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Der mit Oldekop angeredete Gast drückte den Kopf nach vorn zwischen die Schultern und machte mit den Händen eine theatralische Geste. »Gnädigste Frau, umsonst ist nur der Tod; das heißt, selbst das ist gelogen. Sie haben ja gehört, was ich selber bar ausgelegt habe –« »Ah bah! Ueberschätzen Sie meine Leichtgläubigkeit nicht zu sehr –« »Die verschiedenen Reisen, die ich in Wahrnehmung Ihrer Interessen machen mußte, die kostspieligen Recherchen durch Mittelspersonen, die Bestechung der – Sie wissen ja –« Sie sah ihn groß und kalt an ...
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Seitenzahl: 284
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Roman
idb
ISBN 9783963751271
Auf dem Jungfernstieg in Hamburg drängte sich eine vielköpfige Menge, und vor dem Alsterpavillon waren die Tische trotz der vorgerückten Jahreszeit dicht besetzt.
Der Herbst schien mit dem Sommer ein Tauschgeschäft geschlossen zu haben. Hatte der heißeste Monat des Jahres, der August, eine Reihe von Tagen gebracht, an denen das Thermometer auf zehn oder gar acht Grad über Null herabging und das Barometer ständig Regen, der in Strömen floß, ›phrophezeite‹, so lachte Ausgang Oktober schon eine Woche lang die Sonne mit ausgelassener Sommerfreude vom lichtblauen Himmel herab und täuschte einen Spätsommer vor, der trotz der notwendig beschränkten Zeitdauer mit Jubel begrüßt und in heiterer Sorglosigkeit ausgenützt wurde.
Die Damen hatten vielfach noch die Sommergewänder aus den Schränken hervorgeholt, und die Winterüberzieher der Herren hatten noch einmal dem leichten Sommerpaletot weichen müssen. Selbst die Sonnenschirme kamen vorübergehend wieder zu Ehren und belebten mit ihren freudigen Farben die herbstkahle Straße und den Strom der hin und wieder flutenden Menschenmenge.
Die Binnenalster war belebt, und die schmucken Dampfer machten ein Geschäft wie im Sommer. Buntbewimpelte Boote schossen der Lombardsbrücke zu und unter dieser durch in die Außenalster, nach der Ulenhorst, nach Eppendorf und Harvestehude.
Herbstlich waren allein die Bäume und Anlagen rings um die Alster herum und vor den schloßartigen Villen an der Außenalster die Gärten, deren strohumhüllte Rosenstöcke sich im lachenden Sonnenschein wunderlich genug ausnahmen. Die Marquisen der Veranden waren bereits in die Winterquartiere gewandert, und der strahlende Himmel grüßte durch die kahlen Gerippe der Eisengestelle foppend in die Fenster.
»Man möchte wähnen, Petrus sei mit seinem Wetterbuche ganz und gar in Konfusion geraten,« bemerkte eine bejahrte Dame in einem der Villenschlösser und ließ den Blick der kalten grauen Augen von dem ihr gegenübersitzenden Herrn durch das Fenster schweifen.
»Es geht eben nicht alles, wie man berechnet, oder wie man glaubt, voraussetzen zu sollen,« antwortete der Herr mit etwas hartem Baß und mit einem bedauernden Achselzucken, das seinen Worten eine der Dame verständliche Beziehung gab.
»Das weiß Gott, Oldekop!« pflichtete die Dame bei, stand auf und fuhr mit dem Finger über die Onyxplatte, einer kostbaren, mannshohen Stehlampe. Sie verzog die Lippen, drückte auf eine an der Gaskrone angebrachte elektrische Klingel und sagte zu dem alsbald eintretenden Mädchen: »Anna, das Zimmer wird im Augenblick frei, stäuben Sie dann ab. Ich werde schellen.« Das Mädchen zog sich mit einem Knix zurück, und die Hausfrau wandte sich wieder an ihren Gast. »Brechen wir ab. Vor einem Jahre waren wir auf demselben Stande wie heute, eröffneten Sie mir genau dieselben Aussichten und stellten Sie die gleichen Anforderungen an meine Kasse. Immer und ewig Geld! Schaffen Sie mir ein Ergebnis, dann sprechen wir uns wieder. Bis dahin: nicht einen Pfennig mehr!«
Der mit Oldekop angeredete Gast drückte den Kopf nach vorn zwischen die Schultern und machte mit den Händen eine theatralische Geste.
»Gnädigste Frau, umsonst ist nur der Tod; das heißt, selbst das ist gelogen. Sie haben ja gehört, was ich selber bar ausgelegt habe –«
»Ah bah! Ueberschätzen Sie meine Leichtgläubigkeit nicht zu sehr –«
»Die verschiedenen Reisen, die ich in Wahrnehmung Ihrer Interessen machen mußte, die kostspieligen Recherchen durch Mittelspersonen, die Bestechung der – Sie wissen ja –«
Sie sah ihn groß und kalt an.
»Ich weiß nichts!«
»Nein, natürlich nicht. Aber so unter vier Augen – ich meine, ich muß Ihnen doch belegen, welche Unsummen –«
»Ich will nichts mehr hören.«
Er verlegte sich aufs Bitten.
»Um alles, gnädige Frau – wenn ich nicht selber ein so großes Interesse an der Lösung meiner Aufgabe gewonnen hätte – ich würde mich nicht demütigen. Sie nicht nochmals um einen Vorschuß angehen. Eintausend Mark – es sollen die letzten sein, ich verspreche es Ihnen.«
Sie kniff die Augen halb zusammen und blinzelte ihn von oben herab an. Dann hob sie die Rechte und pochte sich mit dem mageren Mittelfinger gegen die Stirn.
