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»Als hätten die Coen-Brüder Dickens verfilmt.« The Times »Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.« Ein Trailer in den Wäldern Virginias, dem Land der Tabakfarmer und Schwarzbrenner, der Hillbilly-Cadillac-Stoßstangenaufkleber an rostigen Pickups. Hier kommt Demon Copperhead zur Welt – die Mutter ist noch ein Teenie und frisch auf Entzug, der Vater tot. Ein Junge mit kupferroten Haaren, großer Klappe und einem zähen Überlebenswillen, bei allem, was das Leben für ihn bereithält: Armut, Pflegefamilien, Drogensucht, erste Liebe und unermesslichen Verlust. Es ist seine Geschichte, erzählt in seinen Worten, unbekümmert, vorwitzig, von übersprudelnder Lebenskraft. Ein mitreißender Roman über ein Leben auf Messers Schneide, in dem in jedem Moment Hoffnung aufscheint. Ein Triumph und ein großes Lesevergnügen: Der Millionenbestseller aus den USA, über ein Leben gegen alle Widerstände. »Eine der großen virtuosen Sprachperfomances. Ein meisterhaftes Lehrstück.« Richard Powers »Erzählkunst at its best.« Stephen King »Ein ebenso komisches wie schmerzhaft-wahrhaftiges Buch.« Alena Schröder »Zutiefst berührend, zutiefst lebendig.« Susanne Abel
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Seitenzahl: 1051
»Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.«
Ein Trailer in den Wäldern Virginias, dem Land der Tabakfarmer und Schwarzbrenner, der Hillbilly-Cadillac-Stoßstangenaufkleber an rostigen Pickups. Hier kommt Demon Copperhead zur Welt – die Mutter ist noch ein Teenie und frisch auf Entzug, der Vater tot. Ein Junge mit kupferroten Haaren, großer Klappe und einem zähen Überlebenswillen, bei allem, was das Leben für ihn bereithält: Armut, Pflegefamilien, Drogensucht, erste Liebe und unermesslichen Verlust. Es ist seine Geschichte, erzählt in seinen Worten, unbekümmert, von übersprudelnder Lebenskraft. Ein mitreißender Roman über ein Leben auf Messers Schneide, in dem in jedem Moment Hoffnung aufscheint.
Barbara Kingsolver
Roman
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Für die Überlebenden
Es ist vergeblich, sich an die Vergangenheit
zu erinnern, wenn sie nicht einen gewissen Einfluss
auf die Gegenwart ausübt.
Charles Dickens, David Copperfield
Erst mal musste ichs schaffen, auf die Welt zu kommen. Eine ordentliche Menge Leute war dabei und hat zugesehen, und das immerhin mussten sie mir lassen: Bei dieser Sache hatte ich den härtesten Job, denn meine Mutter war, sagen wir einfach, nicht ganz da.
An jedem anderen Tag hätte man sie draußen auf der Veranda ihres Trailers gesehen. Gute Nachbarn geben aufeinander acht und stochern in fremden Angelegenheiten rum, wie es ihnen gerade gefällt. Den ganzen nach Hunderachen stinkenden Spätsommer und Herbst konnte man sie, wenn man den Berg raufschaute, da oben stehen sehen, eine kleine Wasserstoffblondine, die ihre Pall Malls rauchte und sich auf das Verandageländer stützte, als wäre sie die Kapitänin von dem Schiff da oben und jetzt der Moment, wo es untergeht. Wir reden hier von einer Achtzehnjährigen, mutterseelenallein und so schwanger wie nur was. An dem Tag, an dem sie sich nicht blicken ließ, war es dann Nance Peggot, die an die Tür hämmerte, reinwalzte und sie bewusstlos auf dem Badezimmerboden fand, wo ihr Junkzeug rumlag und ich schon dabei war rauszukommen. Eine glitschige fischbleiche Geisel, die sich über die dreckigen Vinylfliesen windet und schiebt, denn ich bin noch immer in dem Sack, in dem die Babys schwimmen, vor dem echten Leben.
Mr Peggot saß draußen in seinem Pick-up. Sie wollten gerade zum Abendgottesdienst, und er fragte sich wahrscheinlich, wie viel Zeit er in seinem Leben schon damit verbracht hatte, auf Frauen zu warten. Wahrscheinlich hatte Mrs Peggot ihm gesagt, das Jesulein kann sich ja wohl noch kurz gedulden, sie muss erst nachsehen, ob die schwangere Kleine mal wieder betrunken ist. Mrs Peggot ist eine Frau, die nicht lang rumredet, und zur Not sagt sie auch zu Jesus Christus, er soll sich jetzt mal schön brav hinsetzen und die Klappe halten. Sie kam wieder raus und rief Mr Peggot zu, er soll den Rettungswagen rufen, denn im Badezimmer ist ein kleines Baby, das versucht, sich aus einem Sack freizukämpfen.
Wie ein kleiner blauer Preisboxer. Das sind die Worte, mit denen sie mich später beschrieb. Sie hatte überhaupt keine Hemmungen, sich über den schlimmsten Tag im Leben meiner Mom auszulassen. Und wenn ich für die ersten Leute, die mich zu Gesicht kriegten, so rüberkam – bitte. Für mich heißt das, ich hatte zumindest eine Chance. Keine große, ich weiß. Wenn die Mutter in ihrer Pisse liegt, rechts und links nichts als Pillenfläschchen, und man dem Kind, das sie rausgepresst hat, auf den Hintern patscht, damit es ein bisschen lebendiger wird, dann siehts für den kleinen Bastard nicht gut aus. Das Kind einer Junkiebraut ist ein Junkie. Es wird erwachsen werden und all das sein, von dem man nichts wissen will: der Bursche mit den fauligen Zähnen und den Todeszonenaugen, wegen dem man die Garage abschließen muss, damit das Werkzeug keine Beine kriegt, und der in einem Motel weitab von landschaftlich reizvollen Strecken haust, wo die Miete wöchentlich fällig ist. Wenn er was Schöneres hätte haben wollen, hätte er sich lieber irgendeine reiche, intelligente oder christliche, nicht-süchtige Mutter aussuchen sollen. Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.
Aber ich hatte schon immer eine Schwäche für Superheldengeschichten. War diese Branche in unserem Trailer-Universum überhaupt vertreten? Oder hatten alle Superhelden die Provinz aufgegeben und sich auf die Suche nach größerer Action gemacht? Retten oder gerettet werden, das ist die Frage. Aber glaubt bloß nicht, es ist vorbei, bevor die letzte Seite umgeblättert ist.
Das alles war an einem Mittwoch, der ja angeblich der schlechte Tag ist – Mittwochskind nur Kummer findt und so weiter. Und obendrein steckte ich ja noch in dem Ziplockbeutel. Aber: Laut Mrs Peggot hat es auch ein Gutes, in diesem Sack zur Welt zu kommen. Es ist ein Versprechen von Gott, dass man nie ertrinken wird. Und zwar ganz konkret. Man kann noch immer eine Überdosis erwischen oder vom Lenkrad eingeklemmt auf dem Fahrersitz gegrillt werden oder sich das Hirn aus dem Kopf blasen. Aber der eine Ort, wo man nicht seinen letzten Atemzug tun wird, ist unter Wasser. Danke, Jesus.
Ich weiß nicht, ob es damit zusammenhängt, aber das Meer hat mich schon immer fasziniert. Andere Kinder können einem die Marken und Modelle aller möglichen Dinosaurier oder so aufzählen, aber bei mir waren es Wale und Haie. Sogar heute noch denke ich mehr als normal an Wasser. Wie es ist, sich darin treiben zu lassen, an die Farbe Blau und dass dieses Blau für die Fische die ganze Welt ist. Luft und Lärm und Menschen und unser unheimlich wichtiger hektischer Quatsch sind für sie bloß ein kleines Ärgernis, wenn überhaupt.
Ich habe das echte Meer noch nie gesehen, nur Fotos und den hypnotisierenden Bildschirmschoner mit sich auftürmenden und brechenden Wellen auf einem Computer in der Bücherei. Was weiß ich also schon vom Meer, wo ich doch noch immer nicht auf seinem sandigen Bart gestanden und ihm ins Auge gesehen habe? Ich warte noch immer darauf, das eine große Ding zu sehen, von dem ich weiß, dass es mich nicht bei lebendigem Leib verschlingen wird.
Mitten im Herzen von Lee County, zwischen dem Bergarbeiternest Ruelynn und einer Siedlung, die alle Right Poor nannten, am höchsten Punkt einer Straße, die zwischen zwei steilen Bergen hindurchführte, stand unser Einzeltrailer. In den Wäldern da oben hab ich mehr Stunden verbracht, als man zählen kann, zusammen mit einem Jungen namens Maggot: Wir sind im Bach herumgewatet, haben große Steine bewegt und hatten Superkräfte. Ich hatte mehrere Figuren zur Auswahl, fand aber Marvel-Helden eindeutig besser als die von DC. Am liebsten war ich Wolverine. Während Maggot sich meistens für Storm entschied, das ist ein Mädchen. (Ausgezeichnete Kräfte und außerdem Mutantin, aber trotzdem.) Maggot war die Abkürzung für Matt Peggot, offensichtlich verwandt mit der schreienden Lady bei meiner Geburtstagsparty, seiner Großmutter. Wegen ihr waren Maggot und ich für eine Weile zwei wilde Nachbarsjungs, aber erst musste er mit etwas Vorsprung geboren und dann bei ihr geparkt werden, während seine Mom einen langen Urlaub im Frauenknast in Goochland machte. Wir haben hier Stoff genug, um mehr als bloß ein einziges junges Leben an die Wand zu fahren, aber wir sind ja auch noch längst nicht fertig.
