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MORD IM JAGDREVIER - UND EIN NEUER FALL FÜR DIE SCHNEEBERGER MISS MARPLE. Ein tragischer Todesfall in Neiselbach Im idyllischen Neiselbach am Fuße des Schneebergs herrscht Vorweihnachtsstimmung - alles ist verschneit, man backt Kekse und singt Adventlieder. Doch die besinnliche Ruhe trügt, denn der Dorfsegen hängt bedenklich schief: Die Dorfgemeinschaft ist nicht begeistert davon, dass zwei Wiener die Jagd gepachtet haben und mit den traditionellen Gepflogenheiten brechen. Wenig später wird einer der beiden am Fuße einer Felswand aufgefunden - tot. Gefallen ist er nicht, auch nicht freiwillig gesprungen - jemand hat ihn in den Tod gestürzt. Eine Schneeberger Miss Marple mit Charme und Hausverstand Dr. Patrick Sandor und Kriminalinspektor Müller aus Wien lassen sich nicht lange bitten und nehmen die Ermittlungen auf. Die resolute Neiselbacherin Apollonia mit ihrer besonderen Beobachtungsgabe und viel Hausverstand unterstützt die beiden nach Kräften - immerhin kennt sie das Dorfleben und seine Bewohner sehr genau. Jacqueline Gillespies Krimis bezaubern durch die Liebenswürdigkeit der Figuren, besonders authentische Provinzatmosphäre und ihre wunderbare Sprache. "Den Letzten beißen die Schweine" ist ein Krimi voller Witz, Charme und Lokalkolorit! ***************** >Der Kontrast zwischen Apollonia und den beiden Wiener Ermittlern ist herrlich - man kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus!< >Wie die letzten beiden Schneeberg-Krimis von Jacqueline Gillespie ist auch dieser ein Mordsvergnügen! Sprachlich genial, atmosphärisch ebenso - und die Figuren muss man einfach mögen!< ***************** Bisher von Jacqueline Gillespie erschienen sind bei Haymon: • Schade um die Lebenden • Schindeln am Dach ***************** "Jacqueline Gillespies Regionalkrimi bezaubert mit eigenwilligen Charakteren und profunder Ortskenntnis." Die Presse am Sonntag
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Seitenzahl: 226
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Jacqueline Gillespie
Den Letzten beißen die Schweine
Ein Schneeberg-Krimi
So lang, wie ich zurückdenken kann, hab ich noch jedes Mal auf die ersten Schneeflocken gewartet, und so war es auch in diesem Jahr. Früher hat man das besser verstanden, da hat man sonst nicht viel gehabt, worüber man sich hätt freuen können. Das kann man sich heut gar nicht mehr vorstellen, wie das gewesen ist. Mit dem Schnee, da hat die besinnliche Zeit angefangen. Und woher hätt ich auch wissen sollen, dass es dieses Mal ganz anders kommen wird.
Wie ich am fünfundzwanzigsten Oktober in der Früh beim Fenster rausgeschaut hab und alles war ganz weiß, und auf der Wiese vor unserem Haus sind leicht zwei Handbreit Schnee gelegen, da war es mir dann doch ein bissel zu früh. Er ist ja nicht lang liegengeblieben, der Schnee, nur zwei Tage, aber das hat schon gereicht, dass auf der Autobahn von Wiener Neustadt zum Schneeberg und zur Rax der Teufel los gewesen ist, weil die Städter noch mit Sommerreifen unterwegs waren. Dauernd haben sie im Radio gesagt, dass es auf der Straße schon wieder getuscht hat. Leid haben sie einem tun können, die Autofahrer, weil man im Oktober an so ein Wetter ja nicht wirklich denkt. Sonst kann man sich ja oft wundern, wenn sie im Winter mit Sommerreifen herumfahren, als gäb es zu der Jahreszeit bei uns auf der Straße keinen Schnee.
