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Du hast mich gefunden, als mein Herz kaum noch geschlagen hat. Du hast mein Herz wieder zum Leben erweckt
Als ich den Job als Köchin auf dem Luxusanwesen von Rockstar Oliver Smith ergattere, kann ich mein Glück kaum fassen. Schließlich ist es seine Musik gewesen, die mich durch die dunkelsten Tage meines Lebens gebracht hat - umso mehr tut es weh, mitanzusehen, dass Oliver eigentlich viel mehr braucht als nur eine Köchin. Seit dem Tod seines Zwillingsbruders hat er nicht nur seine Leidenschaft aufgegeben, sondern auch sich selbst. Doch ich weiß, dass Oliver nicht verloren ist. Ich weiß, dass unter all seinem Schmerz eine tiefe und einzigartige Seele schlummert, und ich werde ihn nicht aufgeben - auch wenn es mein eigenes Glück gefährden könnte ...
»Die Bücher von Brittainy C. Cherry sind wie Sommergewitter - voller Intensität, Emotionen und Leidenschaft. Ihre tiefgründigen Worte lassen uns spüren, dass das Leben manchmal hart, aber auch wunderschön sein kann.« CRAZY.BOOKHEART
Band 2 des MIXTAPE-Duetts von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry
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Seitenzahl: 474
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
Epilog
Dank
Die Autorin
Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX
Impressum
BRITTAINY C. CHERRY
Denn ohne Liebe werden wir zerbrechen
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katia Liebig
Niemals hatte Emery damit gerechnet, dass der Mann, den sie eines Nachts in einer Bar getroffen und aus der Not heraus vor einem Mob wütender Fans versteckt hatte, der Oliver Smith sein würde. Zum Dank macht dieser der jungen, alleinerziehenden Mutter ein Jobangebot, das Emery – die selbst mit Schicksalsschlägen und einer komplizierten Vergangenheit zu kämpfen hat – gerne annimmt. Doch bereits nach ihren ersten paar Tagen auf dem Luxusanwesen des Rockstars, wird klar, dass Oliver eigentlich viel mehr als nur eine neue Köchin braucht. Seit dem Tod seines Zwillingsbruders hat sich der Musiker völlig von der Welt zurückgezogen und nicht nur keine Songs mehr geschrieben, sondern auch sich selbst verloren. Dabei war es ausgerechnet seine Musik, die Emery durch ihre dunkelsten Tage geholfen hat. Sie schwört sich, Oliver nicht aufzugeben und um ihn zu kämpfen – auch wenn es ihr eigenes Glück zerstören könnte …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für meine Familie. Mein Lieblingsmixtape.
Sechs Monate zuvor
Meine Familie bestand seit Generationen hauptsächlich aus extrovertierten Menschen. Nur ich war so ziemlich das Gegenteil – was mich jedoch nicht weiter störte. Ich gehörte zu den glücklichen Menschen, die von Anfang an genau wussten, wer sie waren, und meine Familie liebte mich bedingungslos. Genau genommen kultivierte ich meine introvertierte Art richtiggehend. Ein Buch, eine ellenlange Playlist und ein Hund als Gesellschaft reichten vollkommen, um mich glücklich zu machen.
Mein Bruder Alex war ganz anders – eher wie meine Eltern. Er liebte es, sich unter die Leute zu mischen, und war der Mittelpunkt einer jeden Party. Wenn man ein Zwilling ist, fällt es meist nicht leicht herauszufinden, wer man wirklich ist, weil man ständig mit seiner anderen Hälfte verglichen wird, aber auch das war für mich nie ein Problem. Alex und ich waren einfach die besten Freunde, wie sehr wir uns auch voneinander unterschieden. Er war der Partylöwe, ich der stille Beobachter.
Mein Bruder fühlte sich am wohlsten, wenn er von Menschen umgeben war, während ich es vorzog, sie aus der Ferne zu betrachten. Ich hatte kein Problem mit Menschen, aber mir war es lieber, einzeln mit ihnen umzugehen. Menschenmengen waren für mich extrem anstrengend, weil sie zwangsläufig ein gewisses Chaos mit sich brachten.
Alex und ich wären nie auf den Gedanken gekommen, einer von uns könnte besser sein als der andere, doch die Welt um uns herum war leider nicht dieser Ansicht.
Wir hatten uns zu einer Zwei-Mann-Band zusammengetan, Alex & Oliver, und damit weit mehr Erfolg, als wir vielleicht verdient hatten. Bei jedem Geschwisterpaar, das in der Öffentlichkeit steht, gibt es immer einen, den die Leute lieber mögen als den anderen. Bei Zwillingen ist es noch schlimmer. Ständig wurden wir miteinander verglichen – unser Aussehen, unsere Persönlichkeit, die Klamotten, die wir trugen –, bis hin zu der Art, wie wir Interviews gaben. Alex war durch und durch charismatisch. Wenn er einem Fremden in der U-Bahn begegnete, dauerte es genau fünf Minuten, bis die beiden die besten Freunde waren.
Ich dagegen ließ mir viel Zeit, andere Menschen kennenzulernen. Es dauerte eine Weile, bis ich mich ihnen gegenüber öffnete, sodass ich manchmal ein wenig distanziert wirkte. Dabei war es genau andersrum: Ich wollte wissen, wie mein Gegenüber tickte, wollte ihn oder sie nicht nur von ihrer Sonnenseite sehen, sondern auch die Regenwolken.
Es war mir egal, auf welches Football-Team sie standen oder wie sie Silvester feierten. Aber wer waren sie an ihren schlechtesten Tagen? Wie behandelten sie Tiere, wenn niemand zusah? Wie finster war ihr wolkenverhangener Himmel, wenn sie unter Depressionen litten? Leider lebten wir jedoch in einer Welt, in der es nicht mehr üblich war, in die Tiefe zu blicken. Alle lebten allein an der Oberfläche und zeigten nur ihre fröhlichen Gesichter. Manchmal dauerte es Jahre, ihre Schattenseiten kennenzulernen, aber so lange blieben nur die wenigsten.
Deshalb hatten Alex und ich selbst als Duo unterschiedliche Fangruppen. Die Alexholics waren die Treiber jeder Party. Sie waren es, die wie Alex die Energie in die Zuschauermenge trugen. Die Olives dagegen – ihre Erfindung, nicht meine – agierten deutlich gedämpfter. Sie schickten mir handgeschriebene Briefe und lange Nachrichten übers Internet, in denen sie mir mitteilten, wie sehr unsere Lieder sie berührten.
Natürlich liebten wir die Alexholics genauso wie die Olives. Ohne diese ausgeglichene Mischung hätten wir niemals unser gerade erschienenes drittes Album produzieren können.
An diesem Abend platzte der Club aus allen Nähten. Die Crème de la Crème des Musikbusiness war gekommen, um die Veröffentlichung unseres neuen Albums, »Heart Cracks«, zu feiern. Es wimmelte nur so vor Talent, Ego und Geld. Jeder, der in der Branche etwas auf sich hielt, war da – so jedenfalls stand es überall im Internet.
Und ich? Ich wollte nur noch nach Hause. Versteht mich nicht falsch: Ich war wirklich dankbar für alles und wusste durchaus zu schätzen, was unsere Plattenfirma und unser Team für uns getan hatten, aber nach ein paar Stunden unter Menschen waren meine Batterien erschöpft, und ich sehnte mich danach, allein zu sein. Partys waren nicht wirklich mein Ding. Stattdessen wollte ich nach Hause fahren, meine Jogginghose anziehen und mir ein paar Dokus auf Netflix anschauen. Ich hatte ein seltsames Faible für Dokumentationen. Wollte ich ernsthaft ein Minimalist werden? Nein. Sah ich mir Dokumentationen darüber an? Absolut.
Auf der Party an diesem Abend waren unglaublich viele Menschen. So viele Leute, die mir zulächelten, ohne mich wirklich zu kennen. Sie lachten und planten schon ihr nächstes Treffen, obwohl sie genau wussten, dass sie sowieso nicht kommen würden, drängten sich Schulter an Schulter und redeten über die neuesten Storys und Dramen der Branche.
Alex war irgendwo links von mir in der Menge. Er spielte mal wieder Prinz Charming, während ich das Buffet abgraste und mich mit Krabbenhäppchen vollstopfte.