»Was ist eine solche Summe für Sie,« suchte er sie zu überreden, »noch dazu, wenn dadurch ein Resultat endlich in greifbare Nähe gerückt wird!«
»So, mein Verehrtester?« fragte sie ironisch und ohne den lauernden Blick von seinem bartlosen, feistrunden Gesicht zu wenden. »Gestatten Sie mir die Freiheit,« fuhr sie mit schwüler Höflichkeit fort, »in doppelter Beziehung anderer Meinung zu sein, als Sie. Die Summen, die ich Ihnen geopfert habe und die Sie neu von mir zu erlangen suchen, wachsen recht hübsch an, und wenn das so fortginge, das Ende möchte ich sehen! Und dann, mein Werter, und sehr in der Hauptsache: wozu und aus welchem Grunde soll ich mich immer wieder zu diesen Ausgaben von wirklich ungemessener Höhe versteigen? Ist das Interesse an der möglichen Erreichung des gesteckten Zieles ganz allein auf meiner Seite, oder auch nur vorwiegend, und nicht zum großen, zum erdrückenden Teil auf der Ihren? Sehen Sie denn mit Ihrer Winkeladvokatenschlauheit – Pardon! – nicht ein, daß für mich lediglich ein ideeller, für Sie selbst aber ein für Ihre ganze Lebensstellung entscheidender pekuniärer Vorteil erwächst, wenn Sie das erreichen, was Sie bisher allerdings vergeblich angestrebt haben? Oder halten Sie sich mir so überlegen, mir zuzutrauen, daß ich nicht so gut und mit halbwegs treffender Kombination vorausschaue, wie Sie? Sie irren sich, Sie irren sich von Grund aus. Lassen Sie mich reden! Ich muß einmal von der Leber heruntersprechen, was mich schon lange gedrückt und verstimmt hat, und Ihnen einen Spiegel vorhalten, in dem Sie endlich erkennen lernen, was unseren – Ihren und meinen! – Interessen gemeinsam ist. Bemühen Sie sich, einmal in den Tag hinaus zu sehen: so klar wie der wolkenlose Himmel steht die Erkenntnis der Lage vor mir, und wenn sie mir verspätet aufgegangen ist wie diese aus der Zeit gefallenen Sommertage – sie ist noch recht gekommen, und ich werde sie mir nicht entschwinden lassen, wie das Gleißen da draußen. Es gilt ja nicht als höflich, wenn man mit sich selbst beginnt – ich fange trotzdem mit mir an und höre mit Ihnen auf, weil ich das für logisch und für Sie am wirkungsvollsten halte. Also ich! Ich! Ich habe eine Nichte, eine Schulmeisterstochter, hübsch, charaktervoll, tüchtig – na, und was ›man‹ sonst ihr noch nachrühmt – in irrigen Anschauungen aufgewachsen, in verkehrte Bahnen gelenkt, in Kreisen lebend, die für sie nicht passen, das heißt ganz und gar nicht – wie ich es auffasse! Diese Nichte will ich zu mir nehmen, das wilde Reis veredeln, aus der Bauernöde sie in die Kultur verpflanzen ... Und der Unverstand setzt meinen Wünschen – den besten und selbstlosesten – ein Nein entgegen, das so thöricht ist, wie das verblendete Mädchen selbst. Der Vater ist gestorben, die Mutter ist ihm gefolgt – der Sprößling der Liebe und Armut steht verlassen und allein. Aber der Bettlerstolz ist der Dirne geblieben. Die hilfreich gebotene Hand der einzigen Schwester ihres Vaters weist ihr Eigensinn zurück. Den Reichtum, der dem Vater um seiner ›Liebe‹ willen versagt wurde, will sie nicht teilen! Zu dem Vormund flüchtet sie, dem Bauern, und einem Habenichts schenkt sie – immer die gleiche Albernheit – ihre ›Liebe‹! Magddienste verrichtet sie, und als Bäuerin Magd zu bleiben ihr Leben lang, ist ihr Ideal! Alle Vorstellungen bleiben umsonst; ob ich schreibe, ob Sie persönlich Vernunft predigen – das wird gelesen und in den Wind geschlagen, das wird angehört, und geht zum einen Ohr hinein, zum andern hinaus! Hunderte werden geopfert, der Vergangenheit des Burschen nachzuspüren, um irgend einen Haken zu entdecken, und aber hundert, um ihn in eine andere Schlinge zu ziehen – das ehrenwerte Paar hält zusammen wie die Kletten! Ich werfe das Geld mit vollen Händen hinaus, und wir kommen nicht vom Fleck. Das halte aus, wer da will. Ich hab's satt, bis hierher – bis an den Hals! Es ist nichts erreicht, es wird nichts erreicht werden. Auf dem Wege, den wir bisher eingeschlagen haben, gewiß nicht. Die Hoffnung, die ich ursprünglich hegte, in der Sie mich bestärkten, aus der heraus Sie mich plündern konnten – fahren Sie nicht auf, Detlev Oldekop, das Theater nützt nichts – ist abgeschnitten und aus, aber reinweg aus. Es wurmt mich, es kränkt mich, es verbittert mir das Leben – aber es zwingt mich zum Entsagen. Ich habe das Gute gewollt – und kann es nicht erreichen. Ein Glauben und Wünschen ist zu Ende, ein Phantom, ein Traum verflogen – ich habe damit verloren, was ich verlieren konnte. Schluß! und neues Bild! Ich habe von mir gesprochen, ich komme zu Ihnen!«
Sie hatte sich fast übersprudelt. Jetzt holte sie Atem und fuhr dann langsam und überlegend, oft ihre Rede durch eine wirkungsvolle Pause unterbrechend, fort:
»Also zu Ihnen! Was kann ich Ihnen sagen, was Sie nicht längst selber wüßten! Von dem Sie nur angenommen haben, daß es meiner Einfalt verschlossen sein möchte. Einfältig –! Nein, Detlev Oldekop! Indifferent, der Selbstkraft meiner Mittel, der Vernunft – oder Schwäche – der Menschen vertrauend – aber nicht blind gegen Sie und Ihr Werk – und nicht gegen den Ansporn, den doppelten und mächtigen der Selbstsucht, der Sie vor allem antrieb, mir behilflich zu sein und sich selber den größten Dienst zu erweisen! Ich kenne Ihre Verhältnisse; sie sind derangiert; Sie bewahrten sich mit meinen Mitteln glattweg vor dem Ruin. Das das Erste. Das Zweite, Größere: Sie stritten den Verzweiflungskampf um den Ausgang der Zukunft! Warten Sie, ich werde deutlicher. Meine Nichte ist mir – und Ihnen! – an einem Platze, der uns beiden nicht genehm, der für mich unangemessen, für Sie – gefährlich ist! Der Vormund des Mädchens ist Ihr Bruder, das Mädchen Ihres Bruders Liebling – und Ihnen: ein drohender Konkurrent um des Bruders einstiges Erbe! Hans Oldekop ist kinderlos, seine Frau längst in eine andere Welt hinübergegangen – er hat keinen Erben des Leibes und keinen der Pietät: er kann verfügen, wie er will! Sie sind Rechtskonsulent: Sie wissen so gut wie ich, daß Sie irgend einen rechtlich gegründeten Einspruch nicht erheben können, wenn Ihr Bruder Sie übergeht, wenn er – ein Beispiel, und es soll gar nicht so fern liegen – das Mädchen, das mit ihrer Pflege seine alten Tage verschönt, an Ihrer Statt zum Erben einsetzt.«
Sie hob die bohrende Stimme zu scharfer Betonung:
»Entfernen Sie die Fremde aus des Bruders Heim, in erster Linie sich selbst, in zweiter mir zum Nutzen!«
Er stand auf.
»Gnädige Frau, schlagen Sie meine Bitte nicht ab. Ein paar hundert Mark. Ich kämpfe für mich, ja; aber ich muß die Mittel haben, diesen Kampf für mich und Sie fortzusetzen – doch, für Sie auch. Und ich habe die Zuversicht, endlich durchzudringen ...«
»Dann kommen Sie wieder. Für heute – ich danke, Herr Oldekop.«
»Also nicht!« fuhr er auf.
Sie neigte kühl verabschiedend das Haupt.
Er verbeugte sich grimmig.
»Hochnase!« keuchte er, als er die breite Freitreppe unsicher hinabstieg.
Die Villa gehörte zu Harvestehude und war nur durch den herrschaftlichen Garten, den Fahrweg und einen schmalen Wiesenstreifen von der Außenalster getrennt.
Die Spätmittagsonne rief auf der glitzernden Wasserfläche ein so blendendes Leuchten hervor, daß es Detlev Oldekop belästigte und er vorzog, in eine Nebenstraße abzubiegen.
Es kochte in ihm.
Auf diese Frau hatte er alle Hoffnung – die sich anklammernde Hoffnung einer verzweifelten Lage – gesetzt, und nun hatte er das Resultat: ein ganzes in Trümmer gestürztes Luftschloß und nicht einen Stein, sich damit zu ersäufen. »Komm in Not,« murmelte er vor sich hin, »und du hast niemanden, der dir hilft. Freunde, Freunde – ah bah! Und wenn sie die Taschen voll haben – so lange man mitmachen kann: ›angenehm‹, ›mein Lieber‹, ›der Ihre‹, ›treu der Deine‹, und des Phrasenkrams mehr; klopft man mit dem Finger der Armut an ihre Thüren, so verschließen sie eiligst das Haus und die Hände. Alle, auch die, denen man einst nützlich gewesen ist, und die, wenn sie reich sind, erst recht. So lange man ihnen dienen kann, ja; ist's aus damit, oder stockt's – fort mit Schaden. Diese Frau Wichbern, die so reich ist, daß sie nicht weiß, was sie mit ihrem Mammon anfangen soll, und die mich mit ein paar Tausenden, für sie eine Lumperei, aus aller Patsche ziehen könnte – jawohl! – Der alte Drache redet sich die Zunge aus, um nicht blechen zu müssen ...«
Er hatte einen Platz mit Anlagen erreicht und spähte nach einer Bank aus. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, ließ sich nieder und zermarterte sein Gehirn mit dem Suchen nach einem Ausweg. Rat mußte er schaffen, Rat um jeden Preis, wenn nicht, um den Zusammenbruch aufzuhalten, so zur Befriedigung der Notdurft des Lebens. Sein bißchen Eigentum – pah, das war sicher gestellt, das sollten die Gläubiger, die wie hungrige Wölfe hinter ihm her waren, ihm wohl lassen. Dafür war er Rechtskundiger, Rechtsverdreher, wenn es sein mußte. Aber die Not, die Not konnte ihn, oder die Seinen, zwingen, ein Stück nach dem andern auf Nimmerwiedersehen wegzutragen.
Er seufzte schwer. Er hatte noch an zwei Freunde geschrieben, die ihm bis vor kurzem nahe gestanden hatten, an die er zu allerletzt herangetreten war. An den einen freilich schon mit einem Wechsel. Wenn sie willfahren würden – unverhofft! Thorheit –! Hilf dir selbst, sonst hilft dir kein Gott ... Immerhin, es war eine Möglichkeit, eine schwache, aber doch eine Möglichkeit. Ihre Antwort konnte schon zu Hause sein – mochte der Himmel ein Einsehen haben!