Die Gegend, wo wir wohnten, war berühmt dafür, dass es da massenhaft Copperheads gab, diese Giftschlangen mit der kupferroten Zeichnung. Die Leute denken, sie wissen viel. Ich weiß nur: In all den Jahren, in denen wir auf den Felsen herumgeklettert sind, an allen möglichen Stellen, wo Schlangen gern in der Sonne liegen, haben wir nie eine Copperhead zu sehen gekriegt. Andere Schlangen schon, und das nicht zu knapp. Aber es gibt solche und solche. Ziemlich häufig zum Beispiel ist eine gefleckte, die man Water Devil nennt und die schnell sauer wird und zubeißt, wenn man nicht aufpasst, aber das ist dann nicht mal so schlimm wie ein Hundebiss oder ein Bienenstich. Wenn so eine Wasserschlange einen beißt, schreit man alle Flüche, die man in seinem kleinen Gehirnkasten gespeichert hat, und dann wischt man das Blut ab, nimmt seinen Stock und ist wieder ein Adaptoid, der auf den bemoosten Baumstumpf des Bösen eindrischt. Aber sollte dich eine Copperhead erwischen, dann ist es das Ende deiner Pläne für den Tag und vielleicht auch das von deiner Hand oder deinem Fuß, Punkt. Es lohnt sich also, genau hinzuschauen.
Wenn man das tut, lernt man Unterschiede. Jeder kann einen Schäferhund von einem Beagle oder einen Whopper von einem Big Mac unterscheiden. Soll heißen: Bei Hunden oder Burgern sieht man genau hin, aber eine Schlange ist bloß eine Scheißschlange. Bei uns da oben gäbs Massen von Copperheads, sagten die Kassiererinnen im Supermarkt, wenn sie unsere Adresse auf dem Umschlag mit Moms Lebensmittelgutscheinen sahen. Sagte auch die Schulbusfahrerin jeden Tag und ließ die Tür hinter mir zuklappen, als würden die Biester gleich ihre spitzen Schlangenköpfe reinschieben. Die Leute glauben wahnsinnig gern an Gefahr, solange sie anderen droht und sie selbst einem alles Gute wünschen können.
Ich brauchte Jahre, um hinter diese Sache mit den guten Wünschen zu kommen, und dabei ging es nicht nur um Schlangen. Eine von Moms schlechten Entscheidungen – so nannten sie das in der Reha, und glaubt mir, ihr Leben war voller schlechter Entscheidungen – war ein Typ namens Copperhead. Angeblich hatte er die dunkle Haut und die hellgrünen Augen der Melungeons, die von Weißen, Schwarzen und Indianern abstammen, dazu rotes Haar, das einem ins Auge sprang. Es war lang und schimmerte wie ein Penny, sagte meine Mom, die es offenbar schwer erwischt hatte. Ein Schlangentattoo wand sich um seinen rechten Arm, wo er zweimal gebissen worden war: das erste Mal als Junge in der Kirche, als er den mit Schlangen hantierenden Männern der Familie beweisen wollte, dass er jetzt einer von ihnen war, und das zweite Mal später, fern vom Angesicht Gottes. Mom sagte, er brauchte das Tattoo gar nicht zur Erinnerung – der Arm machte ihm bis zum Schluss zu schaffen. Er starb im Sommer vor meiner Geburt. Mein chaotischer Geburtstag erwischte genug Leute auf dem falschen Fuß, um den Rettungswagen und dann den Monstertruck des Jugendamts in Bewegung zu setzen, aber ich bezweifle sehr, dass sich irgendjemand über meine Augen und mein Haar wunderte. Ich hätte genauso gut mit dem Schlangentattoo geboren sein können.
Mom hatte ihre eigene Version von dem Tag. Ich hab ihr nie geglaubt, schließlich war sie ja ziemlich hinüber, als es so weit war. Nicht dass ich irgendwas dazu sagen könnte – ich war ja gerade erst auf der Welt und steckte außerdem noch in dem Beutel. Aber ich kannte Mrs Peggots Geschichte. Und wenn ihr mal einen Tag mit ihr und meiner Mom verbracht hättet, wüsstet ihr, auf wen ihr euer Geld setzen würdet.
Moms Geschichte ging so: Am Tag meiner Geburt schneite aus heiterem Himmel die Mutter vom Vater ihres Babys herein. Mom kannte sie nicht und wollte sie auch gar nicht kennenlernen nach allem, was sie über die Familie gehört hatte: Baptisten, die mit Schlangen rummachten, war noch das Harmloseste. Angeblich waren es Menschen, die sich gegenseitig die Scheiße aus dem Leib prügelten. Männer schlugen Frauen, Mütter verdroschen Kinder mit allem, was gerade zur Hand war, nicht mal die Bibel wurde geschont. Diesen Teil nahm ich Mom ab. So was hat man schon gehört: Leute, die so gottesfürchtig sind, dass sie nicht nur Schlangen herumreichen, sondern auch Veilchen verteilen. Wenn euch das neu ist, glaubt ihr wahrscheinlich auch, dass man in einem trockenen County keinen Alkohol kriegt. In Südwest-Virginia gibts eben alle möglichen schlimmen Sachen.
Als diese Frau auftauchte, hatte Mom angeblich schon ziemlich starke Wehen. Sie waren urplötzlich über sie gekommen, und um dem Schmerz die schärfsten Kanten zu nehmen, hatte sie schon vor Mittag ordentlich Seagram’s getankt, außerdem genug Ephedrin, um sich für eine weitere Whiskydosis wach zu halten, und dann noch ein paar Vicodin eingeworfen, als ihr das alles ein bisschen zu viel wurde. Irgendwann sieht sie auf, und da ist eine Fremde, die das Gesicht so fest ans Badezimmerfenster drückt, dass ihr Mund aussieht wie eine Arschritze. (Moms Worte – stellt es euch vor oder lasst es bleiben.) Die Frau kommt durch die Vordertür rein und fängt an, von Hölle und Fegefeuer zu quatschen. Was tut Mom nur diesem unschuldigen Lämmchen an, das der Allmächtige ihr in den Schoß gelegt hat? Sie wird jetzt das einzige Kind ihres toten Sohns aus diesem Sündenpfuhl retten und der Kleinen ein anständiges Zuhause geben.
Mom schwor, dass das der Zug war, den ich knapp verpasst hatte: in eine Hinterwäldlersippe von religiösen Fanatikern in Open Ass, Tennessee, verschleppt zu werden. (Der Ortsname ist meine Zugabe.) Sie weigerte sich, über die Familie meines Vaters oder die Ursache seines Todes zu sprechen. Sie sagte nur, dass es ein schlimmer Unfall gewesen war, an einem Ort namens Devil’s Bathtub, wo ich nie, nie hindurfte. Wenn man Geheimnisse von jungen Ohren fernhalten will, pflanzt man zwischen ihnen Samen, und aus denen wuchsen in meinem kleinen Kopf grässlichere Tode, als ich in meinem Alter im Fernsehen hätte sehen dürfen. Was dazu führte, dass ich mich vor Badewannen fürchtete. Zum Glück hatten wir keine. Die Peggots schon, aber um die machte ich einen Bogen. Und Mom blieb stur. Über Mutter Copperhead sagte sie bloß, dass sie eine grauhaarige alte Hexe war und Betsy hieß. Schade – ich hatte wenigstens auf einen knallroten Haarschopf wie den von Black Widow gehofft. Das war also alles, was wir von der Familie meines Vaters zu Gesicht gekriegt hatten. Wenn der Vater den Löffel abgibt, bevor man selbst auf der Bildfläche erscheint, kann man deutlich zu viel Zeit seines Lebens damit verbringen, in dieses schwarze Loch zu starren.
Aber Mom hatte genug gesehen. Sie lebte in der Angst, das Sorgerecht zu verlieren, ging auf Entzug und gab alles. Ich kam raus, Mom ging rein und gab hundert Prozent. Immer und immer wieder im Lauf der Jahre. Sie wurde eine regelrechte Entzugsexpertin. Weil sie schon so oft einen gemacht hatte.
Wie man sieht, machte Moms Geschichte alles nur undurchsichtiger. Eine Frau taucht auf (vielleicht aber auch nicht), bietet ein besseres Zuhause für mich an (oder auch nicht) und verschwindet dann wieder, von Mom (wie ich sie kenne) mit einer Reihe saftiger Flüche bedacht, die der guten Frau sicher in den Ohren geklingelt haben. Hatte Mom sich diese Geschichte nur ausgedacht, um mich ein bisschen zu verarschen? Oder hatte es sich in ihrem verwirrten Kopf wirklich so abgespielt? Wie auch immer, sie sagte jedes Mal, die Frau wäre gekommen, um ein kleines Mädchen zu retten. Nicht mich. Wenn Mom das erfunden hatte – warum dann ein Mädchen? War es das, was sie sich eigentlich wünschte: ein kleines rosarotes Bündel, das sie dazu bringen würde, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen? Als wäre ich unzerbrechlich?
