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Ein Buch aus der Reihe "Wissen & Leben", herausgegeben von Wulf Bertram. Denken Sie mit! Beim Denken tun sich meistens neue Horizonte auf, doch es lauern auch alte Fettnäpfchen: Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie dieses Buch oder fragen Sie Ihren Neurowissenschaftler und Psychiater! Manfred Spitzer ist Phänomenen des Alltags auf der Spur und zeigt anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse auf, welche Bedeutung Geist und Gehirn für unser Leben haben. Warum hat man beim Joggen immer die besten Ideen? Denken Frauen wirklich anders als Männer, Chinesen anders als Europäer? Und wenn ja, warum? Sind Krankenhausaufenthalte oder unsichere Partner gefährlich, was macht eine Scheidung mit den Chromosomen der Kinder, was eine Chemotherapie mit dem Gehirn? Warum sollte man in der Ehe öfter mal die "rosarote Brille" aufsetzen? Schadet ein zu idealistisches Bild vom Partner nicht der Beziehung? Nicht zuletzt warnt der Autor vor den Auswirkungen von Computern in der Medizin und Smartphones im Alltag auf Geist und Körper junger Menschen. Er widerlegt die These, dass Zweisprachigkeit Kindern schadet, liefert eine Einführung in die Neurodiplomatie und fragt immer wieder neu nach den Wurzeln unseres Denkens. Neurowissenschaftliches Wissen unterhaltsam präsentiert – risikofrei und garantiert ohne Nebenwirkungen! KEYWORDS: Hirnforschung, neurowissenschaftliche Experimente, Verhaltensforschung, Gesellschaftskritik, Bildung, Lernen, Kommunikation, Neurowissenschaft, digitale Medien, Psychologie
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Seitenzahl: 280
Manfred Spitzer
Denken – zu Risiken und Nebenwirkungen
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
Universität Ulm, Psychiatrische Klinik
Leimgrubenweg 12–14
89075 Ulm
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Umschlagabbildung: Auguste Rodin, Der Denker, © patleem, www.fotolia.de
ISBN für ePub 978-3-7945-6919-9
Für Dagmar, Georg und Thomas
Das vorliegende Buch ist das sechzehnte seiner Art und enthält meine Beiträge für die Zeitschrift Nervenheilkunde aus dem Jahr 2014. Mit etwa 240 Seiten und 60 Abbildungen, die ich nach wie vor nahezu alle selber zeichne, fotografiere oder anderweitig erstelle, und einem guten Dutzend Tabellen möge dieses Buch meinen Lesern wie jedes Jahr wieder viel Futter fürs Gehirn1, wie die Engländer sagen, bieten.
Der Titel lautet dieses Jahr Denken – zu Risiken und Nebenwirkungen. Denn hierum geht es ja im Grunde immer auch, wenn wir dieser typisch menschlichen Tätigkeit des Geistes nachgehen. Ob Tiere denken (und wenn ja, was?), weiß ich nicht, aber es könnte durchaus sein. Bei manchen Menschen stellt sich diese Frage zuweilen auch. Man kann hier den englischen Philosophen David Hume zitieren, der gesagt hat: „Sometimes I sit and think, and sometimes I only sit.“ Er macht also hier eine klare Unterscheidung, die impliziert, dass man keineswegs davon ausgehen kann, dass Menschen, die irgendwo herumsitzen (Professoren und Studenten im Hörsaal, Manager oder Verwaltungsleute in Sitzungen, Politiker in Parlamenten etc.), immer auch denken.
Und wenn der oder die eine oder andere dann schon einmal wirklich denkt, dann läuft sie/er natürlich auch Gefahr, dass es daneben geht. Vielleicht ist die Absicht ja lobenswert, aber wie bei jeder Therapie gibt es auch beim Denken unerwünschte Wirkungen. Es kann schief gehen und man kann falsch liegen.
Denkt der Partner beispielsweise unbestimmt und immer wieder anders, ist das für einen selbst langfristig tödlich, wie in Kapitel 1 gezeigt wird. Denn Unklarheit bedeutet Stress, und Stress erhöht die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der häufigsten Krankheiten. Die seelische Verfassung beeinflusst auch unseren Körper, bis hin zur Verkürzung der Enden von Chromosomen (man nennt diese Telomere) durch psychosozialen Stress. Da die Länge der Telomere mit der Länge des Lebens korreliert, zeigt sich hier ein Zusammenhang zwischen negativen Lebenserfahrungen wie beispielsweise einer Ehescheidung der Eltern und kürzerer Lebenserwartung von deren Kindern (Kapitel 2). Dieser ist rein statistisch und wird sicherlich durch sehr viele weitere Faktoren moduliert, nicht zuletzt vor allem durch das Verhältnis der Eltern vor und nach der Scheidung zu ihren Kindern. Denn Stress hat nur negative Folgen durch seine Chronizität. Akuter Stress ist sinnvoll.
