregenden Moment lang ist ihr hektisches Hin und Her das Einzige, was Enya sehen kann.

»Aber Lugh muss neben seinem Granddad sitzen. Sie haben dieses Spielchen, bei dem Dad ihm den Rosenkohl stibitzt und das Lugh so liebt.«

»Er ist genauso gefühlsduselig wie seine Mutter.«

»Er mag keinen Rosenkohl wie sein Vater.«

»Setz Xander neben Cormac«, sagt Enya und spürt Boshaftigkeit in sich hochsteigen. Ihr Mann unterhält sich nicht gern mit Leuten, die er nicht kennt. Nach außen hin ist er vollendet charmant, aber innerlich wird ihn die Anstrengung, die ihn das kostet, bestimmt schier umbringen.

»Der sitzt schon neben Finn.«

»Und wen gibt es sonst noch?«

»Niemanden. Er sitzt ganz am Rand.«

Flora kennt die Dynamik ihrer Familie gut.

Enya kommt sich wie ein Störenfried vor, wenn sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn zusammen ist. Es ist, als würden die beiden ein Lied singen, dessen Text sie nicht kennt. Und als würden sie das absichtlich tun.

Sie hat ihren Mann bei einer Dinnerparty in einem Haus von Freunden zurückgelassen, wo er ein albernes Spiel mit zwei gleichermaßen albernen Pärchen spielt. Partyspiele sind ihr zuwider, sie findet sie unsagbar peinlich, samt der Selbstgefälligkeit dieser speziellen Bildungsbürger mit ihren Akademikerhirnen. Deshalb ist sie gegangen – höflich, sie wurde weggerufen –, als Xander gerade an der Reihe war. Wenn du als Satzzeichen auf die Erde zurückkommen könntest, welches wärst du?, lautete Xanders Frage, und er hatte zu einem Lobpreis der Vielseitigkeit des Strichpunkts angesetzt, weil er sich selbst als »verbindendes Element« betrachtet. Sie hat ihn noch nie unattraktiver gefunden. Lügner, hätte sie am liebsten laut dazwischengerufen und seine unsinnige Scharade ruiniert. Zu Hause ist er nicht der Mann, den alle anderen zu Gesicht bekommen, zu Hause gelingt es ihm keineswegs, sie drei zu einer Einheit zu verschmelzen. Er verbindet sich mit einem und schließt die Dritte aus. Sie ist sich nicht sicher, ob er vielleicht schon immer so gewesen und sie sich dessen nur im Laufe der Zeit bewusster geworden ist. Jetzt sieht sie diesen Zug an ihm ganz klar.

Der Regen prasselt immer weiter nieder. Nichts im Land wird je wieder trocken werden, tausend Jahre lang nicht. Die Menschen werden triefnass bleiben, sie werden nasse Babys großziehen und nasse Wörter von sich geben. Felsen werden von den Sturzbächen abgetragen und Bäume entwurzelt.

»Wenn ich Dad umsetze, könntest du neben Orla sitzen«, sagt Flora, und Enya weiß, dass ihre Schwester den Sitzplan vor sich hat und sich, während sie die Namen verschiebt, nüchtern jedes positive und negative Szenario ausmalt.

»Nein«, sagt Enya schroff.

Orla ist die Halbschwester der beiden. Enya ist sich nicht sicher, welche Hälfte von Orla mit ihr verwandt ist, aber ganz bestimmt nicht der Teil mit dem Herz. Nachdem die Ehe ihrer Eltern in die Brüche gegangen war, heiratete ihr Vater schon bald wieder und gründete noch eine Familie. Eine riesige Familie, die in ihrer Fülle die erste in den Hintergrund drängte und sie wie ein Überbleibsel aussehen ließ oder einen unvollendeten Gedanken, sodass Enya und Flora sich wie die Krümel ihrer ehemaligen Familie vorkamen.

Nach dem Tod ihrer Mutter zogen sie bei der Familie ihres Vaters ein, aber richtig zusammengewachsen sind sie nie, ebenso wenig fühlte es sich in den ganzen sechs Jahren, die Enya dort wohnte, je wie ein Zuhause an. Im Alter von achtzehn Jahren zog sie aus, um am Trinity College in Dublin Medizin zu studieren. Flora lernte Ultan mit siebzehn kennen, heiratete jung und bekam viele Babys. Die Schwestern sind, jede auf ihre Art, entkommen. Keine von beiden hat ohne die andere in dem Patchworkhaushalt gelebt. Es wäre undenkbar gewesen.

»Dass du das machst, ist so lieb von dir«, sagt Enya. Obwohl es eine nervenaufreibende Belastung ist, wenn ihre Familien an Weihnachten zusammenkommen, weiß sie die Mühen ihrer Schwester zu schätzen. Bliebe die Organisation so einer Zusammenkunft Enya überlassen, käme niemals etwas zustande. Dann gäbe es nur Flora und sie alleine mit einer oder drei Flaschen Wein.

»Ich wünschte, sie wäre hier«, sagt Flora auf einmal. »Wenn ich doch nur am Tisch einen Platz für sie decken könnte.«

»Warum tust du es nicht? Es könnte wie bei Gráinne Mhaol sein.«

Ihre Mutter war begeistert von dieser Geschichte, sie spielte sie nach und imitierte dabei sogar die Stimmen der verschiedenen Figuren.

Gráinne O’Malley, der berühmten »Piratenkönigin« aus den irischen Legenden, wurde von Lord Howth ein Platz an der Tafel in seiner Burg verweigert. Da die Zurückweisung gegen die traditionelle irische Gastfreundschaft verstieß, entführte Gráinne O’Malley den Sohn der Familie. Der Erbe wurde nur gegen das Versprechen zurückgegeben, dass das Burgtor zur Essenszeit niemals verschlossen sein und man bei Tisch immer einen Platz für einen unerwarteten Abendgast decken würde.

Enya fährt zu dicht an der Mauer, Bäume streifen ihren Wagen. Der Klang von Floras Stimme gibt ihr das Selbstvertrauen, ihre Fahrt fortzusetzen.

Flora sagt: »Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen? Ich muss die Sitzordnung noch einmal ändern. Oh, Enya, ich freue mich so! Mum kommt zum Abendessen!«

Ihre Mutter.

Enya stellt sich vor, wie ihre Mutter ins Meer hinauswatet. Wie sie das Salzwasser mit hohlen Händen schöpft und die Arme hineintaucht, um sich an die Temperatur zu gewöhnen.

Weihnachten im Kreise ihrer Töchter und Enkelkinder zu feiern hätte ihr sicher große Freude bereitet. Ihre Mutter verkörperte die absolute Essenz des Lebens, und das Leben war für sie ein Fest. Während der Regen auf Enyas Windschutzscheibe trommelt, stellt sie sich, nicht zum ersten Mal, die panikerfüllten, qualvollen letzten Minuten ihrer Mutter vor. Die über ihr sich brechenden Wellen, das Salz in ihren Augen, in ihrem Mund, die Strömung, die sie in die Tiefe zieht. Das Tosen der Wellen, die ungeduldig an ihr reißen, eisige Wogen, die ihr ins Fleisch schneiden. Wie die Schmerzen in ihrer Brust sie daran gehindert haben müssen, Widerstand zu leisten. Das Unwetter ringsumher hört sich wie ein brausendes Meer an. Enya hat das Gefühl, selbst in die Tiefe gerissen zu werden, als befände sie sich an der Seite ihrer Mutter.