Und bei uns oben im Wald ist ein Schüppel Äste abgebrochen, so nass und schwer wie der war, der Schnee. Wir hier in Neiselbach sind ihn ja gewohnt, aber so früh im Jahr brauchen wir ihn nicht. Da nimmt der Winter gar kein End und die Kühe müssen früher als wie sonst in den Stall zurück. Über solchene Sachen denkt man ein wengerl anders, wenn man älter wird. Früher war mir das nur recht, wenn die Tage kürzer geworden sind und die Adventzeit vor der Tür gestanden ist, weil es dann immer ganz festlich geworden ist. Die Arbeit auf einem Hof war ja nicht leicht, und wenn man am Abend länger in der Stube hat sitzen können, war das was Schönes, auch wenn wir immer was zum tun gehabt haben, Socken stricken und zerrissene Hemden flicken oder was halt so angefallen ist. Wer rastet, der rostet, hat die Großmutter immer gesagt, und recht hat sie gehabt. Aber in meinem Alter fragt man sich manches Mal, ob man die Weihnachtstage, die einem noch bleiben, nicht schon an einer Hand abzählen kann. Und dafür ist es mir ein bissel schwer ums Herz geworden, wie ich, bevor es geschneit hat, die Amsel bei unserem Haus zum letzten Mal in dem Jahr singen hab hören.
No, und dann, so mir nichts, dir nichts, war er weg, der Schnee. An den Bäumen sind die Blätter allerweil noch dran gewesen, weil Schnee Blättern nichts macht, nur Frost, und der ist erst spät im November gekommen. So war es dann auch mit den Blumen am Friedhof. Die Stiefmütterchen und die Chrysanthemen haben sich wieder aufgerichtet und ganz frisch ausgeschaut. Da hat man gar nichts Neues pflanzen brauchen für die Festtage, damit ein Grab wieder was gleichschaut. Und am ersten November zu Allerheiligen hat so ein fester Föhn geblasen, dass man glauben hat mögen, es ist grad Ostern gewesen. Dabei war es früh dunkel und alle haben die Grablichter angezündet. Recht feierlich war einem da zumute, und an Schneeflocken hat man gedacht, aber gerochen hat die laue Luft nach Frühling.
So ist es auch am Vorabend von Allerheiligen gewesen, wie die Kinder grauslich verkleidet herumgerannt sind als wie die Perchten und bei den Häusern um was Süßes oder was Saures gebettelt haben. Zu uns herauf ja nicht, weil unser Hof zu weit oben liegt zum raufgehen im Dunkeln und wir keine Straßenlampen haben. Da ist es auf der Straße dann richtig finster, und wenn kein Mond scheint, siehst du die Hand vor den Augen nicht. Und dass wer die Kinder mit dem Auto heraufgebracht hätt, dazu findet sich keiner, das passiert nur mit den Sternsingern zu Dreikönig. Ich kann mit dem Kürbisgetue und dem Verkleiden aber auch wenig anfangen, ein Brauch aus Irland soll das sein, und von den Iren aus Amerika ist es dann wieder zu uns herübergekommen. Ganz versteh ich ja nicht, was das bei uns verloren hat, aber bitte, mir soll’s recht sein. Die Leut scheinen ihren Spaß dran zu haben.
Jeden Tag bin ich zu meinem Lieblingsplatz draußen bei den Haselstauden spaziert, und wenn das Wetter gepasst hat, hab ich mich dort auf die Holzbank neben das Marterl mit der Jungfrau Maria gesetzt. Mein Fernglasl hab ich auch immer mitgenommen, um nach den Hirschen zu schauen. So sag ich halt, stimmen tut es ja nicht, aber praktisch ist es, weil einem nichts entgeht, wenn man recht weit sehen kann. Und überraschen kann einen auch nicht so schnell was. Aufgepasst habe ich wie jedes Jahr, weil einem immer vorkommt, dass die Bäum über Nacht ihre Blätter verlieren. Nach dem Schnee war ja noch alles dran, aber wie die Wiese das erste Mal in der Früh weiß vor lauter Reif war, hat man zuschauen können, wie die Blätter ganz langsam von den Ästen heruntergeschwebt sind, weil nicht einmal ein Lüfterl gegangen ist. Und wie ich am Nachmittag mit unserem Hund, dem Wolfi, spazieren gegangen bin, hat es mit einem Mal kalt vom Schneeberg hergeblasen. Eine Schneeluft, sag ich immer. Schnee kann man riechen, auch wenn der Mann sich früher immer gewundert hat, was ich denn schon wieder riechen würd. Da hat es die abgefrorenen Blätter nur so durcheinandergewirbelt, und hast du nicht gesehen, waren manche Bäume kahl. Die hellgelben Blätter von den Birken hat es zuerst erwischt. Am Friedhof war es auch vorbei mit den Blumen, nur die Chrysanthemen haben noch was gleichgeschaut, und einige aus dem Dorf haben schon Erika gepflanzt gehabt. Und dann waren auch die Wege im Tal so gefroren, dass der Wolfi beim Nachhausekommen gar keine gatschigen Pfoten mehr gehabt hat und man den Boden im Haus nicht dauernd hat aufwischen müssen. Da war es um fünf am Nachmittag dunkel.