„Das Sein prägt das Bewusstsein“, wusste schon Karl Marx, d.h. die Lebensumstände bedingen u.a., was wir denken. Dies ist recht trivial gegenüber der Erkenntnis, dass die Lebensumstände auch einen Einfluss darauf haben können, wie wir denken, wie eine aus meiner Sicht sehr gut gelungene Studie aus China zeigen konnte (Kapitel 3). Anhand eines großen Datensatzes wurde hier gezeigt, dass die Tradition des Weizen- versus Reisanbaus die Art des Denkens in eher westlich oder östlich verschiebt. Die schöne Zusammenstellung der Methoden, dies zu messen, rechtfertigt allein schon die Lektüre dieses Artikels, dessen Ergebnisse jedoch zudem überraschend und erhellend sind.
In Kapitel 4 geht es um die Auswirkungen einer Chemotherapie auf das Denken, also um eine Nebenwirkung im Bereich des Denkens. Schon lange ist klar, dass Moleküle unser Denken beeinflussen (meist im Sinne von „beeinträchtigen“) können, man denke nur an Alkohol oder Schlafmittel. Die negativen Auswirkungen von Substanzen, welche die Zellteilung hemmen, auf den Geist waren lange tabu, nicht zuletzt deswegen, weil man davon ausging, dass im Gehirn kein neuronales Wachstum stattfindet. Nach dem Sturz dieses Dogmas in den vergangenen zwei Jahrzehnten konnte plötzlich wieder sein (d.h. beobachtet und beschrieben werden), was zuvor nicht sein durfte: nämlich dass Zytostatika sich negativ auf die Gehirnfunktion auswirken können – insbesondere in gedächtnisrelevanten Bereichen, weil gerade dort auch beim Erwachsenen noch Nervenzellen nachwachsen, etwa 1400 pro Tag.
Dieses Nachwachsen von Nervenzellen geschieht auch im Riechhirn, weswegen Beeinträchtigungen des Geruchssinns ein Indikator für verminderte körperliche Regenerationsfähigkeit – und damit für eine geringere Lebenserwartung sind, wie eine große Studie gezeigt hat (Kapitel 5). Man kannte entsprechende Befunde schon bei manchen neurodegenerativen Erkrankungen (Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson), die Effekte scheinen jedoch eine größere Allgemeinheit zu besitzen als bislang vermutet.
Glücklicherweise sind nicht alle Nebenwirkungen negativ: es gibt auch positive, unerwartete Nebenwirkungen. In Kapitel 6 werden fünf Studien referiert, die nachweisen konnten, dass eine zweisprachige Person die Symptome einer Demenz volle fünf Jahre später bekommt als eine Person, die nur ihre Muttersprache spricht.
Ganz allgemein zeigen diese Beträge, dass Körper und Geist sind viel enger miteinander verknüpft als die meisten Menschen meinen und vor allem auch auf die unterschiedlichsten Weisen. So ist in Kapitel 7 Thema, dass Laufen (gehen, nicht rennen) die Kreativität fördert, insbesondere das Laufen in der freien Natur.
Gerade weil diese Zusammenhänge so vielfältig sind, wundert es weiterhin nicht, dass Änderungen unseres Lebens, so banal und „äußerlich“ sie erscheinen mögen, auch Änderungen unseres Geistes zur Folge haben. So muss die Tatsache, dass viele jungen Menschen heute sehr viel Zeit mit digitalen Medien verbringen, Folgen haben. Dies ist für die Nutzung des (seit mittlerweile mehr als 60 Jahren verfügbaren) Fernsehers klar gezeigt, zu dessen Risiken und Nebenwirkungen geringere Bildung, Fettleibigkeit, aggressives Verhalten und Aufmerksamkeitsstörungen gehören. Bei den erst wenige Jahre existierenden Smartphones ist dies anders. Dennoch gibt es mittlerweile Daten, sowohl zu den psychischen Nebenwirkungen (Kapitel 8) als auch zu deren Auswirkungen auf die Häufigkeit von Unfällen und anderen körperlichen Folgen (Kapitel 9).
Wenn Ärzte immer mehr Zeit mit dem Computer zubringen, so geht dies von ihrer Zeit mit dem Patienten ab. Diese Entwicklung ist nicht unausweichlich und weder in der Körpermedizin noch in den psychomedizinischen Fächern erwünscht (Kapitel 10). Glücklicherweise ist auch dies mittlerweile gut untersucht, sodass jedem, der die Anwendung von Computern immer und grundsätzlich für positiv erachtet, mit klaren Argumenten begegnet werden kann.