Noch etwas, eine Kleinigkeit: Wenn sie diese Geschichte erzählte, sprach Mom den Namen meines Vaters nie aus. Die Frau war »diese Woodall-Hexe«. Das war der Nachname meines Vaters, doch den Mann, der ihr diese Babysache eingebrockt hatte, erwähnte sie mit keinem Wort. Zu anderen Gelegenheiten, wenn sie nach dem zweiten Sixpack beim Thema Liebe und so angekommen war, hatte sie eine ganze Menge über ihn zu sagen. Über die Abenteuer von ihm und ihr. Aber in der Geschichte, in der es um meine Existenz geht, ist er bloß eine schlechte Entscheidung.
Ich habe vor, alles in der Reihenfolge zu erzählen, in der es passiert ist – mal abgesehen vielleicht von Zeiten, in denen ein gewisser junger Mann komplett neben der Spur war –, und ein paar Punkte entsprechend zu verbinden. Aber verdammt. Ein Kind zu sein ist was Schreckliches: Man ist ausgeliefert. Wenn man es dann irgendwann hinter sich hat, vergisst man das ganze Elend am besten und macht sich und der Welt vor, dass man schon immer gewusst hat, was zu tun war. Vorausgesetzt, man hat irgendwas geschafft, auf das man stolz ist. Wenn nicht, ist es leichter, alles zu vergessen, Punkt. Das hier soll die dritte Option werden: nicht stolz, nicht vergesslich. Nicht leicht.
Ich weiß noch, dass ich Dinge schon als Kind lieber angesehen habe, anstatt über sie zu sprechen. Ja, ich hatte Fragen – mein Problem waren Leute. Leute, die dachten, dass Kinder keine vollwertigen Menschen waren, denen man klare Antworten gab. Zum Beispiel: Die Peggots nebenan hatten in ihrem Garten einen Mast mit Vogelhäuschen, ein einziges Durcheinander aus baumelnden Kürbissen, in die Einfluglöcher gebohrt waren. Es war eine Vogelversion dieser zusammengewürfelten Trailerhaufen, die man manchmal sieht: Irgendein Paar hat Kinder gekriegt, aber die sind nie richtig ausgezogen, auch die Enkelkinder nicht, sondern es wurden einfach mehr Trailer geholt und angebaut. Und da sitzen sie jetzt auf ihren zusammengeflickten Veranden, eine einzige große Sippe, und über dem Ur-Trailer weht die ausgefranste Flagge. Eine Nation unter Schrott. So war dieser Vogelhausmast im Garten der Peggots: eine Vogeltrailerwucherung. Dabei hat kein Vogel je darin genistet. In den Bäumen hinterm Haus waren viele Vogelnester, manche Vögel bauten sich ihr Nest auch irgendwo anders, zum Beispiel unter der Motorhaube von Mr Peggots Pick-up. Warum zogen sie nicht in ein fix und fertiges Haus, für umsonst? Mr Peggot meinte, die Vögel wären eben wie alle, sie wollten selbst über ihr Leben bestimmen. Er sagte, er hätte schon Sozialwohnungen gesehen, die nicht viel mehr gekostet hätten als ein Vogelhaus, und die wollte auch keiner haben.
Na gut, aber warum ließ man das Zeug da hängen, bis es Schimmel ansetzte? Maggot sagte, dass Humvee es im Werkunterricht gebastelt hatte. Humvee war einer von Maggots Onkeln und zuletzt in der Nähe eines Klassenzimmers gesichtet worden, als es die Bee Gees oder Elvis noch gegeben hatte. Aber jetzt waren die Neunziger. Die Peggots behielten den Mast mit den verschmähten Vogelhäuschen all die Jahre als Erinnerung an ihren Sohn Humvee? Das glaubte ich nicht. Immerhin hatten die Peggots sieben Kinder, die zum Teil in Ocala, Florida, lebten oder auch ganz nah, kaum einen Kilometer entfernt. Zahllose Cousinen und Cousins wimmelten wie Rudel halbwilder Tiere mit Verköstigungsprivilegien durchs Haus. Über jedes Familienmitglied wurde jederzeit gesprochen, mit Ausnahme von zweien: 1. Maggots Mom, 2. Humvee. Die eine saß in Goochland, der andere war tot, aus Gründen, über die man schwieg.
Außer den vogellosen Vogelhäuschen hatten sie auch einen hundelosen Hundezwinger. Bevor er die Sache leid geworden war, hatte Mr Peggot Jagdhunde gehalten wie alle alten Männer, die wir kannten – damals, als sie noch die Puste dafür gehabt und es Füchse oder Bären gegeben hatte, die die Hunde auf einen Baum jagen konnten. Im Herbst ging er mit uns in den Wald, um Ginseng oder Sassafras auszugraben, denn die konnten nicht weglaufen. Hauptsächlich aber, um draußen im Wald zu sein. Er konnte Vogelstimmen erkennen wie andere Leute den Sprecher im Radio. Als wir alt genug waren, um mit einem Gewehr umzugehen, neun oder zehn, zeigte er uns, wie man einen Hirsch schoss, ihn an dem Ast über der Zufahrt aufhängte und ausnahm. Die verschlungenen Gedärme dampften auf dem Kies, und Mrs Peggot machte Hirschgulasch. Wenn ihr das nicht kennt, habt ihr noch nie gegessen.
Der leere Hundezwinger stand zwischen unserem Trailer und dem Haus der Peggots. Maggot und ich breiteten eine Plane darüber und schliefen dort draußen, meist wenn irgendwo ein Baum umgefallen war und die Stromleitung gekappt hatte, sodass wir nicht fernsehen konnten. In einem Sommer machten wir das ungefähr einen Monat lang, nachdem mir bei einer hektischen Nintendo-Duck-Hunt der Controller aus der Hand gerutscht und gegen den Bildschirm geknallt war. Maggot nahm das auf seine Kappe, damit ich nicht nach Hause geschickt und bei lebendigem Leib gehäutet wurde. Mrs Peggot tat, als würde sie ihm glauben, obwohl sie alles gehört hatte. Wahrscheinlich hat jeder schon mal so eine goldene Zeit erlebt, wo alles gut war, weil es Leute gab, die zu einem gehalten haben, aber leider wars damit dann irgendwann vorbei, weil man sich über irgendeinen blöden Mist wie zum Beispiel einen kaputten Fernseher aufgeregt hat.
Das Haus der Peggots stand am höchsten Punkt der Straße, und ringsum war nichts als Wald. Irgendwann hatten sie auch mal Hühner, unter anderem einen Hahn mit dem Gemüt eines Serienmörders, von dem ich Albträume bekam. Eigentlich waren sie keine Farmer. Auch nicht die Allerfrommsten, aber sie nahmen mich unter ihre Fittiche. Mom hasste die Kirche, weil irgendwelche ihrer Pflegeeltern es damit wohl übertrieben hatten, aber ich hatte nichts dagegen. Ich sah gern zu, wenn die Frauen sangen, und den Rest konnte man verschlafen. Und dann war da natürlich noch das mit dem bedingungslos Geliebtwerden, Jesus immer an deiner Seite. Kein Wasserhahn, der auf- und zugedreht wird wie bei anderen Menschen. Einige der Geschichten in der Bibel beschäftigten mich sehr. Diese Lazarus-Sache zum Beispiel brachte mich auf die fixe Idee, mein Dad könnte von den Toten zurückkehren, und ich müsste ihn suchen. Mrs Peggot sagte zu Mom, sie sollte mir sein Grab in Tennessee zeigen, und die beiden kriegten sich ziemlich in die Haare. Maggot beruhigte mich, indem er mir erklärte, dass Bibelgeschichten so was waren wie Superheldengeschichten. Nicht zu verwechseln mit dem wirklichen Leben.
Als Kind nimmt man es einfach hin, dass in unterschiedlichen Welten unterschiedliche Regeln gelten, auch wenn es sich bloß um verschiedene Häuser handelt. Bei den Peggots hatte alles seinen Platz. Wenn Mr Peggot mit den Einkäufen heimkam, packte er sie sofort in den Kühlschrank. Und wenn Maggot und ich mit dem Dritten Weltkrieg im Wohnzimmer fertig waren, mussten wir die Legosteine und den ganzen anderen Kram aufräumen, bevor wir rausgingen, sonst war der Teufel los. Nicht wie bei mir zu Hause, wo die Milch ein Eigenleben hatte und auf der Küchentheke stand, bis sie schlecht wurde. Mom sagte immer, sie würde noch den Verstand verlieren, wenn er nicht festgeschraubt wäre, und da lag sie nicht ganz falsch. Ihr Mitarbeiterausweis auf dem Toilettenkasten, das Schminkzeug bei der Küchenspüle, die Handtasche draußen unter einem Stuhl. Die Schuhe sonst wo. So war Mom eben. In meinem Zimmer versuchte ich, halbwegs Ordnung zu halten, vor allem bei meinen Actionfiguren und den Notizbüchern mit meinen Zeichnungen. Einmal bat ich Mom, mir zu zeigen, wie man das Bett so macht, dass es aussieht wie im Fernsehen. Sie fand das zum Totlachen.