Plötzlich bremst Enya und bringt den Wagen mitten auf der Fahrbahn zum Stehen, ihre Brust hebt und senkt sich, als wäre sie die Strecke zu Fuß gerannt.

»Ich möchte neben ihr sitzen«, sagt Enya mit wild pochendem Herzen.

»Ich auch«, sagt Flora. »Ich schmeiße die Sitzordnung noch einmal völlig um. Dann mach ich jetzt mal Schluss, damit du dich auf die Straße konzentrieren kannst. Es wird immer schlimmer da draußen. Sei bloß vorsichtig! Ich hab dich lieb.«

»Ich hab dich auch lieb.«

Enyas Windschutzscheibe ist wie ein Aquarellbild, bei dem die Farben verlaufen sind. Das Herz schlägt ihr bis in die Kehle, sie kann ihren Puls in den Ohren hören. Jederzeit könnte ein Fahrzeug hinter ihr die Straße entlangkommen und in sie hineinrasen, auch wenn der Wagen, der sie überholt hat, das einzige Auto ist, das ihr seit ihrem Aufbruch begegnet ist. Ihr Motor ist aus, ihre Lichter auch, ihre Scheibenwischer stehen still. Der Regen peitscht weiter über das Land und spült alles weg.

Ringsum nichts als Schwärze. Kein einziges Licht von einem Haus oder Auto ist zu sehen, sie befindet sich an einem völlig abgeschiedenen Fleck in den Bergen.

Am Himmel blitzt es, und eine Sekunde später bricht ein laut krachendes Donnergrollen los. Die Erde ist wütend. Sie scheint Enya anzubrüllen, sie aus ihrer Trance zu reißen und aus dem Wasser an Land zu zerren.

Sie lässt den Motor wieder an.

Die nächsten Minuten schlängelt sie sich vorsichtig mit gedrosseltem Tempo die kurvenreiche Straße entlang. In der kurzen Zeit, in der ihre Scheibenwischer die Sicht frei machen, versucht sie, so viel wie möglich zu erkennen, bevor alles wieder bedeckt ist. Diese Bergstraßen fühlen sich endlos und tückisch an. Ein Stück weiter vorn sieht sie zwei rote Lichter aufleuchten: Warnblinker.

Jemand steht mitten auf der Straße und winkt mit hoch erhobenen Händen.

Enya lässt das Fenster herunter, und augenblicklich ist das Wageninnere von dicken, kalten Tropfen durchtränkt.

Ein Mann kommt an die Fahrertür, bedrohlich nahe, sie fährt die Scheibe wieder ein Stück hoch. Er ist klatschnass. Die Baseballkappe auf seinem Kopf besitzt bei diesem Wetter nicht den geringsten Wert, und Wasser läuft vom Schirm des Caps auf Enya herunter.

»Da liegt einer auf der Straße. Er ist verletzt. Ich habe einen Krankenwagen gerufen.« Die Panik in seiner Stimme hört sich echt an.

Sie stellt den Motor ab und schnappt sich ihren Regenmantel vom Beifahrersitz. Der Mann läuft zurück zur Vorderseite seines Minivans, dessen Scheinwerfer voll eingeschaltet sind. Nicht weit entfernt von einer Baumgruppe kann Enya etwas auf der Fahrbahn erkennen.

Ehe sie aus dem Wagen steigt, trinkt sie hastig einen großen Schluck Wasser aus ihrer Flasche und greift nach ihrer Arzttasche.

2

Der Regen scheint aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen.

Er spritzt vom Boden hoch, prallt mit Wucht ab und durchnässt ihre Beine, findet irgendwie einen Weg in ihre Stiefel, durch ihre Strumpfhose, die kalt an ihrer Haut klebt. Der Wind fegt ihn seitwärts, sodass ihre Kapuze keinen Schutz bietet, sie wird ihr auf der Stelle vom Kopf geweht. Ein Regenschirm hat nicht die geringsten Überlebenschancen.

Am Straßenrand fließt ein frisch entsprungener Fluss rasch den Hügel hinunter. Enya läuft zur Vorderseite des anderen Wagens, ein Großraumtaxi. Der Fahrer kniet im Regenstrom über eine leblose Gestalt gebeugt.

Sie knallt ihre Tasche auf den Boden, was ihm einen Schreck einjagt.

»Sie sind Ärztin? Oh, Gott sei Dank«, sagt er erleichtert.

Bevor sie sich das Gesicht des Verletzten nicht richtig angesehen hat, kann sie dem Mann weder antworten noch nicken. Der Anblick des reglosen Körpers hat ihr Angst gemacht; er ähnelt ihrem eigenen Sohn so stark, dass es schon unheimlich ist.

Wie ein Knäuel nasser Wäsche, die auf den Trockner wartet, liegt er da, sie kann nur seine Kleidungsstücke erkennen. Sie sind ihr vertraut, es ist die Uniform von so vielen Teenagern in Irland. Eine Tech-Fleece-Trainingshose von Nike, eine schwarze Daunenjacke von The North Face, Turnschuhe. Unter diesem Schuttberg aus teuren Designerklamotten könnte Finn begraben sein.

Enya sinkt auf die Knie und schiebt die Kapuze aus seinem Gesicht. Kurz durchzuckt sie Erleichterung, da ihr der rote Haarschopf auf seinem Kopf verrät, dass es sich nicht um ihren Sohn handelt, aber als sie im nächsten Moment ihre blutverschmierte Hand zurückzieht, überkommt sie ein schlechtes Gewissen.

»Ich habe ihn so gefunden«, sagt der Taxifahrer schnell, besorgt.

Er befürchtet, sie könnte glauben, dass er ihn angefahren hat, was ihr nicht einmal in den Sinn gekommen ist – bis jetzt.

»Ist er ansprechbar?«

»Nein. Aber er hat einen Puls«, sagt er.

»Können Sie meinen Regenschirm aus dem Wagen holen? Er liegt im Kofferraum.«

Ein riesengroßer Golfschirm hat vielleicht Chancen, diese Böen zu überstehen.

Voller Eifer stapft der Mann zurück zu ihrem Auto, seine Baumwolljogginghose ist schwer vor Nässe, besonders der Saum, der auf der Straße schleift.

»Hi, ich heiße Dr. Enya Pickering. Ein Krankenwagen ist schon auf dem Weg hierher. Ich werde dir helfen, okay? Alles wird gut.«

Unter dem Ärmel ertastet sie die Hand des Jungen und drückt sie tröstend, denn sie denkt, wenn dies ihr Sohn wäre, würde sie wollen, dass er in einer solchen Situation von fürsorglicher Liebe umgeben ist, aber sie würde außerdem wollen, dass er sich in den Händen einer kompetenten Ärztin befindet, eine, die keine Zeit verliert und gleich von Anfang an die richtigen Entscheidungen trifft. Jede Sekunde zählt, jede Entscheidung zu diesem Zeitpunkt kann den Ausschlag geben, ob sein Leben gerettet wird oder ob sie ihn verliert. Sie kontrolliert seine Vitalzeichen.