Wie sehr „unsere Brille“ – d.h. die persönliche Art, unsere Wahrnehmung aufgrund von Vorerfahrungen, „subjektiv“ zu überformen, insbesondere, wenn es eine „rosa Brille“ ist – auf die Realität zurückwirkt, wird nirgendwo deutlicher als im alltäglichen Miteinander von Paaren. In Kapitel 11 werden Daten vorgestellt, die zeigen, dass die Idealisierung des Partners langfristig positive Auswirkungen auf die Paarbeziehung hat.
Und wenn wir schon bei Mann und Frau sind, dann schließt sich eine Übersicht zu neueren neurobiologischen Arbeiten zu Differenzen zwischen männlichem und weiblichem Gehirn (Kapitel 12) nahtlos an.
Man möchte meinen, wenigstens die Medizin habe das allfällige Problem der Risiken und Nebenwirkungen ein für alle Mal zumindest professionell aufgegriffen. (Davon ist man in anderen Lebensbereichen, wie beispielsweise Politik oder Ökonomie, weit entfernt, wie die letzten fünf Jahre sehr deutlich gezeigt haben!) Dass dies leider nicht der Fall ist, und große Unsicherheiten über die tatsächlichen Risiken von Medizin bestehen, zeigt Kapitel 13. Es ist schon ein Unterschied, ob die Zahl der Todesfälle durch medizinische Behandlungsfehler jährlich bei gut 120 oder bei knapp 20000 liegt – aber genau dies ist tatsächlich die Spannbreite der hierzu vorliegenden Angaben!
Zurück zum Miteinander und den Medien: Wussten Sie, dass sich Cybermobbing durch regelmäßiges Abendessen in der Familie wirksam bekämpfen lässt? – Nun, man hätte es durchaus vermuten können, denn das Reden mit verständnisvollen Eltern bei gleichzeitiger – den Stress reduzierender – Nahrungsaufnahme kommt als Puffer gegen heimtückische anonyme Attacken in den Weiten des Internet durchaus in Betracht. Dass man dies aber anhand eines großen Datensatzes empirisch nachweisen konnte, ist für mich klar als Fortschritt zu werten (Kapitel 14).
Selbst vor der Diplomatie macht die Neurowissenschaft nicht halt, wie die Arbeit eines Neurowissenschaftlers und eines Diplomaten zeigt, die mir wiederum von einem Diplomaten zur Kenntnis gebracht wurde, der wissen wollte, was ein Neurowissenschaftler darüber denkt. So bin ich den Quellen nachgegangen und habe zusätzliche Recherchen angestellt, wodurch meine anfängliche Skepsis eines Besseren belehrt wurde (Kapitel 15). Hätte ich damals schon die Arbeit über die Psycho-(patho-)logie der amerikanischen Präsidenten gekannt (Kapitel 16), wäre ich sicher von Anfang an mit weniger Skepsis an die Sache herangegangen. Aber zum Glück reicht heute der Blick der empirischen Forschung weit über den Tellerrand vieler Einzelwissenschaften hinaus, sodass sich gerade aus der Zusammenschau vieler Erkenntnisse und dem Verbinden zunächst unverbundener Daten ganz neue Sichtweisen ergeben.
Dies zeigt auch das letzte Kapitel mit der Nummer 17 zur Schwarmdummheit, die den hier vorgestellten Reigen der Risiken und Nebenwirkungen menschlichen Denkens abschließt: Die wenigsten wissen, was Schwarmintelligenz ist bzw. alles sein kann, und daher fällt vielen auch nicht auf, dass diese auch – und zuweilen systematisch – daneben liegen kann. Wer jedoch die Rahmenbedingungen, die hierzu führen können, kennt, der ist besser gegen Fehlschlüsse gefeit. Wie immer ist damit Selbsterkenntnis der erste Weg zur Besserung. Es ist meine Hoffnung, dass der Leser dieses kleine Buch zu einigen neuen Erkenntnissen aus Psychologie und kognitiver Neurowissenschaft mit einer Einstellung dieser Art liest und Freude beim Entdecken hat. Wie schon bei den vergangenen 15 Büchern dieser Art auch.
Und wie bei den 15 vergangenen Büchern möchte ich mich auch diesmal bei meinen Mitarbeitern in Ulm und bei den Mitarbeitern des Schattauer Verlags bedanken, die mich bei der Arbeit an meinen Beiträgen für die Nervenheilkunde und bei der Entstehung des Buches unterstützen. Vielen Dank an die Verleger Dieter Bergemann und Dr. Wulf Bertram sowie an Frau Dr. Borchers, Frau Becker, Frau Heyny, Frau Dr. Brummer und Frau Ferreau.