Frau Wichbern – ja, sie war eine kluge Frau. Sollte sie einen Beirat gefunden haben, der ihr ein Licht aufgesteckt, oder war es im Schlaf über sie gekommen, was sie heute aus seiner eigenen Seele herausgelesen hatte? Ja, Madame, Sie sind im Recht! Sie können Ihr Geld behalten, ich muß doch für Sie arbeiten, wenn ich nicht auch das letzte, das Erbe, mir wegschnappen lassen will. Die verdrehte Dirne da, ich gönne sie Ihnen, und wenn sie zum Teufel fahren könnte, wär's mir noch lieber. Bei Ihnen würde sie freilich auch keinen Himmel finden, wenigstens keinen Herrgott. Aber mir wäre sie aus dem Wege – so oder so. Ja, es geht merkwürdig zu auf der Welt. Den Sohn und Bruder konnte man verhöhnen und verstoßen, der so thöricht war, ein armes Weib an sein Herz und in sein Haus zu nehmen; aber den Tod konnte man nicht von der Thür weisen, der die eigenen Kinder holte eins nach dem andern und keine übrig ließ aus der ganzen Sippschaft, als die Tochter des zum Schulmeister degradierten Wichbern, des einzigen aus dem reichen Hause, der ein Herz im Leibe gehabt und darnach gehandelt hatte in guten und minder guten Tagen. Nun holen Sie sie doch mit Ihrem Mammon, Madame, daß sie nicht zu erbschleichen braucht und mit dem verliebten Bauerntölpel nicht neue Schande in das Haus der reichen Wichbern trägt. Nur zu, Madame, nur zu!
Er lachte höhnisch und setzte seinen Weg fort. Am Jungfernstieg musterte er die harmlos Promenierenden und knirschte in sich hinein: »Da sieht man, wie das Nichtsthun blüht; und ob nur einer aus diesem Heer von Tagedieben die Hand aufthun würde für die Ringenden und Hungernden in den Gassen, die nicht die Zeit und nicht den Tand haben, sich mit den geputzten Laffen von der Sonne, die doch allen gehört, bescheinen zu lassen? In die Höhlen der Gassen und Gänge kommt kein Sonnenstrahl, und was den Elenden und Verkommenen vom Himmelsgeschenk der Sonne zu teil wird: sie brauchen nicht zu frieren, sie brauchen die Pfennige nicht zu teilen für Brod und Kohlen!«
Ein Bekannter drängte sich an dem Verbitterten vorüber und grüßte flüchtig und obenhin.
»Puh! Luft!« stöhnte Oldekop, bog in die Alsterarkaden ein, überschritt den Rathausmarkt und stand vor seiner Wohnung in der Großen Johannisstraße.
Ein dreiteiliges Firmenschild unter einem Fenster der zweiten Etage wies auf die Art und Stätte seiner Wirksamkeit. ›Rechts-Bureau‹ stand in großen Lettern auf dem Mittelteil des Schildes, links davon: ›Diskrete Bücherregulierung‹, auf der rechten Seite: ›Rat in allen Angelegenheiten‹.
Er war vielseitig, Detlev Oldekop, und das Publikum verstand seine eigenen Interessen schlecht, daß es von seinen Kenntnissen und Fertigkeiten so unzureichend Gebrauch machte. Das Schild mochte noch so verlockend sein und noch so sehr in die Augen fallen, die Klientel war und blieb klein.
»Die Rechtsanwälte,« pflegte Oldekop zu räsonnieren, »sind an allem schuld. In jedem dritten Haus hockt so einer und lauert und schnappt die Kunden weg, und nichts ist so klein und nicht so unsauber, diese Herren befassen sich mit allem. Früher, ja, da war das anders, da blieb auch für die nichtstudierten Rechtsvertreter etwas übrig, die an Erfahrung jenen Herren ebenbürtig, ja so oft überlegen waren. Jetzt dagegen – traurige Zeiten und Menschen!«
Frau Oldekop, eine untersetzte Person mit gewöhnlichen Gesichtszügen, stand auf dem Flur, als ihr Gemahl die Wohnung betrat, und wies mit dem Daumen nach dem als Bureau dienenden Zimmer.
»Wer?« fragte er.
Sie zuckte die Achseln.
»Na, und Frau Wichbern?« tuschelte sie fragend.
»Der alte Geizkragen will nicht!« zischte er.
»Ach du liebe Zeit! Was denn nun?« kam es mit einem Stöhnen über ihre Lippen.
»Winsele du auch noch!« preßte er gedämpft hervor, hing den Ueberzieher an einen Nagel, steckte den Daumen der Linken in die Westentasche und öffnete mit der Rechten die Thür zum Bureau.
»Diener –!« grüßte er oberflächlich verbindlich und zog die Thür hinter sich zu.
Er war mit einem Schlage verändert; nicht mehr der bedrückt Bittende und verzweifelt Enttäuschte, sondern der ruhige, sichere, in seinem Fahrwasser befindliche Geschäftsmann.
Der Wartende, ein Mann in abgetragener Kleidung und mit sorgenvoller Miene, war mit verlegener Höflichkeit aufgestanden.
»Bitte!« sagte Oldekop, ließ sich in seinen Schreibsessel nieder und zeigte auf den eben verlassenen Stuhl des Mannes.
Er ging sogleich zum Geschäftlichen über.