Wir Kinder streunten weit herum, manchmal bis zu den alten Bergarbeitersiedlungen mit den kleinen Monopoly-Reihenhäuschen, die allerdings nicht mehr alle gleich aussahen, weil man allen möglichen Blödsinn angestellt hatte und Dächer auf verschiedene Weise einstürzen können. Wir spielten König der Berge auf den Halden und kamen mit pechschwarzen Gesichtern und weißen Augenlidern heim, wie die Bergleute, die wir in alten Fotoalben gesehen hatten. Oder wir stapften in Bächen herum. Nicht in dem von Devil’s Bathtub, über den nicht gesprochen wurde, weil Mom dann zu viel kriegte, und der sowieso drüben in Scott County war. Am allerbesten gefiel uns der kleine Bach gleich bei uns hinterm Haus – da konnte ein Junge unsichtbar werden. Das Wasser hatte seinen eigenen Plan und floss um all die Felsen herum. Und unter dem Wasser war ein Schlamm, der was Beglückendes hatte: dick und nach Laub riechend und von einer Farbe, dass man ihn am liebsten gegessen hätte. Der Bach hieß Peggot’s Branch, weil die Peggots diejenigen waren, die am längsten da wohnten. Das Haus war von einem früheren Peggot gebaut worden, lange bevor es dort irgendwelche anderen Häuser gegeben hatte, als das hier noch eine große Tabakfarm gewesen war und man die Felder mit Maultieren gepflügt hatte. Sagte Mr Peggot. In so steilen Lagen kann man nämlich nur mit Maultieren pflügen. Ein Traktor würde umfallen und einen unter sich begraben.
Der Trailer, in dem Mom und ich wohnten, war genau genommen ein Peggot-Trailer, denn dort hatte Maggots Tante June gewohnt, bevor sie nach Knoxville gezogen war. Mom hatte ihn von den Peggots gemietet – wahrscheinlich hatten sie deshalb ein Auge auf sie und griffen ihr unter die Arme. Als hätten sie Mom von der Ersatzbank geholt, nachdem die Stammspielerin vom Feld gegangen war. Maggot sagte, June wäre noch immer ihr Lieblingskind, obwohl sie eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht hatte und inzwischen woanders lebte. Was schon eine Menge sagte. Einen Knastaufenthalt würden einem die meisten Familien verzeihen, aber nicht, dass man aus Lee County wegzog.
Damit das klar ist: Mom und ich waren nicht mit den Peggots verwandt, daher war es auch nicht so ein Familientrailerdurcheinander. Diese heruntergekommenen Dinger, die man im Reality-TV öfter zu sehen kriegt als die Realität. Wohl aus demselben Grund, warum die Leute Copperheads sehen, wo es gar keine gibt. Die Peggots hatten bloß das Haus und den einen Trailer. Entlang der Straße hatten sich noch neun oder zehn andere Familien niedergelassen, und deren Trailer waren allesamt sehr gepflegt. Aber auch hier: keine Verwandtschaft.
Keine Frage, die Peggots waren eine donnernde Horde. Ich beneidete Maggot um die Scharen von Cousinen und Cousins, die für ihn vollkommen selbstverständlich waren. Sogar die heißen älteren Cousinen, die Sachen sagten wie: »Oooh, Matty, für deine Wimpern würde ich töten! Wie konnte Gott so ein hübsches Gesicht nur an einen Jungen verschwenden!« Und dann quietschten sie, weil Maggot ihnen Brennnesselarme machen wollte, dabei waren sie durchtrainierte Cheerleaderinnen, die dieses schmächtige Bürschchen jederzeit hätten zerlegen können. Nein, die hatten keine Angst vor ihm. Das war bloß die Nummer, die sie abzogen: Die Mädels machten ihre Mädelssprüche, und Maggot tat so, als wäre er sauer.
Und ich dachte so: Echt jetzt? Schon klar, »hübsch« ist eins der Wörter, die ein Mann so behandeln sollte wie den Tripper, vor dem er schleunigst seine Eier in Sicherheit bringen muss. Bei Maggot war die ganze Sache mit der Männlichkeit gelinde gesagt kompliziert. Aber so was kam auch nur vor, wenn außer den Cousinen niemand dabei war, der eine dumme Bemerkung hätte machen können. Nur ich, der cousinenlose Trottel, der Geld bezahlt hätte, damit ein Mädchen so an mir herumfummelte und sich halb auf mich legte wie die da, nachdem sie es sich auf dem Boden bequem gemacht hatten, um Walker, Texas Ranger zu sehen. Ich, der Trottel, der allein auf dem Sofa saß, meinen Freund da unten in dem Haufen liegen sah und dachte: Alter – was ist so schlimm daran, angehimmelt zu werden?
Ich hab hier immer geschrieben: »Mrs Peggot machte dies« und »Mrs Peggot machte das«, und das werde ich auch weiterhin tun, denn die Wahrheit ist peinlich: Ich nannte sie Mammaw. Maggot nannte sie so, also tat ich das auch. Ich wusste, dass seine Cousinen nicht meine Cousinen waren und Mr Peggot nicht mein Großvater. Ich nannte ihn Peg, wie alle. Aber ich dachte, jedes Kind hätte eine Mammaw, so wie sie eine Sozialarbeiterin und das Gratisessen in der Schule und die Tüte mit den Dosenwürstchen fürs Wochenende hatten. Zugeteilt gewissermaßen. Woher hätte ich sonst eine kriegen sollen? Von Mom, der Waisenkind-Pflegekind-Aussteigerin, war nicht viel zu erwarten. Über die Mutter von Geisterdad haben wir ja schon gesprochen. Darum teilte ich mir die Mammaw mit Maggot. Mrs Peggot schien nichts dagegen zu haben. Abgesehen davon, dass mein offizieller Schlafplatz im Trailer bei Mom war und Maggot sein eigenes Zimmer oben im Peggot-Haus hatte, machte sie keinen Unterschied: Wir kriegten die gleichen Cupcakes, die gleichen selbst genähten Cowboyhemden mit Fransen an den Ärmeln. Den gleichen Schulterknuff mit den Knöcheln, wenn man ein schmutziges Wort sagte oder bei Tisch die Baseballmütze nicht abnahm. Das tat nicht mal besonders weh. Aber Herrgott, konnte sie schimpfen. Man sah diese kleine alte Dame mit kurzem grauen Haar, Momjeans und flachen gelben Sandalen und dachte vielleicht: Wer soll mir hier schon im Weg stehen? Aber da hatte man sich schwer getäuscht. Wenn man was gemopst oder schlecht über Respektspersonen gesprochen oder ihre Tomatenpflanzen geknickt oder ihr Haarspray aus einer Papiertüte geschnüffelt hatte, konnte sie schimpfen, dass einem die Haare ausfielen.
Sie war die Einzige, die meinen echten Namen auch dann noch benutzte, als alle anderen längst davon abgekommen waren, sogar Mom. Mir wurde erst ziemlich spät im Leben, so in meinen Zwanzigern, klar, dass woanders die Leute bei dem Namen bleiben, den sie bei ihrer Geburt bekommen haben. Wer hätte das gedacht? Ich meine, Snoop Dogg, Nas, Scarface – das sind ja keine Namen, die sich irgendeine Mom ausgedacht hat. Ich nahm einfach an, dass es überall so war wie bei uns in Lee County, wo die meisten irgendwann einen Spitznamen kriegen, der hängen bleibt. Shorty oder Grub oder Checkout. Höchstwahrscheinlich hieß Humvee auch nicht von Anfang an Humvee. Mr Peggot wurde zu Peg, nachdem ihm eine der Maschinen im Bergwerk den Fuß zertrümmert hatte. Irgendein Name kommt angeflogen, und auf den hört man dann wie ein Hund, und wenn man stirbt, steht er in der Zeitung, zusammen mit dem offiziellen Namen, den aber inzwischen alle vergessen haben. Wenn ich mir die Todesanzeigen ansah, fand ich, dass die meisten dieser Spitznamen ziemlich harsch waren. Wer will schon als alter Stubby sterben? Aber im täglichen Leben war es ganz normal. Man gab seinem besten Freund Maggot ein Bier aus, ohne einen Gedanken an Maden zu verschwenden.
Es war also ungewöhnlich, dass Mrs Peggot an meinem Namen festhielt, auch als die anderen ihn nicht mehr benutzten. Ich heiße Damon. Mit Nachnamen Fields, genau wie Mom. Sie hatte im Krankenhaus nach meiner actiongeladenen Geburt die Formulare ausgefüllt und offenbar ihre Gründe gehabt, meinen Dad aus dem Spiel zu lassen. Nach allem, was ich heute weiß, gibts keinen Zweifel, aber die Ähnlichkeit mit ihm war etwas, in das ich und meine Haare erst hineinwachsen mussten. Und vielleicht gab es ja damals, als Moms Aussehen noch der Hauptpunkt auf ihrer Plusliste war und in ihrem Wortschatz der Ausdruck »schlechte Entscheidung« nicht vorkam, auch andere Kandidaten. Jedenfalls war keiner zur Hand, der sich als Gentleman gezeigt und seinen Namen hergegeben oder sie vom Krankenhaus abgeholt hätte. Letzteres musste, wie das meiste Gentlemanmäßige in Moms Leben, Mr Peg erledigen. Ob er darüber glücklich war oder nicht, ist eine andere Frage.