Das Einzige, was Alex und ich gemeinsam hatten, waren unser Musikgeschmack und unser Aussehen – die dunkelbraunen lockigen Haare und die karamellfarbenen Augen, die wir eindeutig nicht von unseren Eltern geerbt hatten. Dad scherzte immer, Mom müsse fremdgegangen sein. In allem anderen waren wir nämlich die exakten Abbilder unseres Vaters, einem gut gebauten schwarzen Mann mit freundlichen Augen, einer runden Nase und einem breiten, eindrucksvollen Lächeln. Wenn unsere Eltern nicht lächelten, dann lachten sie; und wenn sie nicht lachten, dann tanzten sie. Meistens taten sie alles gleichzeitig. Wir waren von zwei der glücklichsten Menschen der Welt großgezogen worden, die uns bedingungslos unterstützten, egal, worum es ging.
Während ich mich also mit den Appetithäppchen vergnügte, legte mir plötzlich jemand die Hand auf die Schulter. Ich erschrak und wollte schon wieder auf Gesellschaft umschalten, doch als ich mich umdrehte, sah ich mit einem erleichterten Seufzen Alex hinter mir stehen. Er war komplett in Schwarz gekleidet, abgesehen von einer goldenen Gürtelschnalle von Hermès, bei der ich mir ziemlich sicher war, dass sie aus meinem Kleiderschrank stammte. Sein Hemdkragen war gebügelt, und er hatte die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt.
»Du solltest dich nicht so unter die Leute mischen, Bruderherz. Die Gäste haben schon Angst, dass du gleich auf dem Tisch tanzt«, sagte er lachend, nahm mir mein fünfzigstes Krabbenhäppchen aus der Hand und schob es sich in den Mund.
»Ich hab Tyler Hallo gesagt«, verteidigte ich mich.
»Seinem Manager Hallo zu sagen, zählt nicht zu unter die Leute mischen.« Er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten und rieb sich den Nacken, wobei seine Kette hin und her schwang. Es war die eine Hälfte einer Herzkette, deren andere Hälfte ich trug. Mom hatte sie uns vor Jahren zum Start unserer ersten Tournee mit der Bemerkung geschenkt, dass sie uns damit ihren Herzschlag mit auf den Weg geben könnte.
Furchtbar kitschig, ich weiß, aber so war unsere Mutter nun mal. Furchtbar kitschig. Sie war die großartigste Frau, die man sich vorstellen konnte, und verdammt nah am Wasser gebaut. Ich sage euch, sie war noch immer nicht in der Lage, sich Bambi anzusehen, ohne in Tränen auszubrechen.
Alex und ich trugen unsere Ketten jeden Tag, und ich war dankbar für diese Erinnerung an unser Zuhause.
»Wie wäre es damit: Ich geh rüber und rede mit Cam«, bot ich an. Alex gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber er hatte einfach kein Pokerface. »Du kannst nicht ewig wütend auf sie sein«, sagte ich.
»Ich weiß«, nickte er. »Aber ich finde es einfach nicht gut, wie sie dich bei diesem Interview vorgeführt hat, bloß um sich zu profilieren. So behandelt man den Menschen, mit dem man zusammen ist, einfach nicht.«
Am Anfang unserer Karriere hatten mein Bruder und ich oft in kleineren Locations gespielt, und bei einem dieser Auftritte hatten wir Cam kennengelernt, das zuckersüße Mädchen aus einer Kleinstadt in Georgia, das auf dem Weg war, der neue Country-Star zu werden.
Obwohl wir beide unterschiedliche Musik machten – meine Richtung war eher Soul und R&B, ihre die Country-Musik –, hatten Cam und ich einige Gemeinsamkeiten. Schließlich fand man nicht alle Tage zwei Schwarze, die in einer Branche erfolgreich waren, in der sie eindeutig in der Minderheit waren.
Obwohl es bei uns beiden gut lief, war Cams Karriere im vergangenen Jahr buchstäblich explodiert. Endlich bekam sie die Anerkennung, die sie verdiente, und ich freute mich riesig für sie. Das Problem war nur, dass mit dem Erfolg auch ihr Ego wuchs. Sie strahlte förmlich im Rampenlicht, doch mittlerweile schien sie fast süchtig danach zu sein. Im Lauf der Zeit hatten wir uns zunehmend in unterschiedliche Richtungen bewegt – was mir endgültig klar wurde, als wir zusammen zu Mittag aßen und sie von sich aus zu den Paparazzi lief, um sich mit mir fotografieren zu lassen.
Ihr Ruhm war alles, was sie noch interessierte. Sie wollte immer mehr, mehr, mehr, bekam einfach nicht genug davon, und ihre Gier nach Aufmerksamkeit beeinträchtigte ihren Verstand. Sie traf übereilte Entscheidungen, ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen sie hatten. Sie vertraute den falschen Leuten. Sie war nicht mehr die wundervolle Frau, die ich anfangs kennengelernt hatte.
Doch ich wusste, dass sie nicht ganz schlecht war. Schließlich stand ich selbst seit Jahren im Rampenlicht und hatte erfahren, was das mit einem Menschen machen konnte. Schon bei unserer ersten Begegnung hatten wir tief in unseren Seelen eine Verbindung aufgebaut, so wie ich es liebte. Cam war damals ein junges Mädchen mit einem Traum gewesen, und ich ein Junge, der denselben Traum hatte. Ich wusste, dass tief in ihrer Seele noch immer das Gute leben musste. Sie war so unglaublich schnell berühmt geworden, und ich war mir sicher, dass sie erst einmal wieder Tritt fassen musste. Manchmal, wenn ich ihr in die Augen schaute, sah ich noch immer eine gewisse Unschuld in ihnen. Manchmal sah ich sogar Angst. Wie gemein wäre es gewesen, sich jetzt von ihr abzuwenden, während sie noch versuchte, alles zu verstehen.
Als sie vor ein paar Wochen, während eines Interviews, über unsere Beziehung gesprochen hatte – die ich nie hatte öffentlich machen wollen –, war Alex ausgeflippt. Cam wusste, dass ich unsere Beziehung nicht öffentlich machen wollte, weil wir zu oft erlebt hatten, wie die Medien Promis zur Unterhaltung ihres Publikums förmlich zerrissen hatten. Cam erklärte, sie habe es nicht böse gemeint, ihr Interviewpartner habe sie ausgetrickst. Und ich glaubte ihr. Wieso auch nicht?
»Sie hat es nicht böse gemeint«, murmelte ich jetzt und sah meinen noch immer wütenden Bruder an.
Der zuckte mit den Schultern. »Natürlich nicht. Aber sie hat es gezielt eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich weiß, ihr beide seit schon lange zusammen, und ich will nicht sagen, dass sie dich benutzt, aber …«
»Dann lass es«, knurrte ich.
Er runzelte die Stirn. »Okay. Schon geschehen.«
»Danke.« Ich wusste, dass er es nur gut meinte. Er hatte immer das Bedürfnis, mich zu beschützen, und früher hatte ich mich seinen Freundinnen gegenüber nicht anders verhalten. Wir wollten nur das Beste füreinander. Also zwang ich ein Lächeln auf mein Gesicht und klopfte ihm auf die Schulter. »Mein Intro-Radar vibriert. Ich mache mich lieber auf den Weg.«
»Du willst deine eigene Party verlassen? Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass es mich überrascht, aber …« Er grinste. »Kommt Cam mit?«
»Sicher. Wir sind auch zusammen hergekommen. Ich geh sie mal suchen.«
Alex klopfte mir auf den Rücken und nahm sich noch einen Frikadellen-Spieß. »Klingt gut. Schreib mir kurz, wenn ihr zu Hause seid, okay? Und sag Bescheid, wenn du irgendwas brauchst. Hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
»Ach, und Oliver?«
»Ja?«
»Herzlichen Glückwunsch zum neuen Album. Auf noch fünfzig Millionen weitere!«, rief Alex, und seine Augen glänzten verdächtig, so wie Moms immer geglänzt hatten. Heulsuse.
»Das ist erst der Anfang«, bekräftigte ich, zog ihn in meine Arme und klopfte ihm auf den Rücken, wobei ich ein paarmal blinzelte, um zu verhindern, dass auch meine Augen feucht wurden. Selber Heulsuse.
Die Heulerei lag bei uns in der Familie. Aber, verdammt, wir hatten in den letzten fünfzehn Jahren wirklich hart für unseren Erfolg gearbeitet. Als »Heart Stamps« es in die Billboard Charts schaffte, hatten manche uns als overnight sensation bezeichnet – offenbar waren ihnen die Jahre entgangen, in denen wir für diesen Moment gekämpft hatten.
Ich nahm mir noch ein Krabbenhäppchen und machte mich auf den Weg zu Cam, wobei mir bewusst wurde, dass ich die Leute, mit denen sie zusammenstand, würde begrüßen müssen. Mein Vorrat an Geselligkeit war praktisch erschöpft. Je näher ich kam, desto größer wurde der Kloß in meinem Hals, doch ich gab mir alle Mühe, ihn hinunterzuwürgen.