»Sie haben mir den Auftrag erteilt, von –,« er nahm ein Buch, blätterte und nannte einen Namen, »den Betrag von Einhundertneunundzwanzig Mark einzuziehen. Ich darf mich rühmen, in Inkassogeschäften Erfolge erzielt zu haben, wie sie nicht so leicht ein Anderer zu verzeichnen hat. Kenntnis der Rechtswege –,« lobte er sich, »verständliche und energische Briefe, die nötige schneidige Vertretung vor Gericht – und was der Ursachen mehr sind. Aber wie gesagt, ich kann zufrieden sein. Nur Ihr Karnickel – den famosen Herrn muß ich mir noch anders kaufen! Nichts zu erlangen, nichts von Bedeutung. Hat gezahlt bisher –,« er blätterte wieder, »vierundzwanzig Mark; eine schauerliche Bagatelle. Aber warten Sie, Herr, den sauberen Patron kriegen wir – kriegen wir – so klein noch – warten Sie nur ab ...«
»Kann ich die vierundzwanzig Mark – oder – wenn Sie die zehn Prozent Provision gleich abziehen wollen, das – andere bekommen?« stotterte der Mann.
»Zehn Prozent?« fragte Oldekop groß. »Sie sind im Irrtum, Herr – Herr –. Ich kenne die Bedingungen, die Sie unterzeichnet haben, auswendig – kein Wunder, kommt ja an hundertmal jede Woche vor –: ›Für das Inkasso werden nach Abzug der Kosten zehn Prozent Provision gezahlt,‹ heißt es. Verstehen Sie? Nach Abzug der Kosten, sage ich. Und kann ja auch nicht anders sein. Bekommt man denn immer die Forderungen ein? Mahlzeit, nicht einen roten Pfennig mitunter!« widersprach er seiner eigenen anfänglichen Renommage. »Soll ich dann der Provision auch noch die Kosten nachwerfen? Geht nicht; erst die Kosten – – Prinzip, mein Lieber, unumstößliches, weil notgedrungenes Prinzip –.«
»Ich bin in größter Verlegenheit, Herr Rechtsanwalt,« flocht der Klient bedrückt ein.
»Jawohl, Rechtsanwalt! Seien Sie froh, daß ich keiner bin. Die Kostenrechnung möchte ich sehen! Wissen Sie, daß Sie keinen Pfennig bekommen würden, von der ganzen Summe nicht? Dagegen meine Spesen, ich will Sie Ihnen vorrechnen –« er blätterte nochmals –: »ein, zwei, drei – hm – hm – neun – zwölf Briefe – denken Sie! – Davon drei eingeschrieben. Gebühren Mark drei sechzig; Portoauslagen neunmal zehn, dreimal dreißig, in Summa Mark eins achtzig. Eine Reise. – – Dritter Klasse – ich weiß ja, daß es Ihnen nicht zum besten geht; also dritter Güte, Ihnen zuliebe, sonst gerade kein Vergnügen. Fahrgeld: Eisenbahn und Landwagen – fünfzehn Mark, Zehrgeld – notdürftig leben muß man doch – vier Mark und achtzig. Ein Zahlungsbefehl Mark Null sechzig – Summa Summarum: Mark fünfundzwanzig zwanzig; – vierundzwanzig gezahlt, also gut zu meinen Gunsten Mark eins zwanzig, zehn Prozent Provision zwei vierzig, gut zusammen drei sechzig. Na, ich bin kein Unmensch. Mein Guthaben zu zahlen, würde Ihnen ungelegen kommen – lassen wir's stehn. Ich dränge nicht, niemanden, und Sie am wenigsten.« Er schaute auf einen Regulator über seinem Schreibtisch. »Vier durch. Die Zeit! mein Lieber – in gar keinem Verhältnis zur Arbeitslast! Jede Minute erwarte ich einen Klienten – Hausbesitzer, reicher Mann, aber ganz verzwickter Fall.« Er stand auf. »Das nächstemal, Herr –. Ich werde vorgehen, rücksichtslos. Ihre Interessen sind aufs beste vertreten. – Adjeu! und auf Wiedersehen. Warten Sie, bis ich schreibe.«
Der Mann empfahl sich, und aus dem stillgrimmigen Blicke, mit dem er seinen Rechtsvertreter musterte, sprachen deutlich Unbehagen und erwachtes Mißtrauen.
»Ein Spiel va banque,« knurrte Oldekop unruhig in sich hinein. »Diese Reisen können einem nochmal den Hals brechen.«
Er griff nach zwei Briefen, auf denen er gleich beim Eintritt die Handschriften der um Darlehen angegangenen Freunde erkannt hatte.
»Lieber Detlev, ich würde –,« er wußte nach dem einen Worte schon, was kommen mußte und blies den Atem stoßweise von sich, »– gern Deinem Ersuchen Folge geben. Aber Du weißt selbst, daß ich über meine Kapitalien nicht verfügen kann, daß sie im Geschäfte – –.« Er riß den Brief in Fetzen, knäulte sie zusammen und schleuderte den Ballen in den Papierkorb.
Der zweite!
»Lieber Oldekop! Ich glaube meiner Sympathie für Sie durch das auf Wechsel gegebene Darlehn genügend Ausdruck gegeben zu haben und mache Sie darauf aufmerksam, daß der Wechsel am letzten nächsten Monats fällig ist. Mit Gruß ...«
»Ah!« zischte der Lesende, »ablehnend und agressiv! Gut, mein Jung, wir treffen uns ja vielleicht mal wieder ...«
Er horchte nach der Flurklingel.
Feste Schritte draußen. Es klopfte.
»Herein!«
Die Eintretenden – ein Gerichtsvollzieher, eine junge Dame von sympathischer Erscheinung, ein Schutzmann und zwei herkulische Packträger – ließen ihn auffahren.
»Was soll's!« schrie er.
Der Gerichtsvollzieher zog ein Papier aus seiner Mappe und entgegnete:
»Der Inhaber der Wohnung, Leo Oldekop, wird bei Strafe von fünfzig Mark durch Gerichtsbefehl angewiesen, die zurückbehaltenen Sachen dieser Dame unverzüglich auszuliefern.«
Der Winkeladvokat wandte sich schimpfend an das hochgradig erregte Mädchen, hatte aber die Rechnung ohne den Polizeibeamten gemacht, der sich bissig jede Beleidigung der Dame, zu deren nachdrücklichem Schutz er mitgegeben sei, verbat.