Genau ein Monat nach dem ersten Schnee hat es wieder zum schneien angefangen, und dieses Mal war mir ganz besinnlich ums Herz, weil es kurz vor der Adventzeit war, die Flocken vor dem Fenster langsam zu Boden gesunken sind, und das Licht und der Himmel ganz hellgrau waren. So hell, dass es fast schon weiß war. Als möcht die Natur sogar mit den Farben sparen, weil sie sich ausruhen will. Dabei sollt ich mich über Eis und Schnee gar nicht so sehr freuen, weil ich mit den orthopädischen Krankenkassaschuhen, die mir der Sohn in der Früh immer anzieht, nicht gut zu Fuß bin, im Schnee halt. Und weil man sich in meinem Alter schon ein bissel fürchten muss, dass man hinfallen könnt, weil man sich ganz leicht was bricht. Wenn man da erst einmal ins Spital reingekommen ist, kommt man vielleicht gar nicht mehr raus als ein Lebendiger. Eile mit Weile, hat die Großmutter allweil gesagt, daran muss ich jetzt oft denken. Der Sohn schimpft sowieso, wenn er hört, dass ich mich über den Schnee freu, weil ihm das Schneeräumen nicht gefällt. No, so jung ist er auch nicht mehr, und im Kreuz hat er es schon ein wengerl, und damit die Schwiegertochter nicht auch noch herumtun muss, hat er letztes Jahr eine Schneefräse gekauft. Jetzt tun sie sich leichter.
Aber, Hand aufs Herz, ob uns der Schnee jetzt passt oder nicht, er gehört zur Jahreszeit. Die Natur braucht ja ein Wasser, und in dem Jahr ist damit nicht so viel los gewesen. Zuerst hat es im Frühjahr so ausgeschaut, als ob es nicht mehr zum regnen aufhört. Da ist unten bei Wiener Neustadt, wo es keine Berge mehr gibt und alles ganz flach ist, viel Wild umgekommen, regelrecht ersoffen sind die Hasen und die Fasane. Und dann, dann war es furchtbar heiß und trocken, das haben die auch nicht mögen. Die Maiskolben waren so eingetrocknet, dass nicht einmal das Federvieh die Körner hat haben wollen, steinhart, wie die waren. Und bei uns heroben war es um das Winterfutter für die Kühe auch ganz schlecht bestellt. Hat man eine Mahd nach Hause gebracht, ist auf der Wiese kaum genug stehen geblieben, dass die Kühe draußen noch was Frisches zum fressen gefunden haben.
Schon im November hat die Schwiegertochter mit dem Keksebacken angefangen, weil der Sohn gar so gerne welche isst. Florentiner und Vanillekipferln. Die mit Zuckerguss und mit Streusel verzierten, die mag er nicht so sehr, aber der Schwiegertochter machen sie eine größere Freud, weil sie halt eine Künstlerische ist. Kekse kann man im Geschäft nicht kaufen, die gekauften schmecken nach nichts, weil die meisten gar keine Butter für den Teig nehmen, das kann nichts werden. Ich stell mich für so eine Pitzlerei ja nicht mehr hin, ich hab das schon wie ich jung war nicht haben wollen, die Ausstecherei und das Herumdekorieren. Aber einen Christstollen mit Rosinen und Korinthen und so allerlei getrockneten Früchten, den mach ich gern. Aber erst im Dezember, weil der Sohn sonst bis zum Heiligen Abend leicht vier davon essen würd und die Schwiegertochter es mit einem Germteig nicht so hat. Dafür bindet sie unseren Adventkranz selber. Die ist ja ein wengerl eine Künstlerische, wie ich schon gesagt hab, und außerdem meint sie immer, dass die gekauften Kränze nicht gut ausschauen und viel zu teuer sind. Also bindet sie Fichtenzweige um einen Strohrohling, steckt vier rote Kerzen drauf – statt drei violetter und einer rosanen, wie es gehört, weil ihr das so besser gefällt –, und Maschen bindet sie auch noch dran. Und dann lässt sie es gut sein, weil es nur wirklich schön ist, wenn es einfach bleibt, sagt sie.