Seine Augen sind geschlossen. Wie nicht anders zu erwarten, fühlt sich seine Haut im Nacken kalt und feucht an. Sein Puls ist schwach.

Enya hat gar nicht bemerkt, dass der Taxifahrer zurückgekehrt ist und nun mit dem Regenschirm über ihr steht. Der Schirm ist riesengroß und robust, stark genug, um dem Wind zu trotzen. Der Taxifahrer müht sich ab, ihn zum Schutz vor dem Regen über ihnen aufrecht in die Höhe zu halten. Vorsichtig rollt Enya den Jungen in die stabile Seitenlage. Das Blut rinnt von seinem Kopf in den vorüberströmenden Regenbach und verfärbt das Wasser im grellen Scheinwerferlicht pink.

»Da ist Blut«, sagt der Taxifahrer verängstigt.

Sie legt dem Jungen eine Hand an den Kopf und neigt ihn behutsam nach hinten. Dann kontrolliert sie seine Atmung.

Keine Luft. Kein Atem.

Sie bringt das Gesicht nahe an seinen Mund und wartet auf seinen nächsten Atemzug.

Abermals tastet sie nach seinem Puls, der jedoch nicht mehr vorhanden ist.

»Nein, nein«, sagt sie und dreht ihn wieder auf den Rücken. »Er atmet nicht.«

»O Gott«, wimmert der Taxifahrer. »Du lieber Gott!«

Enya öffnet den Reißverschluss der schwarzen The-North-Face-Jacke, unter der ein Nike-T-Shirt zum Vorschein kommt, eines mit dem gleichen roten Logo in der Mitte, wie es Finn auch hat. Wieder vergewissert sie sich mit einem Blick auf sein Gesicht, dass er es nicht ist. Alles an diesem Teenager kommt ihr unglaublich vertraut vor. Wenn sie doch nur wüsste, wie er heißt …

Dreißig Herzdruckbewegungen, gefolgt von zweimal Mund-zu-Mund-Beatmung, sie strengt sich gewaltig an, um seinen Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen.

»Halten Sie den Schirm gerade«, schimpft sie einmal, als der eisige Regen auf sie beide niederprasselt.

»Tut mir leid, tut mir leid. Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Halten Sie nach herannahenden Fahrzeugen Ausschau, in beiden Richtungen«, sagt sie. Sie befinden sich mitten auf der schmalen Straße, direkt hinter einer Kurve, die Situation ist für sie alle gefährlich.

Enya neigt den Kopf des Teenagers nach hinten, hebt sein Kinn mit zwei Fingern an, hält ihm die Nase zu, legt ihren Mund fest über seinen und bläst gleichmäßig und fest ihre Atemluft hinein.

Wieder erhellt ein Blitz den Himmel, fünf Sekunden später grollt der Donner. Unter diesen Umständen ist es nicht ideal, in einem Wasserstrom zu liegen. Oder einen Schirm zu halten. Da sie es nicht mit zwei Patienten zu tun bekommen will, weist sie den Mann an, den Schirm zu senken – woraufhin er ihn zu Boden fallen lässt, als stünde er in Flammen, bevor sie wieder Hals und Handgelenk des Jungen nach einem Puls abtastet.

»Da ist ein Puls.«

»Gott sei Dank, ach, Gott sei Dank!«

Sie jubiliert nicht, denn wer weiß, wie lange es so bleiben wird, und der sintflutartige Regen durchnässt sie alle bis auf die Knochen. »Wo bleibt der Krankenwagen?«

»Rufe ich besser noch mal an?«

»Wissen Sie, wie der Junge heißt?«

»Ich kenne ihn überhaupt nicht. Ich habe ihn genau so gefunden«, sagt er, wieder defensiv.

»Haben Sie eine Decke?«

»Ich weiß es nicht«, sagt er, kaum zu einem klaren Gedanken fähig. Er kneift sich in die Nase und konzentriert sich. »Nein.«

Enya versucht so weit wie möglich, den Jungen mithilfe ihres Körpers vor dem Regen zu schützen, aber es ist zwecklos, sie tropft ihn nur voll. Dann zieht sie den Regenmantel aus und legt ihn über den Verletzten.

Schweigend warten sie.

»Ich habe ihn nicht angefahren«, wiederholt er. »Ich habe ihn so gefunden.«

Wieder grollt der Donner, und ein Blitz flammt am nächtlichen Himmel auf. Enya greift nach dem Regenschirm und öffnet ihn. Dann hält sie ihn über den Jungen, weil sie eine trockene, sichere Welt für ihn erschaffen möchte.

»Ist das ratsam?«

Sie betrachtet den Jungen, insgeheim flehend, eindringlich betend, als wäre er ihr eigener Sohn.

Aus der Ferne hört sie Sirenengeheul, und ihr fällt ein Stein vom Herzen. Sie kontrolliert noch einmal seine Vitalzeichen, um sich zu vergewissern, dass sie alles in ihrer Macht Stehende für ihn getan hat. Mit trockenem Mund lässt sie die Hand in die Tasche der Jacke gleiten, die über dem Jungen liegt, schiebt einen Pfefferminzkaugummi aus der Packung und steckt ihn sich in den Mund. Mit aller Kraft zerkaut sie ihn und spürt das kalte Brennen der Pfefferminze auf der Zunge.

Kalte, dicke Regentropfen treffen sie am Kopf. Enya blickt auf. Sie fallen vom Schirm an der Kappe des Taxifahrers, der jetzt hinter ihr steht, sie beobachtet und jede ihrer Bewegungen registriert.

»Ich heiße Oscar.«

3

»Ich habe ihn gefunden«, erklärt Oscar den Sanitätern bei ihrem Eintreffen. Er schreit sie quasi an. »Er lag auf der Straße, als ich angefahren kam. Ich habe gerade noch rechtzeitig angehalten. Ich hätte ihn überfahren können, aber das ist nicht passiert. Ich habe ihn nicht angefahren.«

Oscars Panik und seine Rechtfertigungen bestimmen den ersten Eindruck der Sanitäter von dem Geschehen, bevor die ruhige und bedächtige Dr. Enya Pickering dazwischengeht und sich vorstellt.

»Ich bin Allgemeinärztin und habe seine Vitalzeichen kontrolliert. Ich bin seit ungefähr einer Viertelstunde hier. Erst hatte er einen Puls, aber dann nicht mehr. Nach einer Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung kam der Puls zurück.«

Ein knappes Nicken, und die Sanitäter lassen sich zu Boden sinken, um ihn zu untersuchen.

»Er hat eine Kopfwunde. Bei meiner Ankunft lag er auf dem Rücken.«

»Ich habe ihn nicht angerührt«, versichert Oscar ihnen abermals, »ich habe gleich den Notruf gewählt.«

»Lassen Sie die Sanitäter ihre Arbeit machen«, rät Enya ihm leise und versucht, ihn aus deren Wirkungskreis zu ziehen, bevor er sich noch um Kopf und Kragen redet.

