Dem Tode knapp entronnen - Dieter Rösel - E-Book

Dem Tode knapp entronnen E-Book

Dieter Rösel

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Beschreibung

Paul George führt ein Leben aus Licht und Schatten. Mit neunzehn, nach einer stürmischen aber behüteten Jugend im ländlichen Unna, meldet er sich freiwillig zur Bundeswehr und löst im Elternhaus Dramen aus. Mutter George ist nicht davon angetan, dass ihr Junge aus dem Nest flüchten will. Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt, als er zur Luftwaffe einberufen wird. Nach seiner infanteristischen, von Störfällen und Anekdoten durchsetzten Grundausbildung auf Sylt, schlägt Paul George die Flugzeugführerlaufbahn ein, die ihn in den kommenden Jahren quer durch Deutschland und 1961 schließlich über den großen Teich in die USA führen soll. In New Orleans erwarten ihn nicht nur neue Aufgaben, sondern auch erste Bekanntschaften mit Amerikanerinnen. Feldwebel George unternimmt Dienstreisen u. a. bis nach San Francisco, entgeht wie durch ein Wunder einem Flugzeugabsturz, überlebt Wirbelstürme und Dengue-Fieber in den Südstaaten bevor es 1966 wieder zurück in die Heimat und für weitere Abenteuer in die Schweiz geht. Dieter Rösels auf wahren Begebenheiten beruhender Roman bildet nicht nur eine Chronik des abwechslungsreichen, erfüllten Leben Paul Georges, sondern auch einen turbulenten Querschnitt der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts.

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Hinweis:Die erste Auflage des Romans ist unter dem Buchtitel „Paul George“, (ISBN 978-3-8280-3572-0, Frieling-Verlag, Berlin, 2020) erschienen.

Inhalt

Vorwort

Kindheit und Jugend

Friedland

Unna

Sturm und Drang

Pauls Zeit bei der Bundeswehr

List auf Sylt

Uetersen I

Memmingen

Uetersen II

Hangelar

Uetersen III

Landsberg/Lech

Mengen

Köln-Wahn

New Orleans I

San Francisco

New Orleans II

Beruf und Familie

München

Bonn I

Madrid

Bonn II

Genf

Bonn III

Sankt Augustin I

Berlin

Ruhestand

Sankt Augustin II

Vorwort

Die in diesem Buch enthaltenen Geschichten sind fiktiv. Sie haben jedoch wahre Begebenheiten als Hintergrund. Gleichzeitig stellen sie einen Querschnitt durch die Zeitgeschichte dar. Namen und Orte wurden aus Gründen des Datenschutzes verändert bzw. sind rein zufällig.

Ich wünsche den Leserinnen und Lesern viel Freude beim Lesen.

Dieter Rösel Sankt Augustin, den 23. Juni 2020

Kindheit und Jugend

Friedland

Die Geburt

Paul Georges Ankunft auf dieser Welt war ursprünglich für den 13. Juni des Jahres 1937 von den Ärzten vorausberechnet worden. Diese Rechnung ging allerdings nicht auf, denn der Dreizehnte, obwohl er nicht auf einen Freitag fiel, behagte Paul nicht. Er hatte damals schon seinen eigenen Kopf. Warum sollte er sich beeilen? Bei Muttern ging es ihm doch gut. Nach reiflicher Überlegung suchte er sich den 23. Juni 1937 als Ankunftstag auf diesem Planeten aus. So erblickte er an diesem Tage im schlesischen Friedland bei Waldenburg zur Freude seiner Eltern das Licht der Welt. Dass es sich bei diesem Datum um den luxemburgischen Nationalfeiertag handelte, konnte er damals noch nicht wissen. Nun feiern das Großherzogtum Luxemburg und Paul ihre Ehrentage jedes Jahr gemeinsam. Sobald Vater George (Wilhelm) erfuhr, dass Mutter George (Erika) einen Stammhalter zur Welt gebracht hatte, sprang er im Nebenzimmer vom Stuhl auf und rief: „Hurra, ein Junge! Ein Junge!“ So wurde jedenfalls später berichtet.

Bis auf eine im westfälischen Unna wohnende Großmutter hatte Paul George keine Großeltern mehr. Gott sei Dank, gab es aber noch die Urgroßeltern. Sie waren beide glücklich, dass Pauls Eltern in ihrer Nähe wohnten. Paul Georges Urgroßvater, ein im Ruhestand lebender Grubenbeamter, hatte sich mit seiner Frau nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst in das ruhige, kleinstädtische Friedland zurückgezogen. Friedland war eine Stadt der Ruheständler. Der Ort lag an einem Gebirgsbach und war von lauschigen Wäldern umgeben. Die Urgroßeltern waren Pauls kleiner Familie sehr zugetan. Sie standen seinen Eltern stets mit Rat und Tat zur Seite und halfen ihnen, wo sie nur konnten. Das gemeinsame Glück währte leider nicht lange. Die Verdienstmöglichkeiten in Friedland waren für Pauls Vater begrenzt. So bewarb er sich eines Tages bei der Stadtverwaltung in Unna (Westfalen), wo er dann bis Kriegsende als Angestellter tätig sein würde. Im Frühjahr 1938 kam nun für alle die Stunde des Abschieds. Es müssen viele Tränen geflossen sein. Zu allem Unglück war Paulchen kurz vor der Übersiedlung nach Westfalen so schwer erkrankt, dass ihn ein deutscher Arzt bereits aufgegeben hatte. In ihrer Verzweiflung hatte Mutter George im Nachbarort einen jüdischen Arzt konsultiert, der Paul mit Mitteln aus der Naturheilkunde kuriert hatte. Mutter und Vater waren diesem Mann ewig dankbar.

Unna

Der Umzug

Die Übersiedlung nach Unna, Stadtteil Königsborn, fand, wie schon erwähnt, im Frühjahr des Jahres 1938 statt. Pauls Eltern fanden im ersten Stock eines Hotelanbaus eine geräumige Dreizimmerwohnung mit Küche, aber ohne Bad. Die Toilette befand sich in einem Zwischengeschoss zwischen dem ersten Stockwerk und dem Erdgeschoss. Sie wurde von drei Familien benutzt. Das hatte zur Folge, dass man gelegentlich vor dem „stillen Örtchen“ Schlange stehen musste. Pauls einzige verbliebene Großmutter lebte schon seit vielen Jahren als Kriegerwitwe in Unna. Man nannte sie „Omi“.

Nur eine kurze Bemerkung zum Stadtteil Königsborn: Königsborn war ein vornehmer Stadtteil und nannte sich Bad Königsborn. Es gab ein mondänes Badehaus, Kuranlagen, ein Wäldchen und als besondere Attraktion eine Solequelle, die viele Kurgäste anlockte. Die Quelle befand sich in einer Windmühle, welche Sole aus der Tiefe ans Tageslicht pumpte. In deren unmittelbarer Nähe standen große Gradierwerke, an deren Hecken Sole herunterlief und unten in breiten Rinnen und Röhren aufgefangen wurde. Die Sole lief anschließend durch eine unterirdische Rohrleitung zu einer in der Nähe befindlichen Kochsalzgewinnungsanlage. Die vorher erwähnte Windmühle mit der Solequelle erhielt den Namen „Friedrichsborn“ zu Ehren des preußischen Königs Friedrich II. (des Großen). Unna wurde bereits im Jahre 1734 preußisch!

Sieben Monate nach dem Umzug ins westfälische Unna wurde am 6. Dezember 1938, am Nikolaustag, Pauls jüngerer Bruder Horst geboren. Keine eineinhalb Jahre später, am 1. April 1940 (kein Aprilscherz!), erblickte Pauls Schwester Ulrike (Rike) das Licht der Welt.

Die ersten Auswirkungen eines langen Krieges

Seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten standen die Zeichen auf Krieg und im September 1939 war die bis dahin friedliche Zeit vorbei. An Vater Georges neuem Arbeitsplatz wurde ihm zu verstehen gegeben, dass es für ihn und die Familie auch im Interesse einer Beibehaltung seines Arbeitsplatzes besser sei, der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) beizutreten. Was blieb ihm als Ernährer einer fünfköpfigen Familie anderes übrig, als in den „sauren Apfel“ zu beißen und der Partei beizutreten? Die Mitgliedschaft in der NSDAP war damals eine Art Existenzgarantie. Im Jahre 1940 wurde Pauls Vater zur Wehrmacht (Luftwaffe) eingezogen und nach einer Grundausbildung in Quakenbrück an einen kleinen Feldflugplatz bei Hilversum in den Niederlanden versetzt. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes war er vom Außendienst befreit und durfte in der Schreibstube Dienst tun. Mutter George war nun mit den drei Kindern allein auf sich gestellt. Eines Tages bemerkte Paul, dass die Mutter sehr bedrückt war und ein verweintes Gesicht hatte. Es war etwa um die gleiche Zeit, als deren Nachbarin – sie hatte einen Sohn in Pauls Alter – die Nachricht erhielt, dass ihr Mann an der Ostfront vermisst, höchstwahrscheinlich aber gefallen sei. Paul fragte die Mutter, warum sie weine. Darauf antwortete sie: „Ich bin traurig, weil der Papa nicht bei uns sein kann.“ Nun versuchte Paul sie zu trösten. Er soll gesagt haben: „Mutti, sei doch nicht traurig, ich bin doch noch da.“ Eines Tages zog Tante Gerti (Mutter Georges Schwester) mit ihrer Familie in die Nähe der Familie George. Was lag nun näher, als dass die Schwestern gelegentlich nachmittags, wenn die Ehemänner im Dienst bzw. auf der Arbeit waren, sich gegenseitig besuchten und einen Kaffeeklatsch abhielten?