Dieses Buch ist meinen drei Mitarbeitern Dagmar Brummer, Georg Groen und Thomas Kammer gewidmet. Sie haben vieles kritisch und zugleich mit Spaß gelesen, wir haben immer wieder heftig und mit viel Spaß diskutiert, und diese vielen kleinen Gespräche haben mir die Freude an der Arbeit deutlich vergrößert. Dies galt auch schon für frühere Bücher dieser Reihe, sodass es höchste Zeit wird (zumal Dagmar leider vom Sprung in die Niederlassung in diesem Jahr nicht abzubringen war), ihnen dafür auch einmal mit einer Widmung zu danken.
Washington, beim 44. Treffender Society for Neuroscience,im November 2014
Manfred Spitzer
1 Das englische Idiom food for thought klingt wörtlich übersetzt ohne diese Fußnote sehr eigenartig.
1 Tödliche Ambivalenz
2 Die Chromosomen von Scheidungskindern
3 Östliches und westliches DenkenGibt es das? Warum? Und was folgt?
4 Chemo-GehirnNebenwirkungen von Chemotherapie im Erleben, Denken, Fühlen und Handeln
5 Geruchssinn und LebenserwartungWer gut riecht, lebt länger
6 Zwei Sprachen sind gesund!
7 Laufend kreativ
8 SmartphonesZu Risiken und Nebenwirkungen für Bildung, Sozialverhalten und Gesundheit
9 Handy-Unfälle
10 Computer- statt PatientenkontaktZu Risiken und Nebenwirkungen von Informationstechnik im klinischen Alltag
11 Idealisieren der Realität statt Realisieren von IdealenDas Unbewusste zur Hochzeit und die Qualität der Ehe
12 Geschlecht – Ideologie oder Wissenschaft?Gehirnforschung zur Frauenquote und berufstätigen Müttern, Anwältinnen und Männerbeauftragten
13 MedizinZu Risiken und Nebenwirkungen
14 Familienabendessen
15 Neurodiplomatie?
16 Egoist, Psychopath, Präsident?Zur Phänomenologie, Persönlichkeit, Entwicklung, Neurobiologie und Genetik des Homo oeconomicus
17 Schwarmdummheit
Sachverzeichnis
Wenn in der Psychiatrie von Ambivalenz die Rede ist, dann ist das „dritte A“ von Eugen Bleulers „famous 4 A“ die erste Assoziation: Seine über ein Jahrhundert alte Charakterisierung der Krankheit Schizophrenie beinhaltet neben Störungen im Bereich des Denkens (Assoziationsstörungen), des Gefühls (Affektstörungen) und des Sozialverhaltens (Autismus) auch Störungen im Bereich des Wollens – er nennt sie Ambivalenz – als wesentliches Merkmal (1, 2): Die Patienten wissen nicht, was sie wollen, und wollen daher dieses und fünf Sekunden später jenes und weitere fünf Sekunden später das Gegenteil von beidem. Unerfahrene junge Assistenzärzte kann dies zur Verzweiflung treiben, denn mit Stimmen oder bösen Verfolgern wird man fertig, mit einem Patienten, der sich auf nichts wirklich einlassen kann, weil sein „natürlicher Wille“ sich alle paar Sekunden ändert, nicht.
Ähnlich wie die Bezeichnung „Schizophrenie“1 selbst oder das vierte A (Autismus2) ist jedoch auch das dritte A eine Fehlbezeichnung: Ambivalenz deutet auf einen Konflikt zweier Werte hin, wohingegen die „Willensschwäche“ der schizophrenen Patienten eher auf ein Defizit verweist. Daher werden heute ja auch eher die Bezeichnungen Anhedonie und Abulie zur Bezeichnung der Dysfunktion schizophrener Patienten im Bereich des Voluntativen bzw. Motivationalen verwendet. Die Vorsilbe „a(n)“ meint das Fehlen von etwas, das normalerweise da ist.
Ambivalenz ist etwas anderes: Wenn ich zu etwas oder jemandem eine ambivalente Einstellung habe, dann geht es mal um positive und mal um negative Gefühle und Gedanken. Mehr Ambivalenz ist damit weder mehr positiv noch mehr negativ, sondern mehr von beidem, also mehr „Wechselbad“. Dies wiederum ist gleichbedeutend mit weniger Sicherheit bzw. – bei Ambivalenz in Beziehungen – weniger Vertrauen. Und dies bedeutet nichts anderes als: mehr Stress (21).
In tierexperimentellen Studien zeigte chronischer Stress pathologische Auswirkungen auf die Organe und ganze Organsysteme (17, 18). Auch beim Menschen wurde und wird immer wieder der Zusammenhang zwischen chronischem Stress und Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, des Magen-Darm-Trakts und des hormonellen Systems sowie Krebserkrankungen, Infektionserkrankungen und psychischen Störungen hervorgehoben.