Sie treten zurück, während die Rettungshelfer sich um alles kümmern, und auf einmal spürt Enya den bitteren Frost der Dezembernacht, der längsten, dunkelsten und, wie es sich jetzt anfühlt, der kältesten Nacht des Jahres.

Die Sanitäter legen den Teenager auf die Trage und bringen ihn zum Krankenwagen. Auch der Streifenwagen der Gardaí ist mittlerweile eingetroffen, der Beamte und die Beamtin besprechen sich mit den Sanitätern, die möglichst schnell wegwollen, und dann wenden sie sich zuerst an Oscar, der alles andere als gelassen ist und auf panische, aber unbeirrbare Weise lautstark wiederholt, der Junge habe bereits bei seinem Eintreffen auf der Straße gelegen.

Nachdem die beiden Gardaí Oscar in die Zange genommen haben, ist Enya an der Reihe. Sie erzählt ihnen, wie sie Oscar mitten auf der Straße angetroffen, wie er sie im Scheinwerferlicht seines Minivans angehalten hat. Der Junge befand sich vor dem Taxi auf der Straße. Sie bleibt ganz in der Rolle der Ärztin, versucht, Ruhe zu bewahren. Mit keinem Wort erwähnt sie ihre Erleichterung, dass es nicht ihr Sohn war; die anschließenden schrecklichen Schuldgefühle. Irgendwo würde eine Mutter schon bald die schlimmstmögliche Nachricht mitgeteilt bekommen.

Jetzt zittert sie heftig, ihre Zähne klappern, ihre Lippen müssen blau sein. Sie hat sich alle Mühe gegeben, professionell zu bleiben, aber da nun die Profis übernehmen und sie in den Hintergrund tritt, gesteht sie sich ein, dass sie wahrscheinlich unter Schock steht. Sie ist nass bis auf die Knochen. Ihre dicke, schwarze Strumpfhose war kein Schutz gegen die harte, kalte Straße, und sie merkt, dass sie sein Blut an den Händen hat und unter den Fingernägeln.

Oscar sitzt in seinem Taxi und sieht ihnen zu, als könnte er jedes Wort hören, das sie sagen, was unmöglich ist. Nicht bei dem Wind und Regen, der Heizung, die zweifellos in seinem Fahrzeug läuft. Sein intensives Starren macht Enya nervös. Sie wendet das Gesicht ein wenig von ihm ab, sodass sie ihm nicht frontal zugewandt ist und er ihr nicht von den Lippen ablesen kann.

»Woher kommen Sie?«, fragt Garda A gerade.

»Ich habe bei einem Patienten einen Hausbesuch gemacht. In Roundwood. Heute Abend habe ich Bereitschaft bei E-Doc.« Der ärztliche Notfalldienst außerhalb der Sprechzeiten. »Ich wohne in Enniskerry, und man hat mich gegen acht Uhr abends gerufen.« Sie betet die Adresse und den Namen des Patienten herunter, um sich möglichst kooperativ zu zeigen.

Oscar beobachtet sie unverwandt durch die Windschutzscheibe. Es ist beunruhigend. Mit einem Schaudern wendet sie den Blick ab. Garda B deutet ihre Körpersprache.

»Wie hat er sich benommen, als Sie am Unfallort eingetroffen sind?«

»Natürlich war er komplett durch den Wind. Er hatte bereits einen Notruf abgesetzt und schien über meine Hilfe erleichtert zu sein. Er hat zwar nicht gewusst, was zu tun war, aber er wollte sich nützlich machen. Er wollte helfen.«

»Er hat gesagt, er habe ihn nicht angefahren. Hat er das Ihnen gegenüber auch erwähnt?«

»Ja. Ja, hat er. Ich glaube ihm. Es ist eine traumatische Erfahrung, an eine Unfallstelle zu kommen, da kann man sich kaum normal verhalten. Ich bin Ärztin, und ich bin erst nach ihm eingetroffen, aber selbst mich hat es mitgenommen.«

»Zum Glück für den Jungen haben Sie es geschafft, auch unter Druck nicht die Nerven zu verlieren«, sagt die Beamtin und notiert rasch etwas. »Vielleicht haben Sie ihm das Leben gerettet.«

»Das hoffe ich. Ich habe einen Sohn in seinem Alter.« Ihre Stimme zittert, und sie fährt sich mit der Hand an den Mund. Ihr ist schlecht. Auf einmal spürt sie eine Woge mütterlicher Liebe für den Jungen auf der Straße, als wären von einem Moment auf den anderen all ihre Erinnerungen an Finn mit seinem Gesicht ersetzt, als wären die beiden miteinander verschmolzen und zu einem einzigen Menschen geworden. »Das hoffe ich inständig.«

Aber die Gardaí haben die Straße gesperrt, weil es womöglich einen Unfall mit Todesfolge zu untersuchen gilt. Genau wie Enya wissen sie, dass das Leben des Jungen am seidenen Faden hängt.

4

Früher am Abend war es Enya mit dem Nachhausekommen nicht eilig gewesen, doch jetzt kann sie es kaum erwarten. Sie muss Finn sehen, ihn halten. Sie muss jeden Zentimeter seines Gesichts küssen und ihn einatmen und ihm sagen, dass sie ihn liebt, und darf ihn nie wieder loslassen. Erleichtert biegt sie in die kleine Straße zu ihrem Haus in Enniskerry, doch trotz der großen Sehnsucht nach ihrem Sohn überkommt sie beim Anblick von Tonlegee House hinter den hohen Eisenstäben des elektrischen Tors der nervöse Drang, zu wenden und wieder wegzufahren.

Das denkmalgeschützte viktorianische Herrenhaus in idyllischer Lage mit malerischer Aussicht befindet sich schon seit Generationen im Besitz von Xanders Familie. Seine Mutter hat es ihm testamentarisch vermacht, ein absoluter Frevel in den Augen seiner Geschwister, die davon ausgegangen waren, zu gleichen Teilen zu erben. Seine Geschwister fochten das Testament an. Sie hatten das Heim der Familie von jeher nur verkaufen und den Erlös untereinander aufteilen wollen, aber da Mildred Pickering gewusst hatte, dass ihr Nesthäkchen das Haus behalten, darin leben und es der nächsten Generation weitervererben würde, hatte sie das Testament ihres Ehemannes geändert. Enya hatte nicht gefunden, dass das Haus das Zerwürfnis mit Xanders Brüdern und seiner Schwester wert war, außerdem war sie in ihrem eigenen Zuhause rundum zufrieden gewesen, doch Xander hatte im Namen seiner Mutter darauf bestanden. Seitdem hat er kein Wort mehr mit seinen Geschwistern gewechselt.