Im Tal haben so gut wie alle ihr Haus aufgeputzt. Das ist ja jetzt seit ein paar Jahren modern, dass man Lichterketten ums Haus wickelt, die Dachrinne hinauf, den Balkon entlang und dann auch noch oben rund ums Dach. Und vor dem Haus steht ein Tannenbaum mit blinkenden Lichtern, daneben gibt es einen Schlitten mit einem Rentier. No, mit dem Rudolf. Früher hat es bei uns ein Christkind gegeben und nicht lauter Geschichten vom Nordpol und dem Weihnachtsmann. Und im Fenster steht jetzt auch oft ein Dreieck, auf dem Kerzen montiert sind, elektrische halt, und die leuchten auch. Das kommt wieder von den Bergleuten aus dem Erzgebirge, hat man mir erzählt. Das hat man bei uns gleich nachmachen müssen, genau wie die Geschichte mit den Kürbissen. No bitte, wem es gefällt. Geschmäcker und Watschen sind verschieden, aber manchmal frag ich mich halt, was das noch mit unserem Weihnachten zum tun hat. Nur eines weiß ich. Die Rechnung für die Elektrik, die möcht ich nicht zahlen. Die will ich mir nicht einmal vorstellen.
Am Samstag vor dem ersten Adventsonntag hab ich mich vom Sohn ins Tal zur Frisurstube Heidi runterbringen lassen, weil ich ja keinen Führerschein hab. Im Kalender ist nämlich gestanden, dass es ein Löwentag ist, und das ist der rechte Tag zum Haarschneiden und auch fürs Dauerwellenmachen. Aber nicht nur deswegen hab ich hinwollen, sondern weil am Abend der Kathreinball beim Goldenen Hirschen angesagt war, die letzte Tanzerei bis Dreikönig und da wollt ich dabei sein.
Dabei war der fünfundzwanzigste November, der Namenstag von der Heiligen Katharina, schon vier Tage her, da heißt es sonst: Kathrein sperrt den Tanz ein. Da fangt das neue Kirchenjahr an und die Buß- und die Fastenzeit. Auch wenn man es heute nimmer so genau nimmt, hier draußen in Neiselbach wird es mit der Tanzerei noch so gehalten, aber dieses Jahr war es ein wengerl anders. Tanzen kann ich ja nicht mehr, aber feiern tun wir die Feste, wie sie fallen, das hat schon die Großmutter gesagt. Wenn es eine Hochzeit gibt, gehen wir hin, auch zu einer Taufe oder einem runden Geburtstag. Zu einem Begräbnis sowieso, und wenn es nur zum Kondolieren ist, da kann man Leute treffen und ein bissel was plaudern.
Und das war ja auch noch ein Grund, warum ich zur Heidi hab wollen, weil es in der Frisurstube Heidi immer was Neues zum erfahren gibt. Wir haben hier in Neiselbach ja kein Kaffeehaus, wo man hingehen könnt, nicht einmal einen Hauptplatz, weil wir ein Straßendorf sind. Kaffeehaus brauchen wir keines, weil wir alle selber Kuchen backen, bei den vielen Obstbäumen, die ein jeder von uns hat, und einen Kaffee kochen wir im Handumdrehen. Einen Hauptplatz, den brauchen wir eigentlich auch nicht, weil wir uns vor der Kirche oben in Siebenstein oder beim Goldenen Hirschen sehen können.
Ich bin zur Heidi gerade recht gekommen, weil die zwei, die da waren, schon fertig gewesen sind und nur noch ihren Kaffee zu Ende getrunken haben. Bei der Heidi kriegt man nämlich einen guten und, wenn man den nicht will, auch einen Tee. Oder in dieser Jahreszeit sogar einen Punsch, einen Kinderpunsch hat sie noch obendrein. Da hab ich mich schon auf das Kopfwaschen gefreut, weil ich das so gerne mag. Nur die Sessel bei der Heidi, die mit den Rollen, die mag ich nicht so gern, weil die beim Niedersetzen so leicht wegrollen und ich mit Stock da nicht gescheit zurechtkomm. Aber dann bin ich gesessen, den Umhang um den Hals, den guten Kaffee hab ich auch schon vor mir stehen gehabt, und gerade wie ich die Zeitung aufschlage, wo die Rede von Schauspielern und anderen Prominenten ist, sagt die Wendel-Kathi auf einmal, dass es einen richtigen Unfrieden geben wird, heut am Kathreinball. Und dass sie sich fragt, ob man das nicht dem Herrn Pfarrer sagen sollt. Dann hat sie ihren grauen, dünnen Haarknödel geschüttelt, wie das so ihre Art ist, wenn sie sich besonders wichtigmacht. Da hab ich natürlich nimmer weiterlesen mögen, weil man wissen muss, was um einen herum passiert, auch wenn ich von Tratscherei noch nie was gehalten hab.