Beim Menschen ist der Zusammenhang zwischen sozialer Unterstützung und erhöhten Stresshormonkonzentrationen nachgewiesen (5). Entsprechend findet man auch einen Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen (9) bzw. sozialer Unterstützung (8) und Gesundheit: Eine Metaanalyse von 148 Studien (und 308849 Personen!) wies eine um 50% erhöhte Überlebenswahrscheinlichkeit bei Menschen mit vergleichsweise mehr sozialer Unterstützung nach (7). Die Effekte waren dabei unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialem Status, Gesundheitszustand, Todesursache und dem Zeitraum des Follow-up, erwiesen sich jedoch als stärker (bis über 90%), je genauer man die soziale Unterstützung erfragte. Am kleinsten waren die Effekte, wenn man nur (binär) die Wohnsituation (allein lebend vs. mit anderen zusammenlebend) erhob (19%).
So wundert nicht, dass vor allem die Qualität einer langfristigen Paarbeziehung erhebliche Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Partner hat. Eine große britische Längsschnittstudie an insgesamt 9011 Beamten (6114 Männer und 2897 Frauen) mit einem Beobachtungszeitraum von durchschnittlich mehr als 12 Jahren zeigte ein um 34% erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bei denjenigen Studienteilnehmern, die ihre Paarbeziehung vorwiegend negativ erlebten (3). Eine kürzlich erschienene Metaanalyse von 126 Studien (an insgesamt mehr als 72000 Personen) aus den vergangenen 50 Jahren konnte den schon lange vermuteten Zusammenhang zwischen der Qualität der ehelichen Beziehung und der Gesundheit der Partner nachweisen (16). Je besser die Ehe, desto geringer das Sterblichkeitsrisiko (r = 0,11).
Was genau macht eine Ehe zu einer Beziehung, die sich für beide Partner gesundheitlich positiv auswirkt und aus welchem Grund kann sie uns krank machen? Eine deutsche Studie ergab, dass eine launische Ehefrau oder Partnerin nicht nur das Lebensglück des Mannes vermindert, sondern nachweislich auch dessen Lebenserwartung (6). Andererseits wirkt eine Ehe auf Männer im statistischen Mittel deutlich lebensverlängernd, auf Frauen hingegen nicht (4, 10). Wie hat man sich dies vorzustellen? Welcher Mechanismus könnte dafür sorgen, dass ein Mensch einen anderen Menschen krank macht und sogar früher sterben lässt (sehen wir einmal von Mord ab)?
Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehören laut WHO in der westlichen Welt zu den bedeutsamsten Mortalitätsrisiken. Ein wesentlicher Faktor für das kardiovaskuläre Gesundheitsrisiko eines Menschen ist dessen Blutdruck. Dieser wiederum reagiert sensibel auf unglückliche soziale Interaktionen, wie schon der Volksmund sagt: „Dieser Mensch treibt meinen Blutdruck in die Höhe.“ Schon lange ist bekannt, dass sich derartige Erfahrungen tatsächlich im psychophysischen Labor abbilden lassen, wie eine entsprechende Metaanalyse von 22 experimentellen Studien zum Einfluss sozialer Unterstützung auf die Reaktion des Blutdrucks zeigen konnte (22).
Es ist eine Sache, einen Zusammenhang im Labor zu zeigen und eine ganz andere, die Relevanz der Ergebnisse aus dem Labor für die langfristige Gesundheit von Menschen im wirklichen Leben nachzuweisen. Daher seien hier die Ergebnisse einer kürzlich erschienenen Studie an 325 Personen im mittleren Alter von 45 Jahren (53% Männer) zu den Auswirkungen des Familienstandes (verheiratet versus unverheiratet) auf den nächtlichen systolischen Blutdruck vorgestellt (11). Dieser fällt während der Nacht ab, und ein Fehlen dieses nächtlichen Blutdruckabfalls gilt als Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse. Die verheirateten Studienteilnehmer hatten verglichen mit den unverheirateten einen signifikant erhöhten nächtlichen Blutdruckabfall, wobei der Effekt bei Männern etwas stärker ausgeprägt war als bei Frauen (Abb. 1-1)3.
Obgleich sich die Autoren große Mühe gaben und beispielsweise das Körpergewicht, den sozioökonomischen Status oder die Ethnizität in ihren Auswertungen berücksichtigten, konnten auch sie nicht alle denkbaren bedeutsamen Kovariablen kontrollieren: „Obwohl das Modell an verschiedene Kovariablen angepasst wurde, ist es möglich, dass ungemessene Variablen das Ergebnis als Störfaktoren beeinflussen. Dies wären z.B. Qualität der Ehe, sexuelle Aktivität, Vorhandensein kleiner Kinder und berufliche Zufriedenheit“ (11, S. 5, Übersetzung durch den Autor).
Abb.1-1: Nächtlicher Abfall des systolischen Blutdrucks (in Prozent) bei Männern und Frauen in Abhängigkeit vom Familienstand (weiße Säulen: nicht verheiratet; schwarze Säulen: verheiratet; nach Daten aus 11, Figure 1a).