Ich glaube, alle, die Cam kannten, waren sich einig, dass sie einfach umwerfend war. Jeder halbwegs klar denkende Mensch hätte dem beigepflichtet. Mit ihren hellbraunen Augen, den langen, glatten, pechschwarzen Haaren und ihren perfekten Kurven sah sie wie eine Göttin aus. Ihre Bewegungen waren Musik, und ihr Lächeln konnte jeden erwachsenen Mann dazu bringen, sich nach ihrer Aufmerksamkeit zu verzehren. Es war dieses Lächeln gewesen, das vor Jahren auch mich in seinen Bann gezogen hatte.
An diesem Abend trug sei ein eng anliegendes schwarzes Samtkleid, das aussah, als hätte man es ihr auf den Körper genäht. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz frisiert, und ihre Lippen knallrot geschminkt. Kerzengerade stand sie da, in ihren High Heels mit den roten Sohlen.
Ich legte meine Hand auf ihren Steiß, und sie schmiegte sich ein wenig an mich, bevor sie über die Schulter sah. »Oh, Oliver! Hi. Ich dachte, du wärst jemand anders.«
Wer sonst würde sie so anfassen? In wessen Hand würde sie sich sonst derart hineinschmiegen?
»Nein, ich bin’s nur.« Die beiden Männer, mit denen sie sich unterhalten hatte, nickten mir lächelnd zu, und ich erwiderte den Gruß, bevor ich mich wieder Cam zuwandte. »Ich fahre jetzt nach Hause, und ich dachte, du möchtest bestimmt mitkommen, da wir ja gemeinsam hergekommen sind.«
»Was? Natürlich nicht, die Nacht hat doch gerade erst angefangen! Sei kein Spielverderber«, sagte sie halb im Scherz, bevor sie sich wieder den beiden Männern zuwandte. »Oliver ist auf Partys immer so eine Spaßbremse.«
Alle lachten, als wäre ich die Lachnummer des Abends. Meine Brust zog sich ein wenig zusammen. Ich beugte mich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Du musst das nicht tun, weißt du?«
»Was tun?«
»Den Leuten eine Vorstellung geben.« Cam gab sich betont locker und amüsant, und das auf meine Kosten, genau wie Alex es gesagt hatte.
Sie sah mich an, und etwas wie Abscheu blitzte in ihren Augen auf, bevor sie sich zusammenriss und mit einem aufgesetzten Lächeln erwiderte: »Ich gebe keine Vorstellung. Ich betreibe Networking, Oliver.«
Da war sie wieder.
Die Frau, die ich nicht mehr kannte. Die Seite von Cam, die ich nicht besonders mochte. Jeden Tag sehnte ich mich ein wenig mehr nach dem Menschen, der sie einmal gewesen war.
Komm zu mir zurück.
Ich sagte nichts weiter, denn ich wusste, wenn sie ihre Rolle spielte, war es unmöglich, zu ihr durchzudringen. Die Männer grinsten süffisant, als ich mich abwandte und davonging. Ich gab mir gar nicht erst die Mühe, mich zu verabschieden. Scheiß auf sie und ihr dämliches Grinsen. Wenn Cam heute Abend nach Hause ging, dann kam sie zu mir.
Während ich mich durch die Menge zwängte wie durch eine Sardinendose, hielt ich den Kopf gesenkt, um jeglichen Blickkontakt und jede womöglich daraus folgende Interaktion zu vermeiden. Mein Verstand hatte sein Limit erreicht, und ich verlangte nur noch nach meinem Fahrer, der hoffentlich draußen auf mich wartete, um mich nach Hause zu bringen.
So arbeitete ich mich bis zur Garderobe durch und bedankte mich murmelnd bei dem Typen, der mir meinen Mantel reichte. Dann ging ich nach draußen, wo auf der linken Seite hinter einer Absperrung schon den ganzen Abend zahlreiche Paparazzi darauf warteten, sämtliche Promis abzuschießen, die den Club verließen.
»Oliver! Oliver! Hier drüben! Sie sind doch mit Cam hergekommen! Gibt es etwa Ärger im Paradies?«
»Stimmt es, dass Sie beide seit Jahren heimlich ein Paar sind?«
»Wieso haben Sie es verheimlicht? Schämen Sie sich für sie?«
Genau das war der Grund, warum ich nicht wollte, dass diese Idioten irgendwelche privaten Dinge über mich erfuhren.
Und so wandte ich mich, statt ihnen zu antworten, nach rechts, wo hinter einer weiteren Absperrung die Leute warteten, die mir wirklich etwas bedeuteten. Unsere Fans.
Obwohl ich fix und fertig und mental nicht mehr ganz anwesend war, ging ich lächelnd zu ihnen. Seit Jahren schenkte ich ihnen so viel Zeit wie möglich, um mich mit ihnen fotografieren zu lassen, denn ohne sie hätte es diese Party zur Veröffentlichung unseres Albums niemals gegeben.
»Hi, na, wie geht’s?«, fragte ich und lächelte ein junges Mädchen an. Sie war sicher noch keine achtzehn, und sie hielt ein Schild hoch, auf dem stand: OLIVE4LIFE.
»Oh mein Gott«, hauchte sie, und ihre knallbunte Zahnspange leuchtete, als sie mich anstrahlte. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie zitterte am ganzen Körper. Ich legte eine Hand auf ihre.
Wenn ihre Freundinnen sie nicht gestützt hätten, wäre sie ziemlich sicher ohnmächtig zu Boden gesunken.
»D-du b-bist m-m-mein Held«, stotterte sie, und ich musste grinsen.
»Und du meine Heldin. Wie heißt du?«
»Adya.« Jetzt liefen die Tränen ihre Wangen hinunter, und ich wischte sie für sie fort. »D-du verstehst nicht«, stotterte sie und schüttelte den Kopf. »Eure M-musik hat mir durch m-meine Depression geholfen. Ich bin ge-m-mobbt worden und wollte m-mich umbringen, aber eure M-musik war für mich da. Ihr habt mich gerettet.«
Wahnsinn.
Lass das, Oliver. Wag es nicht, jetzt loszuheulen.
Ich drückte ihre Hand und beugte mich nach vorn. »Wenn du nur wüsstest, wie sehr du mich gerettet hast, Adya.«
Sie war der Grund, warum ich das alles machte. Sie und all die anderen, die immer da waren, wenn Alex & Oliver irgendwo auftauchten. Scheiß auf die Paparazzi. Ich war allein der Fans wegen hier, denn sie waren meinetwegen gekommen.
»Machst du etwa Fotos ohne mich?«, tönte Alex plötzlich hinter mir und schlug mir auf den Rücken. Er hatte seine Jacke in der Hand, als wollte er ebenfalls gehen.
»Wo willst du hin?«, fragte ich.
»Ich bin müde.« Alex warf einen Blick auf seine Uhr.
»Du lügst.« Mein Bruder gehörte immer zu den Letzten, die eine Party verließen.
Er grinste. »Kelly hat mir geschrieben. Sie hat Hunger, und ich dachte, ich bringe ihr ein bisschen Hühnersuppe, weil es ihr nicht so gut geht.«
Okay, das ergab Sinn. Kelly war meine Assistentin, und Alex war vollkommen vernarrt in sie. Und da ihr Loft gerade renoviert wurde, wohnte sie vorübergehend bei mir in der Remise. Seitdem schien Alex viel mehr Zeit bei mir zu verbringen als sonst – und das ganz sicher nicht meinetwegen.
»Ich dachte, du kannst mich vielleicht mitnehmen«, sagte er und knuffte mich in die Seite. »Aber vorher machen wir noch ein paar Fotos mit den Jungs und Mädels hier.«
Kelly und Alex hatten immer schon einen Draht zueinander gehabt, daher hatte es mich auch nicht überrascht, als die beiden irgendwann angefangen hatten, sich länger miteinander zu unterhalten. Ehrlich gesagt waren die beiden das perfekte Paar. Kelly hatte eine Weile unter Essstörungen gelitten, weil sie versucht hatte, mit den Schönheitsvorstellungen in Hollywood mitzuhalten, und es war vor allem Alex gewesen, der ihr darüber hinweggeholfen hatte. Jeden Tag hatte er mit ihr gegessen und ihr klargemacht, dass sie mit ihrem Problem nicht allein war. Und was als Freundschaft begann, war im Laufe der Zeit zu mehr geworden.
Wir machten noch ein paar Fotos mit unseren Fans und ignorierten die Geier auf der anderen Seite, die uns mit hirnlosen Fragen bombardierten, bevor wir schließlich in den schwarzen Audi stiegen, der bereits auf uns wartete.