Dabei hätt ich gleich sagen können, dass, egal worum es jetzt geht, es den Herrn Pfarrer nichts angeht, weil der noch ein ganz ein Junger ist und noch nicht lang bei uns, erst seit der alte Herr Pfarrer von der Kanzel gefallen ist. Dafür hab ich zuerst einmal wissen wollen, worum es überhaupt geht, aber die Wendel-Kathi hat nicht gleich was gesagt und geheimnisvoll getan. Weil sie sich ja immer noch was drauf einbildet, dass unser alter Herr Pfarrer immer letzte offizielle Jungfrau zu ihr gesagt und sie oft zum Singen und zum Fürbittenlesen geholt hat. Sogar beim Krippenspiel hat sie haben wollen, dass ihr Neffe sich in die Krippe legen sollt, als Jesus-Kind. Aber das hat sie gleich vergessen können, weil der so ein Wilder ist und ein dicker Bub.
Da ist die Eingangstür aufgesprungen, aber wir haben nicht gleich sehen können, wer da jetzt reingekommen ist, weil die Heidi gleich bei der Tür einen grünen Filzvorhang aufgehängt hat, damit es nicht kalt von draußen reinzieht.
Die Frau Mizzi mit der grauen Zopfkrone war es, die früher einmal im Herrenhaus in Stellung war, damals, wie die Familie von Schwarz noch dort gelebt hat.
Auf die Sitzbank gleich bei der Tür hat sie sich fallen lassen, weil sie keine Luft mehr gehabt hat, als wenn sie den ganzen Weg von zuhause zur Heidi zu Fuß gelaufen wär, und über die Zopfkrone ist sie sich mit der Rechten gefahren, als wenn die Haar unordentlich rausstehen würden. Nicht einmal Grüß Gott hat sie gewunschen.
Derschießen werden sie ihn!, hat sie laut geplärrt.
Es ist zu kalt für einen Fischgrätmantel, dachte Patrick Sandor, obwohl er gar keinen besaß. Auf der Suche nach einem solchen spazierte er jedoch durch den Resselpark in Wien. Graue Wege, bleiche Häuser, fahler Himmel.
In einer farblosen Welt kann man eine rote Wollmütze doch nicht übersehen, dachte er, setzte sich auf die mit gefrorenem Nieselregen überzogene Parkbank und legte ein Päckchen mit rosa Schleife neben sich.
Auch ein von Plastiksäcken überquellender Einkaufswagen kann einem kaum entgehen. Solch einen pflegte der Mann, den er suchte, zu schieben, mit Fischgrätmantel und roter Wollmütze angetan. Ein Stadtflaneur. Es war Herbst in Wien gewesen, da hatte man sich kennen gelernt, und auch wenn man an diesem Tag ein Rendezvous im Resselpark nicht explizit vereinbart hatte, war Sandor doch beunruhigt. Zum vierten Male war er hierhergekommen, seinen Bekannten hatte er nicht angetroffen. Patrick Sandor, Doktor der Jurisprudenz, hatte im Zuge seiner beruflichen Laufbahn die Wahrscheinlichkeitstheorie schätzen, aber auch respektieren gelernt. Und sie verhieß dieses Mal durchaus nichts Gutes. Patrick Sandor, der es, lauschte man den Erzählungen seiner Eltern, vorgezogen hatte, mordenden Proleten nachzujagen, anstatt Diplomat zu werden, war tatsächlich so weit gegangen, Obdachlose nach dem Verbleib seines Bekannten zu fragen. Vielleicht hatten sie nichts gewusst, vielleicht hatten sie dem Mann im dunkelblauen Kaschmirmantel, grauen Anzug und handgenähten Schuhen keine Auskunft geben wollen. Datenschutz der Straße.