Eine Episode mit bösen Folgen

Es muss an einem Regentag im Monat Juni gewesen sein, als sich Mutter George wieder einmal zu einem Plausch zu ihrer Schwester begeben hatte. Vorher hatte sie die Kinder zum Schlafen in ihre Bettchen gelegt und die Tür zum Flur verschlossen. Es musste schon eine Stunde vergangen sein, als Paul plötzlich durch ein Geräusch aufwachte. War es Donnergrollen oder ein lautes Türenschlagen bei den Nachbarn? So genau weiß er es nicht mehr. Horst und Rike schliefen noch fest in ihren mit einem Hochgatter umgebenen Bettchen. Jedenfalls galt Pauls erster Gedanke der Mutter. Zuerst wollte er nach ihr rufen. Da er seine schlafenden Geschwister nicht wecken wollte, ließ er diesen Gedanken fallen. Wo war bloß die Mutter? Zu diesem Zeitpunkt war er noch ein echtes Muttersöhnchen. Nachdem er aus dem Bett geklettert war und die ganze Wohnung nach ihr abgesucht hatte und sie nirgends entdecken konnte, kroch Panik in ihm hoch. Schließlich kam ihm die Idee, dass die Mutter nur einige Häuser weiter bei Tante Gerti sein könne. Sein Entschluss stand fest. Er musste seine Mutter bei Tante Gerti suchen und hoffentlich auch finden. Was tat er nun? Angesichts des regnerischen Wetters konnte er doch unmöglich im Schlafanzug durch die Gegend laufen. Also öffnete er einige Schrankschubladen, um sich etwas zum Anziehen zu suchen. Er fand nur einen übergroßen Pullover und ein Paar riesige Socken vom Vater. Diese Sachen zog er an und begab sich zur Tür. Diese war jedoch verschlossen. Aber er war ja damals schon ein schlaues Kerlchen. Längst schon hatte er mitbekommen, wo die Türschlüssel zu finden waren. Sie hingen an einem Schlüsselbrett neben der Tür. Da er aber nicht groß genug war, um an die Schlüssel heranzukommen, nahm er einen in der Nähe stehenden Stuhl zu Hilfe, schnappte sich ein paar Schlüssel, um sie im Schlüsselloch auszuprobieren. Schließlich passte einer von ihnen. Leider ließ er sich nicht drehen. Seine schwachen Kräfte reichten nicht aus. Jetzt war seine Intelligenz gefragt. Was machte er? Er nahm einen zweiten Schlüssel mit einem besonders langen Bart und steckte diesen in die gelochte Rundung des oberen Schlüsselteils vom ersten Schlüssel und begann zu drehen. Und siehe da! Er hatte die Hebelwirkung zwar nicht erfunden, aber für sich selber entdeckt. Den zweiten Schlüssel als Hebel nutzend, drehte er so lange, bis der Türriegel aufsprang und sich die Tür leicht öffnen ließ. Jetzt war der Weg frei zur lieben Mutter. Ab ging es durchs Treppenhaus auf die Straße. Es regnete heftig. Dort tapste er mit den dicken Socken seines Vaters an den Füßen durch tiefe Pfützen, bis er vor Tante Gertis Haustür stand. Tante Gerti öffnete und war bleich vor Schreck. Mit dem Gesicht zur Wohnstube gewandt, rief sie: „Erika, der Paul ist hier!“ Mutter George antwortete ungläubig: „Das ist doch wohl ein Scherz.“ Als Paulchen dann in der Stube stand, klappte bei ihr der Kiefer herunter. Eine Nachbarin, die das gemütliche Kaffeetrio komplettierte, sagte: „Was will denn der Dreikäsehoch hier. Der Junge ist ja total durchnässt.“ Sowohl an die Situation, als auch an die Worte erinnerte er sich noch später. Die nun folgenden Ereignisse kannte er nur vom Hörensagen: Wenige Tage später bekam er hohes Fieber und klagte gleichzeitig über starke Leibschmerzen. Mutter George machte kalte Kompressen an Stirn und Waden, um das Fieber zu senken und legte ihm eine Wärmflasche auf den Bauch. Als am übernächsten Tag das Fieber nicht zurückging und die Leibschmerzen immer stärker wurden, schleppte ihn Mutter George zu ihrem Hausarzt. Als dieser seinen Leib abtastete, wusste er sofort, was los war. „Es handelt sich um eine akute Blinddarmentzündung. Vielleicht ist es aber auch schon zu einem Durchbruch gekommen. Der Junge muss auf dem schnellstem Wege ins Krankenhaus“, war sein Kommentar. Ohne lange zu zögern, fuhr er Mutter George und Paul in seinem privaten Auto ins Evangelische Krankenhaus in Unna. Dort wurde Paul, wie man ihm später erzählte, ohne große Vorbereitung auf den Operationstisch gepackt und am Blinddarm operiert. Die schlimmsten Befürchtungen wurden noch übertroffen. Der Blinddarm war bereits geplatzt und der Eiter hatte sich in die Bauchhöhle ergossen. Die Ärzte konnten nicht sagen, ob er die Operation überstehen werde. Mutter George wurde der Vorwurf gemacht, mit Paul nicht rechtzeitig einen Arzt aufgesucht zu haben. Mit der Wärmflasche habe sie den Blinddarm erst zum Platzen gebracht.

Paulchens erster Krankenhausaufenthalt

Als Paul in der Nacht aus der Narkose erwachte, wusste er nicht, wo er sich befand. Instinktiv rief er nach der Mutter. Das „Mutti, Mutti!“ muss wohl so laut gewesen sein, dass die Frauen, auf deren Station er untergebracht war, das Licht anmachten und nach der Nachtschwester klingelten. Inzwischen soll er aber schon dem Bett entstiegen sein, die Zimmertür geöffnet haben und mit Pflaster und großem Wundverband über den Krankenhausflur gewatschelt sein. Ein Arzt und eine Krankenschwester nahmen die Verfolgung auf. Sie folgten bei der Jagd nach ihm, dem entlaufenen Knirps, der blutigen Spur, die der sich abwickelnde Wundverband hinterlassen hatte. Erst am Ende des Flures wurde Paul wieder eingefangen. Danach muss er wohl eine Injektion mit einem starken Schlafmittel erhalten haben, sodass er erst am späten Nachmittag des darauffolgenden Tages aus einem Tiefschlaf erwachte. Seine ersten Worte sollen „Mutti, wo bist du?“ gewesen sein. Als er sich dann herumdrehte und die Augen öffnete, saß die Mutter neben ihm und hielt sein kleines Händchen. Sie hatte Tränen in den Augen und seufzte: „Mein Junge, mein Junge, der liebe Gott hat dich nicht sterben lassen.“ Nach einer Weile musste Paul wohl wieder eingeschlafen sein. Als er am nächsten Tag aufwachte, war die Mutter nicht mehr an seinem Bett. Da soll er einen furchtbaren Terz gemacht haben. So erzählten es die Frauen, auf deren Zimmer er noch immer lag, seiner Mutter, als sie ihn am Nachmittag des darauffolgenden Tages wieder besuchte. Es habe ziemlich lange gedauert, bis ihn die Frauen und die Ärztin beruhigt hatten. Seine Gefühlswelt muss derart aufgewühlt gewesen sein, dass er sich beim Anblick der Mutter abrupt wegdrehte und sich weigerte, mit ihr zu sprechen. Er war dermaßen von ihr enttäuscht und hatte das Gefühl, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte. Sonst hätte sie ihn doch nicht im Stich gelassen, während er schlief. Sie redete danach lange auf ihn ein und es dauerte auch sehr lange, bis sie ihm klarmachen konnte, dass sie nicht nur für ihn da sein konnte und dass noch zwei kleine Geschwisterchen da waren, für die sie sorgen musste. Er wollte doch sicher nicht, dass Horst und Rike verhungern. Paulchen ließ die Mutter an diesem Tage nicht eher gehen, bis sie ihm versprochen hatte, am nächsten Tage wiederzukommen. Seit dieser Zeit vollzog sich in ihm eine Wandlung und ein Abnabelungsprozess begann. Mutter kam wie immer, regelmäßig nachmittags zur offiziellen Besuchszeit. Besuche außerhalb der vorgeschriebenen Besuchszeit waren nicht erlaubt.

Nun war Paul schon 14 Tage im Krankenhaus und aus der für heutige Verhältnisse großen Wunde, die hatte genäht und geklammert werden müssen, floss noch immer Eiter. Das Röhrchen, aus dem der Eiter abgeleitet wurde, musste des Öfteren ausgetauscht bzw. desinfiziert werden. Seinen vierten Geburtstag verbrachte er im Krankenhaus. Mutter George brachte ihm zum Geschenk Erdbeeren mit. Sie stammten aus Tante Gertis Garten. Sie schmeckten köstlich. Endlich, nach vier langen Wochen wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Jedenfalls war er in seinem kurzen Leben dem Totengräber zum zweiten Male von der Schippe gesprungen.

Wieder zu Hause

Zu Hause angekommen, wurde Pauls Geburtstag nachgefeiert. Als herausragendes Geschenk erhielt er ein Dreirad. Vater George, der in Uniform – die übrigens einen großen Eindruck bei Paul hinterließ – gerade zu einem kurzen Fronturlaub daheim war, hatte zur Überraschung der Kinder einige Tafeln Schokolade und Pralinen mitgebracht. Die Kinder machten in ihrem Leben zum ersten Male mit diesem süßen Naschwerk Bekanntschaft. Am meisten freute Paul sich jedoch über das Dreirad. Er war ganz euphorisch und ließ keine Gelegenheit aus, damit zu fahren, egal, ob es in der Wohnung, auf dem Flur oder sonst wo war. Mutter und Vater mahnten immerzu, damit nicht zu übertreiben. Er hätte auf sie hören sollen. Zwei Wochen später musste er erneut ins Krankenhaus. Er hatte sich durch das anstrengende Treten beim Dreiradfahren einen Leistenbruch zugezogen und musste wieder einmal operiert werden. Doch diesmal empfand er den Krankenhausaufenthalt als nicht so schwerwiegend. Schließlich hatte er ja schon Routine mit den Abläufen in einem Hospital. Nach einer Woche wurde er als geheilt entlassen. Danach lief alles wieder in ruhigen Bahnen.