Was das »Damon« betrifft: War ja klar, dass Mom ein Name einfallen würde, der zu einem zuckerärschigen Boygroupsänger passt. Was hatte sie sich dabei eigentlich gedacht? Ich war nicht mal abgestillt, da hatten die Leute schon »Demon« daraus gemacht. Noch bevor ich in die Schule ging, hatte ich schon alle Varianten gehört: Screamin’ Demon, Demon Semen. Als ich dann kupferrotes Haar und so was wie eine Haltung bekam, hörte ich »der kleine Copperhead«. Ich hörte es ziemlich oft. Und, klar – kein echter Junge will ein kleiner Irgendwas sein. Mein Rat an alle, die ihren Sohn Junior nennen wollen: Ein Leben als Mini-Ausgabe von euch wird ungefähr so aufregend sein wie die Entdeckung, dass auf dem Teppich ein Wichsfleck ist.
Aber ein berühmter Geisterdad ist was ganz anderes, und ich kann nicht behaupten, dass ich gegen diesen Zusatz was gehabt hätte. Etwa zu der Zeit, als Maggot mit seinen Ladendiebstahlexperimenten begann, fing ich an, mir als Demon Copperhead einen Namen zu machen. Und man kanns nicht leugnen: Der Name hat schon was.
Seit Murrell Stone mit klirrenden Harley-Davidson-Stiefelketten zum ersten Mal die Stufen zu unserer Veranda erstiegen hatte, war Mom so: Er ist ein guter Mann – er mag dich, und du magst ihn. Ich hatte also meine Anweisungen.
Man nannte ihn Stoner, und wenn er nette Sachen zu ihr sagte, war sie ganz Ohr. Sie war inzwischen so lange abstinent, dass sie sich in ihrem Walmart-Job durch sämtliche Umdekorationen der Saisonangebote gearbeitet hatte: Halloweenkostüme, Weihnachtskrempel, Valentinskarten, Osterschokolade, Klappliegestühle. Sie war mit der Miete nicht im Rückstand und hortete in einer Schublade einen Haufen Abstinenzchips, die sie spätabends rausholte und betrachtete wie ein Drache seinen Schatz. Daran kann ich mich erinnern: Mom kommt von der Arbeit nach Hause, zieht sich die abgeschnittene Jeans an, macht sich eine Dose Mello Yello auf, setzt sich zum Rauchen auf die Veranda, die Füße auf das Geländer gelegt, damit die Beine vielleicht noch ein bisschen Gratisbräunung abkriegen, und ruft Maggot und mir unten am Bach zu, wir sollen aufpassen, dass wir uns beim Herumrennen mit Stöcken nicht die Augen ausstechen. Mit anderen Worten: Das Leben ist schön.
Woran ich mich nicht erinnere, ist, was ich damals nicht wusste. Was für ein Gefühl ist es, endlich alt genug zu sein, um ein Bier bestellen zu dürfen, wenn man schon drei Jahre bei den Anonymen Alkoholikern ist? Wie beschissen ist es, ein Kind im schulpflichtigen Alter und eine Langzeitbeziehung zum Partydeko-Regal bei Walmart zu haben, während deine früheren Freundinnen draußen unterwegs und drauf aus sind, high, betrunken oder verheiratet zu sein, am besten alles drei zusammen? Mom hatte nur mit Leuten zu tun, die mindestens in den Dreißigern waren: Leidensgenossen aus den Suchtgruppen oder Walmart-Kolleginnen, die ihr »einen schönen Tag noch, Schätzchen« wünschten und nach Hause zu ihren Männern, Chicken-Nuggets und Jeopardy fuhren. Nach meiner Geburt hatte sie es mit ein paar Typen versucht und war gescheitert. Es war nicht gelaufen, weil sie a) entweder vom Pfad der Nüchternheit abgekommen war, worauf ihr das Jugendamt die Hölle heiß gemacht hatte, oder b) eine Spaßbremse gewesen war.
Und da kam Stoner um die Ecke, so von wegen er hätte Achtung vor einer Frau, die clean ist. Er selbst sah auch ganz clean aus, ein richtiger Meister Proper: der Schädel wie eine Billardkugel, dicke Muckis, aber kein Ohrring, sondern Tunnelringe in den Ohrläppchen. Mom sagte, er hätte genug Haar, um es wachsen zu lassen, würde sich aber lieber den Schädel rasieren. Für sie war ein muskelbepackter Typ mit Vollglatze und Jeansweste mit nichts drunter der absolute Inbegriff von Männlichkeit. Wenn es euch überrascht, dass eine Mutter die Vorzüge ihres Freundes mit einem Jungen diskutiert, der erst noch lernen muss, nicht in der Nase zu bohren, habt ihr die Abgründe der Einsamkeit nicht kennengelernt. Mom zündete mir eine Zigarette an – Menthol natürlich, in ihren Augen die kinderfreundliche Option –, und dann quatschten wir. Ich fand, mit Mom zu rauchen und die Hengstqualitäten diverser Männer zu diskutieren, war ein Zeichen großen Respekts. So erfuhr ich also von solchen Sachen: ein ganzer Schädel mit Bartschatten – so sexy. Im Lauf der Zeit zeigte Stoner allerdings Ermüdungserscheinungen, was das Rasieren betraf, und ließ sich den dichtesten und schwärzesten Vollbart wachsen, den man außerhalb eines Vandal-Savage-Comics je gesehen hat.
Eine der genannten mächtigen Gestalten sucht die Erde seit unvordenklichen Zeiten heim. Und die andere macht das Spray, mit dem man den Schimmel von dem gammeligen Duschvorhang kriegt, damit er wieder wie neu aussieht. Laut Mom war Stoner Nummer zwei.
Sie kam von der Arbeit nach Hause und schminkte sich nicht ab, sondern legte nach, für den Fall, dass er auftauchte. Und das tat er dann und machte ihr Komplimente: Mom war eine Wahnsinnsfrau, sie haute ihn einfach um, sie sah zum Anbeißen aus. Mich nannte er Seine Majestät. Was wollte er damit über einen Jungen sagen, der sein Wachstum hauptsächlich der Tatsache verdankte, dass er den Namen seiner Mutter auf das Formular für das Gratisessen geschrieben hatte? Stoner sagte, mein Problem wäre, dass ich mich daran gewöhnt hätte, ein Muttersöhnchen zu sein. Wenn er mich dabei ertappte, dass ich beim Fernsehen den Kopf in Moms Schoß legte, sagte er: »Na bitte – der kleine König auf seinem Thron.«
Aber er hatte einen neuen Ford-Pick-up und eine Harley FXSTSB Bad Boy, beide komplett abbezahlt, und dieser Teil der Stoner-Nummer war schwer zu verachten. Er klappte den Ständer der Harley aus und ging rein zu Mom, worauf Maggot und ich die nächste Stunde damit verbrachten, das Ding zu berühren, unsere dämlichen Gesichter im Chrom gespiegelt zu sehen und uns gegenseitig anzustacheln, uns in den Sattel zu schwingen. In der felsenfesten Überzeugung, dass wir auf dem elektrischen Stuhl landen würden, wenn Stoner uns dabei erwischte.
Als er also eines Tages angedonnert kam und fragte, ob ich mal mitfahren wollte, bloß bis zur Hauptstraße und wieder zurück – Scheiße, wer hätte da nein gesagt? Maggot sah mich an, so: Mann, hast du ein Schwein! Mom rief von der Veranda: »Pass ja auf ihn auf, Stoner. Wenn ihm was passiert, wirst du geteert und gefedert.«
Mein Problem war: keine Schuhe. Es war Samstag, und wir hatten Schießübungen mit Hammerhead Kelly gemacht, einem angeheirateten Peggot-Cousin, älter als wir. Ein ruhiger Typ, Mr Peggots Favorit, wenn es auf die Hirschjagd ging. Hammerhead hatte ein Luftgewehr dabei, und am Bach gab es alles mögliche Zeug, auf das man schießen konnte. Jedenfalls musste ich nachdenken, wo ich eigentlich meine Schuhe gelassen hatte. Bei Maggot vermutlich. Mom fand wohl, dass ich sie anziehen sollte, und meinte, ich sollte sie holen, also ging ich rüber. Nicht ohne von Mrs Peggot ausgequetscht zu werden, was ich vorhatte. Sie spähte aus dem Fenster. Mom war zur Straße gegangen, und Stoner stand über sie gebeugt da und küsste sie, als wollte er was aus ihr raussaugen. Und sie ganz die willige Gehilfin.
Mrs Peggot warnte mich, ich würde vermutlich vom Motorrad fallen und mir den Schädel brechen. »Und das Schlimmste ist: Es kann gut sein, dass er dich einfach liegen lässt und wegfährt«, sagte sie.
Meine Fresse. So gern ich auf die Harley gestiegen und vor aller Augen die Straße runtergedüst wäre – jetzt konnte ich nur noch daran denken, dass mein Kopf wie eine geknackte Walnuss auf dem Asphalt liegen würde, während die Nachbarn um mich rumstanden und Stoner in der Ferne verschwand. Ich meine, Mrs Peggot war keine von denen, die sich grundlos aufregten. Die Frau kannte sich aus. Wie das Gehirn eines Jungen aussieht, wenn der Schädel aufgebrochen ist, wusste ich damals noch nicht. Inzwischen weiß ich es, und es steht ziemlich weit oben auf der Liste der Dinge, die ich am liebsten vergessen würde. Aber mein junger Geist besaß ein brutales Vorstellungsvermögen. Ich ging raus und sagte zu Stoner, ich hätte Bauchschmerzen. Maggot hätte seine Eier verkauft, um an meiner Stelle mitfahren zu dürfen, aber als wahrer Freund sagte er zu Hammerhead, wir sollten lieber reingehen und Game Boy spielen, bis es mir besser ging.