»Hey Ralph, ist es okay, wenn ich hier drin rauche?«, fragte Alex, indem er sich zum Fahrer vorbeugte.
»Wie Sie möchten, Mr Smith«, erklärte Ralph, entspannt wie immer. Alex hatte jedes Mal das Bedürfnis, ihn wegen des Rauchens zu fragen, auch wenn Ralph jedes Mal sagte, dass es in Ordnung sei.
Alex lehnte sich zurück und zündete sich einen Joint an. Er rauchte nicht oft, aber nach besonderen Events gönnte er sich immer einen Joint. Vielleicht war das seine Art, nach den zahllosen Begegnungen mit Menschen zu entspannen. Wenn mir ein Joint bei meiner Sozialphobie geholfen hätte, dann hätte ich es mir ebenfalls angewöhnt, doch Haschisch steigerte meine Angst vor dem, was andere über mich dachten, nur noch mehr.
Also verzichtete ich schweren Herzens.
»Kennst du das hier?« Alex zog sein Handy aus der Tasche und spielte einen Musiktitel an. »›Godspeed‹ von James Blake. Seine Stimme ist echt dope, Mann. Weich wie Whiskey. Erinnert mich an unsere alten Sachen, vor dem Deal mit der Plattenfirma.« Er ließ sich in den Sitz zurücksinken und schloss die Augen. »Jedes Mal, wenn ich so was höre, fühle ich mich wie ein Verräter. Ich meine, das ist die Musik, die wir machen wollten. Musik, die die Seele berührt, die dir das Gefühl gibt, lebendig zu sein.«
Der Song war stark und kraftvoll, und das auf eine kühle Art, was bei James Blake jedoch nicht überraschte. Er brachte mich dazu, tief in mich hineinzuhorchen. Alex hatte recht – so hatte sich unsere Musik früher auch angefühlt. Bedeutungsvoll. Aber nachdem wir den Plattenvertrag unterschrieben hatten, änderte die Plattenfirma unseren Stil – was uns immerhin Ruhm und Millionen von Fans eingebracht hatte. Und Millionen von Dollar. Doch manchmal fragten wir uns, welchen Preis wir dafür bezahlten. Wie viel Geld und Ruhm war es wert, die eigene Seele zu verkaufen?
Oft wünschte ich mir, wieder zu den Tagen zurückkehren zu können, an denen wir in kleinen Locations vor wenig Publikum gespielt hatten.
Damals hatte sich alles authentischer angefühlt. Echter.
Ich griff nach meinem Handy und öffnete meine Playlist, um Alex meine aktuellen Lieblingstitel von James Blake vorzuspielen. Es verging kein Tag, an dem mein Bruder und ich uns nicht irgendwelche Songs schickten. So drückten wir aus, wie wir uns fühlten. Manchmal waren wir einfach zu fertig, um uns zu unterhalten und nutzten die Musik, um zu kommunizieren.
Du hattest einen tollen Tag? »It Was a Good Day« von Ice Cube. Fühltest dich nicht gut? »This City« von Sam Fischer. Die Welt ging dir auf die Nerven? »Fuck You« von CeeLo Green. Egal, wie man sich fühlte, es gab immer einen Song, um es auszudrücken.
»Kennst du das hier?«, fragte ich und spielte »Retrogate« vom James Blake. Ich hatte schon beim ersten Hören erkannt, dass der Song etwas für mich bedeutete.
Alex öffnete die Augen und beugte sich vor. Seine Brauen zogen sich zusammen, als er begann, langsam im Takt mit dem Kopf zu nicken. »Scheiße, Mann«, sagte er und grinste, als der Text in seinem Kopf zu keimen begann. Seine Augen glänzten, und die Spitze des Joints, den er sich zwischen die Lippen geklemmt hatte, leuchtete. »Wir müssen wieder zu diesem Zeug zurück.« Er rieb sich mit dem Daumen die feuchten Augen, und ich grinste.
Mein sensibler Bruder wurde noch gefühlvoller, wenn er high war.
»Ich meine es ernst, Oliver. Wir müssen wieder …«
Er wurde unterbrochen, als der Wagen abrupt zum Stehen kam und Alex und ich aus unseren Sitzen nach vorn gerissen wurden.
»Was zum Teufel war das?«, fragte ich.
»Sorry, Jungs. Irgendwelche Raser«, sagte Ralph, bevor er wieder aufs Gas trat.
Doch als wir uns wieder entspannt zurücklehnten, explodierte die Welt um uns herum, wie unsere Scheiben beim Einschlag des Wagens, der in unsere linke Seite krachte. Es blieb keine Zeit zu reagieren oder zu verstehen, was genau passierte. Ich wusste nur noch, dass mir alles wehtat. Das Handy flog mir aus der Hand. Meine Brust brannte, mein Blick verschwamm.
Das Dröhnen von Hupen umgab uns. Lautes Rufen hallte in meinen Ohren.
Ich konnte mich nicht bewegen, wie sehr ich es auch versuchte. Ich fühlte mich … Hals über Kopf? Stand ich wirklich Kopf? Lag der Wagen auf dem Dach? War Alex …?
Verdammt.
Alex?
Ich sah nach links, mein Nacken schmerzte schon bei dieser winzigen Bewegung. Da war er, die Augen geschlossen, das Gesicht voller Blut, sein Körper ohne Regung.
»Alex«, keuchte ich. Sein Name brannte in meiner Kehle, als Tränen in meine Augen schossen. »Alex«, wiederholte ich, wieder und wieder, bis mein Kopf fast explodierte.
Ich musste die Augen schließen.
Ich wollte die Augen nicht schließen.
Ich wollte nach Alex sehen.
Ich wollte wissen, dass es ihm gut ging.
Ich wollte …
Fuck.
Ich konnte nicht atmen. Wieso brannte mein Hals so sehr? Ging es Alex gut? Mein Blick verschwamm, während »Retrogate« in meinen Ohren dröhnte.
Ein Stern ist von uns gegangen von Jessica Peppers
Die Musikwelt wird sich von einem weiteren Musiker verabschieden müssen. Leadgitarrist Alex Smith von Alex & Oliver ist im Alter von 27 Jahren gestorben. Er wurde nach einem Autounfall ins Memorial Hospital gebracht, wo man bei seiner Ankunft nur noch seinen Tod feststellen konnte.
Insidersagen,AlexhabediePartywegenseinesBrudersverlassen.Isteszufrüh,OliverdieSchuldzugeben?OliverselbstkammitleichtenVerletzungendavon.Dochwerweißschon,welcheAuswirkungeneinsolcherVerlustaufdenMusikerhabenwird.
Sobald es Neuigkeiten gibt, erfahren Sie es zuerst hier, auf W News.
EILMELDUNG Der Fluch von Club 27 Alex Smith stirbt mit 27 von Eric Hunter
Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain, Amy Winehouse.
Was haben all diese Musiker gemeinsam – abgesehen davon, dass sie Legenden sind? Sie alle verließen diese Welt im zarten Alter von 27 Jahren. Leider ist nun ein weiteres Mitglied ihrem Club beigetreten. Alex Smith wurde gestern Abend nach einem tragischen Autounfall für tot erklärt. Angeblich wurden in seinem Blut Drogen nachgewiesen. Eine Anfrage an Olivers Team blieb bisher unbeantwortet.
Eine solche Tragödie wirft unweigerlich Fragen auf. Was bedeutet das nun für Alex & Oliver? Wird Oliver auch ohne seinen Bruder weitermachen? Und wie kann Oliver einen solchen Verlust jemals überwinden?
Nur die Zeit wird es zeigen.
Sobald es Neuigkeiten in diesem Fall gibt, lesen Sie sie hier bei uns.
Tragödie für Alex & Oliver von Aaron Bank
Alex Smith von Alex & Oliver kam heute Abend bei einem Autounfall ums Leben. Einer der hellsten Sterne am Musikhimmel ist viel zu früh verblasst.
MitAlexSmithhatdieWeltnichtnureinentalentiertenMusikerverloren,sondernaucheinenVerfechterderMenschenrechte.ErhatindieserWeltvielGutesvollbracht,vonseinerStimmeinderBlackCommunitybiszuseinerTeilnahmeandenMarchesforEqualityanvordersterFront.Eristzufrühvonunsgegangen.