Kriegsalltag mit kleineren und heiteren Episoden

Die Kinder wuchsen unablässig und hatten stets einen gesegneten Appetit. Hin und wieder nahm Mutter George ihren Großen mit zum Einkaufen, was er aber als langweilig empfand. Eines Mittags gab es bei ihnen Möhrengemüse mit Mettwurst. Es war nicht unbedingt sein Lieblingsessen und ist es auch heute noch nicht. Als die Mutter sah, wie er mit dem Löffel so lieblos im Gemüse herumstocherte, sagte sie zu ihm: „Paul, das Gemüse ist ein Geschenk vom lieben Gott. Wenn du das Gemüse nicht isst, ist dir der liebe Gott böse.“ Darauf soll Paul ganz betont geantwortet haben: „Beim Gemüse mag das ja stimmen, aber nicht bei der Wurst. Die Wurst haben wir beide doch heute früh beim Metzger gekauft. Das weiß ich ganz genau!“

Tante Gerti und Onkel Bruno zogen eines Tages in eine Zechensiedlung am nördlichen Stadtrand von Unna. Man nannte die Gegend „Kolonie“. Onkel Bruno war Grubenschlosser und hatte das große Glück, von seinem Arbeitgeber ein kleines Reihenhaus zugewiesen zu bekommen. In unmittelbarer Nähe befand sich auch ein größeres Wehrmachtsarsenal (Heereszeugamt).

Im Jahr 1941 verstarb Paul Georges Urgroßmutter in Friedland/Schlesien. Da der Urgroßvater keine Angehörigen mehr in Friedland hatte, zog er von dort nach Unna zu seinen Verwandten. Im Hause von Tante Gerti und Onkel Bruno fand der alte Mann (Jahrgang 1855) eine Bleibe. Tante Gerti war seine älteste und Pauls Mutter seine jüngste Enkeltochter. Seine beiden Enkeltöchter hatten ihm jeweils drei Urenkel geschenkt. Außerdem wohnte seine verwitwete Schwiegertochter, also Pauls Omi, ebenfalls in der Nähe. So hatte die ganze Sippe zusammengefunden. Urgroßvater, man nannte ihn Moni, machte einige Male in der Woche von seiner neuen Bleibe aus einen ausgedehnten Spaziergang zu Georges in Königsborn, das heißt, zur Familie seiner jüngsten Enkeltochter. Das hielt ihn rüstig.

Die Zeit verging. Die Kinder wuchsen heran. Eine Szene aus der Kindheit ist Paul noch gut in Erinnerung: An einem regnerischen Nachmittag spielten sein Bruder Horst und er auf dem Küchenboden mit Bauklötzen, die sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hatten, und bauten damit Häuser, Türme und Brücken. Die kleine Schwester Rike (ihr korrekter Name ist Ulrike) saß wie immer in ihrem Kinderstühlchen und sah ihren Brüdern dabei zu. Sie nuckelte genüsslich am Milchfläschchen, welches ihr die Mutter vorher zubereitet hatte, und ließ ihre Füßchen, die noch nicht bis auf den Boden reichten, hin und her pendeln. Jedes Mal, wenn die Brüder ein Bauwerk vollendet hatten, ging Horst mit einer höllischen Freude daran, dieses gleich wieder zu zerstören. Horsts Verhalten fand Paul gar nicht so amüsant. Es kam Ärger in ihm auf. Bald kochte er vor Wut und rief die Mutter herbei, um auf Horst mäßigend einzureden. Das half wenig. Schließlich gab Paul das gemeinsame Spielen auf und zog sich zurück. Derweil hatte sich das Schwesterchen köstlich über ihren Streit amüsiert und hörte nicht mehr auf zu lachen, fuchtelte dazu mit ihren Händchen in der Luft herum, bis ihr das Fläschchen aus der Hand fiel und Horst von oben bis unten mit Milch bespritzte.

Es muss etwa Mitte 1942 gewesen sein, als Mutter George die Nachricht erhielt, dass Vater George mit Geschwüren am Zwölffingerdarm von Holland aus ins Wehrmachtslazarett nach Bochum-Langendreer verlegt worden sei. Da hatte Mutter George nichts Eiligeres zu tun, als mit Paul per Bahn von Unna nach Bochum zu reisen, um den Vater zu besuchen. Sie fuhren vom Kleinbahnhof Königsborn auf einer Nebenstrecke über Dortmund nach Bochum. Paul kann sich heute noch an die unbequemen Holzsitze in den Waggons erinnern. Omi passte derweil auf die jüngeren Geschwister auf. Da bekannt war, dass Zivilpersonen keinen Zutritt ins Lazarett hatten, versuchten die beiden Besucher, auf die Rückseite des Gebäudes zu gelangen, um Kontakt mit dem Vater aufzunehmen. Er schien sie schon erwartet zu haben und stand erwartungsvoll, mit einem dunkelblauen Trainingsanzug bekleidet, auf dem Balkon seines Zimmers im Erdgeschoss. Auf beiden Seiten war die Wiedersehensfreude groß. Bald wurde Pauls Vater wieder ins Zimmer zurückgerufen. Mutter George und Paul traten die Heimfahrt an. Es dauerte noch ein paar Wochen, dann wurde Vater als „wehruntauglich“ ausgemustert und kam heim.

Max und Moritz

1942 befand sich Deutschland mitten im Krieg (Zweiter Weltkrieg). Bestimmte Lebensmittel wurden rationiert. Dafür gab es nun Lebensmittelkarten, auf denen die zustehende Menge ausgedruckt war. Soweit sich Paul erinnern kann, war unter anderem auch die Milchzuteilung davon betroffen. Jeden Vormittag kam in ihrer Straße ein mit einem Pferd bespannter Milchwagen vorbei. Auf der Ladefläche hinter dem Kutschbock befanden sich zwei große Edelstahlbehälter, die Voll- bzw. Magermilch enthielten. Die Milchausgabe erfolgte über Zapfhähne, ähnlich wie beim Bierausschank. Vor jedem Haus ließ der Milchverkäufer eine Glocke hell erklingen und aus den Häusern kamen Kinder und Erwachsene herausgelaufen. Sie hatten alle kleine Milchkannen oder Töpfe in den Händen und ließen diese mit Voll- bzw. Magermilch füllen. Häufig bekamen Paul und Bruder Horst von der Mutter auch eine kleine Kanne in die Hand gedrückt, um Milch zu holen. Das haben Paul und Horst immer gerne getan. Es war viel angenehmer, als in die Hausarbeit mit eingespannt zu werden. Gelegentlich legten die Mütter den Kindern das abgezählte Milchgeld in die Kanne und es wurde vergessen, das Geld vor dem Abfüllen der Kanne zu entnehmen. Schadenfreude und Bedauern hielten sich dann in der Schlange der Wartenden die Waage. Nach dem Milchgang kehrten Horst und Paul wieder zurück zum Milchwagen. Herr Fleitmann, so hieß der Milchmann, gestattete ihnen dann jedes Mal, auf den Kutschbock zu klettern. Das bereitete ihnen stets ein großes Vergnügen. Wegen ihres unterschiedlichen Aussehens und der Ähnlichkeit mit den Lausbuben aus dem Buch von Wilhelm Busch gab ihnen Herr Fleitmann die Spitznamen Max und Moritz. Pauls Bruder Horst nannte er Moritz wegen seines blonden Haarschopfes und Paul wurde von ihm Max getauft wegen seiner dunklen Haare. Einmal wollten die Jungen auch mal Kutscher spielen. Sie nahmen die Zügel in die Hände und riefen: „Hüh“. Da zog das Pferd tatsächlich an und es gab einen kräftigen Ruck, sodass ein Teil der Milch beim Abfüllen danebenging. Gott sei Dank, hatte Herr Fleitmann die Bremse am Wagen angezogen, sodass nichts Schlimmes passieren konnte. Seitdem durften sie aber den Kutschbock nicht mehr besteigen.

Kriegsjahre

Bedingt durch den fortschreitenden Krieg war die Bevölkerung, besonders im städtischen Gebiet, großen Belastungen ausgesetzt. Industriezentren und Großstädte litten zunehmend unter feindlichen Bombenangriffen. Um feindlichen Fliegern bei Dunkelheit kein Angriffsziel zu bieten, wurde von den Behörden angeordnet, dass bei anbrechender Dunkelheit alle Häuser verdunkelt sein mussten. Zu diesem Zwecke besorgte Vater George schwarze Springrollos, die er an den Fenstern anbrachte. Einmal hatte der Vater Spätdienst und Mutter George vergaß, die Fenster zu verdunkeln. Als der Vater dies bei seiner Rückkehr bemerkte, gab es ein kleines Donnerwetter. „Willst du, dass wir eine Bombe aufs Haus bekommen oder dass uns ein übereifriger Blockwart bei der Polizei anschwärzt?“, fuhr er die Mutter an. Von da an hielt sich die Mutter strikt an die Anweisungen.

Zusammentreffen mit einem Menschenschinder

Zur besseren Versorgung mit Gemüse hatten die Eltern drei kleinere Gartengrundstücke gepachtet, auf denen sie unter anderem Tomaten, Bohnen, Erbsen, Gurken, Möhren, Kartoffeln und Blattsalat anpflanzten. Eines der Grundstücke befand sich am Rande einer Wohnsiedlung, ein anderes in der Nähe eines Bahndammes und das dritte Grundstück in gefährdeter Lage bei dem bereits erwähnten Heereszeugamt. Dieses Grundstück brachte wegen des steinigen Bodens nur geringe Erträge hervor. Am fruchtbarsten war das Gartengrundstück auf der Rückseite der Wohnsiedlung. Von nun an „durften“ Horst und Paul sich an der Gartenarbeit beteiligen. An den Tagen, an denen sie mal etwas ausgefressen hatten, mussten sie zur Strafe im Garten Unkraut jäten. Diese Beschäftigung hassten sie allerdings wie die Pest. An einem Samstagnachmittag war Vater George mit Sohn Paul bei der Gartenarbeit, als sie aus der Ferne, von den Bahngleisen herkommend, laute Stimmen und Kommandos hörten. Es näherte sich eine Kolonne russischer Kriegsgefangener, die von der Feldarbeit bei einem Bauern heimkehrte und von einem sadistischen Aufseher gezwungen wurde, auf dem Schotterbett zwischen den Gleisen zu marschieren.