Um den Frieden in Xanders Familie und auch in ihrer eigenen zu wahren, sträubte Enya sich gegen den Umzug. Ihr erstes Haus war ein Neubau, sie hatte die Fliesen, den Kamin, die Türklinken und die Küche ausgesucht. Sie hatte entschieden, wie viele Schubladen sie für ihre Töpfe und Pfannen benötigten und welche Farbe der Fugenkitt haben sollte. Sie hatte die Wandfarben, die Vorhänge und den Zweck jeder einzelnen Nische genauestens durchdacht. Auf diese Weise hatte sie ihnen ein Nest gebaut. Es war schön gewesen, Finns Kinderzimmer neben ihrem Schlafzimmer zu haben, in vielen Nächten hatte sie sich aus dem Bett geschlichen und war neben ihm unter die Decke geschlüpft, um seinen Atemzügen zu lauschen, seinem süßen Atem, seinem Schmetterlingsherzen. Es war ihr Zuhause gewesen, mit ihrem Sohn und ihrem Ehemann.

Zu behaupten, sie hätten sich als Paar verloren, als sie das Zuhause verließen, das sie gemeinsam geschaffen hatten, wäre eine allzu einfache und außerdem schrecklich sentimentale Erklärung. Aber der Umzug in ein Haus ohne jegliche Spur davon, wer sie sind, ohne die Möglichkeit, dass Enya ihm ihren Stempel aufdrücken konnte, markierte wohl doch eine Zäsur, nach der ihnen allmählich das Wesentliche abhandenkam. Manchmal hat sie das Gefühl, dass sie so schlecht zueinander passend und funktionsuntüchtig sind wie die Gegenstände in dem prächtigen Haus; so stillstehend wie der Speisenaufzug, so verbindungslos wie die alte Telefonzentrale im Esszimmer, so verschlossen wie die alten Bücher in ihren Schutzumschlägen und so nutzlos wie das leere antike Bücherregal, das überhaupt keine Last mehr tragen kann.

Das Haus ist noch ganz genauso möbliert wie zu der Zeit, als Xanders Mutter dort lebte und deren Mutter vor ihr. Die Einrichtung besteht aus Schreibpulten, zierlichen Stühlen und massiven Büfetts aus schwerem Holz, dunkle modrige Möbel, die Platz wegnehmen und niemals benutzt werden. Sie sind eher wie Museumsstücke, als dass sie brauchbaren Stauraum bieten würden. Die Böden knarzen und sind an manchen Stellen uneben, es gibt eine unbetretbare Dienstbotentreppe, die es ohne Weiteres mit dem Schiefen Turm von Pisa aufnehmen könnte.

Das Licht in der Bibliothek verrät ihr, dass Xander zu Hause ist. Sie stellt sich vor, wie er in seinem Sessel sitzt, einen Brandy trinkt und durch alte Autozeitschriften blättert oder die Lieblingsromane seiner Mutter liest. Aus Neugier hatte er einmal nach einem gegriffen und daraufhin festgestellt, dass er ein Faible für anzüglichen Klatsch und historische Romanzen besitzt, auch wenn er es anderen gegenüber niemals zugeben würde. Enya ist kein Snob, was seine Lesegewohnheiten betrifft, aber sie reagiert empfindlich auf sein ständiges Bestreben, seine Mutter wieder zum Leben zu erwecken und sich so zu verhalten, als wäre sie immer noch bei ihnen. Es hat mehr mit einer Exhumierung als mit freudigem Gedenken gemeinsam. Seit Enya zwölf ist, lebt sie nun schon mit der kalten, unabänderlichen Tatsache, dass ihre Mutter tot ist.

Es ist bloß ein Haus, aber seit ihrem Einzug dort hat ihre Beziehung einen Knacks bekommen. Sie existieren in diesen vier Wänden, aber Enya kann nicht mit Gewissheit sagen, ob sie tatsächlich darin leben.

Sie reißt sich zusammen und drückt auf den Knopf für das elektrische Tor.

Nachdem sie den Wagen geparkt hat, bleibt sie einen Moment lang sitzen und atmet tief durch, damit das Adrenalin des Abends ihren Körper verlässt. In wenigen Augenblicken wird sie zu ihrem Sohn zurückkehren – irgendwo dort draußen ist eine Mutter, deren Leben nie wieder das gleiche sein wird. Hoffentlich sind die letzten Momente der beiden besonders gewesen, hoffentlich haben sie sich umarmt und einander gesagt, dass sie sich lieb haben. Dann versucht sie, sich daran zu erinnern, wie sie sich bei ihrem Aufbruch von Finn verabschiedet hat; wie üblich hat sie über das Dröhnen seiner Musik hinweg durch seine abgesperrte Zimmertür gerufen. Im Rückspiegel bemerkt sie Scheinwerferlicht hinter sich und erkennt das silberblaue Großraumtaxi. Oscar muss ihr zu ihrem Haus gefolgt sein.

Sie steigt aus dem Wagen aus und kehrt im Laufschritt über den losen Kies der Zufahrt zu dem jetzt geschlossenen Tor zurück, in der Erwartung, ihr grimmiger Blick werde Oscar verscheuchen. Stattdessen betrachtet er ihr Handeln als Aufforderung und steigt ebenfalls aus. Bei laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern steht er wie ein dunkler Schatten an der offenen Autotür.

»Sie sind mir gefolgt!«, sagt sie, und obwohl sie versucht, nicht die Stimme zu heben, klingt sie schrill.

Enyas Haus liegt an einem abgelegenen Sträßchen in den Wicklow Mountains, aber sie hat eine Nachbarin, die auf keinen Fall die Genugtuung haben soll, auch nur den kleinsten Einblick in Enyas Angelegenheiten zu erhalten.

»Es tut mir leid«, sagt er und hebt die Hände abwehrend in die Höhe. Er tritt noch ein Stück weiter von seinem Wagen weg und ist jetzt, jenseits des grellen Scheinwerferlichts, deutlicher zu erkennen. »Ich wollte Ihnen keinen Schreck einjagen. Ich möchte bloß wissen, was die Gardaí gesagt haben.«

»Bestimmt haben sie Ihnen genau die gleichen Fragen gestellt wie mir.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

»Ich habe ihnen erzählt, was passiert ist.«

»Mich haben sie ins Röhrchen pusten lassen. Bei Ihnen haben sie das nicht gemacht.«

Möglicherweise bildet sie sich seinen Tonfall ein, vielleicht ist es reine Paranoia, dass seine Worte vorwurfsvoll klingen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt Xander auf einmal von der Haustür aus.

Die Sicherheitsbeleuchtung geht an. Er kommt in seinen Hausschuhen über den Kies.

»Ja. Der Mann fährt gerade wieder.« Leise sagt sie zu Oscar: »Bitte kommen Sie nie wieder zu mir nach Hause.«

»Die Sache ist nicht vorüber«, sagt er nervös. »Die Gardaí behandeln die Unfallstelle wie einen Tatort. Sie werden die Ermittlungen aufnehmen. Wir hängen da beide drin. Sie und ich.«

Enya entfernt sich von ihm, kommt Xander auf halber Strecke entgegen und legt ihm eine Hand an die Taille, weil sie ihn zurück zum Haus führen will.

»Komm, gehen wir.«

Er bleibt wie angewurzelt stehen.