Twitter Trending Hashtag #RIPAlexSmith
ShannonE: Dieser schreckliche Moment, wenn der falsche Smith-Bruder stirbt. #RIPAlexSmith
HeavyLifter:OliveristeinbeschissenerLoser.WennerAlexnichtgezwungenhätte,früherzugehen,wäreernochamLeben.SeinTodistalleinOliversSchuld.RIP,besterGitarrist,dendieWeltjegesehenhat.#RIPAlexSmith#FuckYouOliverSmith
BlackJazz4235: Wer zum Teufel ist Alex & Oliver? Klingt wie eine Emo-Band, die in Mamas Keller sitzt und heult #RIPAlexSmith #BullshitMusic
UptownGirlz: Deswegen sagt ihr Nein zu Drogen, Kids. Verfluchte Junkies. #RIPAlexSmith
Das Schicksal von Oliver Smith ist in Gefahr von Eric Hunter
Seit dem Tod von Alex Smith, der einen Hälfte des großartigen Duos Alex & Oliver, sind sechs Monate vergangen, und die Zeit hat es nicht gut mit Oliver Smith gemeint. Wir mussten zusehen, wie Paparazzi und illoyale Angestellte seinen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik öffentlich machten, was dazu führte, dass Oliver die Klinik vorzeitig verließ, bevor er die Hilfe bekommen konnte, die er brauchte. Seitdem hat er sich vollständig zurückgezogen und geht kaum noch aus dem Haus. Insiderinformationen zufolge steht er kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Viele seiner Fans hatten gehofft, Oliver würde sich von seinem tragischen Verlust erholen, doch wie es scheint, können wir unsere Hoffnungen begraben, Leute.
Offenbar hat Oliver seine Gitarre endgültig an den Nagel gehängt. Und seien wir ehrlich, wer will schon Oliver ohne Alex?
Gegenwart
Ich erwachte neben einer Frau, die ich liebte, aber nicht mehr besonders gut leiden konnte. So war es nicht immer gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Cam Jones mich fasziniert hatte. Wir hatten uns gegenseitig inspiriert, tiefsinnige, bedeutungsvolle Gespräche geführt. Ich hatte sie verehrt. Ja ich hatte sogar geglaubt, dass sie eines Tages meine Frau werden würde. Doch mit der Zeit war sie immer mehr zu einer Fremden geworden.
Nur wenige Tage nach Alex’ Tod wurde gemunkelt, dass Cam mich betrogen hatte, doch sie versicherte mir, dass es nicht stimmte. Genau das war der Grund, warum ich mich öffentlich nie zu unserer Beziehung hatte bekennen wollen, denn wenn die Geier ihre Klauen einmal in dein Leben geschlagen hatten, ließen sie erst wieder locker, wenn sie dich in Stücke gerissen hatten.
Cam versicherte mir, dass an den Gerüchten nichts dran war, und ich fragte nicht weiter nach. Es gehörte zum Job der Paparazzi, Lügen zu verbreiten. Außerdem ging es mir nicht besonders gut. Ich hatte nicht die Kraft für eine Auseinandersetzung mit Cam. Ich brauchte sie. Und an den meisten Abenden war sie da und legte sich zu mir. Vielleicht war es selbstsüchtig von mir, aber ich fürchtete mich vor dem Alleinsein.
Meine Gedanken waren zu dunkel für die Einsamkeit.
Cam gähnte, streckte die Arme und schlug mir dabei ins Gesicht. Ich stöhnte und drehte ihren eisigen Fingerspitzen den Rücken zu. Es überraschte mich jedes Mal, wie ein Mensch so kalt sein konnte, obwohl er unter Millionen von Decken lag.
Als ich mich nach links drehte, riss Cam die Bettdecke nach rechts, zog sie mir weg und rollte sich darin ein. Ich brummte wütend vor mich hin und setzte mich schließlich auf die Kante meines riesigen Betts. Mit den Fingerspitzen massierte ich mir die Schläfen. Doch als ich aufstehen wollte, begann die Welt sich immer schneller und schneller hinter meinen Lidern zu drehen.
Kaffee.
Ich brauchte Kaffee und mindestens noch fünfzehn Jahre Schlaf. Ich konnte mich nicht mal mehr daran erinnern, wann ich zum letzten Mal eine Nacht lang wirklich gut geschlafen hatte – abgesehen von den Nächten, die ich im Vollrausch verbrachte. Nüchtern konnte ich gar nicht schlafen. Meine Gedanken waren zu laut.
»Raus aus den Federn, Prinzessin!«, zwitscherte eine Stimme. Ich hob den Kopf Richtung Tür. Mein linkes Auge öffnete sich einen Spaltbreit, und die Gestalt dort wurde langsam scharf.
Im Türrahmen stand Tyler, mit einer Tasse Kaffee und einem Röhrchen Schmerztabletten, und ich dankte Gott für ihn und seine Fähigkeit, immer zu wissen, was ich brauchte, bevor ich überhaupt etwas sagte. Tyler war ein kleiner Mann Ende dreißig ohne Haare, mit dem Körperbau eines Superhelden und einem breiten Bronx-Akzent, den er an die Westküste mitgenommen hatte.
Er trug immer die coolsten Designerklamotten und ruinierte den Look dann mit den grässlichsten Sonnenbrillen, die es auf der Welt gab. Ich meine es ernst, die Dinger sahen aus wie etwas, das jemand aus den Siebzigern vielleicht getragen hätte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich solche Brillen in einer Wiederholung von Welcome Back, Kotter gesehen hatte, einer Serie, die ich früher immer zusammen mit meinem Dad geguckt hatte. Wenn Tyler ein Hund gewesen wäre, dann ein Mix aus Chihuahua und Pit Bull – ein Muskelprotz, der wie ein Wahnsinniger bellte und dabei absolut albern dreinblickte. Aber irgendwie passte es zu ihm.
Ich murmelte etwas, diesmal an ihn gerichtet, und massierte mir weiter die Schläfen.
Cam bewegte sich unter den Laken und gähnte laut, während sie sich aufsetzte und mit den Händen über ihr Gesicht rieb. »Ist der Kaffee für mich?«, fragte sie.
»Ganz sicher nicht«, schnaubte Tyler, hob ihren BH auf und warf ihn ihr zu.
»Freut mich auch, dich zu sehen, Tyler.«
»Wie wäre es, wenn du dich verziehst, Satan«, erwiderte er, wenig amüsiert über meinen wiederkehrenden Fehltritt. Es war kein Geheimnis, dass er und Cam einander nicht ausstehen konnten. Tyler war schon vor den Gerüchten über ihren Seitensprung der Ansicht gewesen, dass sie seiner Aufmerksamkeit nicht würdig war. Er und Alex waren sich einig gewesen, dass Cam mich nur ausnutzte, um noch weiter nach oben zu kommen.
Ich selbst konnte das unmöglich glauben. Irgendwo tief in ihr musste noch immer die liebenswerte Seele von früher leben. Jedenfalls war das die Lüge, die ich mir selbst einredete, um durch den Tag zu kommen.
»Ich hol mir meinen Kaffee selbst. Muss ohnehin los. Ich muss eine Wohltätigkeitsorganisation finden, der ich was spenden kann, um ein bisschen gute Publicity zu bekommen«, erklärte sie.
»Man spendet nicht, um gute Publicity zu bekommen«, murmelte ich.
Sie verdrehte die Augen. »Das ist der einzige Grund, warum man so was macht. Wo sonst läge der Sinn?«
Cam rutschte auf meinem Bett herum, bis sie ihre nackte Brust gegen meinen Rücken drücken konnte. Ihre kalte braune Haut presste sich an meine, und für eine Sekunde taten wir so, als ob unsere Körper sich verbanden, obwohl wir beide wussten, dass wir sie dazu zwangen, wie zwei nicht zusammenpassende Puzzlestücke.
»Hast du mit deinem Manager gesprochen und ihn gefragt, ob ich heute Abend bei deinem Konzert auftreten kann?«, fragte sie und erinnerte mich so daran, dass ich am Abend ein Konzert hatte.
»Ich bin sein Manager, und ich sage Nein«, erklärte Tyler.
Cam schnaubte genervt. »Wann feuerst du den Kerl endlich?«
»Nie«, antwortete ich.
»Hast du das gehört? Nie. Ich warte bloß auf den Tag, an dem er dich endlich feuert«, sagte Tyler.
Cam zischte ihn böse an, und er zischte zurück.