Einige der erbärmlich aussehenden, zerlumpten Gestalten ohne gescheites Schuhwerk versuchten immer wieder, wenn der Aufseher nicht hinsah, auf den Gehweg neben dem Bahndamm auszuweichen. Sie wurden aber jedes Mal von diesem Menschenschinder wieder auf die Gleise getrieben. Vater George sah sich das unmenschliche Spiel eine Weile an, ging dann auf den Menschenschinder zu und wechselte ein paar Worte mit ihm, die ihre Wirkung offensichtlich nicht verfehlten. Augenblicklich befahl der Aufseher den Gefangenen, die Gleise zu verlassen und den Weg zu benutzen. Nicht nur Vater George, sondern auch Paul hatten die armseligen Gestalten leidgetan. Aus seiner kindlichen Sicht hatte Pauls Vater etwas Großartiges getan und war in Pauls Achtung ungemein gestiegen. Als Paul den Vater später fragte, was er dem bösen Aufseher gesagt habe, antwortete er, dass er mit einer Anzeige wegen Sabotage und Arbeitskraftzersetzung gedroht habe.

Kriegsweihnachten

Gerne erinnert sich Paul der Kriegsweihnachten. Zu Heiligabend trafen sich alle Verwandten bei ihnen zu einer kleinen, bescheidenen Feier. Die Mutter spielte Weihnachtslieder auf dem Klavier und Onkel Bruno begleitete sie auf der Geige, während Omi und Tante Gerti dazu sangen. Vater George und die Kinder waren das Auditorium. Es gab keine großartige Bescherung. Lediglich die Kinder bekamen mal einen Pullover, Strümpfe oder Fausthandschuhe, die Omi eigenhändig gestrickt hatte. Einmal erhielten Horst und Paul Skihosen, die Omi für sie geschneidert hatte. Damit bereitete sie ihnen eine Riesenfreude. Die Erwachsenen erfreuten sich meistens eines Stückchens Kuchen und tranken dazu Malzkaffee (man nannte ihn damals Muckefuck). Trotz der dürftig ausgefallenen Bescherung war die Feier immer etwas Besonderes. Dadurch wurden jedenfalls die verwandtschaftlichen Bande gestärkt.

Winterhilfe

Es war im Winter 1942. Der Zweite Weltkrieg hatte seinen Höhepunkt erreicht, als Vater George von einem NS-Blockoder -Kreisleiter die Weisung erhielt, eine Kleider- und Deckensammlung im Unnaer Stadtteil Königsborn vorzunehmen. Also trommelte Vater George die älteren Jugendlichen aus der Nachbarschaft zusammen, um sie an der Aktion „Winterhilfe“ zu beteiligen. Mit Schlitten – damals gab es noch echte Winter – ging es dann von Straßenzug zu Straßenzug. Der zum Teil festgetretene Schnee knatschte unter den Schlittenkufen. Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Paul und dessen jüngerer Bruder durften an dem Unternehmen teilnehmen und hatten dabei ihre helle Freude, wenn sie streckenweise von den größeren Jungen auf deren Schlitten gezogen wurden. Die Leute, an deren Haustüren sie klingelten, gaben bereitwillig von dem, was sie hatten. Sie wussten, dass die Decken und die Bekleidung für die kämpfenden Soldaten an der Ostfront bestimmt waren; denn ein früher Wintereinbruch in Russland hatte die deutschen Armeen böse und unvorbereitet überrascht. Am frühen Abend war die Sammlung, die den ganzen Nachmittag in Anspruch genommen hatte, beendet und die fleißigen Helfer wurden mit einem Dankeschön entlassen. Paul und sein Bruder Horst fielen nach dem Abendessen todmüde ins Bett. Mutter brauchte ihnen diesmal keine Gutenachtgeschichte aus Märchen- und Sagenbüchern vorzulesen.

Risiko „Menschlichkeit“

Einmal erlebte Paul mit seinem Vater eine heikle Situation. An ihrem Haus führte eine unbefestigte Nebenstraße entlang. Sie wurde häufig als Abkürzung von Zwangsarbeiterkolonnen, die unter Aufsicht in ein nahegelegenes, mit Stacheldraht umzäuntes Lager geführt wurden, benutzt. Das Lager befand sich direkt entlang einer kleinen Bahnstation im Stadtteil Königsborn. Jedes Mal, wenn diese ausgemergelten Gestalten die Straße entlangzogen, ergriff die anliegenden Hausbewohner ein gewisses Mitleid. Eines Abends war Paul mit seinem Vater im Hof, als wieder eine Kolonne Zwangsarbeiter – es können auch Kriegsgefangene gewesen sein – in Richtung Lager wankten. Da sah Paul, wie sein Vater einem der Männer einen halben Laib Brot zusteckte. Die Kolonne marschierte weiter, als sei nichts geschehen. Vater und Paul befanden sich noch im Hof und versuchten, den Großen Wagen am Sternenhimmel ausfindig zu machen, als plötzlich, wie aus dem Nichts, zwei Gestalten, mit Schlapphüten und Ledermänteln bekleidet, im Hof auftauchten. Sie gingen direkt auf Pauls Vater zu und fragten, ob er gesehen habe, wie jemand den Zwangsarbeitern Brot gegeben habe. Vater George antwortete mit Nein, er sei gerade in den Hof getreten. Anschließend wurde Sohn Paul befragt, ob er zufällig gesehen habe, wie jemand den Leuten in der Kolonne etwas gegeben habe. Instinktiv, eine Gefahr ahnend, antwortete Paul ebenfalls mit Nein, wohl wissend, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Die beiden finsteren Gestalten schienen sich mit der Antwort zufriedenzugeben und begaben sich zum nächsten Haus. Vielleicht war es das Parteiabzeichen, welches der Vater zufällig auf seiner Jacke trug, oder die Tatsache, dass sich ihre Antworten deckten, was die beiden Männer dazu bewog, von ihnen abzulassen. Nach diesem Vorfall begaben sich Vater und Sohn rasch ins Haus. Erst jetzt bemerkte Paul, dass Vater kreidebleich im Gesicht war. Den Grund dafür erfuhr er erst viel später. Eine Anzeige wäre noch die geringste Strafe für sein menschliches Verhalten gewesen.

Die Schulzeit

Im Frühjahr 1943 wurde Paul in die achtklassige Volksschule in der Nähe des Bahnhofs Königsborn eingeschult. Bei dem Schulgebäude handelte es sich um einen zweigeschossigen, roten Backsteinbau, der in der Nähe des bereits erwähnten Kleinbahnhofs Königsborn lag und unter dem Namen Bahnhofschule (später Overbergschule) bekannt war. Mit gemischten Gefühlen betraten die I-Männchen, wie man sie nannte, den Klassenraum. Was würde sie hier wohl erwarten, fragten sie sich. Das relativ große Klassenzimmer bot Platz für über dreißig Schüler. Die Sitzbänke bildeten mit den dazugehörenden Schreibpulten eine komplette Einheit. Am oberen Ende der Pulte befanden sich in die Tischplatte eingearbeitete Tintenfässer aus Keramik. Am ersten Schultag passierte nicht viel. Zuerst stellte ihnen der Schulleiter ihren Klassenlehrer vor. Anschließend wurden ihre Namen aufgerufen und ein jeder musste mit „hier“ antworten. Danach wurden die Erstklässler auf die Sitzbänke verteilt. Den zugeteilten Platz mussten sie sich genau merken. Der Klassenlehrer hielt noch eine kleine Ansprache, gab ihnen einige Verhaltensregeln mit auf den Weg und entließ sie nach Hause.

Erste schmerzhafte Erfahrungen

Am nächsten Tag, der Schulunterricht begann ab jetzt täglich morgens um acht Uhr, mussten sich die Schüler klassenweise auf dem Schulhof aufstellen und nach dem Klingelzeichen in Dreierreihen ins Klassenzimmer einrücken und die eingeteilten Plätze einnehmen. Kurze Zeit später betrat der Lehrer das Klassenzimmer. Auf ein Kommando erhob sich die Klasse. Der Klassenlehrer grüßte mit „Heil Hitler“ und die Schüler hatten den Gruß ebenfalls mit einem „Heil Hitler“ zu erwidern. Anfangs kam der Gruß leise und zögerlich heraus. Das gefiel ihrem Lehrer gar nicht. Also befahl er: „Klasse setzen! Klasse aufstehen! Und nun das Ganze noch einmal.“ Die Schüler haben das Begrüßungsritual mindestens ein halbes Dutzend Mal geübt, bis ihr Klassenlehrer zufrieden war. „So will ich es von nun an jeden Morgen haben“, waren seine Worte. Zuerst wurden die Schüler in den Gebrauch von Griffel und Schiefertafel eingewiesen. Einige einfache Buchstaben, wie zum Beispiel „i“ und „o“ durften sie schon auf die Tafeln kritzeln. Sie erlernten die lateinische Schrift und nicht die Sütterlinschrift, wie sie ihre Eltern noch gelernt hatten. Später kam das Schreiben von Zahlen hinzu. Der Lehrer war ein strenger Lehrmeister. Er war von kleiner, rundlicher Gestalt, trug einen Oberlippenbart, auf dem Revers seiner Jacke prangte ein rundes, goldenes Abzeichen und seine dicken Finger umklammerten krampfhaft ein ca. 50 cm langes, biegsames Rohrstöckchen, das stets einsatzbereit war, wenn sich eine Gelegenheit zum Zuschlagen bot. Er achtete genau darauf, dass die Schüler die Buchstaben und Zahlen ordentlich niederschrieben. Eines Tages bemerkte er, dass Paul den Griffel in der linken Hand hielt. Er erklärte ihm, dass man in Deutschland mit der rechten und nicht mit der linken Hand schreibe. Daraufhin musste Paul seine linke Hand über ein leeres Tintenfässchen, welches in der Tischplatte eingelassen war, legen und im gleichen Augenblick haute der Klassenlehrer mit seinem Stöckchen, das er stets parat hatte, mit voller Wucht auf Pauls linken Handrücken. Dieser schwoll im Nu an. Paul hatte heftige Schmerzen, schrie auf und brach gleich in Tränen aus. „Ein deutscher Junge weint nicht“, bekam er vom Lehrer zu hören. Diesen Vorfall erzählte Paul nach Schulschluss sofort seinen Eltern. Seine Eltern waren ganz aufgebracht und wollten am nächsten Tag beim Schulleiter vorsprechen. Als Paul seinem Vater gegenüber etwas von dem runden, goldenen Abzeichen, das der Herr Lehrer auf seinem Anzug trug, erwähnte, zog er die Augenbrauen hoch und sagte: „Da müssen wir vorsichtig sein.“ Der Gang zum Schulleiter fiel aus. Paul ging mit verbundener linker Hand am nächsten Tag wieder zur Schule.