»Komm schon.« Sie zieht an ihm. »Ich erkläre es dir drinnen.«

Endlich gibt er nach und geht mit ihr mit, allerdings nicht, ohne sich zu Oscar umzuwenden und ihm einen möglichst einschüchternden Blick zuzuwerfen. Doch Xander ist noch nie sonderlich einschüchternd gewesen, kein Mann, der besitzergreifend auftritt oder Streit sucht. Üblicherweise ist er arrogant, bis er schließlich winselnd davonläuft und sich, wenn überhaupt, mithilfe eines Anwaltsschreibens zur Wehr setzt. Irgendwie dumm und schwach, wenn es hart auf hart kommt. Er ist gut darin, die Wange hinzuhalten, wenn andere ihm unrecht tun.

Xander ist akkurat, ordentlich, gepflegt. Er macht sich nicht die Hände schmutzig. In gewissen Situationen aus dem Praxisalltag kann Enya ihn sich nicht vorstellen. Die meisten Unannehmlichkeiten delegiert er an andere: eine Krankenschwester, die zweimal die Woche in der Praxis ist; an einem Tag für Abstriche und an einem anderen Tag für Blutabnahmen. Obwohl sie tagein, tagaus Seite an Seite in der Praxis arbeiten, kann Enya sich nicht vorstellen, wie Xander eine dieser Tätigkeiten ausführt; er verabscheut Gerüche und unangenehme Berührungen. Unter der Bettdecke nähert er sich ihr allerdings auf ausgesprochen medizinische Weise. Er stochert an ihr herum, als wäre er ein heikles Kind, das sein Gemüse nicht essen will. Er knabbert an den Körperteilen, die ihm zusagen. Seine Berührungen ähneln einer pedantischen, prüden Untersuchung.

Sie spürt dann seinen Unmut und kann es nicht genießen, denn sie will ganz verschlungen werden, mit Haut und Haaren.

»Worum ging es da gerade? Wer in aller Welt war das?«, will er wissen, wobei er die Hausschuhe auszieht und umdreht, um den Gartenkies in die hohle Hand zu schütteln.

Enya zittert immer noch, und obwohl sie unbedingt zu Finn möchte, nimmt sie auf einem zierlichen Stuhl Platz – wenn es sich doch bloß nicht so anfühlen würde, als säße sie auf einem Knochengerippe – und berichtet Xander, was an diesem Abend passiert ist. Selbst in ihrer Benommenheit nimmt sie wahr, wie Xander sich verkrampft, als sie ihm von den Wiederbelebungsmaßnahmen erzählt, wie sich seine Stirn kräuselt und die Kieferpartie verspannt angesichts der Tatsache, dass seine Frau jemanden gerettet hat, aber nicht ihn. Die Eifersucht zirkuliert in seinem Blut wie ein Gift.

»Warum hat die Polizei den Taxifahrer nicht festgenommen?«

»Weil er es nicht war.«

»Das weißt du nicht.«

»Er ist erst eingetroffen, nachdem der Junge angefahren worden war.«

»Behauptet er.«

Noch mehr Drama, dabei würde sie den ganzen Abend am liebsten einfach komplett vergessen. Das Blut am Kopf des Jungen. Das Nike T-Shirt, das sie so sehr an Finn erinnert hat. Der Geschmack seiner Lippen, als sie ihn beatmet hat.

»Warum hast du ihn Mund zu Mund beatmet?«, fragt er und sieht ein wenig entsetzt aus. »Eine reine Herzdruckmassage ist genauso effektiv.«

»Ich habe mir größere Sorgen gemacht, dass er sterben könnte, als dass ich mir Corona einfange.«

»Das habe ich nicht gemeint. Du bist weiter gegangen, als nötig war.«

Sie schüttelt ihre Stiefel ab und lässt sie an der Tür liegen, denn sie kann es kaum erwarten, die durchnässte Strumpfhose auszuziehen. Obwohl sie die Heizung im Auto voll aufgedreht hatte, fühlen sich ihre Füße immer noch wie Eisklötze an. Das Adrenalin ist weg, und jetzt spürt sie bleierne Schwere in ihren Gliedern und Erschöpfung. Ein Migräneanfall naht, und sie vernimmt die ersten Anzeichen eines Pfeifens in der Brust. Als sie die Strumpfhose auszieht, sind ihre Beine knallrot. Dann wirft sie den nassen Klumpen in den Abfall, weil sie ihn nie wieder tragen möchte.

»Er hat mich so stark an Finn erinnert. Ähnliches Alter. Die gleichen Klamotten. Du kennst doch den schwarzen Tech-Fleece-Trainingsanzug von Nike …?« Abermals überkommt sie Übelkeit. »Der arme Junge«, sagt sie, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie schließt sie und ruft sich den Moment in Erinnerung. »Die ganze Zeit habe ich nur an meinen Sohn gedacht.«

»Unseren Sohn.«

Sie öffnet die Augen. »Was?«

»Unseren Sohn. Du hast meinen Sohn gesagt.«

»Ich wollte damit ausdrücken, dass ich auch an die Mutter des Jungen gedacht habe. Ich habe mich mit ihr verbunden gefühlt. Er war ihr Sohn, aber ich habe ständig an meinen Sohn gedacht.« Sie sieht ihn in der Hoffnung an, dass er den Unterschied begreift. »Wo ist Finn?«

»Oben in seinem Zimmer.«

Es ist ein altes Haus, die Dielen knarren, als sie anfängt, schwerfällig die Treppe hochzustapfen.

»Wie ging es dem Baby?«, ruft Xander ihr nach.

»Welchem Baby?«

»Das Baby, nach dem du gesehen hast. Das mit dem Fieber, wegen dem du dringend Hals über Kopf die Dinnerparty verlassen musstest.«

»Es war alles in Ordnung.« Sie will weitergehen und auf keinen Fall den nächsten Streit vom Zaun brechen. »Frischgebackene Eltern. Sie hatten einfach Panik.« Sie steigt wieder die Treppe nach oben.

»Du hättest keinen Hausbesuch bei ihnen machen müssen. Ein Notfall war das ja wohl nicht.«

Ist sie überempfindlich, oder will er sie daran hindern, zu Finn zu gelangen? Abermals bleibt sie stehen.

»Erinnerst du dich noch daran, wie du dich aufgeführt hast, als Finn ein Baby war? Du hast in jedem Zimmer die Temperatur gemessen, damit ihm nicht zu heiß wird.« Sie lächelt. Im Grunde tut sie nur so, damit er sich wieder beruhigt, und die Strategie geht auf. Die Zeit damals war alles andere als lustig, Xander als junger Vater war so angespannt, dass die ersten Wochen dank ihm anstrengender waren, als sie es hätten sein sollen. Im Grunde machte er ihr keine Vorschriften, aber er übernahm die Führung, und da sie es müde wurde, zu widersprechen, es müde wurde, ständig müde zu sein, folgte sie seinem Beispiel schließlich in dem Glauben, er werde im Laufe der Zeit lockerer mit der Situation umgehen. Das war nicht geschehen. Nun sind sie an diesem Punkt angelangt: Er versucht nach wie vor, ihr im Weg zu stehen.