Die Sorge, dass der Fischgrätmantel für die Jahreszeit nicht passend war, verlor angesichts des Verschwundenseins seines Trägers an Bedeutung. Sandor konnte Spitäler anrufen und den Polizeiapparat für ein Ausforschen in Gang setzen. Für einen Sektionschef keine veritable Herausforderung. Ein Titel übrigens, der seine Eltern entzückt hatte. Patrick Sandor tat aber nichts dergleichen, auch ein Stadtflaneur hat ein Recht auf eine Privatsphäre. Davon war er zu guter Letzt überzeugt.
Und wäre ihm Dramatisches zugestoßen, diesem seinem Bekannten, hätte er davon hören müssen, von Polizei oder Feuerwehr zum Beispiel, versuchte er sich zu trösten.
No news are good news, hätte Fiona an dieser Stelle wohl gesagt. Aber auch an seine Verlobte wollte er in diesem Moment nicht denken müssen. Nicht jetzt und auch nicht hier.
Aus der rechten Manteltasche zog er sein Handy.
»Schaukeln Sie in einer Gondel des Wiener Riesenrads oben im Nebel, mein lieber Müller, und halten der Liebsten Hand?«, fragte Patrick Sandor, das Handy am linken Ohr, und zupfte die rosa Schleife am Päckchen zurecht.
»Ihnen geht’s nicht gut, weil Weihnachten vor der Tür steht, gell?«, schnaufte Kriminalinspektor Müller in sein Telefon und blieb beim Zebrastreifen eines Straßenübergangs stehen. Die Fußgängerampel stand auf Rot. »Wo sind Sie denn überhaupt?«, wollte er noch wissen. »Doch nicht schon wieder im Resselpark?«
Sektionschef Dr. Patrick Sandor war seit der Bekanntschaft mit einem obdachlosen Menschen eher schwierig geworden, dies hatte Kriminalinspektor Müller schon vor einer hübschen Weile konstatiert. Nicht, dass er jemals wirklich einfach gewesen wäre – was nicht unbedingt nur damit zu tun hatte, wie er aufgewachsen war. Er war mit vier Geschwistern im tiefsten Burgenland groß geworden, in einem äußerst hässlichen Haus, das man, so dahingeschwätzt, als Schloss bezeichnete. Grosso modo war nur ein kleiner Teil des Gebäudes beheizbar gewesen, genügend Geld für weitere Eskapaden nicht vorhanden. Mit zehn Jahren hatte man ihn aufs Internat nach Wien geschickt, sich am Gymnasium Allgemeinwissen anzueignen, und Savoir-vivre bei Großmama. Ihre Begabung, Kondolenzschreiben zu konzipieren, war geradezu legendär gewesen.
Müller zupfte an seinem rotblonden Schnurrbart, zog schaudernd die Schultern hoch. Für Ende November war es nicht sonderlich kalt, aber der feuchte Nebel kroch einem ins Gebein. »Los, stehen Sie von der Parkbank auf, Herr Sektionschef!«, befahl er und lächelte.
Dies sollte Bewegung in die Sache bringen, den Titel estimierte sein Chef Sandor ganz und gar nicht. Die hysterisch anmutende Beglückung seiner Eltern ob der Verleihung seinerzeit mochte damit zu tun haben.
»Sagen Sie noch einmal Sektionschef zu mir, dann verrate ich, wem auch immer, Ihren Vornamen«, sagte Patrick Sandor.
Ignaz genannt zu werden, hatte Müller immer geschmerzt, was angesichts moderner Namenskreationen schwer nachzuvollziehen war. Ihn schlicht beim Nachnamen zu rufen, war jedoch zu einer lieben Gewohnheit geworden, und Müller blieb auch privat einfach Müller für jedermann. Statt – wie bei mancher Namenswahl durchaus angemessen – mit einer Klage gegen die Eltern zu kokettieren, hatte sich Müller hingegen auf seine Art und Weise an seinen sozialistischen Eltern revanchiert. Als Jüngstes von sieben Kindern in einer Gemeindewohnung im Karl-Marx-Hof aufgewachsen, war er nicht Arbeiter geworden, sondern Beamter. Er war zur Polizei gegangen, und wenn er zufrieden war, pfiff er den Radetzkymarsch, nicht die Internationale. Dies nahm man im Hause Müller noch immer persönlich.
»Na, das möcht ich sehen!«, schmunzelte Müller und klappte seinen Jackenkragen hoch. »Ich bin dann gleich bei Ihnen«, fügte er noch hinzu.