Ungeachtet der Strenge, haben die Schüler viel gelernt oder, besser gesagt, lernen müssen. Mit dem Schreiben, Lesen und Rechnen machten sie gute Fortschritte. Es wurden viele Diktate geschrieben, viel auswendig gelernt und Kopfrechnen geübt. Beim Kopfrechnen bekamen die Schüler einfache Kettenaufgaben zu lösen. Ihr Lehrer erwartete, dass alle Schüler das jeweilige Ergebnis wussten und sich meldeten. Wer das Ergebnis nicht wusste, musste hervortreten, sich bücken und bekam anschließend etwas mit dem berühmten Stöckchen übergezogen. Dies führte dazu, dass die Schüler sich einen Trick ausdachten und sich alle meldeten, wenn nach dem Ergebnis gefragt wurde, auch dann, wenn man das Endergebnis nicht wusste. Aus der Vielzahl der Meldungen suchte sich der Lehrer nun immer einen Schüler heraus. Häufig hatte dieser das richtige Ergebnis auch parat. Ihr Klassenlehrer schien zufrieden zu sein. Paul wusste nicht, ob der Lehrer den Trick durchschaut hatte. Am Ende des Schuljahres wurden Zeugnisse ausgeteilt. Pauls Zeugnis enthielt unter anderem den Vermerk: „Paul hat einen guten Anfang gemacht.“ Obwohl Paul einer der Kleinsten in seiner Klasse war, wurde er den geistigen Herausforderungen stets gerecht.

Es war ein schöner Frühlingsmorgen. Paul befand sich mit drei anderen Schülern auf dem Weg zur Schule. Auf dem großen Schulhof ging der Schulleiter auf und ab. Als sie auf seiner Höhe waren, grüßten sie mit erhobenem Armen zackig mit „Heil Hitler“. Der Schulleiter grüßte zurück und rief Paul zu sich. Kaum stand Paul vor ihm, verpasste der Schulleiter Paul eine saftige Ohrfeige und ging weiter. Paul kannte den Grund der Handlungsweise des Schulleiters nicht. Ihm standen die Tränen in den Augen. Anschließend fragte er seine drei Schulkameraden nach dem Grund für die Ohrfeige. Sie grinsten und sagten: „Du hast ja auch den linken Arm zum Gruß erhoben.“ Niemand hatte Paul vorher gesagt, dass der Deutsche Gruß mit rechts zu erfolgen habe. Darf man denn gar nichts mehr mit links machen, fragte er sich als geborener Linkshänder. Einer der schönsten Schultage war immer der 20. April, an dem morgens unter Absingen des Deutschlandliedes eine Flaggenparade auf dem Schulhof stattfand, der Schulleiter eine Ansprache hielt und die Schüler anschließend schulfrei hatten. Alle Häuser waren an diesem Tage beflaggt. Wie Paul erst hinterher erfuhr, hatte der Führer an diesem Tag Geburtstag. Auch das hatte ihm niemand zuvor gesagt. Seine Eltern waren irgendwie politisch desinteressiert. Das musste er im Nachhinein feststellen.

Fliegeralarme

Der Krieg – er ging als der Zweite Weltkrieg in die Geschichte ein – hatte Deutschland mit voller Wucht erfasst. Immer häufiger wurde Pauls Heimatstadt Unna, welche an der östlichen Peripherie der Industriestadt Dortmund liegt, von Luftangriffen heimgesucht. Jedes Mal, wenn durch mehrfaches, lautes Sirenengeheul Fliegeralarm angekündigt wurde, schickte der Schulleiter die Schüler nach Hause, mit der Maßgabe, schnell einen Luftschutzbunker aufzusuchen. So manches Mal rettete ein Fliegeralarm sie vor unangenehmen Diktaten oder Rechenarbeiten. In den Schulpausen taten sich vornehmlich die älteren Schüler immer wichtig mit ihren Kenntnissen über Flugzeuge und Panzer. Da war die Rede vom Karabiner K 98k, MG 42, vom Panther, Tiger und Königstiger, vom Sturzkampfbomber Ju 87 (Stuka), Ju 88, He 111, Messerschmitt Me 109, Focke-Wulf 190. Sogar alliierte Panzer- und Flugzeugtypen waren bekannt, wie zum Beispiel der Sherman-Panzer oder die Bomber vom Typ B-17 oder Lancaster. Auch von Jagdflugzeugen der Typen Hurricane und Spitfire war öfters die Rede.

Luftangriffe

Eines Nachts waren Vater George und seine Söhne Horst und Paul Zeugen eines Luftangriffs auf die Nachbarstadt Dortmund. Es war eine klare Nacht. Das Dröhnen der Flugzeugmotoren war weithin hörbar. Flakscheinwerfer suchten wie mit Geisterfingern den Himmel nach Flugzeugen ab. Alsbald hatten die auf einen bestimmten Punkt konzentrierten Scheinwerfer einen vorausfliegenden Bomber im Visier und die Flak eröffnete das Feuer aus allen Rohren. Es handelte sich dabei offensichtlich um einen Pfadfinder, der dem Pulk vorausflog und durch Abwurf sogenannter Christbäume das Zielgebiet mit Hunderten brennender Phosphorkugeln markierte. Die nachfolgenden und in großer Höhe fliegenden Bomber ignorierten das Geschützfeuer und warfen ihre tödliche Fracht über dem Zielgebiet ab. Das Krachen der Bomben und das Ballern der Flak vermischten sich zu einem Inferno. Nach ca. zwanzig Minuten war der ganze Spuk vorbei. Die feindlichen Flugzeuge drehten ab und hinterließen eine brennende Stadt. Der westliche Nachthimmel war feuerrot. Nach diesem Erlebnis war an ein Einschlafen nicht mehr zu denken. Die Kinder waren total aufgewühlt. Am nächsten Tag war der miterlebte Bombenangriff auf Dortmund das Hauptgesprächsthema. Viele der Mitschüler hatten dieses Spektakel, genau wie Paul und Horst, auch verfolgt.

Ein weiterer schwerer Luftangriff mit nachhaltigen Folgen ereignete sich Mitte Mai des Jahres 1943 auf die Möhnetalsperre im Sauerland. In einer konzertierten Aktion griffen drei britische Staffeln nachts mit für diesen besonderen Zweck umgerüsteten Lancaster-Bombern sämtliche Talsperren im Sauerland an. Sie hatten Spezialbomben in ihren Abwurfschächten, sogenannte „Rollbomben“, die in der Lage waren, die Torpedofangnetze an den Sperren wie ein flacher Kieselstein zu überspringen und die Staumauer zu treffen. Den größten Schaden bekam die Möhnetalsperre ab. Ausgerechnet beim letzten Zielanflug eines Lancaster-Bombers erhielt die Staumauer, wie man später erfuhr, einen Volltreffer. Mit einem Schlag ergossen sich 135 Millionen Kubikmeter Wasser in das Möhnetal und von dort aus in das Ruhrtal. Über 1200 Menschen kamen in dieser Nacht in den Fluten ums Leben. Dieser Angriff traf nicht nur die Zivilbevölkerung, sondern auch den Nerv des Industriegebietes. Die vom Wasser der Ruhr abhängige Industrie, wie Kohle-, Stahl- und Rüstungsbetriebe, musste die Produktion für eine Weile einstellen. Die Bevölkerung, die ihr Trink- und Brauchwasser von der Ruhr bezog, konnte einige Wochen lang nicht mehr mit dem kostbaren Nass versorgt werden, da die Kläranlagen ausgefallen bzw. beschädigt waren. Die Familien im Stadtteil Königsborn waren gezwungen, ihr Wasser mit Eimern und Kannen aus einem kleinen Bächlein im eingangs erwähnten Kaffeewald zu schöpfen. Für die Essenszubereitung musste das Wasser vorher abgekocht werden, um die darin enthaltenen Krankheitskeime abzutöten. Auch für den Toilettengang musste das Wasser reichen.

Prekäre Ernährungslage

Ab Spätsommer des Jahres 1944 wurde die Gesamtsituation für die deutsche Zivilbevölkerung immer schwieriger. Nicht nur, dass die Lebensmittelversorgung prekär war, sondern auch die Luftangriffe bei Tag und bei Nacht wiesen eine zunehmende Tendenz auf. Bestimmte Lebensmittel wurden rationiert und waren nur gegen Vorlage einer Zuteilungskarte mit entsprechenden Coupons zu bekommen. Mit der Fleischzuteilung war es besonders schlecht bestellt. Die Menschen waren froh, wenn sie ab und zu eine Ration Pferdefleisch beim Pferdemetzger Henning ergattern konnten. Kein Wunder, dass sich die Volksseele in folgendem Vers, nach der Melodie von Lilli Marlen („Vor der Kaserne …“), Luft machte:

„Rindfleisch ist teuer, Schweinefleisch ist knapp, da gehen wir zu Henning und kaufen uns Trab-Trab, und alle Leute sollen seh’n, wie wir bei HenningSchlange steh’n, für eine Mark und Zehn.“

Trotz der schwierigen Lage hatte Vater George seinen Humor nicht verloren. Wenn die Kinder zum Beispiel die Mutter fragten, was es zum Mittagessen gebe, mischte sich der Vater ein und antwortete in seinem unverkennbaren schlesischen Dialekt: „Kliesla, Fleesch und Tunke!“ Es sollte heißen: Klöße, Fleisch und Sauce. Als die Versorgungslage dermaßen prekär wurde, antwortete der Vater auf die Frage, was es denn heute zum Mittagessen gebe: „Vier Kliesla und a Katzla!“ Es sollte heißen: vier Klöße und eine Katze.