In der angeführten Metaanalyse zeigte sich der Effekt von missglückender Beziehung bzw. akutem Konflikt auf den Blutdruck keineswegs immer und mit Regelmäßigkeit, was dazu Anlass gab, den Kovariablen auch experimentell weiter nachzugehen.
Gerade im Hinblick auf die in der vorliegenden Arbeit diskutierte Ambivalenz sind die Ergebnisse einer im Jahr 2010 publizierten experimentellen Studie von großer Bedeutung, in deren Rahmen an 100 studentischen Probanden gemessen wurde, wie sich ein Streit mit entweder einem sozial unterstützenden oder sozial ambivalenten Freund auf den Blutdruck auswirkt (15). Wie Abbildung 1-2 verdeutlicht, zeigte sich ein signifikanter Anstieg des systolischen Blutdrucks beim Streit mit einem ambivalenten Freund verglichen mit dem Streit mit einem sozial unterstützenden Freund. Mit den Worten der Autoren: „[...] Begegnungen mit ambivalenten Freunden führten zu einem höheren systolischen Blutdruck verglichen zu Begegnungen mit unterstützenden Freunden [...]. Das lässt darauf schließen, dass die Negativität einer ambivalenten Freundschaft effektive soziale Unterstützung möglicherweise beeinträchtigt“ (15, S. 429, Übersetzung durch den Autor).
Abb.1-2: Reaktion des Blutdrucks (Anstieg in mmHg) auf einen Streit mit einem ambivalenten bzw. unterstützenden Freund (nach 15, S. 429). Der Unterschied war mit p = 0,015 signifikant.
Ergebnisse wie dieses wiederum motivierten Wissenschaftler aus Utah eine Studie an 136 älteren Ehepaaren (mittleres Alter: 63 Jahre; im Mittel 36 Jahre verheiratet) durchzuführen, in deren Rahmen zum einen die Qualität der Beziehung und zum anderen der Grad der Verkalkung der Herzkranzgefäße untersucht wurde (23). Mittels Fragebögen wurde nicht nur erfasst, wie gut die Beziehung insgesamt war, sondern vor allem auch, inwieweit ein Partner den anderen unterstützte oder – gleichsam im Gegenteil – nervte bzw. zur Weißglut brachte (wie man so sagt), insbesondere dann, wenn der Partner Hilfe oder einen Rat brauchte oder wenn es nur einfach darum ging, ihm (bzw. ihr) einen Gefallen zu tun. Insgesamt zeigten diese Daten, dass nur 30% der Einzelpersonen ihren jeweiligen Partner als generell hilfreich bzw. unterstützend erlebten, wohingegen 70% den Partner als ambivalent beschrieben, das heißt, als mal hilfreich und mal auf die Nerven gehend.
Der wichtigste Befund der Studie bestand darin, dass der mittels Computertomografie und entsprechender Auswertung bestimmte Grad der Verkalkung der Herzkranzgefäße sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen am höchsten war, wenn beide Partner den jeweils anderen als ambivalent erlebten. Wenn sich nur einer der beiden Partner in der Beziehung ambivalent verhielt, war der Verkalkungsgrad der Herzkranzgefäße zwar auch erhöht, aber nicht mehr so deutlich. Da der Verkalkungszustand der Herzkranzgefäße mit der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität eng verknüpft ist (14)4, kann man damit das Ausmaß der Ambivalenz in einer langjährigen Paarbeziehung als Risikofaktor bezeichnen. Kurz: Ambivalenz in einer Beziehung ist langfristig tödlich.
Die Tatsache, dass die erlebte Zufriedenheit mit der Beziehung keinen Einfluss hatte, fügt sich in die Ergebnisse einer ganzen Reihe früherer Studien ein, die ebenfalls gefunden hatten, dass die von den Partnern jeweils selbst berichtete Qualität der Beziehung wenig aussagekräftig ist (19). Zieht man hingegen „harte Daten“ heran – Verhaltensbeobachtungen oder die Antwort auf die Frage: geschieden: ja/nein? – zeigen sich deutliche Effekte: Bei Frauen wirkt vor allem das mangelnde Erleben von Wärme, bei Männern hingegen das Vom-Partner-dominiert-Werden in der Beziehung pathogenetisch auf kardiovaskuläre Erkrankungen (20). Weiterhin wurde gefunden, dass diese Effekte von der Dauer der Beziehung abhängen, das heißt, sich erst nach einem längeren Zeitraum – ganz ähnlich wie chronischer Stress – manifestieren (19). Lassen wir die Autoren selbst zum kardiovaskulären Risiko der Beziehungsqualität von Paaren zu Worte kommen: „[...] Bei Frauen liegt das Risiko vor allem im mangelnden Erleben von Wärme während potenziell stressiger Gemeinschaft in ihrem Eheleben. Auch Frauen, die bereits eine Scheidung erlebt haben, sind gefährdet. Bereits einmal geschiedene Männer haben ebenfalls ein höheres Risiko, ebenso wie Männer, die sich in ihrer Ehe in hohem Maße dominiert oder kontrolliert fühlen. Demzufolge sind zerüttete Ehen oder eine geringe Ehequalität mit einem höheren kardiovaskulären Risiko verbunden, wobei die relevanten Qualitätsmerkmale sich bei Männern und Frauen unterscheiden können. [...] Zwei wesentliche Dimensionen zwischenmenschlichen Verhaltens – Zugehörigkeit und Kontrolle – scheinen wichtige Einflussfaktoren auf die kardiovaskuläre Gesundheit zu sein“ (20, S. 356, Übersetzung durch den Autor).