Xander lächelt und entspannt sich. Wie ein älteres Model in einem Werbespot für Head & Shoulders fährt er sich mit der Hand durchs Haar. Er ist attraktiv. Das sieht sie nicht immer so, aber wenn er sich entspannt, wird kurzzeitig wieder der Mann erkennbar, den sie damals kennengelernt hat. Wenn er sich doch bloß nicht die Haare färben würde … Und bei ihr kommentiert er jedes neue graue Haar, das hält er für hilfreich.

»Ich schaue kurz nach Finn und werde dann baden. Mir ist, als würde mir nie wieder warm werden.«

Sie geht die beiden Treppenläufe nach oben bis zum Dachboden, den sie extra für Finn ausgebaut haben. Er bewohnt die ganze oberste Etage und hat kaum einen Anlass, je herunterzukommen und sich zu ihnen zu gesellen. Enya fand es zwar schön, einen Teil dieses Hauses zu seinem Reich zu machen, bereut es aber, dass ihre Umbauarbeiten ihren Sohn weiter weg von ihr in seine eigene Höhle getrieben haben. Während er Montag bis Freitag im Internat wohnt, verbringt er die Wochenenden daheim, doch selbst dann bekommt sie ihn kaum zu Gesicht.

Abends zieht sich jeder in seine eigene, entlegene Ecke des Hauses zurück. Nicht einmal die Mahlzeiten nehmen sie gemeinsam ein. Jedenfalls lebte Enya in dem Glauben, bis sie Finn und Xander dabei erwischt hat, wie sie zusammen auf dem Sofa beim Fernsehen zu Abend aßen. Zwischen den beiden, in ihrer Beziehung und ihrer Unterhaltung, herrschte eine Leichtigkeit, die nichts Verlegenes oder Gezwungenes an sich hatte. Xander muss in Finns Beisein nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, denn er versucht nicht, den Frieden zu bewahren, wie Enya es tut. Er benimmt sich nicht, als wollte er Finn für sich gewinnen, wie Enya es tut; sie geht wie auf Eiern, um bloß nichts Falsches zu dem Menschen zu sagen, der in ihr herangewachsen ist.

Sie hat die beiden lachen, beiläufig ein Fußballspiel kommentieren gehört, eine Geheimsprache, die ihr versagt bleibt. Selbst nach dem Schweigen sehnt sie sich, denn es ist nicht betreten. Keiner verspürt den Drang, es mit Worten zu füllen.

Ihre bloße Gegenwart, ihr ständiges Bemühen ändert die Atmosphäre. Sie bringt die Blase zum Zerplatzen, zerstört den Zauber. Enya hat versucht, sich leise heranzuschleichen, nur um bei den beiden zu sitzen und sich dazugehörig zu fühlen, an der Verbindung teilzuhaben, aber für einen von ihnen wird es unweigerlich erdrückend. Finn verfällt dann in Schweigen und wird gehemmt, Xander reagiert gereizt.

Sie hat gemeinsame Tätigkeiten mit Finn ersonnen, Ausflüge, Hobbys, von denen sie glaubt, dass er sich dafür interessieren könnte. Doch sie scheinen ihn allesamt anzuwidern. Im Besonderen scheint ihm mehr gemeinsame Zeit mit ihr gegen den Strich zu gehen. Stattdessen muss sie sich verbiegen und sich den beiden und ihren Interessen anpassen.

Ganz anders als ihre eigene Mutter.

Ihre Mutter hat sich nie für andere verbogen, sondern besaß ihr ureigenes festes Wesen. Sie war furchtlos und streitlustig, eigensinnig und laut, nachdenklich und herzlich. Bis sie nicht mehr war.

Enya klopft an Finns Zimmertür.

»Hi, Süßer. Darf ich reinkommen?«

»Nein. Ich bin nicht angezogen. Ich komme gerade aus der Dusche.«

Es ist spät für eine Dusche – nach Mitternacht –, aber sie verkneift sich einen Kommentar. Er ist über die Weihnachtsferien zu Hause, und sein üblicher Tagesablauf ist durcheinandergeraten. Späte Abende und langes Ausschlafen scheinen auf dem Programm zu stehen. In ihrer Brust macht sich allmählich ein Rasseln bemerkbar, und sie rechnet zu Weihnachten mit einer Bronchitis.

»Was willst du?«

»Ich will mich nur vergewissern, dass alles bei dir in Ordnung ist.«

»Mir geht’s gut. Warum?«

Sie legt die Stirn an seine Tür. Sie ist ihm so nah, aber immer ist ein Hindernis zwischen ihnen.

»Heute Abend war ich an einem Unfallort. Ein Junge in deinem Alter ist von einem Auto angefahren worden. Ich habe ihn wiederbelebt und …« Sie atmet bebend ein. »Er hat dir so ähnlichgesehen, da habe ich mir einfach Sorgen um dich gemacht.«

Einen Moment lang ist er still, und als er wieder etwas sagt, muss er direkt an der Tür stehen.

»Mir geht’s gut«, sagt er mit einer tiefen Stimme, die ihn wie ein Mann klingen lässt. »Ist mit ihm alles okay? Hast du ihn gerettet?«

Sie hält sich die Hände vors Gesicht, weil ihr wieder übel ist. »Man hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Kann ich wenigstens dein Gesicht sehen?«

Er öffnet die Tür einen Spaltbreit. Steckt den Kopf hindurch und streckt ihr frech die Zunge heraus.

»Darf ich dich umarmen?«

Mit einem Ächzen zieht er die Tür auf. Sie betritt sein Reich. Es riecht nach ihm; ein Mischmasch aus Aftershaves, mit denen er herumexperimentiert hat. Am liebsten würde sie mit ihm dort drinnen bleiben, sich gemeinsam einpuppen, wie sie es früher immer gemacht haben, aber im Grunde will er nicht einmal, dass sie sich umsieht. Ein Schritt über die Schwelle muss genügen. Zumindest lässt er sich von ihr umarmen, und nach einem Moment spürt sie, wie sich seine Arme fester um sie legen, während er die Umarmung erwidert. Seine Reaktion überrascht sie, aber sie ist dankbar. Sie haben sich schon sehr lange nicht mehr so innig in die Arme genommen.

»Danke«, flüstert sie. »Ich habe dich unglaublich lieb.«

»Das Bad läuft ein!«, verkündet Xander, der am Fuß der Treppe steht. Finn lässt sie rasch los, die Tür schließt sich wieder, und Enya schafft es gerade noch rechtzeitig, den Fuß wegzuziehen.

Seufzend steigt sie die Treppe hinunter. Ihre Beine zittern so heftig, dass sie sich am Geländer festhalten muss.

»Danke«, sagt sie leise im Vorübergehen zu Xander.