Irgendjemand versuchte, den Kindern die Angst vor den Bomben zu nehmen, und erfand folgenden Vers:

„Achtung, Achtung! Ende, Ende! Über’m Kuhstall sind

Verbände. Da kommt der Lange mit der Stange und

macht die Fliegerbombe bange.“

Das Leben im Luftschutzkeller

Mit Zunahme der Bomberangriffe, vornehmlich auf das Ruhrgebiet mit seinen Zentren der Kohle-, Stahl- und Schwer- bzw. Rüstungsindustrie, gab es nicht nur Produktionsausfälle in den Fabriken, sondern auch auf anderen Gebieten. So kam es, uns Schüler betreffend, immer häufiger zu Unterbrechungen des Schulunterrichtes. Beim Ertönen der Sirenen hasteten Lehrer und Schüler aus den Klassenräumen in die nächstgelegenen Luftschutzbunker. Dieses Szenario wiederholte sich manchmal zwei- bis dreimal am Tag. Am schlimmsten war es des Nachts, wenn man durch Sirenengeheul aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. Die Hausbewohner, insgesamt neun Familien, begaben sich in den provisorisch zum Luftschutzbunker umfunktionierten Großkeller der Hotelbesitzerfamilie. Pauls kleine Schwester Rike schnappte sich dann jedes Mal ihr kleines Köfferchen und sagte: „Bum, bum, Deller dehn (Bum, bum, Keller gehen).“ Zwischen Bier-, Kohlen- und Vorratskellern waren Feldbetten, Bänke und Stühle aufgestellt worden. So manches Mal verbrachten die Familien die ganze Nacht bis zum frühen Morgen in den nach Trester, Kohle und Abfällen riechenden, feuchten Kellerräumen, während draußen die Bomben detonierten, tiefe Krater rissen und das Haus zum Beben brachten. Fensterscheiben zerbarsten dabei so manches Mal. Putz bröckelte von Decke und Wänden und die von der Decke herabhängenden Beleuchtungskörper begannen hin und her zu pendeln. Eine der Pendellampen hatte keine Glühbirne mehr. Einer der Nachbarjungen sah darin eine willkommene Gelegenheit, an der Strippe hin und her zu schwingen. Dabei geriet er mit einem seiner Daumen in die leere Fassung und fing an zu zittern und zu schreien. Zufällig sah der Hotelbesitzer die Situation und schaltete die in der Nähe befindliche Sicherung aus. Wie ein nasser Sack plumpste Manfred, so hieß der Junge, auf einen kleinen Koksberg und kam mit einem Schock davon. Am Morgen stellte Familie George jedes Mal erleichtert fest, dass ihr Haus wieder einmal glimpflich davongekommen war. Ab Herbst 1944 verbrachten alle Hausbewohner die meiste Zeit in dem nasskalten Luftschutzkeller. Häufig legte man sich abends schon mit voller Montur ins Bett, da man genau wusste, dass gegen Mitternacht – man konnte fast die Uhr danach stellen – britische Lancaster-Verbände die Stadt überfliegen bzw. ihre todbringende Last abwerfen würden. Bald konzentrierten sich die Luftangriffe zunehmend auf Unna. Als mittlere Industriestadt war Unna ein lohnendes Ziel. Außerdem gerieten ein großer Kasernenkomplex im Süden und ein riesiges Heereszeugamt im Norden der Stadt ins Visier der angreifenden Bomberverbände.

Unna im Visier alliierter Bomber

Paul konnte sich später noch sehr genau an einen der schlimmsten Luftangriffe auf seine Heimatstadt Unna erinnern: Es geschah am 19. September 1944, einem schönen, ruhigen Herbsttag. Onkel Bruno hatte Geburtstag. Urgroßvater (Moni) hatte die Familie George besucht und dort zu Mittag gegessen. Gegen zwei Uhr begab er sich, wie immer, zu Fuß auf den Heimweg, um noch rechtzeitig zur Geburtstagsfeier von Onkel Bruno zu erscheinen. Es waren kaum zwanzig Minuten nach seinem Weggang vergangen, als ein durchdringendes Sirenengeheul die Mittagsstille unterbrach. Aus allen Stadtteilen war das infernalische Geheul der Sirenen zu hören. Die Bevölkerung hastete in die Luftschutzkeller. Passanten suchten eiligst die nächstgelegenen öffentlichen Schutzbunker auf, während ein großer Bomberverband, der sich aus amerikanischen B-17-Bombern zusammensetzte, Kurs auf Unna nahm. Dieser Flugzeugtyp konnte in sehr großen Höhen operieren und war für die deutsche Flak kaum erreichbar. Gerade kamen die letzten Hausbewohner die Kellertreppe hinuntergestürmt, da gab es einen ungeheuren Schlag, der das ganze Haus erzittern ließ, begleitet von einer ohrenbetäubenden Detonation, sodass alle Hausbewohner glaubten, das Haus habe einen Volltreffer erhalten. Von nun an kam Schlag auf Schlag. Die kleineren Kinder fingen an zu schreien, einige Erwachsene begannen zu beten und die Jungen rissen sich zusammen und versuchten, keine Regung zu zeigen, obwohl sie am ganzen Körper zitterten. Sie hielten sich die Ohren zu. Eine Verständigung war bei dem Inferno ohnehin nicht möglich. Der Keller bebte in seinen Grundmauern. Ein nicht enden wollender Bombenhagel ging auf Unna hernieder. Ziel des Angriffes waren die Industriebetriebe, der Bahnhof, die Gleisanlagen, die SS-Kasernen und vor allem das Heereszeugamt. Nach knapp 15 Minuten, die allen wie eine kleine Ewigkeit vorkamen, war die erste Angriffswelle vorüber, auf die kurz darauf die zweite Angriffswelle folgte. Nach den Sprengbomben der ersten Welle ließ die zweite Welle die schrecklichen Brandbomben, deren Inhalt hauptsächlich aus Phosphor bestand, auf die Stadt herniederregnen. Sobald diese Bomben zerbarsten und der darin enthaltene Phosphor mit Sauerstoff in Berührung kam, entwickelte sich ein Flammenmeer, das nicht mehr zu löschen war.

Onkel und Tante werden obdachlos

Plötzlich kam eine fremde Frau, total aufgelöst, die Kellertreppe hinuntergestürmt und schrie: „Das Heereszeugamt hat es voll erwischt, die umliegenden Straßen und Häuser stehen in Flammen.“ Mutter George sprang wie elektrisiert auf und sagte: „Um Gottes Willen, da wohnt doch meine Schwester. Ich muss sofort dort hin.“ Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, da schnappte sie ihre drei Kinder, hastete die hohe Kellertreppe hinauf, packte Rike und Horst in den offenen Kinderwagen und Paul an der Hand haltend stolperte sie auf die mit Trümmern übersäte Straße. Die Hausbewohner versuchten sie zurückzuhalten. Sie riefen laut: „Frau George, sind Sie wahnsinnig, der Fliegeralarm ist noch nicht aufgehoben. Jeden Augenblick kann ein neuer Angriff erfolgen.“ Mutter George ignorierte alle Warnungen und eilte mit ihren Kindern in Richtung Heereszeugamt. Die Luft stank merkwürdig. Trümmer und glimmende Dachbalken lagen auf der Straße. Aus einigen Gebäuden schlugen hohe Flammen und aus nördlicher Richtung kam ihnen eine dicke Rauchwolke entgegen. Sie wies den Weg zum Ort des Grauens. Genau dort, in der Grillostraße, wohnten Tante Gerti und Onkel Bruno mit ihren drei Kindern sowie der Urgroßvater. Die Grillostraße verlief parallel zum Hallen- und Gebäudekomplex des Heereszeugamtes. Der Weg dorthin wurde immer beschwerlicher. Trümmer und Bombentrichter mussten umgangen werden. Man musste höllisch aufpassen, um nicht mit den Flammen in Berührung zu kommen. Sogar das Mauerwerk brannte. Fürchterliche Schreie drangen aus den zerstörten Häusern ins Freie. Einmal glaubte Paul eine Gestalt im brennenden Dachgebälk eines Hauses gesehen zu haben. Die Mutter sagte: „Kinder, seht da nicht hin!“ Hin und wieder krachte es rechts und links neben ihnen, wenn eine Hauswand einstürzte oder ein Dachstuhl funkenstiebend in sich zusammenstürzte. Endlich erreichten sie das Haus von Pauls Tante. Es war stark beschädigt und offensichtlich so schnell nicht wieder bewohnbar. Viele Nachbarhäuser waren nur noch Ruinen. Georges Verwandte hatte es auf dem Wege zu einem öffentlichen Luftschutzbunker kalt erwischt. Bei dem Wettlauf zum Bunker hatten sie sich aus den Augen verloren. Als die ersten Bomben fielen, warfen sich viele der Schutzsuchenden instinktiv in einen Straßengraben, bis auf Pauls jüngeren Vetter Heinz. Ihn fand man unter einem Erdhügel begraben. Mit bloßen Händen wurde er freigebuddelt. Bei einem anderen Kind schauten nur noch die Füße aus einem Schutthaufen heraus. Beide Kinder konnten gerettet werden. Sie trugen Verletzungen und einen Schock davon. Die Familie von Tante Gerti war, Gott sei Dank, mit dem Leben davongekommen. Sie war aber von nun an obdachlos. Die Familienangehörigen wurden aufgeteilt und von nahestehenden Verwandten aufgenommen. Pauls Eltern nahmen seinen Vetter Heinz auf. Aber was geschah mit dem Urgroßvater? Auch er kam wie ein Wunder mit dem Leben davon. Seine Rettung hatte er seinem späten Aufbruch bei Georges zu verdanken. Dadurch kam er nicht mehr zu seinem obligatorischen Mittagsschläfchen. Dieser Umstand rettete ihm das Leben. Ansonsten wäre er in seinem Dachstübchen bei lebendigem Leibe verbrannt. Vetter Heinz fand bei Georges nur eine vorübergehende Bleibe. Urgroßvater (Moni) blieb bis zu seinem Tode bei ihnen. Vater George, der an diesem besagten Tag im Dienst gewesen war, hatte vom leichtfertigen Unterfangen seiner Frau nichts mitbekommen. Erst als er abends vom Dienst nach Hause kam und Urgroßvater und Vetter Heinz in seiner Familie antraf, erfuhr er von dem schlimmen Geschehen. Als er aber von Mutter Georges leichtsinnigem Verhalten hörte, war er förmlich außer sich. Er warf ihr unter anderem vor, nicht nur ihr Leben, sondern auch das Leben der Kinder unnötig aufs Spiel gesetzt zu haben. Sie hätte zumindest bis zum Ende des Fliegeralarms warten sollen. Durch ihre bloße Anwesenheit hätte sie ohnehin keine weiteren Luftangriffe verhindern können, war sein Argument. Der Urgroßvater konnte Vater George nur beipflichten.