Hiermit wären wir bei den Rahmenbedingungen von Stress angekommen, die eingangs bereits Thema waren: Stress ist identisch mit dem Fehlen von Kontrolle bzw. dem Erleben des Kontrolliert-Werdens, was insbesondere von Männern deutlich im Rahmen von Beziehungen erlebt wird. Frauen hingegen erleben das Fehlen von sozialer Wärme und Geborgenheit als besonders stresshaft, also das Fehlen von protektiven Faktoren gegenüber Stress. So erscheint Stress in der Lebenswelt von Männern und Frauen gleichsam unter anderen Rahmenbedingungen, gerade weil die Lebenswelt von Männern viel mit Dominanz und die von Frauen viel mit Unterstützung zu tun zu haben scheint. Aus evolutionärer Sicht ergibt dies durchaus Sinn – Männer ringen um Dominanz (Zugang zu Frauen und damit Nachkommen), Frauen konkurrieren um Ressourcen (für die Aufzucht der Nachkommen) – im heutigen Beziehungsalltag jedoch erweisen sich diese wahrscheinlich tief in der conditio humana verwurzelten Erlebnisweisen als tödlich.
Es wird Zeit, dass wir unsere Anfälligkeit für Stress gerade im sozialen und ganz nahen Miteinander besser verstehen und dieses Verständnis für bessere und vor allem stressfreiere Beziehungsgestaltung (wie man heute zu sagen pflegt) nutzen. Das mit dem ambivalenten Verhalten eines Partners fehlende Vertrauen kann uns krank machen und langfristig umbringen. Lassen wir es nicht dazu kommen!
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1 Bereits 1914 kritisierte kein anderer als Sigmund Freud zu Recht, dass „Bewusstseinsspaltung“ keine gute Bezeichnung für die bei den Patienten vorliegenden Veränderungen sei.
2 Zumindest aus heutiger Sicht sorgt die Bezeichnung „Autismus“ für Verwirrung, wird der Begriff doch zur Bezeichnung von Krankheitsbildern und nicht von Symptomen verwendet.
3 Zu weiteren Geschlechterunterschieden im Hinblick auf Paarbeziehung, Bindungsverhalten und Gesundheit siehe (13). Insgesamt ist nach den hier vorgestellten Daten zu erwarten, dass sich die Qualität einer langfristigen Paarbeziehung auf beide Partner gesundheitlich durchaus auswirken kann.
4 Nach der Metaanalyse von Pletcher und Mitarbeitern (14) ist das Risiko je nach Studie um das 3- bis 17-Fache erhöht.
Abb.2-1: Vermutlich älteste Darstellung von Chromosomen in Zellen der Augenhornhaut, gezeichnet vom Kieler Anatomen Walther Flemming, aus dem Jahr 1882.
Die Zahl der Chromosomen ist bei verschiedenen Arten unterschiedlich: Unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans haben jeweils 48 Chromosomen, die Hausmaus hat 40, der Hund 78, das Huhn auch, und der Goldfisch 94. Der Pferdespulwurm hat dagegen nur 2 Chromosomen, der Tintenfisch 12, das Alpenveilchen so viele wie die Gorillas und der Schachtelhalm hat 216!