»Mein Sohn ist nicht zu Hause!« fauchte Oldekop.
»So müssen wir das Haus durchsuchen. Fräulein, bitte, zeigen Sie uns Ihr Eigentum – und Sie –« zu den Packträgern – »schaffen Sie es sofort hinaus.«
Frau Oldekop stand auf dem Flur, stemmte die Arme in die Seite und lachte höhnisch. Aber der Vollziehungsbeamte that seine Pflicht, die junge Dame bezeichnete die ihr gehörigen Gegenstände, und die Träger schafften sie belustigt hinaus.
Zweimal hatte Oldekop mit seiner Rechtsgelehrtheit den Vollstreckungsbeamten abgewiesen, den Anwalt der Dame und das Gericht genarrt, so einfach der Fall lag.
Die Dame hatte bei ihm ein möbliertes Zimmer gemietet gehabt, das ›Bureau‹, in dem das Bett von einer spanischen Wand verdeckt wurde. Die Streitbarkeit des Oldekop'schen Ehepaares behagte der Mieterin nicht und nach Monatsfrist machte sie von der vereinbarten Kündigung den regelrechten Gebrauch. Oldekop verlangte eine Mietsentschädigung für zwei Monate über die Kündigung hinaus und berief sich darauf, daß die Dame dauernde Miete zugesagt habe. Eine Spiegelfechterei, wie er sich selbst sagen mußte; eine erpresserische Nichtswürdigkeit, wie der Anwalt, dem die resolute Dame ihre Vertretung übertrug, sich deutlich ausdrückte. Oldekop behielt beim Auszuge der Dame deren Eigentum als Sicherheit zurück, und die Mieterin mußte erst die streitige Summe deponieren und einen Gerichtsbeschluß ›wider den Rechtskonsulenten Oldekop‹ auf Herausgabe der Sachen erwirken.
»Rechtskonsulent?« höhnte Oldekop, als der Gerichtsvollzieher mit dem Auslieferungsbefehl zu ihm kam »Ich bin kein Rechtskonsulent, ich bin Kaufmann – überzeugen Sie sich aus meiner Anmeldung. Und außerdem: Oldekop – Oldekop? Hier wohnen zwei – Detlev: ich – Leo: mein Sohn. Welchen Oldekop suchen Sie denn?«
Der Beamte mußte den Befehl als ungenau und nicht vollstreckbar zurückstellen.
Als er nach wenigen Tagen mit einem neuerlichen Beschluß gegen den ›Kaufmann Detlev Oldekop‹ sich einstellte, empfing ihn Oldekop mit gleichem Hohn.
»Der bin ich – jawohl. Und Sie wünschen?«
Der Beamte mußte den Befehl vorlesen.
Der Winkeladvokat blies die Backen auf und lachte stoßweise.
»Da kann ich nicht dienen, Herr –! Da müssen Sie sich an meinen Sohn wenden; ihm gehört die Wohnung, nicht mir.«
Der Beamte überzeugte sich beim Hauswirt, daß der Mietsvertrag mit dem Namen des Sohnes unterzeichnet war, und mußte sich abermals ohne Ergebnis zurückziehen. Erst beim drittenmale hatte er Erfolg.
»Ich kenne den Fuchs,« sagte er auf dem erneuten Gange. »Schwer beizukommen. Aber diesmal haben wir ihn doch in der Falle.«
Oldekop kochte in sich hinein. Der Polizeibeamte trug jede beleidigende Aeußerung prompt in sein Notizbuch ein. Da war Reserve geboten ... Er versenkte nach seiner Gewohnheit die Daumen in die Westentaschen, drehte dem ungebetenen Besuch den Rücken, preßte den vorstehenden runden Bauch gegen die Fensterbank und musterte die Straßenpassanten – musterte endlich erbost die abziehenden Beamten, das Mädchen und die amüsierten Packträger, die den hochbeladenen Handwagen lachend vor sich herschoben.
»Na, Herr Rechtsgelehrter,« rief die bessere Ehehälfte durch die halbgeöffnete Thür, »haben wir wieder 'mal das Nachsehen?«
Er fuhr herum.
Krach! schlug die Thür zu.
»Drache!« schrie er wütend, »macht der einem die Hölle auch noch heiß.«
Er sank in den Sessel und keuchte. Erst allmählich beruhigte er sich und verfiel in Brüten.
»Es bleibt nichts anderes,« preßte es sich endlich über seine Lippen.
Er nahm einen Briefbogen und schrieb:
»Bruder! Ein Verzweifelnder, ein Ertrinkender wendet sich im Augenblicke der höchsten Not an Dich, ein ohne Dich und Deine Hilfe rettungslos Verlorener. Ich habe Schulden, und Gläubiger, die drängen; und schlimmer als alles: ich bin erschöpft, vollständig erschöpft, und weiß nicht – im bittern Ernst – wovon ich leben soll! Du bist mir beigesprungen, nicht einmal – – zehnmal, ich anerkenne es voller Dank. Du kannst mich, nachdem Du so viel gethan hast, nicht untergehen lassen im letzten, schwersten Augenblick – ich wage es zu hoffen! Eine Besserung der Lage ist –«, »ja, wenn das wäre!« flocht er seufzend ein, – »nahe gerückt. Ich komme zu Dir, morgen, weise mich nicht von Dir, nicht mit leeren Händen in den gewissen Tod. Ich will nicht zu viel: eintausend –« er schrieb das Zahlwort nicht nieder – »nicht mehr, als Du entbehren kannst. Ich hoffe Dich wohl und barmherzig zu finden. Brüderlich
Detlev.«
Er kouvertierte den Brief, steckte ihn zu sich und suchte einen benachbarten Krämer auf.