Dann legte sie die Lippen an mein Ohr, und mein Körper rebellierte schon gegen diese winzige Berührung. Ich war mir fast sicher, dass sie Tyler dabei ansah, um ihm irgendetwas zu beweisen. Vielleicht, dass sie es war, die mir sagte, wo es langging, nicht er. »Der Abend gestern war schön«, sagte sie. Ihre Stimme war rauchig und trocken. Schön? Wirklich? Ich hatte zu viel getrunken, um mich an Einzelheiten zu erinnern. Ihr Haar schwang vor und zurück und strich über meinen Nacken. »Ich muss los, ich habe ein paar Termine. Wir sehen uns heute Abend.«
Ich sagte nichts, und sie erwartete auch keinerlei Kommunikation von mir. Cam und ich redeten nicht miteinander. Also, sie redete, ich nicht, was ihr offenbar ganz recht war. Alles, was sie wollte, war jemand, der dasaß und zuhörte, wenn sie sprach. Während sie jemanden brauchte, der ihr zuhörte, brauchte ich jemanden, der bei mir blieb. Nachts lag sie neben mir, und für einen kurzen Moment tat ich so, als wäre die Welt nicht um mich herum zusammengebrochen, und dann fühlte ich mich ein bisschen weniger einsam.
Schon seltsam, wie Einsamkeit Menschen an Orte binden konnte, an denen vielleicht gar kein Platz mehr für sie war.
Mit einem süffisanten Blick, der zeigen sollte, wie viel Kontrolle sie über mich hatte, streifte sich Cam ihr Kleid über. »Bye Tye«, sagte sie, schnappte sich die Kaffeetasse aus seiner Hand und wiegte betont die Hüften, als sie aus dem Zimmer ging.
Tyler verzog angewidert das Gesicht. »Das ist deine alltägliche Erinnerung daran, dass du es nicht nötig hast, dein Bett mit dem Teufel zu teilen«, bemerkte er. »Also komm, beweg dich. Wir müssen los. Du müsstest längst frisch geduscht sein.«
Er ging zu meinem Ankleidezimmer und riss die Türen auf, sodass ein gigantischer Raum zum Vorschein kam, in dem mehr Designerklamotten hingen, als ein Mensch je hätte besitzen sollen. In der Mitte stand, wie in einer Küche, eine riesige Insel mit Schubladen voll teurer Uhren, Designersocken und Schmuck, der mehr wert war als die Hypotheken der meisten Häuser in diesem Land.
»Weißt du, vielleicht sollten wir das Konzert verschieben.«
»Soll das ein Witz sein?« Tyler kam mit den Kleidungsstücken, die er für mich ausgewählt hatte, wieder zum Vorschein. »Du warst es, der sich für den Auftritt heute Abend entschieden hat.«
Das war nicht gelogen. Das Konzert war meine Idee gewesen. Nach all den Artikeln darüber, wie kaputt ich angeblich war, hatte ich das Gefühl gehabt, beweisen zu müssen, dass es mir gut ging – auch wenn es nicht stimmte. Zumal ich ein Team von Leuten hatte, die davon abhängig waren, dass ich weiter Musik machte, von meinem Manager über mein PR-Team bis zu Kelly und Ralph, der den Unfall zum Glück nur leicht verletzt überlebt hatte. All diese Leute brauchten mich, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, und als meine Plattenfirma mir angeboten hatte, solo weiterzumachen, hatte ich meine Chance ergriffen, meinen Leuten den Job zu sichern.
Dennoch hatte ich keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte, alleine weiterzumachen.
Verdammt, ich hatte nicht mal eine Ahnung, wie ich ohne meinen Bruder existieren sollte.
»Das ist eine gute Gelegenheit, Oliver«, bekräftigte Tyler, als hätte er meine Sorgen erraten. »Ich weiß, es wird nicht einfach werden, und wenn ich an deiner Stelle auf die Bühne gehen könnte, würde ich es tun. Aber alles, was ich tun kann, ist, hinter der Bühne zu stehen und dich gemeinsam mit Kelly anzufeuern – die dir übrigens gerade dein Frühstück besorgt. Also, ab unter die Dusche, und wasch dir Chucky von der Haut.«
Ich betrat die angrenzende Dusche, die drei Duschköpfe hatte – die Probleme reicher Leute –, und tat, was Tyler gesagt hatte. Gerne hätte ich weiter mit ihm darüber diskutiert, ob der Auftritt heute Abend wichtig war, denn ehrlich gesagt, sah ich darin überhaupt keinen Sinn. Ich war die Hälfte eines Duos, und seit Alex’ Tod stand für mich fest, dass es für Alex & Oliver keine Zukunft mehr gab.
Die Artikel über mich hatten recht: Wer wollte schon einen Oliver ohne einen Alex?
Während ich unter der Dusche stand, hoffte ich, das Wasser würde meine schrecklichen Kopfschmerzen fortspülen, aber das tat es nicht. Ich hoffte auch, es würde meine lauten Gedanken mit sich nehmen, aber auch das tat es nicht. Schon lange hatte ich keine Möglichkeit mehr gefunden, den Lärm in meinem Kopf ohne Alkohol zu dämpfen.
Ich trat aus der Dusche und sah bewusst nicht in den Spiegel. Die meisten Spiegel im Haus waren mit Tüchern bedeckt. Seit Monaten hatte ich nicht mehr hineingeschaut, denn aus jedem einzelnen starrte mich Alex an.
Was gibt’s zum Frühstück?
Ich durchwühlte auf der Suche nach irgendetwas, das ich Reese zum Essen machen konnte, die Schränke. Wir hatten die letzten Eier und Würstchen zum Abendbrot vertilgt und das Erdnussbutterglas mit einem Spatel ausgekratzt, um ein wenig Nachtisch zu haben, während wir die Bücher aus der Bücherei gelesen hatten.
Denk nach, Emery.
Ich nahm die Brottüte und ein fast leeres Glas Marmelade und stellte beides auf den Küchentresen.
Es gab noch eine Scheibe Brot und die beiden Endstücke, aber Reese weigerte sich, die Endstücke zu essen, ganz gleich, wie viel Marmelade ich draufklatschte.
»Das ist kein richtiges Brot, Mom«, behauptete sie jedes Mal. »Das sind Popostücke. Die essen die Vögel im Park.«
Sie hatte recht, aber an diesem Morgen hatte sie keine Wahl. Ich hatte nur noch zwölf Dollar fünfundvierzig auf dem Konto, und mein Gehalt würde ich erst am nächsten Tag bekommen. Die Hälfte davon ging für die Miete drauf, für die andere kaufte ich günstige Lebensmittel. Seit ich meinen Job als Hilfsköchin im Hotel verloren hatte, waren wir ziemlich knapp bei Kasse.
Seitdem arbeitete ich spätabends in einer winzigen, nur selten gut besuchten Kaschemme namens Seven. Der Job brachte dementsprechend nicht viel ein, und ich wartete noch immer auf die Rückmeldung zu meinem Antrag auf Arbeitslosengeld.
Ich nahm ein Messer und schnitt so viel wie möglich von der Kruste der »Popostücke« weg, um sie wie normale Brotscheiben aussehen zu lassen, bevor ich sie mit Traubengelee bestrich.
»Reese, Frühstück!«, rief ich.
Sie kam aus ihrem Zimmer und lief zum Tisch. Noch während sie auf ihren Stuhl glitt, zog sie murrend die Nase kraus. »Das ist das Popostück, Mom!«, schimpfte sie, gänzlich unbeeindruckt von meinem Gourmet-Frühstück.
»Tut mir leid, Kiddo.« Ich trat zu ihr und wuschelte durch ihre braunen Haare. »Diese Woche ist das Geld ein bisschen knapp.«
»Es ist immer knapp«, stöhnte sie und biss einmal in das Brot, bevor sie es wieder auf ihren Teller fallen ließ. »Hey Mama?«
»Ja, Süße?«
»Sind wir arm?«
Die Frage hallte in meinen Ohren und traf mich wie ein Schlag in den Magen. »Was? Nein, natürlich nicht«, antwortete ich geschockt. »Wie kommst du darauf?«
»Mia Thomas von der Ferienbetreuung hat gesagt, nur arme Leute kaufen bei Goodwill, und da kaufen wir doch immer unsere Anziehsachen. Und Randy kriegt immer McDonald’s zum Frühstück, aber du kaufst mir nie McDonald’s. Und, und, und«, rief sie aufgeregt, als machte sie sich bereit, den bedeutendsten Beweis unserer Armut vorzubringen, »du hast mir Popostücke gegeben!«
Ich lächelte ihr zu, doch mein Herz zerbrach in tausend Scherben – was mein Herz seit fünf Jahren, seit Reese auf die Welt gekommen war, häufig tat. Es zerbrach, weil ich jeden Tag das Gefühl hatte, ihr gegenüber zu versagen. Nicht gut genug zu sein und ihr nicht das Leben bieten zu können, das sie verdiente. Eine alleinerziehende Mutter zu sein, war das Schwierigste, das ich in meinem Leben hatte tun müssen, aber ich hatte keine Wahl. Reese’ Vater würde garantiert niemals eine Rolle in ihrem Leben spielen, daher hatte ich gelernt, allein zurechtzukommen.