»Musst du wissen«, sagte Stoner, aber es klang eher wie »Kannst dich verpissen«. Er stand da, den Arm um Moms Schultern gelegt, als hätte er die Anzahlung schon geleistet.
Doch es kam der Tag, an dem ich auf der Maschine saß, eingezwängt zwischen ihm und Mom wie der Käse auf dem Sandwich, und sein Nackentattoo eingehender als nötig studieren durfte. Hinter mir Mom mit flatternder blonder Mähne, sie hatte die Arme um mich gelegt und hielt sich an Stoners Waschbrettbauch fest. Das Nackentattoo zog sich den halben Schädel rauf, und ich fragte mich, ob er sich das mit der Kopfrasur vorher oder nachher ausgedacht hatte. So blödes Zeug eben, mit dem man sich als Kind beschäftigt anstatt mit den größeren Fragen wie: Wohin geht diese Spritztour eigentlich?
Beim ersten Mal wars zu Pro’s Pizza. Stoner bestellte eine Extragroße mit allem, einen Pitcher Bier für sich und Cola für Mom und mich. Als wir die Pizza größtenteils verdrückt hatten, ging Mom aufs Klo, und zwei Freunde von Stoner setzten sich zu uns, als wäre gar nichts dabei, als wären sie bloß die Ablösung.
Ich kannte die Typen nicht. In Lee County muss man sich schon anstrengen, um ein unbekanntes Gesicht zu entdecken, und das galt besonders für Mom, die jeden, der laufen konnte, zum Partyzeug in Regal 19 schickte. Aber für ein Kind ist das anders, da geht der Blick nicht so weit über die eigenen Leute raus. Ich hatte bemerkt, wie die beiden Mom gemustert hatten, aber sie kamen mir nicht vor, als gehörten sie zu uns. Der eine, der sich neben Stoner gesetzt hatte, war bleich und hatte weiße Haare und eine Menge Tattoos, unter anderem ein drittes Auge mitten auf dem Kehlkopf. Fragt mich nicht, wozu das gut sein soll. Der andere saß neben mir, stank nach Axe-Deo und hatte eine kleine Schnurrbart-Spitzbart-Kombo, wie man sie vom Teufel oder Iron Man kennt. In meiner kindlichen Besessenheit von Superhelden und Superschurken überlegte ich, wie ich sie zeichnen würde. Den Tätowierten würde ich Extra Eye nennen – mit seinem dritten Auge konnte er Gedanken lesen. Der andere war Hell Reeker und erledigte einen mit seinem Geruch.
Sie unterhielten sich mit Stoner. Wie heißt der? Ach, ein kleiner Demon, was? Dann die Witze, die ich schon eine Million Mal gehört hatte. Schließlich sagte Reeker was von »Wichsvorlagenbrut«, und Extra Eye meinte: »Eine Füchsin will eben werfen, Stoner. Sei froh, dass es bloß eins ist.« Und Stoner sagte, er sollte bloß aufpassen – gewisse Leute wären schlauer als gedacht.
»Ach ja? Wer denn?«, fragte Extra Eye. Ich war ebenfalls neugierig.
»Der Bär«, sagte Stoner. Ich war enttäuscht. Ich hatte gedacht, dass er vielleicht mich meinte.
»Was für ein Bär?«, wollten sie wissen.
Stoner zwinkerte kurz. »Der Bär im Wald, ihr Schwachköpfe.«
»Ach so«, sagte Reeker, »der Bär.«
Ich kannte in meinem zarten Alter schon eine ganze Menge Arschlöcher, aber keins, das irgendwas mit Bären zu tun hatte. Bis Mom zurückkam, was eine Ewigkeit dauerte, hatten die Typen ihren Spaß. Sie holten sich Becher aus dem Spender, schenkten sich Bier aus Stoners Pitcher ein und fragten ihn, wie er mit seinem Bohrprojekt vorankam. Wenn Stoner Brunnen bohrte, war mir das neu. Stoner fragte zurück, was sie machen würden, wenn sie einen erstklassigen Camaro fänden, den sie gern kaufen würden, aber leider wäre er nur mit Anhänger zu haben.
»Will ich ihn kaufen oder bloß mal eine Spritztour machen?«, wollte Extra Eye wissen, und Reeker fragte: »Wie fest ist denn die Anhängerkupplung montiert?« Alle drei lachten sich den Arsch ab. Ich saß da, trank meine Cola, bis im Becher nur noch Eis und meine Kehle zu einem harten runden Loch gefroren war, und verstand kein Wort.
Als die Sommerferien begannen, boten die Peggots mir an, nach Knoxville mitzufahren. Sie wollten für zwei Wochen Maggots Tante June besuchen. Sie war Krankenschwester, kam gut zurecht und hatte eine Wohnung mit Gästezimmer. Für jemand, der nicht mal verheiratet war, hatte sie ganz schön viel Platz.
Meine erste Frage: Liegt Knoxville am Meer? Antwort: Falsche Richtung. Ich hatte, wie gesagt, schon als Kind diese komische Macke, dass ich unbedingt das Meer sehen wollte. Das war also eine Enttäuschung. Nur damit das klar ist: Virginia Beach wäre schon drin gewesen. Im Gegensatz zu Kalifornien oder Hawaii, die beide nicht infrage kamen. Mit einer Tankfüllung und nach sieben Stunden Fahrt war man da, jedenfalls laut Moms Kollegin Linda, die jeden Sommer mit ihrem Mann in eine Ferienwohnung ans Meer fuhr. Aber die Peggots wollten ihre Tochter besuchen und mich mitnehmen, darum musste ich höflich sein. Und die Vorstellung, mal was anderes zu sehen als die Schule, die Kirche und den Walmart, war ziemlich aufregend. Bisher kannte ich ja nichts sonst.
Meine nächste Frage galt Mom. »Sie kommt zu spät zur Arbeit, wenn ich sie nicht dran erinnere, den Wecker zu stellen«, erklärte ich Mrs Peggot. Ich musste mich um tausend Sachen kümmern, musste ihre Schuhe und ihren Mitarbeiterausweis finden und ihr sagen, dass sie einkaufen musste. Mrs Peggot hatte Moms und meine Situation nicht ganz erfasst. Wer sollte ihr das Mello Yello aus dem Kühlschrank holen, und mit wem sollte sie reden? Mrs Peggot meinte, ich sollte Mom selbst fragen. Ich war sicher, dass sie nein sagen würde, aber sie strahlte und fing davon an, wie toll das werden würde, ich in Knoxville, mit den Peggots. Fast als wäre sie gar nicht überrascht.
Am Abend vor der Fahrt stopfte ich Unterhosen, T-Shirts und mein Notizbuch mit Superheldenzeichnungen in einen Kissenbezug und schlief in meinen Klamotten. Am Morgen stand ich schon eine Stunde, bevor es losgehen sollte, auf der Veranda. Die Peggots hatten einen Dodge Ram mit ausklappbaren Rückbänken, wo man sich gegenübersaß. Den ganzen Weg nach Knoxville würden Maggot und ich da Mau-Mau spielen oder uns gegen die verschorften Knie treten.
Mom setzte sich zu mir auf die Veranda, um mit mir zu warten, bis die Peggots aus den Federn kamen und die Sonne über die Berge stieg, die ihre Schatten auf uns warfen. Wenn man in einem Tal lebt, kommt die Sonne spät und verabschiedet sich früh. Wie so manches andere, das man sich vielleicht wünscht. In den Jahren darauf war ich immer wieder erstaunt, wie viel mehr Tageslicht es in flacheren Gegenden gibt. Das und noch viel mehr musste der aufgeregte kleine Junge erst noch lernen, dessen Mutter neben ihm eine nach der anderen rauchte und den Vögeln lauschte. Um die Zeit totzuschlagen, fragte sie mich nach den Namen der Vögel. Die hatte ich ihr schon mal gesagt. Ich wusste nur ein paar – Mr Peg kannte sie alle: Zaunkönig, Wiesenfink, Fliegenschnäpper. Er nannte es immer eine Fliegenschnäpperwäsche, wenn wir uns, anstatt zu duschen, Gesicht und Achselhöhlen am Waschbecken nass spritzten. Wie ich an jenem Morgen, weil ich es ja so eilig hatte, von Mom loszukommen. Das hat sich mir richtig eingebrannt. Wie ihr immer noch was einfiel, an das sie mich erinnern musste: mich zu benehmen, bitte und danke zu sagen, vor allem wenn die Peggots für mich bezahlten, nicht in Junes Wohnung herumzuschnüffeln. Sachen, die man einem Kind einschärfen muss, bevor es in einen anderen Bundesstaat fährt. Ich sagte ihr, sie sollte daran denken, sich den Scheißwecker zu stellen, worauf sie lachen musste, denn ich hatte schon einen Zettel an den Kühlschrank geklebt: STELLDENSCHEISWECKER! Sie sagte, dass sie mich sehr lieb hatte und ich sie nicht vergessen sollte, und das war komisch. Normalerweise war sie nicht so gefühlsselig.