Wie ging es nun weiter? Also, der Urgroßvater blieb fortan bei der Familie George, während Vetter Heinz nur für wenige Tage bei ihnen verweilte. Vor seinem Weggang lieferte er sich allerdings mit Pauls Schwester Rike noch eine ordentliche Kissenschlacht, dass die Federn nur so flogen.

Bei einem späteren Luftangriff wurde ganz in der Nähe ein in Eigenleistung errichteter Luftschutzbunker von einer Bombe getroffen. Von den darin befindlichen 21 Schutzsuchenden verloren 16 Personen ihr Leben. Nur fünf Personen konnten aus den Trümmern lebend geborgen werden. Unter den Geretteten befand sich, welch ein Wunder, eine Schulkameradin von Paul mit ihrem jüngeren Bruder.

Urgroßvater „Moni“ und seine Urenkel

Das Kriegsgeschehen verlagerte sich im Westen immer näher in Richtung Reichsgebiet. Familien aus den umkämpften Gebieten wurden evakuiert. Im Hause ihres Vermieters zogen Flüchtlinge aus Aachen, Düren und Eschweiler in leerstehende Hotelzimmer ein. Eines Tages erhielt Vater George einen Einberufungsbefehl zu einem Arbeitseinsatz in der Nähe von Aachen. Es sollten dort Panzergräben ausgehoben werden. Der Spuk dauerte aber nur wenige Tage, dann war der Vater wieder zu Hause. Durch die Aufnahme des 89-jährigen Urgroßvaters kam eine schwere Belastung auf die Familie George zu. Er musste versorgt und betreut werden. Mutter George sorgte für Essen, Kleidung und Wäsche. Vater George war fürs Rasieren, Haareschneiden und Baden zuständig. Einmal in der Woche wurde Opa in der großen Volksbadewanne gebadet. Später übernahmen Horst und Paul, als sie schon älter waren, das Rasieren (einmal in der Woche) und verdienten sich jedes Mal zwischen fünfzig Pfennig und eine Mark Taschengeld. Im Nachhinein kann man sagen, dass der Opa ein ruhiger, lieber und bescheidener Mensch war. Er hatte in der Wohnung von Georges ein Zimmer nach Süden mit Blick ins Grüne, auf eine mit Bäumen bestandene Nutzgartenanlage. In seinem Zimmer befanden sich außer einem Schrank und einer Liege noch ein Klavier und ein Tisch, an dem Horst und Paul ihre Schularbeiten machten. Tagsüber saß Opa in seinem großen, aus Weidengeflecht bestehenden Lehnstuhl. Dieses gute Stück hatte noch aus den Trümmern des zerbombten Hauses in der Grillostraße gerettet werden können. Ihrem Opa haben Horst und Paul viel zu verdanken. Er beschäftigte sich viel mit den beiden Jungen. Nicht nur, dass er ihnen bei den Schulaufgaben behilflich war, sondern er spielte auch mit ihnen, zum Beispiel „Mühle“ und „Dame“ oder „Mensch ärgere dich nicht“. Außerdem machte er mit ihnen Ratespiele. Es mussten Flüsse, Städte oder Länder, deren Namen zum Beispiel mit A oder B beginnen, geraten werden. Diese Übungen verhalfen Horst und Paul letztendlich auch zu guten Noten in der Schule.

Manchmal waren Horst und Paul echte Lausbuben. Da fiel ihnen so manches Mal nichts Besseres ein, als ihren Opa zu necken. Wenn es ihm dann zu bunt wurde, jagte er sie durch die Wohnung. Aber er bekam sie nie zu fassen. Sie waren stets schneller. Als sie davon ihren Eltern erzählten, ging ihr Vater davon aus, dass Opa sie verdreschen wollte, und gab ihnen den Rat, in solch einem Fall stets die Beine in die Hand zu nehmen. Die nächste Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten. Als Opa wieder einmal hinter ihnen herlief, verkrochen Horst und Paul sich unter den Küchentisch und versuchten, von dort aus Opas Beine zu erhaschen und sie wegzuziehen, was ihnen aber nicht gelang. Sie erzählten diesen Vorfall den Eltern, worauf Mutter George sagte: „So etwas dürft ihr aber nicht machen, da kann der Opa ganz böse hinfallen!“ Einer von ihnen entgegnete: „Das hat uns Papa aber so gesagt.“ Selbstverständlich konnten sie nicht wissen, dass der Vater den Rat im übertragenen und nicht im ursprünglichen Sinne gemeint hatte. Sie sollten demnach so schnell wie möglich davonlaufen, wenn Opa hinter ihnen her war.

Bei schönem Wetter ging Urgroßvater mit Paul und Horst hin und wieder im Kaffeewäldchen spazieren. Horst und Paul machten sich einen Spaß daraus, dem armen Opa davonzulaufen und sich hinter Büschen oder Bäumen zu verstecken. Daraufhin beschleunigte Opa sein Spaziergängertempo und rief viele Male, dabei mit seinem Gehstock verstärkt auf den Boden stoßend: „Paul und Horst! Paul und Horst! Wo seid ihr?“ Als sie endlich hinter ihrer Deckung hervorkamen, war Urgroßvater sichtlich wütend und drohte, nicht mehr mit ihnen in den Wald zu gehen, wenn sie diese Art Späße nicht unterließen.

Alliierter Terror aus der Luft

Ab März 1945 ließen die massiven Bomberangriffe auf das Ruhrgebiet merklich nach. Dafür mehrten sich Tieffliegerangriffe auf strategische Einzelziele und Zivilisten. Alliierte Jagdbomber vom Typ De Havilland „Mosquito“ tauchten ganz plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, im Tiefflug auf und nahmen unter anderem militärische Marschkolonnen, Bahnhöfe, Flüchtlingstrecks, Brücken, Flugplätze, Radar- und Flakstellungen sowie einzelne Fahrzeuge mit Raketen und Bordkanonen unter Beschuss. Da die Tiefflieger nicht in größeren Verbänden, sondern eher einzeln oder in kleineren Pulks auftauchten, konnten sie vom deutschen Radar nicht erfasst und daher vom Vorwarndienst nicht gemeldet werden. Bevor eine Warnung vor einem Luftangriff ausgelöst werden konnte, waren die feindlichen Flugzeuge wieder verschwunden.

Der Schulunterricht, welcher häufig durch Fliegeralarm unterbrochen wurde, wurde ab Anfang April 1945 bis auf Weiteres ausgesetzt. Sehr zur Freude der Schüler.

Ein überraschender Besuch

Eines Vormittags klingelte es bei Georges an der Haustür. Vater George öffnete, während Horst und Paul aus Neugierde dem Vater hinterhergeschlichen waren. Zuerst hörten sie eine Männerstimme, die leise fragte: „Onkel Wilhelm?“ Dann tat Vater George einen freudigen und zugleich erstaunten Ausruf: „Ja, Otto, was hat dich denn hierher verschlagen?“ Kurz darauf betrat ein junger, vielleicht 18- oder 19-jähriger Soldat Georges Wohnung. Es war Onkel Otto aus Weißwasser, Vater Georges Cousin, der mit ein paar anderen Kameraden aus dem Großraum Dresden oder Leipzig an die Westfront abkommandiert worden war. Er sollte sich noch am gleichen Tage in Holzwickede, einem Nachbarort von Unna, bei seiner neuen Einheit melden. Die Bahnfahrt aus Dresden bzw. Leipzig endete in Unna. Von hier aus mussten die jungen Soldaten zu Fuß weitermarschieren. Georges ließen den jungen Mann aber nicht sogleich gehen. Sie luden ihn zum Mittagessen ein. Er war sehr hungrig. An die Kinder verteilte er Pfefferminzbonbons, die er bei sich hatte. Bevor er ging, vertraute er Paul seine Armbanduhr an mit den Worten: „Ich möchte nicht, dass sie in fremde Hände fällt.“ Dieses für Paul wertvolle Stück hat er über viele Jahre gehütet wie einen Schatz. Paul hatte die feste Absicht, sie Otto zurückzugeben, sobald dieser sich wieder bei Georges melden würde. Beim Abschied sagte Pauls Vater zu ihm: „Schreibe uns mal bei Gelegenheit und teile uns mit, wie es dir geht.“ Sie haben nie wieder etwas von ihm gehört. Die schöne Armbanduhr wurde Paul viele Jahre später in einem Freibad in Holzwickede gestohlen. Heute trägt er wieder eine Armbanduhr desselben Herstellers wie damals. Jedes Mal, wenn er auf die Uhr schaut, muss er an die Begegnung mit Onkel Otto denken, den die Kinder auf Anhieb gernhatten.