Während sie darauf wartet, dass die Badewanne voll ist, holt Enya eine Mappe aus ihrem Arbeitszimmer. Insgeheim ist ihr Xanders Vorliebe für die Bücher seiner Mutter immer aufgestoßen, aber in jüngster Zeit hat sie selbst Gefallen daran gefunden, die letzten Kolumnen zu lesen, die ihre Mutter im Jahr vor ihrem Tod für eine Zeitungsmagazinbeilage geschrieben hat. Heute Abend braucht sie ihre Mutter. Sie braucht ihre Worte. Wäre sie noch am Leben, würde Enya bei ihr anrufen, würde Hals über Kopf zu ihr fahren. Jetzt hat sie nur ihre Worte, ihre Gedanken, ihre Einsichten und forscht darin nach Sinn und Trost. Vorsichtig legt sie die Mappe auf dem Toilettendeckel ab und greift danach, sobald sie in der Wanne sitzt, um den Eintrag ihrer Mutter aus dem Jahr 1988 mit dem heutigen Datum, dem 21. Dezember, zu lesen.

Das Licht hereinlassen

Von Brighíd Ní Braonán

Seit zwölf Jahren pilgere ich jedes Jahr zur Wintersonnenwende zum Hill of Tara in der County Meath. Ich habe schon immer die Kraft verspürt, die jener besonderen Erde, dem Sitz der Macht der Hochkönige von Irland, innewohnt. Wenn meine Füße den Boden betreten, den die großen Clans, Könige, Königinnen und Fürsten beherrscht haben, umgeben von Monumenten, die aus der Jungsteinzeit bis hin zur Eisenzeit stammen oder gar aus der Hünenzeit, fühle ich, wie sich unsere keltischen Wurzeln machtvoll in meiner Seele regen. Ob es nun auf der Pilgerwanderung ist oder beim Betrachten des Sonnenaufgangs, das von Geschichte und irischer Mythologie durchdrungene Land auf mich wirken zu lassen, war für mich immer ein Quell der Heilung, etwas Nährendes.

In diesem Jahr widerfuhr mir der große Segen, dass ich zusammen mit einer Handvoll anderer Glückspilze eingeladen wurde, das gewaltige Wunder der megalithischen Grabanlage Newgrange zu erleben; ein Hünengrab, das älter als die großen Pyramiden von Gizeh ist. Zur Wintersonnenwende, dem Tag des Jahres mit dem frühesten Sonnenuntergang und der längsten Nacht, offenbart sich die raffinierte Bauweise der Anlage.

Ich war dort und habe es mir zusammen mit meinen zwei kleinen Begleiterinnen angesehen, beide so fest ineinander verschlungen, als wollten sie ein einziger Mensch sein. Am Morgen der Wintersonnenwende drang ein Lichtstrahl durch eine Öffnung über dem Eingang und wanderte den Gang hoch in die Kammer. Während die Sonne aufging, wurde der Strahl immer breiter, sodass die ganze Kammer erleuchtet wurde.

Wir wissen mittlerweile alle, was dort physikalisch betrachtet abläuft, aber was in meinem Inneren vor sich ging, hat mein Leben von Grund auf verändert. Das scheinbar übernatürliche Licht hatte, während es wie Honig in die dunkle Kammer floss, um seinen Raum einzufordern, eine ebenso große Wirkung auf mein Herz wie auf meinen Kopf. Was da in die Kammer drang, schien mehr als Licht zu sein, oder vielleicht war es auch die hoch konzentrierte Form des Lichts, die ihm diese kraftvolle, heilende Energie verlieh. Ich hatte das Gefühl, dass wir im Herzen des Grabes standen und es dank des Lichts lebendig war und schlug.

Das Licht erhellte die Kammer siebzehn Minuten lang, aber in meinem Herzen wird es für immer weiterstrahlen. Wir alle verließen das Grab mit einer kleinen Portion Magie in unserem Inneren. Es war ein außergewöhnliches Geschenk, und ich kann nur hoffen, dass meine beiden kleinen Mädchen, Enya und Flora, noch als Erwachsene von dem Lichtschauspiel zehren können, das wir heute gemeinsam erlebt haben.

Während es Enya vorkommt, als löse sich ihr Körper in dem warmen Schaumwasser auf, hält sie sich an dem Gefühl fest, das die Worte ihrer Mutter in ihr auslösen. Sie sehnt sich zusammen mit ihrer Mutter zurück in den sicheren Kokon jener Kammer. An ihrer Hand, an ihren Körper gedrückt, während die aufgeregte Nervosität darüber, was wohl in dem engen und dicht gedrängten Raum geschehen wird, sie durchströmt. Die Worte wärmen ihr Herz, aber es reicht nicht; sie braucht noch eine stärkere Verbindung zu ihrer Mutter. So nah wie in dem Moment, als sie vorhin am Abend im Auto das Gefühl hatte, gemeinsam mit ihrer Mutter zu ertrinken, hat sie sich ihr schon seit langer Zeit nicht mehr gefühlt. Enya legt die Mappe mit dem Artikel beiseite, lässt sich tiefer in die Wanne gleiten und taucht unter.

Brigid war zwar ertrunken, aber das hatte weder bei Enya noch bei Flora eine Angst vor dem Wasser ausgelöst; der Herzinfarkt hatte sie am Schwimmen gehindert, nicht das Wasser selbst. Nur an einem besonders wilden und stürmischen Tag, wenn das Meer einem gefährlichen Raubtier ähnelt, beschleicht Enya das Gefühl, dass die Fluten ihr ihre Mutter entrissen haben. Erst heute Abend im Auto, als sie mitten auf der Straße angehalten hat, als die Regentropfen darum zu kämpfen schienen, ins Wageninnere zu gelangen und sie anzugreifen wie Wellen über ihrem Kopf, hat sie tatsächlich so empfunden. Ein Moment der Verbindung zu den letzten Augenblicken im Leben ihrer Mutter hat sie am ganzen Leib erzittern lassen.

Plötzlich schnellt sie in der Badewanne zurück an die Oberfläche, sodass Wasser über den Rand schwappt. Mit einem lauten Keuchen schnappt sie nach Luft und tastet am Boden neben der Wanne nach dem Handtuch. Enya hat unter Wasser lediglich bis zwanzig zählen können. Wie lange hatte es gedauert, bis ihre Mutter gestorben war?

5

Enya zittert so heftig, dass sie beide Hände braucht, um den medizinischen Mundspatel, der sie immer an einen Eisstiel erinnert, zu benutzen. Eine Hand am Spatel, die andere, um ihn ruhig zu halten, während sie ihn in Ken Duffys Rachen schiebt. Er muss sich so stark darauf konzentrieren, nicht zu würgen, dass er keine Notiz von ihrem Zittern nimmt.

Sie hat es mit einer weiß belegten Zunge und einem erstickten Lied zu tun.

»Ken«, sagt sie lächelnd. »Schon gut, das hier ist keine Gesangsübung. Ich muss bis ganz nach hinten sehen, bis in den Rachenraum. Ein Aaah genügt.«

»Aaah.«

»Da ist er ja, das ist mit Abstand der beste Adamsapfel, den ich den ganzen Tag zu sehen bekommen habe.«

Er lacht. Gewöhnlich ist sie entspannt, wenn sie die eine Sache macht, bei der sie sich auskennt, eine ärztliche Behandlung, aber heute kommt sie nicht gegen das Zittern an, das von ihrem gesamten Körper Besitz ergriffen hat. Sobald Ken Duffy fort ist, muss sie sich unbedingt eine Minute Auszeit nehmen, um sich wieder zu sammeln.