»Na, meine Rechnung ist wieder ziemlich angelaufen, was? Kann ich mir denken. Achtzig und einige –? Schadet nichts. Mein Bruder zahlt mir noch einige Tausend aus – ich bin ja doch 'mal sein Erbe. Morgen kommt das Schiff an, das heißt, ich muß selbst den Lotsen machen und es einholen. Können Sie der Ebbe in meiner Kasse für die Spazierfahrt aufhelfen? Vierzig – reichlich genug. Uebermorgen zurück – mit Dank, Herr Nachbar.«
Dem Nachbar von Zeit zu Zeit gerecht zu werden, hatte er sich immer angelegen sein lassen, und der Krämer war der mehr oder weniger bereitwillige Helfer, wenn sonst alle Mittel und Wege erschöpft waren.
»Merci,« quittierte Oldekop, beförderte den Brief zur Post und schlenderte beruhigt nach St. Pauli. Der Abend fand ihn in einem Hafenrestaurant, das Eingeweihten als Spielhölle bekannt war. Er setzte und gewann mit unerhörtem Glück und hatte, als er nach Mitternacht schwindelnden Kopfes nach Hause eilte, die von dem Krämer entliehene Summe mehr als verzwanzigfacht.
Der Oldekop'sche Bauernhof war einer der größten und ertragfähigsten Reickendorfs und der Besitzer unter den Bauern der Ortschaft einer der reichsten. Die Gemeinde lag in der Mitte zwischen Neumünster und Plön, an der Bahnlinie Neumünster-Neustadt, und hatte im letzten Jahrzehnt einen solchen Aufschwung genommen, daß die Zahl der Einwohner auf über zweitausend angewachsen war. Die Bauerngüter waren freilich um eines vermindert worden; aber auf dessen Ländereien unmittelbar an der Bahnhofsstation waren umfangreiche industrielle Unternehmen aus dem Boden gewachsen.
Die Holzhandlung von Martin Blank und Sohn, eine an deren Terrain sich anschließende, große Farbenfabrik und eine weiter nach dem Dorf zu gelegene, an Ausdehnung stetig gewinnende Teppich- und Gardinenwirkerei, beschäftigten zusammen an vierhundert Arbeiter, die, soweit sie nicht als Heimische im Dorfe selbst wohnten, in schmucken, wenn auch einfachen Häuschen, an der vom Bahnhof ins Dorf führenden Straße untergebracht waren.
Das eigentliche Dorf lag von der Bahnstation eine Viertelstunde entfernt, und die großen Bauernhöfe verteilten sich bis auf vier, die zum Orte selbst gehörten, rund um das Dorf herum, die entferntesten fast eine Stunde weit abgelegen; so der Puckhof, die Höfe von Olenkoppel und der Nettelseehof; in knapp halbstündiger Entfernung der Braune Hirsch, der Neue Jäger und der Grüne Sod, letzterer das Besitztum Hans Oldekops.
Woher der Oldekop'sche Hof den Namen hatte, war strittig, und die gangbare Erklärung der Dorfchronik, die die Bezeichnung einfach auf einen zu dem Hofe gehörigen Teich zurückführte, der durch ›grünes Wasser‹ angeblich eine Eigenart besitzen sollte, verdiente kaum ernstliche Beachtung. Wahrscheinlicher klang eine zweite Auffassung, die auf die Zeit der Gründung des Hofes zurückging. Das fruchtbare Ackerterrain war ehemals Waldland gewesen, und dicht neben einem noch heute vorhandenen, von dem ersten Oldekop angelegten Brunnen hatte das primitive Wohnhaus des Bauern gestanden, der sich durch Ausroden des Waldes nach und nach eine größere Ackerfläche geschaffen hatte. Der erste im Waldgrün gegrabene Brunnen, ›de Sod in'n Gräunen‹, oder kurz: ›de gräune Sod‹ – die Bezeichnung mochte auf den Hof übertragen worden sein und die ursprünglichen Zustände überdauert haben.
Im ›Grünen‹ lag der alte Brunnen im Sommer auch heute noch, wenn er auch nicht mehr benützt, sondern nur pietätvoll erhalten wurde – mitten in dem großen Garten des Hofes, von Kirsch-, Pflaumen-, Aepfel- und Birnbäumen rings umgeben. Seine Feldsteinwände hatten der Zeit zäh widerstanden und das Wasser blinkte dunkelfarben aus der Tiefe herauf; nur das ehemalige Brunnenhaus mit Winde und Kette war verschwunden und hatte einem zweckwidrigen und unschönen Geländer Platz gemacht.
Hatte aber der alte Brunnen an malerischer Wirkung verloren, so zog dafür der Hof, dem er den poetischen Namen vererbt hatte, mit seinen Baulichkeiten und dem gepflegten Garten das Auge des Kenners um so mehr an.
Die Bauart des Wohnhauses wich von der üblichen wenig ab, höchstens daß an Stelle der Fachwerkmauern massive Steinwände, sogenannte Brandmauern, getreten waren. Im Uebrigen war der Typus der gleiche und nur die Wirkung eine hervorstechende, weil kein Schaden, keine Abnützung, keine Unsauberkeit den Eindruck störte. Schräg strebte das Strohdach hinauf, malerisch thronte auf dem First hinter den Pferdeköpfen des Giebels ein Storchnest, blau kräuselte aus dem weißgefugten Schornstein der Rauch in die Luft. Die Holzwand des Giebels war so sauber grün gestrichen, wie die Thüren und Fenster des stattlichen Hauses, und die kleinen, bleigefaßten Scheiben der Gesindekammern blinkten so anheimelnd, wie die großen, gewölbten der Herrenstuben.