Am Morgen hatte man im Radio noch von Hochnebel gesprochen, am Nachmittag hatte sich Sandor den Turm des Stephansdoms denken müssen, als er vom Karlsplatz die Kärntner Straße entlanggeblickt hatte, denn zu sehen war er nicht gewesen. Jetzt kroch der Nebel im Park Spazierwege entlang, umarmte Sträucher und Bäume, und hinter einer Blumenrabatte vermeinte Patrick verschwommen einen Hund auszunehmen.
»Muss ich Sie jetzt immer hier abholen?«, sagte eine männliche Stimme hinter seiner Bank.
»Als würde man in einem Gemälde von Whistler sitzen«, sagte Sandor und breitete die Arme aus.
»Das muss ich jetzt nicht wirklich verstehen«, sagte Müller und rieb die Hände, »auf ein paar Würstel mit Gulaschsaft sollen Sie mit mir gehen.« Die Aufforderung war nicht selbstlos, Müller konnte sich für diese seine Leibspeise zu jeder Tageszeit erwärmen. »Von dem, was da in dem Sackerl ist, werden Sie nicht satt werden«, fügte er noch hinzu und wies mit dem rundlichen Zeigefinger auf das Päckchen mit der rosa Schleife.
»Das ist kein Proviant, sondern ein Mitbringsel«, sagte Patrick Sandor, zog sein welkes Stecktuch aus der Brusttasche, schüttelte es, steckte es wieder an seinen Platz.
»Sind Sie heute noch wo eingeladen?«, fragte Müller und tastete in seiner kurzen Jacke nach einem Taschentuch. Rinnende Nasen konnten einem den Winter schon verleiden.
»Ich bin schon angekommen, en vérité«, sagte Sandor, »ich dachte, meinen Freund im Fischgrätmantel hier anzutreffen.«
Konfekt von der Konditorei Demel hatte Sandor ihm mitgebracht, dem Connaisseur. Wie all die anderen war auch er nicht immer Obdachloser gewesen. Von ziemlich weit oben musste er herabgepurzelt sein, er hatte Sandors handgenähte Schuhe erkannt, auch ohne die lärmenden Eisenplättchen, die anzubringen Sandor seinem Schuster verbot. Das Geschepper fand er ordinär.
Nun, sein Bekannter hätte sich gefreut, die Schultern hochgezogen, die Handflächen zum Himmel gedreht, aus Buddenbrooks zitiert: »Da weiß man doch, was man verschluckt.«
Ein Seelenverwandter, dachte Sandor.
»Es hat nicht sollen sein«, sagte er zu Kriminalinspektor Müller und erhob sich.
»Was machen wir mit dem angebrochenen Samstagvormittag?«, fragte Müller und zog schaudernd die Schultern hoch. Die Passion seines Chefs für Parkanlagen bei Wind und Wetter machte ihm zu schaffen.
»Würstel essen gehe ich jetzt mit Ihnen, und dann, dann fahre ich hinaus nach Neiselbach«, sagte Patrick Sandor, zog die rehledernen Handschuhe über und nahm das Päckchen mit der rosa Schleife von der Bank.
Er hatte im gebirgigen Neiselbach ein kleines, gelbes Haus mit grünen Läden und überschaubarem Gemüsegarten, das auf der Südseite hinter einer zweihundert Jahre alten Esche versteckt lag. Seine Leidenschaft für pannonische Tiefebene hatte sich im Laufe der Jahre erschöpft, aber ohne seinen Zufluchtsort in der Provinz hätte ihn Wien die letzten Jahre noch mehr ennuyiert, als es ohnedies schon der Fall war.
»In das ungeheizte, eingeschneite Haus?« Müller vergaß weiterzugehen.
»Alles ist besser, als hier in Wien zu verweilen, bei unkultivierter Weihnachtsdekoration und buckelnden Verkäuferinnen.« Sandor lächelte. »Und was werden Sie heute noch treiben?«
»Ich werde lange nicht nach Hause gehen«, sagte Müller, zog den Kragen höher, steckte die Fäuste in die Jackentaschen.
»Malaise mit Frau Lisi?«, fragte Sandor und hielt Müller das Konfektpäckchen hin. »Eine Wiedergutmachung. Erzählen Sie nicht, dass es für jemand anderen bestimmt war.«
»Das süße Zeug hab ich nicht so gerne.« Müller nahm die Hände gar nicht erst aus den Jackentaschen.