Doch obwohl ich alles daransetzte, irgendwie über die Runden zu kommen, schienen wir nur immer schneller und schneller den Berg hinunterrollen. Ich fühlte mich jeden Tag, als müssten wir jeden Augenblick vor eine Wand fahren.
Natürlich war ich nicht glücklich darüber, dass das Geld in letzter Zeit so knapp war, aber in der Bar, in der ich arbeitete, war nicht viel Betrieb, was bedeutete, dass es auch nicht viel Trinkgeld gab, und die Vorstellungsgespräche, zu denen ich gegangen war, hatten bisher zu nichts geführt. Ich war mit der Miete im Verzug und hatte Reese noch nicht gesagt, dass ich die bald fällige Anzahlung für die Ferienbetreuung im nächsten Sommer nicht würde aufbringen können, was bedeutete, dass sie nicht teilnehmen konnte. Es würde Reese das Herz brechen, und mir ebenfalls, weil ich ihr das antun musste. Ob unseren Kindern wohl bewusst war, dass unsere Herzen mindestens genauso litten wie ihre, wenn wir gezwungen waren, ihre zu brechen?
Ob es wohl jemals wieder bergauf gehen würde?
Ich betrachtete meine Tochter, die mir so unglaublich ähnlich sah.
Ein paar Charakterzüge musste sie auch von ihrem Vater geerbt haben, aber ich war froh, dass ich sie nicht sah. Ich sah immer nur das wunderschöne, einfach perfekte kleine Mädchen.
Und ihr Lächeln erinnerte mich an meines. Oder vielmehr an das meiner Mutter. Ebenso das tiefe Grübchen in ihrer linken Wange.
Ich dankte Gott für dieses Lächeln.
Reese hatte auch meine schlechten Augen geerbt, weswegen ein paar dicke Brillengläser auf ihrer Nase saßen. Oh, wie sehr ich dieses Gesicht liebte. Ich konnte mich kaum mehr an die Zeit erinnern, in der sie nicht Teil meines Lebens gewesen war.
Könnt ihr euch vorstellen, wie furchtbar es war, jeden Tag das Gefühl zu haben, ihr nicht gerecht zu werden? Jedes Mal, wenn Reese lächelte, heilten die Risse in meinem Herzen ein wenig. Sie war mein Engel, der Sinn meines Lebens. Ihre Liebe heilte sämtliche Brüche in meinem Herzen.
Ich ging zu ihr und raufte ihr erneut die ohnehin zerzausten braunen Haare, die dringend eine Haarkur brauchten und mal ausgiebig gebürstet werden mussten, um die Knoten wieder herauszubekommen, aber meine Hauptsorge im Augenblick galt dem Abendessen. Es war eine heimliche Sorge, die im Stillen an mir nagte und von der Reese nichts erfahren durfte. »Du darfst nicht alles glauben, was die Leute erzählen, Reese.«
»Auch nicht Ms Monica und Ms Rachel und Ms Kate?«, rief sie, aufgeregt über die Aussicht, die Anweisungen ihrer Gruppenleiterinnen ignorieren zu dürfen.
»Alle außer deinen Gruppenleiterinnen.«
»Also«, sie zog eine Augenbraue hoch und griff nach ihrem Brot, »sind wir nicht arm?«
»Mmh, lass mal sehen. Hast du ein Bett zum Schlafen?«
Sie nickte langsam. »Ja.«
»Und ein Haus zum Wohnen?«
»Mhm.«
»Ein Auto, mit dem wir uns fortbewegen können?«
»Ja.«
»Und selbst wenn es nur die Popoenden vom Toast sind, hast du immer etwas zu essen?«
»Ja.«
»Und hast du eine Mama, die dich lieb hat?«
Sie verzog den Mund zu ihrem typischen kleinen verlegenen Grinsen. »Ja.«
»Dann können wir unmöglich arm sein. Wir haben etwas zum Anziehen, ein Dach über dem Kopf, ein Auto, und wir haben uns lieb. Niemand kann arm sein, wenn er geliebt wird«, sagte ich und meinte es auch so. Als Reese in mein Leben gekommen war, hatte ich gelernt, dass der wahre Reichtum in ihrer Liebe bestand.
Und mit ihrer Liebe würde ich niemals die Hoffnung verlieren.
Reese legte die Stirn in Falten und sah mich ernst an. »Willst du damit sagen, dass Mia und Randy Käse erzählen?«
»Oh ja. Jede Menge Käse.«
»Mmh, gebackener Käse klingt gut«, sagte sie und biss in ihr Brot. »Können wir den zum Abendbrot machen?«
»Mal sehen, Schatz. Vielleicht.«
Es klopfte an der Wohnungstür. Ich stand auf und ging in den Flur. Als ich die Tür öffnete, sah ich ein bekanntes freundliches Gesicht vor mir.
»Guten Morgen, Abigail«, begrüßte ich lächelnd unsere Nachbarin. Abigail Preston wohnte, seit Reese und ich vor über fünf Jahren eingezogen waren, in der Wohnung gegenüber. Sie war Anfang sechzig, lebte allein und verhielt sich mir und Reese gegenüber wie ein absoluter Schatz. Wenn ich abends arbeiten musste, stand sie immer bereit, um auf Reese aufzupassen, ohne jemals etwas dafür zu verlangen. Ich hatte einmal versucht, ihr Geld zu geben, doch sie hatte nur erklärt, niemand sollte einem anderen einen Gefallen tun, weil er etwas dafür erwarte.
»Man tut Gutes um des Guten willen, Emery. Nur so kann die Welt funktionieren – weil es gute Menschen gibt, die Gutes tun, um Gutes zu tun.«
Und Abigail war großartig.
Sie war nicht nur nett, sie hatte früher als Therapeutin gearbeitet, was mir vor fünf Jahren als junger Mutter zugutegekommen war. Sie hatte mir durch meine Sorgen und Ängste geholfen, ohne auch nur einen Cent dafür zu nehmen.
Einmal hatte ich sie gefragt, warum sie hier in unserem Haus wohnte, wo sie sich doch sicher auch eine schönere Wohnung leisten konnte, und die Geschichte ihrer Entscheidung gab meinem Herzen mehr als genug Gründe zu lächeln. In dieser Wohnung hatte sie zuerst mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann gelebt. Nach seinem Tod hatte Abigail sich auf die Suche nach einer neuen Bleibe gemacht, und als sie gesehen hatte, dass ihre alte Wohnung frei war, hatte sie sofort erkannt, dass sie dorthin zurückkehren wollte.
Sie sagte, dies sei nicht bloß eine Wohnung, es sei die Geschichte ihres Lebens, und ohne diese Geschichte wäre sie Reese und mir niemals begegnet.
Was für ein Glück, dass es Lebensgeschichten gab, die sich mit denen anderer Menschen verbanden.
»Hallo Liebes«, sagte sie und schenkte mir ihr freundlichstes Lächeln. Sie war von Kopf bis Fuß in leuchtendes Gelb gehüllt. Ihr silbergraues Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre Brille hing ihr an einer Kette um den Hals. Sie hielt eine Pappschachtel in der Hand. »Ich dachte, ich bringe euch die restlichen Doughnuts vom Abendessen rüber. Ich hatte einen richtigen Heißhunger auf Doughnuts, aber ich kann unmöglich zwölf Stück essen, also dachte ich, ich bringe euch die Übrigen.« Sie öffnete die Schachtel, um mir die süßen Kringel zu zeigen.
Sie konnte es nicht wissen, aber sie kam immer genau im richtigen Moment.
»Doughnuts!«, schrie Reese und kam an die Tür gerannt, um Abigail die Wunderkiste abzunehmen. Mir ist bewusst, dass kaum jemand eine Schachtel mit Doughnuts als Wunderkiste bezeichnen würde, aber wenn der Kühlschrank leer ist und der nächste Scheck noch eine Weile auf sich warten ließ, gleicht eine Schachtel Doughnuts einem Geschenk des Himmels.
Reese stürmte zum Sofa, um sofort zuzulangen, und ich rief ihr nach: »Was sagen wir, Reese?«
»Danke, Abigail!«, rief sie mit vollem Mund.
»Nur einen, Reese. Ich meine es ernst.«
Diese Doughnuts würden uns bis zu meinem Scheck morgen Abend über Wasser halten.
Ich drehte mich wieder zu Abigail um und sah sie aus schmalen Augen an. »Schon komisch, dass noch alle zwölf übrig sind, wo du doch gestern Abend so Heißhunger auf Doughnuts hattest.«
Sie lächelte verschmitzt. »Anscheinend war einer mehr drin als sonst.«
Aber sicher doch.
Nur eine gute Frau, die gute Dinge tut.