An einer der mächtigen Scheunen war das Einfahrtsthor repariert worden und harrte noch des neuen Anstrichs; sonst herrschte die bestechende Ordnung auch in und an den Nebengebäuden bis in die kleinsten Einzelheiten.
Der Garten trennte mit schmalem Streifen die Langseite des Wohnhauses von der Landstraße und legte sich breit vor die fensterreiche Stirnseite. Den Abschluß des Gartens nach der Landstraße bildete ein Stacket, das von einer kurzgestutzten Dornenhecke und über diese emporragenden Syringen- und Schneeballbüschen im Sommer fast verdeckt wurde. Den Eingang durch die Hecke hatte Hans Oldekop vor Jahren verbreitern und durch eine in ländlichen Verhältnissen ungewöhnliche, schmiedeeiserne Pforte geschmackvoll ausschmücken lassen.
Detlev Oldekop hatte, trotz der Frau Wichbern vorgespiegelten und berechneten ›verschiedenen Reisen‹, die Heimat seit einem halben Dutzend Jahren nicht gesehen, da der Bruder nach einem heftigem Streit ihm die Einstellung seiner verwandtschaftlichen Besuche eindringlich genug nahe gelegt hatte. Der Verkehr der Brüder hatte sich seitdem auf einen für beide Teile wenig angenehmen Briefwechsel beschränkt, der von seiten des städtischen Bruders meistens nichts als die immer wiederkehrenden Bitten um Geld, von seiten des Bauern kurze Zusagen oder Ablehnungen enthielt.
Als Detlev Oldekop mit dem Mittagzuge in Reickendorf anlangte, mußte er, da ein Wagen zu seiner Abholung nicht gesandt war, den Weg zu Fuß antreten.
Er vermerkte die Unaufmerksamkeit des Bruders mißfällig und wurde in seinen sanguinischen Hoffnungen zu beengenden Zweifeln herabgestimmt. Wenigstens den Schein hätte der Bruder doch wahren und das Donnerwetter bis zum diskreten Alleinsein in seinen vier Wänden aufsparen können, reflektierte er ärgerlich.
Die Veränderungen am Bahnhof waren ihm zum Teil noch von seinen letzten Besuchen her erinnerlich, neu für ihn zu Anfang des Dorfes ein mächtiges, in roten Backsteinen aufgeführtes Schulgebäude und ein aus der Mitte des Ortes schlank aufragender Kirchturm. Also selbst zu einer eigenen Kirche hatte es das aufstrebende Heimatsdorf inzwischen gebracht! Wer konnte wissen, wie es in abermals einem Jahrzehnt in dem ehemals weltentlegenen Dorfe aussehen mochte.
Detlev Oldekop begab sich nicht direkt nach dem Grünen Sod, sondern kehrte in einem am Ausgang des Dorfes gelegenen, unansehnlichen Wirtshaus ein, in dessen leerer Gaststube er von dem bis dahin das Provinzialblatt lesenden Wirt lebhaft begrüßt wurde.
»Detlev, den Donner – du?« entfuhr es dem überraschten Wirt.
»Leibhaftig,« entgegnete der Ankömmling mit etwas erzwungenem Lachen. »Na, David, wie geht's, wie steht's?« erkundigte er sich oberflächlich.
»Was mich betrifft,« antwortete David Riecken, eine vierschrötige Erscheinung mit unruhig funkelnden Augen, »so lala. Der Pferdeschwindel geht an, die Wirtschaft blüht, wie du siehst. Ich bin mein bester Gast.«
Er war seinem Hauptberuf nach Roßkamm und trieb die Wirtschaft nebenher, die übrigens abends und Sonntags von der Arbeiterbevölkerung des Dorfes und den Knechten der Bauernhöfe ziemlich besucht war und entgegen der Versicherung ihres Besitzers einen erklecklichen Reinertrag abwarf.
»Und auf dem Sod?« fragte Oldekop.
»Setz' dich 'mal hin, Detlev. Ich wollte dir's schon schreiben. Aber es ist verteufelt wenig Gutes. Magst du einen Cognac?«
»Danke. Leg los. Ich habe nicht viel Zeit.«
»Du willst den Löwen in seiner Höhle aufsuchen?«
»Sind wir Manns genug, David!« renommierte Oldekop.
»Na, na, man nicht zu siegesgewiß, alter Freund! Ich glaube, es wird dir einen Dämpfer aufsetzen, wenn du mich erzählen läßt.«
»So fang endlich an!« drängte Oldekop mit offener Ungeduld.
»Man immer sachte voran,« antwortete der Roßkamm gelassen und setzte mit leichter Ironie hinzu: »Als ich vor'm Vierteljahr die paar hundert Reichsmark von dir haben wollte, hattest du's auch nicht so eilig. Rückt denn die alte Wichbern noch immer nichts heraus?«
»Nicht einen Heller bis jetzt,« versicherte Oldekop achselzuckend. »Erst die Dirn, dann das Moos. Dabei bleibt sie. Soll ich für sie auslegen? Das wirst du mir selbst nicht zumuten.«
»Na nee. Aber ich fürchte – fürchte, Detlev, mit der Dirn wird das überhaupt nichts. Die sitzt fest auf dem Sod, und was ich dir schon schreiben wollte und jetzt mündlich sagen kann: ihre Verlobung mit dem Inspektor Bernd zu Löhnau soll zu Weihnacht stattfinden und der Bauer, dein Bruder, ihr Haus und Hof und Geld testamentarisch vermachen wollen – –«
»Woher weißt du das?« fuhr Oldekop auf.
»Man hat so seine Quellen,« wich der andere aus, »welche, kann dir gleichgültig sein.«