Schließlich rief Mr Peg: »Okay, wir können dann.« Ich wollte die Treppe runterrennen, aber Mom fing mich ab wie ein Footballspieler und knutschte mich vor aller Augen auf den Hals, bis ich fast gestorben wäre vor Peinlichkeit.
Und das wars. Wir fuhren los, und sie blieb zurück. Mr Peg winkte, aber Mrs Peggot starrte Mom an und machte ein langes Gesicht. Ich sah es jedes Mal, wenn sie sich zu uns umdrehte, um sich zu überzeugen, dass wir angeschnallt waren, oder zu fragen, ob wir Kekse wollten. Sie machte das Gesicht noch, als wir die Staatsgrenze längst hinter uns hatten.
Knoxville hatte eine Überraschung auf Lager: ein Mädchen namens Emmy Peggot. Sie wohnte bei Tante June und war die Tochter von Maggots totem Onkel Humvee. Dem mit den Vogelhäusern. Emmy war eine dünne Sechstklässlerin mit langem braunen Haar. Sie hatte was Kaltblütiges, trug ständig einen Hello-Kitty-Rucksack mit sich rum und schien imstande, einen damit zu erschlagen und dann den Kopf des besiegten Feindes darin zu verstauen. All dem auf den Grund zu gehen, würde wohl noch eine Weile dauern.
Fürs Erste setzten wir uns in Tante Junes Honda und fuhren zum Mittagessen zu Denny’s, alle außer Mr Peg, der nach der langen Fahrt sein schlimmes Bein hochlegen musste. Tante June sagte, wir sollten uns anschnallen. Es war das erste Mal, dass ich auf einem Rücksitz drei funktionierende Sicherheitsgurte sah. Emmy saß in der Mitte, redete nicht mit uns und kramte Haargummis und so aus ihrem Rucksack, wobei sie sehr betont darauf achtete, dass wir nicht sahen, was sonst noch drin war. Als wäre es vielleicht zu erschütternd für unsere jungen Gemüter.
Tante June ließ uns bestellen, was wir wollten – es war wie beim Geburtstag. Wir saßen am Fenster, und ich fand es schwer, mich zu konzentrieren bei allem, was da draußen los war. Bis auf ein Mädchen, das keine Eltern hatte, Epileptikerin war und Gola Ham hieß, war ich wahrscheinlich das einzige Kind an meiner Schule, das noch nie in einer Stadt gewesen war. Alle anderen in meinem Alter waren schon mal in Knoxville gewesen, weil sie dort Verwandte hatten. Ich bekam echt was zu sehen. Wenn der Sheriff mit einem Hund auf dem Rücksitz oder ein Abschleppwagen mit einem verknautschten Mustang vorbeifuhr, rief ich: »O Mann, seht euch das an!«, und dann warf Emmy mir einen Blick zu, so: Na und? Fährt bei euch keiner seine Scheißkarre zu Schrott? Tante June erzählte Mrs Peggot von der Arbeit. Sie musste nach dem Essen ins Krankenhaus und hatte bis zum Morgen Dienst – Doppelschicht. Sie erzählte von den langen Arbeitstagen und dem, was sie in der Notaufnahme erlebte, zum Beispiel von der Schwangeren, die einen Messerstich in den Bauch gekriegt hatte, wo das Baby noch drin war. Dagegen ist ein zerbeulter Mustang, wenn mans genau bedenkt, echt keine große Sache mehr.
Maggot und ich bekamen noch mehr Geschichten aus der Notaufnahme zu hören, und zwar von Emmy, nachdem sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, mit uns zu sprechen. Wie sich rausstellte, wurde alles Schlimme, das Leute sich ausdenken und antun können, auch in Knoxville ausgedacht und angetan. Wahrscheinlich sogar noch mehr. Die Sache mit Städten ist: Sie sind riesig. Natürlich wusste ich aus dem Fernsehen, wie es in einer Stadt aussieht, denn was anderes zeigen sie ja nicht (außer auf Animal Planet), und darum hatte ich mit so was wie Knoxville gerechnet. Aber damals dachte ich noch, man geht um eine Ecke und ist draußen. Wo man die Berge und Viehweiden und so sieht, was Lebendiges eben. Aber nichts da. Immer wenn Tante June mit uns irgendwohin fuhr, ging es erst mal durch zwanzig, dreißig Straßen mit nichts als Häusern. Und kein Ende in Sicht. Wenn ihr zu den wenigen gehört, die noch nie in einer Stadt waren, kann ich euch sagen, was eine Stadt ist: ein stickiges Durcheinander, dem man nicht so leicht entkommt.
Wusste Maggot schon vorher von Emmy? Ja. Alle in seiner Familie wussten von ihr, auch meine Mom, was ich ziemlich schräg fand. Und aus irgendeinem Grund sollte ich die Tatsache, dass der tote Humvee eine Tochter hatte, die bei ihrer Tante June lebte, zu Hause nie, nie erwähnen. Maggot sagte, dass ich mit Mom darüber sprechen durfte, weil die es ja sowieso schon wusste, aber auf keinen Fall mit Stoner. Ich sagte, ich wäre ziemlich sicher, dass die beiden bei unserer Rückkehr nicht mehr zusammen sein würden, von daher: kein Problem. Das war an unserem ersten Abend, als Emmy schon eingeschlafen war. Wir hatten uns Outer Limits angesehen, bis sie schließlich weggesackt war. Maggot beugte sich über sie und nahm ihr den Rucksack aus den Armen, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich schlief.
Tante Junes Gästezimmer war in Wirklichkeit also das Zimmer der Eisprinzessin. Sie musste es in den zwei Wochen unseres Besuchs für ihre Großeltern räumen. Wir Kinder schliefen in einem großen Nest aus Kissen und Decken auf dem Wohnzimmerboden. Maggot und ich nannten es ein Fort, aber Emmy korrigierte uns: Es war unser »Schiff«. Die MSLeckmichamanus, schlug Maggot vor und wurde prompt degradiert. Sie hatte all diese winzigen blöden Püppchen in winzigen blöden Köfferchen, und in ihrer Welt hatten sie allesamt militärische Ränge: Lieutenant, Private und so weiter. Maggot landete meist unterhalb dieser ganzen Köfferchenmiliz und war dann so was wie Tellerwäscher, während ich mich in der Mitte hielt. Als wir vorschlugen, ihre Puppen Überfälle und Morde begehen zu lassen, war Emmy zu unserer Überraschung total begeistert. Sie sagte, außerhalb von Knoxville gäbe es eine Leichenfarm, wo man Leichen verscharrte und, wenn sie verfault waren, wieder ausgrub, um wissenschaftliche Erkenntnisse über Verbrechen zu sammeln. Also gut, wir spielten nach ihren Regeln und schliefen in einem Kissenschiff. Ich fragte sie, ob sie schon mal das Meer gesehen hatte. Nie, sagte sie, und nein danke. Sie war mal im Undersea Wonders Aquarium in Gatlinburg gewesen und hatte echt Schiss vor Haien.
Wenn ihr mich fragt, war das Gebäude, wo sie wohnte, viel unheimlicher als Haie. Als wäre man gefangen in Duke Nukems Schloss des Verderbens. Tausend andere Familien wohnten da, jede Wohnungstür ging auf einen langen Flur, und die Treppen führten an lauter anderen langen Fluren vorbei. Draußen vor der Haustür war eine Straße voller Autos, voller Leute, aber nirgends ein Draußen-Draußen. Ich fragte Emmy, wer diese ganzen Leute waren, und sie sagte, sie hätte keine Ahnung, aber man dürfte nicht mit ihnen reden, weil es gefährliche Fremde waren. Das Schloss des Verderbens war für Emmy ganz normal. Angeblich hatte sie Schulfreundinnen, die Nike Air Max trugen und Furbys und so weiter besaßen, also cooler waren als wir schmuddeligen Viertklässler, aber wo waren die? Nirgends. Sie würde sie den ganzen Sommer über nicht sehen. Sie wohnten in anderen Schlössern des Verderbens. Hier konnte man nicht einfach rumrennen, wie wir es zu Hause taten, ganz gleich, ob da Erwachsene waren oder nicht (idealerweise nicht). Emmy war keine Sekunde allein, wegen den ganzen fremden Menschen und potenziellen Mördern. Nach der Schule ging sie in einen todlangweiligen Hort, wo alle Bastelarbeiten machten, bis ihre Mütter sie abholten, und die anderen Kinder weit unter Emmys Niveau waren, laut Emmy jedenfalls. Wenn Tante June Nachtschicht hatte – die Notaufnahme war rund um die Uhr besetzt –, ging Emmy zum Fernsehen, Schlafen und Frühstücken ein Stockwerk tiefer zu einer alten Frau mit zwei stinkig blickenden Katzen, was bedeutete, dass zumindest diese Nachbarin keine Verbrecherin war. Möglicherweise aber ihre Katzen. So sah Emmys Leben aus: Schule, aus Eisstäbchen irgendeinen Scheiß basteln, schlafen.