Ich trat von einem Bein aufs andere und verschränkte die Arme vor der Brust. »Danke. Du hast ja keine Ahnung, wie dringend wir das heute Morgen brauchen.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich denke, ich kann es mir vorstellen.« Sie zog einen Zettel hervor, den sie bisher hinter dem Rücken verborgen hatte, und reichte ihn mir. »Das hier ist fälschlicherweise in meinem Briefkasten gelandet.«
Ich nahm den Zettel und las.
Die Miete war noch nicht bezahlt worden.
Mal wieder.
Durch den Verlust meines Jobs und ein paar gesundheitliche Probleme, unter denen Reese litt, war ich mittlerweile seit zwei Monaten im Verzug. Ed, der die Wohnungen verwaltete, war so nett gewesen, die Miete zu stunden, aber dem Wortlaut seiner Nachricht zufolge hatte ich seinen Geduldfaden auf eine harte Zerreißprobe gestellt. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Er machte auch nur seinen Job, und es hatte mich schon überrascht, dass er mich bei zwei Monaten Mietrückstand noch nicht vor die Tür gesetzt hatte.
Ich hatte erlebt, wie Ed Leute rausgeschmissen hatte, die nur wenige Wochen im Rückstand gewesen waren. Er war ein Halsabschneider, der nie bellte, sondern lieber gleich zubiss. Nur bei Reese und mir nicht. Trotzdem war mir absolut bewusst, dass wir uns in einer Grauzone bewegten und es nicht länger so weitergehen konnte. Zumal es nichts Schlimmeres gab als das Gefühl, einem anderen Menschen etwas schuldig zu sein. Ich wollte keine Schulden haben, weder um Reese’ noch um meinetwillen. Doch im Augenblick war ich Ed dankbar. Er hatte eine Schwäche für Reese und sagte immer, ich würde ihn ein wenig an seine Mutter erinnern, die ebenfalls alleinerziehend gewesen war. Vielleicht sah er in meiner Tochter sich selbst.
Trotzdem konnte es so nicht weitergehen. Ich musste einen Weg finden, ihm innerhalb der nächsten Tage fast zweitausend Dollar zu zahlen.
Ich atmete tief ein und riss mich zusammen, um nicht loszuheulen. Es war ein endloser Kampf. Wenn ich ein Problem löste, tauchte sofort ein neues auf.
»Wenn du Geld brauchst, Emery …«, setzte Abigail an, doch ich schüttelte hastig den Kopf.
Ich hatte mir schon einmal Geld von ihr geliehen und brachte es einfach nicht über mich, es noch einmal zu tun. Ich konnte mich nicht immer nur darauf verlassen, dass andere mir aus der Klemme halfen. Ich musste endlich auf eigenen Füßen stehen. Oh, wenn ich nur gewusst hätte, wie ich besser laufen konnte.
»Es ist okay, wirklich. Es wird sich schon klären. Irgendwann findet sich für alles eine Lösung«, sagte ich.
»Du hast recht. Aber solltest du jemals ein wenig Luft brauchen, um über den nächsten Tag zu kommen, dann sag mir Bescheid.«
Und in dem Moment brach mein Herz und heilte zugleich. Die Tränen, gegen die ich jeden Tag ankämpfte, liefen über meine Wangen, aber ich wandte mich verlegen ab, denn ich schämte mich für meine Heulerei, für meine Probleme.
Doch das ließ Abigail nicht zu. Sie wischte die Tränen fort und schüttelte den Kopf. Und dann sagte sie einen zugleich einfachen und bedeutsamen Satz: »Du bist nicht schwach, du bist stark.«
Du bist nicht schwach, du bist stark.
Woher wusste sie, was ich hören wollte?
»Danke, Abigail. Wirklich. Du bist eine Heilige.«
»Keine Heilige. Eine Freundin. Dabei fällt mir ein, ich muss los, ich bin mit einer Freundin zum Kaffee verabredet. Ich wünsche euch einen schönen Tag!« Sie drehte sich um und hüpfte davon wie die gute Fee, die sie war.
Ich lief zu Reese und nahm ihr die Schachtel mit den Doughnuts aus der Hand. Zweieinhalb fehlten bereits, doch ich war, ehrlich gesagt, überrascht, dass es nicht mehr waren.
»Tut mir leid, Mom. Ich konnte einfach nicht anders. Sie sind so lecker! Nimm dir auch einen!«
Ich lächelte und bekam schon von dem köstlichen Duft einen Zuckerrausch. Doch ich lehnte ab, denn wenn ich keinen Doughnut aß, hatte Reese später einen mehr. Ich hatte schnell gelernt, dass Mutter zu sein bedeutete, zu sich selbst Nein zu sagen, damit man seinem Kind später Ja sagen konnte.
»Im Moment nicht, Schatz. Und jetzt lauf und wasch dich. Wir müssen los, sonst kommst du zu spät.«
Sie sprang vom Sofa und lief ins Badezimmer.
In der Zwischenzeit las ich noch einmal die Nachricht wegen der Miete und suchte verzweifelt nach irgendwelchen Kosten, die wir noch einsparen konnten.
Mach dich nicht verrückt, Emery. Du wirst eine Lösung finden. Hast du immer, und wirst du auch immer.
Das glaubte ich wirklich, denn ich glaubte an Statistik, und die war auf meiner Seite. Wenn ich an die härteste Zeit meines Lebens dachte, als ich mir sicher gewesen war, ich würde es nicht schaffen, hatte ich es am Ende des Tages doch irgendwie geschafft.
Unsere Situation war nicht annähernd so schlimm wie vieles, das ich zuvor bereits erlebt hatte. Also würde ich den Kopf nicht hängen lassen, sondern weitermachen. Ich hockte nicht in einer finsteren Höhle, ich saß lediglich unter einem wolkenverhangenen Himmel.
Irgendwann würden die Wolken aufbrechen, und die Sonne würde wieder hervorkommen. Die Statistik lag immer richtig – jedenfalls hoffte ich das.
Zudem gab es mir Hoffnung zu wissen, dass die Sonne niemals ganz unterging; sie zeigte sich nur nicht immer. Und bis die Wolken sich auflösten, hielt ich mich an die Musik. Manche Leute machten Yoga oder trieben Sport, um den Kopf frei zu bekommen. Andere gingen spazieren oder schrieben Tagebuch. Bei mir war es die Musik, die mich wieder frei atmen ließ. Sie sprach zu mir auf eine Weise, wie nichts sonst auf dieser Welt, und erinnerte mich daran, dass meine Gefühle es wert waren, gefühlt zu werden, und dass ich mit meinen Ängsten nicht allein war. Irgendwo da draußen gab es jemanden, der die gleichen Nöte hatte.
Allein der Gedanke, dass ich nicht die Einzige war, die Traurigkeit empfand, spendete mir Trost. Oder dass meine Freude nicht allein mir gehörte. Irgendwo da draußen gab es einen schönen Fremden, der die gleichen Songs hörte wie ich und dabei zugleich glücklich und traurig war.
Als wir die Wohnungstür öffneten, fanden wir eine Papiertüte auf unserer Fußmatte. In ihr befand sich eine bunte Mischung Lebensmittel sowie ein Zettel, auf dem stand: Dachte mir, ihr beide habt vielleicht Lust, eine Runde Chopped zu spielen. Die Nachricht war eindeutig von Abigail. Es war nicht das erste Mal, dass ich eine Tüte mit Lebensmitteln vor meiner Tür fand. Chopped war eine Fernsehsendung, die Reese und ich oft gemeinsam mit Abigail sahen. Es ging darum, aus einer augenscheinlich wild zusammengewürfelten Sammlung an Zutaten ein Gericht zuzubereiten.
Abigail wusste, dass ich davon träumte, eines Tages Köchin zu werden, und die Tüten, die sie hin und wieder vor unsere Tür stellte, dienten nicht allein dazu, uns körperlich zu sättigen, sondern auch meine Seele zu nähren. Ich warf einen Blick hinein und entdeckte ein Baguette, einen kleinen Honigschinken, vier Süßkartoffeln und Erdnussbutter.
Und zwischen alldem lag noch ein Zettel mit Abigails therapeutischen Gedanken: Um Hilfe zu bitten bedeutet nicht, dass man versagt hat.
Und schon lugte die Sonne zwischen den Wolken hervor.
»Reese! Wir müssen los!«, rief ich und sah auf die Uhr. Eilig lief ich noch einmal in die Küche und legte den Schinken in den Kühlschrank. Keine Zeit für Dankbarkeitstränen. Meine einzige Aufgabe bestand jetzt darin, Reese vor neun bei der Ferienbetreuung abzuliefern.