Bis vor einigen Jahren stellte man sich das menschliche Erbgut als eine Art Text vor, der mit möglichst hoher Genauigkeit von Generation zu Generation weitergegeben wird. Fehler bei dieser Weitergabe – Mutationen – führen zu Krankheiten, erstmals durch Röntgenstrahlen bei der Fruchtfliege im Jahr 1926 durch den Amerikaner Herrmann Joseph Muller beschrieben (Nobelpreis 1946). Damit ist klar, dass Gene gerade dasjenige bei Lebewesen darstellen, das sich nicht ändert. Denn ansonsten ist Leben ja – seit Aristoteles (1) – ein höchst dynamisches Geschehen:
Stoffwechsel,
zu dem bei Tieren noch Bewegung,
Ortswechsel
und die
wechselnden Empfindungen
hinzukommen und
beim Menschen noch die beständig
wechselnden Gedanken
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Die Funktion der Telomere besteht unter anderem darin, das Verkleben von Chromosomen zu verhindern, indem deren Enden gewissermaßen mehrfach umgekrempelt und dann noch mit einem Überzug versehen werden. Der Heidelberger Wissenschaftler Brian Luke (15) hat die Telomere von Chromosomen mit den Enden von Schnürsenkeln verglichen: „Man kann sich Telomere wie die Plastikkappen an Schnürsenkeln vorstellen. Ohne diese Kappen fransen die Enden aus, und schließlich kann der ganze Schnürsenkel seine Funktion nicht mehr erfüllen.“
Damit spielen die Telomere eine wichtige Rolle beim Alterungsprozess von Zellen und Organen: Bei jeder Zellteilung sind die Telomere der Tochterzellen etwas kürzer als die Telomere der Ausgangszelle. In menschlichen Leukozyten beispielsweise wurde die Verkürzung mit 9% pro Dekade gemessen (4). Langfristig werden die Telomere schließlich so kurz, dass sie die Enden der Chromosomen nicht mehr schützen können. Diese senden daraufhin Signale aus, welche die Teilung der Zelle verhindern, sodass die Zelle dann in einen Zustand des Alters übergeht, der „Seneszenz“. Je mehr solche Zellen in einem Organ des Körpers vorhanden sind, desto stärker gealtert ist das gesamte Organ.
Wie man mittlerweile weiß, gilt dies auch für das Gehirn. Eine Verkürzung und damit Fehlfunktion der Telomere wird aufgrund entsprechender tierexperimenteller Befunde seit einigen Jahren mit Prozessen des Gehirnabbaus in enge Verbindung gebracht (11, 13, 21).
Der Vollständigkeit halber sei noch bemerkt: Die Kehrseite der Alterung ist Unsterblichkeit. Nun gibt es durchaus unsterbliche Zellen, auch beim Menschen, aber niemand möchte sie haben, denn Unsterblichkeit ist ein Merkmal von Krebszellen, weil sich deren chromosomale Telomere nicht verkürzen. Für diesen vor zwei Jahrzehnten neuen Ansatz in der Krebstherapie (10) erhielten Carol Greider und Elizabeth Blackburn im Jahr 2009 den Nobelpreis für Medizin.
So richtig spannend wurde es um die Telomere jedoch, als Blackburn zusammen mit der Gesundheitspsychologin Elissa Epel und Mitarbeitern vor 10 Jahren herausfand, dass die Telomere von Frauen unter großem sozialem Stress vergleichsweise kürzer waren. Zwar wusste man bereits, dass ungesunde Lebensweisen (Übergewicht, Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum; 12, 19) zu einer beschleunigten Verkürzung der Telomere führen, und eine gesunde Lebensweise (viel Bewegung, Omega-3-Fettsäuren) die Telomere eher längenmäßig verschont (14). Dass jedoch auch rein psychologische bzw. psychosoziale Faktoren die Länge der Enden von Chromosomen (und damit indirekt die Länge unseres Lebens) bestimmen, war neu.
Der amerikanische Neurobiologe Bruce McEwen von der Rockefeller-Universität in New York hat im Rückgriff auf die bereits etablierte „Verwitterungshypothese“ (8) den Zusammenhang von belastenden Faktoren einerseits und vorzeitigem Altern andererseits über den Mechanismus der Verwitterung der Chromosomenenden erklärt. Stress, der beim Menschen auch und gerade in psychosozialem Stress besteht, verkürzt die Telomere und damit unser Leben.
Die Enden unserer Chromosomen sind damit „ein integrativer Indikator von Gesundheit“, wie es Blackburn einmal formuliert hat (zit. nach 14, S. 414, Übersetzung durch den Autor). Mit der Länge der Telomere verhält es sich logisch betrachtet damit ähnlich der Blutsenkung: Ist diese erhöht, dann stimmt etwas nicht. Mehr als „dieser Mensch ist krank“ weiß man im Grunde damit jedoch nicht. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn die Blutsenkung nicht erhöht ist, hat man viele Krankheiten praktisch ausgeschlossen. Entsprechend gilt: Sind die Telomere vergleichsweise lang, ist der Mensch gesund; sind sie verkürzt, stimmt etwas nicht und der Betroffene verstirbt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit früher.
Vor diesem Hintergrund, dass die Telomere unserer Chromosomen längenmäßig von äußerem Stress abhängen und zugleich einen Biomarker für unsere Lebensspanne darstellen, versteht man nun endlich, was Chromosomen mit Scheidungskindern zu tun haben können und warum dieser Zusammenhang zugleich überraschend und überaus aufschlussreich ist.