Tante June würde demnächst ein paar Tage frei haben, und dann würden wir was unternehmen. Bis dahin saßen Mr und Mrs Peggot am Esstisch, ohne Licht zu machen, weil sie nicht den Strom ihrer Tochter verbrauchen wollten. Mr Peg kannte sich auf den Straßen nicht aus, und da war kein Garten oder Hof, wirklich gar nichts – ich hatte gefragt. Nicht zu fassen, dass es auf der Welt so was wie das hier gab. Nicht nur aus Sicht eines Kindes, das nirgends Platz zum Herumstromern hatte. Wo sollten die Leute hier ihre Tomaten pflanzen?
Abgesehen von der Nachbarschaft war die Wohnung selbst schön. So schick wie Tante June selbst: Mit ihren glänzenden Fingernägeln und dem kurzen braunen Haar sah sie aus wie Posh von den Spice Girls. Kleine Sommersprossen. Eindeutig scharf, hätte ich gedacht, wenn sie für mich nicht Tante June gewesen wäre. Ihre Möbel passten zusammen und waren um einiges besser, als was die Leute sonst haben. Ein Kühlschrank, wo vorn Eiswürfel und kaltes Wasser rauskamen, eine Küchentheke mit Hockern. Regale voller Bücher. Ein Badezimmer für alle und eins nur für Tante June, hinter ihrem Schlafzimmer, mit einer Badewanne. Vor so was hatte ich noch immer Angst, ließ mir aber nichts anmerken. Sie hatte auch einen begehbaren Kleiderschrank mit einem Schuhregal an der Tür, einundzwanzig Paar nach derzeitigem Stand. Am ersten Tag zeigte Emmy uns diese ganzen tollen Besonderheiten und machte viel Wind darum. Das dauerte ungefähr eine Stunde. Danach wussten wir nicht mehr viel mit uns anzufangen. Mrs Peggot ging an den Schrank und machte sich daran, Sachen zu flicken. Sie konnte alles flicken, und danach war nicht mehr zu sehen, dass da mal ein Loch gewesen war. Sie nähte auch alle Sachen für Maggot, das war eine ihrer Superkräfte. Mr Peg las den Knoxville News Sentinel, inklusive tausend Todesanzeigen von Leuten, die er nicht kannte, und meckerte, weil er nirgends rauchen konnte. Schließlich kam er darauf runterzugehen, wo auf dem Bürgersteig vor dem Haus andere Leute rumstanden, die er auch nicht kannte und die allesamt irgendwie kameradschaftlich qualmten, was das Zeug hielt. Maggot und ich wechselten uns an seinem Game Boy ab, bis Tante June genug Leute mit Herzstillstand und Schusswunden gerettet hatte. Oder ich zeichnete in meinem Notizbuch. Ich machte eine Zeichnung von Tante June in einem BH-artigen Oberteil als Wonder Woman, deren Superkraft darin bestand, was Tante June in echt draufhatte. Es war so still, dass wir die Leute oder die Fernseher in den anderen Wohnungen hören konnten. So eine Stadt ist schon was echt Verrücktes, echt Einsames.
Tante Junes begehbarer Schrank war mit Teppich ausgelegt und groß genug für uns drei. Es war dunkel, weil durch die Schlitze in der Tür nur ganz schmale Lichtstreifen kamen, und ich und Maggot und einundzwanzig Paar Schuhe lauschten Emmys Notaufnahmegeschichten. Von dem amputierten Bein, das mit der falschen Leiche beerdigt worden war. Aber auch ein paar Tante-June-Geschichten. Von den Typen auf der Jonesville High, die sich an sie rangemacht, aber auf Granit gebissen hatten, obwohl einer oder mehrere sie angefleht hatten, ihn zu heiraten. Dasselbe, nur mit anderen Typen, während der Ausbildung. Wir warteten immer auf die Geschichte darüber, was mit Emmys Eltern passiert war und warum sie bei Tante June lebte, wenn die doch so wenig scharf auf Ehemänner und Kinder war. Aber da kam nichts. Emmy hatte was anderes im Sinn, zum Beispiel ihr Geheimversteck unter einem losen Stück Teppich. Als sie zum ersten Mal darunter herumtastete, sah ich Maggots streifig beleuchtetes Gesicht. Er sah mich an, so: Was soll der Scheiß? Sie zog platt gedrückte Zigaretten- und Kaugummipäckchen hervor und fragte uns, ob wir ein Kaugummi wollten. Okay, sagten wir.
Sie sagte: »Und wie fühlt sich das an?«
Ganz langsam schälte sie die Folie von einem Kaugummistreifen und steckte ihn in den Mund. Wir waren wie hypnotisiert von der Seltsamkeit dieses Mädchens. Uns lief das Wasser im Mund zusammen, obwohl wir ja eigentlich gar kein Kaugummi hatten haben wollen. Sie strich ihr Haar über die mageren Schultern zurück. Wir rochen das Fruchtaroma.
»Derb«, sagte Maggot nach einer Weile.
Sie sagte: »Na und?«
Tante June war das Gegenteil von Emmy. Sie stellte jedem von uns Schalen mit Snacks hin, die wir essen konnten, wann wir wollten. Endlich hatte sie ein paar Tage frei und fuhr mit uns überallhin: zu einem Trampolin-Park, zum Minigolf, zum Krankenhaus. Und zum Zoo, wo wir einen ganzen Tag verbrachten. Da gabs Tiger und Giraffen und so. Auch Affen. Bei denen hatten Maggot und ich bald raus, wie wir sie auf Touren bringen konnten, aber Tante June sagte, wir sollten das lassen, sonst würden wir sofort wieder nach Hause fahren. Sie war supernett, aber auch superenergisch. Es war brutal heiß an dem Tag, was den Tieren wahrscheinlich genauso wenig gefiel wie uns. Die Einzigen, die ihren Spaß hatten, waren diese kleinen Pinguine, die von den Felsen in ihr nicht so unheimlich sauberes Becken rutschten. Immer und immer wieder. Es sah aus wie: »Hey, das ist das Leben!« Ich hätte dasselbe getan, trotz Pinguinscheiße und allem. Ich fragte Tante June, ob der Zoo auch ein Aquarium hatte, aber es gab keins. Kann sein, dass ich ein paarmal gefragt hab.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie sah mich an und nahm mich bei den Ohren, als wären es Henkel. »Ich weiß, was dir gefallen würde«, sagte sie. In Gatlinburg gäbe es eine riesige Unterwasserwelt mit lauter Meeresfischen. Haien und so. Ich verriet nicht, dass Emmy mir schon davon erzählt hatte und absolut kein Fan war. Tante June ließ meine Ohrhenkel los und versprach, sobald sie wieder einen Tag frei hätte, würden wir dahin fahren. Und Emmy sah mich an, so: Du warst gewarnt, also heul nicht, wenn du mit abgeschnittenen Eiern aufwachst.
Aber wir fuhren hin, zu den Haien und allem, obwohl Emmy Schiss hatte. Jeder Hund hat seinen Tag.
Tante June machte Schichtarbeit und fuhr in ihrer Freizeit mit uns herum, und weil ich ein Kind war, dachte ich nicht groß darüber nach. Eines Nachts oder frühmorgens kam sie nach Hause, und ich war noch wach, wollte sie aber nicht erschrecken, indem ich irgendwas sagte, und nach einer Weile war es so komisch, in diesem Kissennest zu liegen und sie heimlich zu beobachten, dass ich mich nicht mehr traute. Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein, streifte die weißen Schuhe von den Füßen, setzte sich an den Tisch und starrte das Glas an. Strich sich mit allen Fingern durchs Haar, als würde sie es kämmen, genau wie Maggot manchmal. Sie hatte die gleichen blauen Augen und dunklen Wimpern, für die seine Cousinen getötet hätten. Ich hatte Maggots Mom nie gesehen, aber jetzt dachte ich daran, dass sie Tante Junes kleine Schwester war, dass die beiden miteinander gespielt hatten. Und hier legte die eine sich mächtig ins Zeug, um Leute wieder zusammenzuflicken, während die andere zehn bis zwölf Jahre in Goochland absaß, weil sie versucht hatte, jemand in Stücke zu schneiden, was ihr um ein Haar auch gelungen wäre.
Tante June streckte die Beine aus, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und rührte sich so lange nicht, dass ich schon dachte, sie wäre eingeschlafen. Nach einer Weile hörte ich sie ausatmen, so langsam und leise wie eine Luftmatratze, die ein kleines Loch hat. Es war unglaublich, wie viel sie rauslassen musste. Es hörte gar nicht mehr auf.
Der Tag im Aquarium war der beste Tag meines Lebens. Wenn ich das echte Meer je zu sehen kriege und es besser ist als das Undersea Wonders in Gatlinburg, hab ich was zum Staunen. Es gab nichts, was es da nicht gab: Seepferdchen, Oktopusse, kopfüber schwimmende Quallen. Flache Becken, wo man die Hand reinstrecken und irgendwas anfassen konnte. Die Hauptattraktion war der Haifischtunnel, der durch ein riesiges Becken mit den größeren Fischen führte: Haie, Rochen, Schildkröten. Schildkröten so groß wie ein Honda. Ein Sägefisch, der so ähnlich ist wie ein Hai, nur dass er vorn am Kopf so was wie eine Motorsäge hat. Kein Scheiß.