Heereseinheiten auf dem Marsch

Es war an einem warmen Frühlingstag Anfang April des Jahres 1945, als die Anwohner an der Kaiserstraße durch einen infernalischen Lärm, verursacht durch Motoren- und Kettengeräusche, die von vorbeifahrenden Rad- und Kettenfahrzeugen herrührten, aufgeschreckt wurden. Der Boden bebte und die Fensterscheiben der Wohnung vibrierten. Endlose Kolonnen deutscher Militärfahrzeuge bewegten sich von Norden kommend über die Kaiserstraße in Richtung Süden. Zum ersten Mal in ihrem Leben sahen die Kinder echte Panzer, Sturmgeschütze, Schützenpanzer mit aufgesessener Infanterie, schwere Halbkettenzugmaschinen mit angehängter 8,8 cm Flak (Flugabwehrkanone), Lkws mit und ohne Holzgasgeneratoren. Die Holzgasgeneratoren waren in den letzten Kriegsmonaten eine aus der Not heraus geborene Erfindung. Sie hatten das Aussehen von eineinhalb Meter hohen, am Führerhaus oder zwischen Führerhaus und Ladefläche stehend angebrachten röhrenförmigen Öfen, die in einem Verbrennungsprozess aus Holz Gas erzeugten, welches als Treibmittel für die Motoren diente. Wie man später erfuhr, setzten sich verschiedene Heereseinheiten von der Lippe über die Ruhr ins Sauerland ab, um dem sich schließenden Ruhrkessel der Alliierten zu entkommen, womöglich in der Absicht, im Sauerland eine neue Verteidigungslinie aufzubauen. Angesichts dieses geballten militärischen Vorbeimarsches gab es für Horst und für Paul, die bislang vom Fenster aus zugeschaut hatten, kein Halten mehr. Sie liefen hinaus an die Straße und sahen sich das Spektakel ganz aus der Nähe an. Paul kann sich noch sehr gut an die Stichflammen, die aus den Auspuffen der Panzer herausschossen, erinnern. Dieses Phänomen sei allerdings auf die Verwendung von minderwertigem Treibstoff zurückzuführen, hatte man ihnen erklärt. Manchmal kamen die Kolonnen ins Stocken. Das war für die Kinder eine Gelegenheit, auf die Trittbretter der Lkws zu springen und einen Blick ins Fahrerhaus zu werfen. Hin und wieder durften sie sogar auf dem Trittbrett ein Stückchen im Schritttempo mitfahren.

Die Nachhut

Am Nachmittag des gleichen Tages zog eine Gruppe Soldaten in aufgelockerter Formation die Straße entlang. Die Soldaten machten einen ganz und gar abgekämpften Eindruck. Ihre Gesichter waren verschwitzt, die Stahlhelme hingen zum Teil am Koppel, in den Stiefeln steckten Stielhandgranaten und das Gewehr trugen sie in der Hand. Die Gruppe machte für eine kurze Weile vor Georges Haus Rast. Sofort scharten sich Kinder und einige ältere Erwachsene um die Soldaten. Die Anwohner brachten ihnen zu trinken und gaben ihnen Butterbrote. Wie sich im Gespräch herausstellte, waren es Pioniere, welche die Aufgabe hatten, sämtliche strategisch wichtigen Brücken an der Strecke zwischen der Lippe und der Ruhr zu sprengen. Sie sagten, dass die Amerikaner ihnen dicht auf den Fersen seien. Man habe lediglich eine schwere 8,8 cm Flugabwehrkanone mit Besatzung zur Sicherung des eigenen Rückzuges an einem Höhenzug, bekannt als Funkenburg, zwischen Unna und der nördlichen Nachbarstadt Kamen zurückgelassen, um den nachrückenden, feindlichen Truppen den Zugang zur Stadt Unna zu verwehren. Die Pioniere beschworen die Umstehenden eindringlich für den Fall, dass feindliche Fahrzeuge die Sperre durchbrechen sollten, man dann versuchen solle, an die Benzintanks der Fahrzeuge heranzukommen, diese zu öffnen und eine Handvoll Zucker oder Salz hineinzuwerfen. Davon gingen die Motoren kaputt und die Autos und Panzer könnten nicht mehr weiterfahren. Als die Soldaten weitergezogen waren, ermahnten die Erwachsenen die Kinder, nicht an englische oder amerikanische Fahrzeuge heranzugehen, da dies mit Lebensgefahr verbunden sei.

Luftangriffe und Artilleriebeschuss

Die alliierten Angreifer nahmen nun auch Unna ins Visier. Aus der Ferne war Geschützdonner zu hören, der von Tag zu Tag näherkam. Tagsüber ließen sich immer häufiger englische und amerikanische Jagdbomber sowie Jagdflugzeuge blicken, die alles, was sich auf den Straßen bewegte, unter Feuer nahmen. Außerdem lag Unna seit geraumer Zeit unter Artilleriebeschuss.

Eines schönen Tages gab es zur Abwechslung vormittags Fliegeralarm. Wie gewohnt begab man sich in den Luftschutzkeller. Vergeblich erwartete man nach längerer Zeit mal wieder einen Luftangriff. Stattdessen wurde Unna mit heftigem Artilleriefeuer eingedeckt. Vater George verließ unauffällig den Luftschutzkeller, um sich in den privaten Keller der Familie, der im Nebengebäude lag, zu begeben, in der Absicht, nach den dort deponierten Wertgegenständen zu sehen. Die Zeit verging. Man wartete auf Vater Georges Rückkehr. Die Mutter war beunruhigt. Während sie warteten, vernahmen sie eine dumpfe Explosion. Ringsherum waren Granateinschläge zu hören. Nach einer halben oder einer Dreiviertelstunde, es schien ihnen wie eine Ewigkeit, hörten sie Schritte auf der Treppe zum Luftschutzkeller. Es war der Vater. Kreidebleich kam er die steile Treppe heruntergewankt. Die Mutter rief sofort: „Wilhelm, wo warst du? Was ist passiert?“ Vater George brachte kein Wort heraus. Er stand offensichtlich unter Schock. Mutter George drang ständig in ihn und sagte: „Wilhelm, sag etwas. Was ist passiert?“ Schließlich öffnete Vater George die Lippen und sagte ganz leise: „Eine Granate ist in unserem Keller eingeschlagen und dort detoniert.“ – „Gott sei Dank, ist dir nichts passiert“, entgegnete die Mutter. Es verging geraume Zeit, bis sich der Vater wieder gefangen hatte. Er erzählte, dass gerade in dem Augenblick, als er die Kellertür öffnen wollte, eine Granate eingeschlagen sei. Die Wucht der Detonation habe die Kellertür aus den Angeln gerissen und ihn unter ihr begraben. Er müsse besinnungslos gewesen sein und es habe eine längere Zeit gedauert, bis er aus der Bewusstlosigkeit erwacht sei. Mit trauriger Miene berichtete er, dass absolut alles, was sich im Keller befunden habe, vernichtet sei. Paul konnte sich noch gut erinnern, dass die Eltern alles, was wichtig und wertvoll war, in einem großen, geflochtenen Reisekorb verstaut hatten. Darunter befanden sich unter anderem Kleidung, gutes Geschirr, Besteck, Decken, Bettzeug und Schuhe. Nach dem Artilleriebombardement begab sich die Familie George in ihren privaten Keller. Es war von alledem, was vorher darinnen gewesen war, wie zum Beispiel Kohle, Brennholz, Einkellerungskartoffeln, Regale mit Einmachgläsern bzw. Konserven, nichts mehr zu sehen. Nur noch Schutt und Asche. Die Lattenverschläge zu den Nachbarkellern waren weggefegt. Sogar eine Trennmauer war eingestürzt. Nur die Fahrräder der Eltern, die sich in einem Nebengang befanden, waren unversehrt geblieben. Die Mutter sagte immer wieder: „Wilhelm, Gott sei Dank, ist dir nichts passiert.“ Später konnte man genau den Weg der besagten Granate verfolgen. Sie hatte ein Loch im Dach des Hauses hinterlassen. Nachdem sie zwei Stockwerke durchschlagen hatte, kam sie im Keller zur Detonation. Großmutter (Omi), hatte schon Monate zuvor eine Eingebung gehabt, indem sie ihre Wertsachen, ebenfalls in einem überdimensionalen Reisekorb, mit der Bahn zu Freunden nach Hilchenbach im Rothaargebirge schickte. Auf diese Weise hatte sie keine Schäden zu beklagen. Allerdings musste sie wegen der unterbrochenen Bahnverbindung lange auf die Rückführung der Utensilien warten.

Solange die Artilleriegefechte andauerten, verbrachten die Hausbewohner die folgenden Tage und Nächte im Luftschutzkeller. Unna war ab jetzt eine umkämpfte Stadt. Man darf nicht vergessen, dass Unna eine SS-Garnison beherbergte. Da die Stadt nicht so leicht einzunehmen war, warfen die frustrierten Alliierten Flugblätter ab, mit der darin enthaltenen Drohung, Unna in Schutt und Asche zu bombardieren, falls binnen 72 Stunden keine Kapitulation erfolgen sollte. Während die Briten ihren Vormarsch vom Niederrhein aus ostwärts fortsetzten, griffen amerikanische Truppen in einer Zangenbewegung Unna von Norden und Süden her an. Im Norden bissen sich die Angreifer an der hartnäckigen Verteidigung die Zähne aus und kamen nicht voran. Dafür machte der amerikanische Stoßkeil im Süden einen Schwenk und griff von Osten her an. Alle Hausbewohner hausten nun schon seit Tagen im Luftschutzkeller und harrten der Dinge, die da kommen mochten. An einen geregelten Tagesablauf war nicht zu denken. Zwei- oder dreimal am Tage ging die Mutter nach oben und machte Brote fertig, die sie dann der Familie in den Keller brachte. Die knochenharten Brote mussten erst in Wasser aufgeweicht werden. Da es weder Butter noch Margarine oder sonstigen Aufstrich gab, aß man die aufgeweichten Schnitten mit ein wenig darüber gestreutem Zucker. Die Leute im Luftschutzkeller waren schon ganz apathisch geworden. Die meisten dösten vor sich hin, einige beteten.

Ein baldiges Kriegsende zeichnet sich ab