»Wer spricht denn von Ihnen?«, sagte Sandor und hob die Augenbrauen.
»Na, mir geht es nicht gut, die Lisi hat es eh lustig«, antwortete Müller und hob ein wenig das Kinn.
Jahrelang hatte er alleine in einer kleinen Wohnung in der Ausstellungsstraße vis-à-vis vom Riesenrad gelebt, um sechs Uhr in der Früh gestaubsaugt und nicht im Entferntesten daran gedacht, jemanden in sein kleines Reich zu lassen. Wenn man mit so vielen Menschen auf engem Raum aufgewachsen ist, liegt so etwas wohl nahe. Außerdem hatte Müller eine Schwäche, die er mit niemandem teilen und die er auch niemandem mitteilen wollte, eine Schwäche für Schaumbäder. Aber dann war Frau Lisi doch eingezogen, und man hatte, nach einigem Hin und Her, erst vor kurzem durch die Wand des Wohnzimmers in die Nachbarwohnung durchgebrochen.
»Lisi verhübscht das Loch in der Wohnzimmerwand«, sagte Müller und dachte an die herumstehenden Farbkübel, die flatternde Plastikabdeckung. Derzeit konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass aus dieser Baustelle jemals wieder ein Heim werden könnte. Frau Lisi sah es anders. »Und Ihre Verlobte?«, fragte Müller noch. Der Moment schien für indiskrete Fragen passend. »Wird sie zu den Feiertagen aus Schottland herüberkommen?«
Erst gestern hatte Fiona Patrick Sandor Bilder eines gerade zur Welt gekommenen Hengstes geschickt. Und eines von ihr selbst, inmitten der Highlands auf dem ererbten Gestüt der Tante. Ein glückliches Lächeln im Gesicht, dreckige Gummistiefel, vom Winde zerzaustes Haar.
Er hatte Mahlers Fünfte aufgelegt, das Adagietto immer wieder abspielen lassen.
»Gestern war ich in der Währinger Straße, die Weihnachtsbeleuchtung ist grauenhaft«, sagte Patrick Sandor und blickte hinauf ins helle Grau. »Ich fürchte, meiner Verlobten sagt die Weihnachtsdekoration in Schottland mehr zu.«
Derschießen werden sie ihn!, hat die Frau Mizzi dann noch einmal gekeucht, wie sie wieder mehr Luft bekommen hat.
Was soll denn das heißen?, hab ich da gesagt. Wir sind ja hier in Neiselbach nicht in einem von diesen Cowboy-Filmen.
Die Wendel-Kathi hat sich die rechte Hand auf den Mund gedrückt, durch die Finger gestöhnt und die Augen verdreht.
Jetzt hör schon endlich auf, hab ich da zu ihr sagen müssen, weil ich mir gedacht hab, dass das jetzt keiner brauchen kann, eine, die in Ohnmacht fallt mitten in der Frisurstube, die Heidi am allerwenigsten, auch nicht, wenn die Wendel-Kathi nur so tut als ob.
Aber da ist die Tür schon wieder aufgeflogen, und die Binder-Hermi ist durch den Vorhang so durchgesprungen, dass wir uns fast geschreckt haben, alle miteinander, nur die Mizzi nicht, weil die gewusst hat, dass die Hermi gleich hinter ihr nachkommt. Und unter dem Arm hat sie ihren Hund mitgehabt, so einen kleinen, dunklen Mischling.
Erschießen werden sie ihn mir, weil sie mich in flagranti erwischt haben, das hat der Kerl zu mir gesagt, hat die Binder-Hermi nur so herausgesprudelt und den Hund an die Brust gedrückt als wie ein kleines Kind.
Wer wird hier wen erschießen?, hat da die Heidi gefragt.
No, meinen kleinen Waldi, hat die Hermi da gesagt, den Hund mit beide Händ hochgehalten und auf die Schnauze gebusselt.
Wieso denn das?, hab ich da gesagt. Was soll das überhaupt heißen, in flagranti hat man dich erwischt? Das hört sich ja an, als hättest was angestellt. Und wer jetzt hier in Neiselbach solchene Sachen sagt, das hab ich endlich wissen wollen. Aber gesagt hab ich ihr auch, dass sie uns ganz schön erschreckt hat. Wir haben am Anfang ja wirklich geglaubt, dass einer einen Menschen erschießen will.