Der Affenkönig - Michael Duwe - E-Book

Der Affenkönig E-Book

Michael Duwe

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Beschreibung

"Der Affenkönig" beinhaltet kurze Erzählungen aus der Kindheit des Autors in Altenwerder. Der zeitliche Rahmen der Handlung liegt etwa zwischen 1955 und 1970. Die Kindheit bei den Großeltern war "kein Zuckerschlecken"und in den gemachten Erfahrungen keineswegs eine Idylle. Aber auch nicht untypisch für eine Kindheit in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Das Elbdorf fiel ab 1962, also nach der großen Flut, der Hafenerweiterung zum Opfer. Insofern sind die Erzählungen auch Teil einer Erinnerungskultur. Lesungen aus dem "Affenkönig" haben Zuspruch und positive Resonanz erhalten. Nicht zuletzt deswegen hat sich der Verfasser zur Veröffentlichung entschlossen.

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Seitenzahl: 99

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Inhaltsverzeichnis

Chaiselongue

Pepernööt

Hansekogge

Herr Brehmer bringt die Mappe

Sandkiste

Midöisch!

Petzi-Boot

Am Stack

Das Haus des Zahnarztes

Till Eulenspiegel

Tauwetter

Fußballschuhe

Oma

Das Waschbecken

Liebe Dina!

Nuss-Schokolade

Fiefhunnertdotum

Erbsenpistole

Kino

Affenhaut

Hermann

Auf dem Fußballplatz

Garagendach

Nachwort

Chaiselongue

Auf dem Schisslong liege ich, in der Küche, die bloßen Füße gegen die warmen Kacheln des Herdes gedrückt. Halbnackt bin ich, gniedel an meinem Pimmel. Die Küchentür steht offen, Winter kann es nicht sein. Der Flur ist immer kalt. Hinter dem Türrahmen steht meine Oma, ich sehe ihren weißen Haarschopf, ein bisschen. Ein ziemliches bisschen. Sie kommt um die Ecke geschossen, fährt auf mich los:

„Chore, chorre, chorre!"

Vor Schreck kneife ich die Knie zusammen. Ihr gestreckter Unterarm macht ruck-zuck!, ruck-zuck!, vor und zurück, die Knie auseinander.

„Du Lorbass!" und wieder „Chore, chorre, chorre!"

Ich quietsche vor Freude, Schreck und noch was. Ist das ein Spiel? Soll ich nochmal? Oder wird gniedelnden Jungen der Pimmel abgesägt?

Meine Oma verschwindet wieder im Flur. Doch bleiben ihr weißes Haar und ein Stück der strengen Brille, Kastengestell, gut sichtbar. Soll ich? Ich gniedel wieder ein bisschen.

„Chorre-chorre-chorre!" fährt es auf mich nieder. Knie, Handkantensäge und Quietschen. „Lorbass!"

Weißhaarschopf auf dem Rückzug. Sie bleibt hinter dem Türrahmen stehen, kein bisschen richtig versteckt. Und wieder: gniedeln, chorre-chorre, Schreckfreude und Unterarmsäge. Ich verstehe, gniedeln soll man wohl nicht.

Wende ich mich lieber dem Katzenauge zu, dem grünschmalen Schlitz im Röhrenradio, Löwe-Opta, auf dem Küchentisch. Es dauert einen Moment, bis das Katzenauge aufgeht, wenn man das Radio einschaltet. Drehe ich an dem Knopf, zwinkert mir das Auge zu. Auf Langewelle langsam, die Töne jaulen vor sich hin. Auf Kurzwelle gibt es ein aberwitziges Geblubber wie im Kochtopf und das Auge zwinkert wie wild.

Meine Oma steht auf der anderen Seite, vor dem Küchentisch. Sie zieht die Abwaschschublade hervor, zwei Schüsseln, in der einen dreckiges Geschirr, die andere noch leer. Oma holt Wasser aus dem Rinnstein, dem Ausgussbecken mit dem einzigen Wasserhahn der Wohnung. „Eers afwaschn, ebn Woter opsettn", sagt sie. Wasser macht sie heiß auf dem Herd, im kleinen Kessel. Ist Kessel zu klein, rakt und schiebt sie mit dem Schürhaken einen gusseisernen Ring über das Herdloch. Erst Jahre später wird es auch einen E-Kocher mit zwei Platten von Achner in Finkenwerder geben.

Ich drehe mich mit dem Kopf zum Herd, hangele mich herum, lass Kopf und rechten Arm vom Schisslong hängen, um an den Backofen zu langen, öffne die Klappe ein Stück und fische nach getrockneten Brotrinden oder Knusten. Für Onkel Fiete, Opas Bruder, der sonntags zum Essen kommt, werden die Rinden von den Brotscheiben abgeschnitten, er hat nur noch drei Zähne.

Oma bereitet das Mittagessen vor. „Morgen, wenn Fiete kümmt, gifft dat Karbonod un Bohnen, Michalinus. Un hüüt? Wat meenst? Fleederbeerzupp mit Griesklüten?“

Meine Lieblingssuppe, fast, nach Kirschsuppe. Ist die Suppe halb aufgegessen und der Teller noch halbvoll, kann ich die länglichen Klöße anschneiden: wunderbar gelb hebt sich die Schnittfläche ab, ein Felsen im fliederblutroten Suppenmeer. „Ebn eers Kantüffeln opsettn. Jümmer dat Morachen mit dat Füür. Ik mütt doch noch eers noh Finkwarder, noh Achner, so n lütten E-Herd mit twee Platten. Jümmer den Ümstand mit den olen Herd…“

Solange ich denken kann kommt Onkel Fiete mit dem Fahrrad sonntags zum Mittagessen vom Westerende, wo er bei Bollmanns in einem Dachzimmer zur Miete wohnt. Wenn es nieselt oder regnet, hat er den Kleppermantel an, steigt an der Brücke ab, mit großem Beinschwung. Auf dem Gepäckträger klemmt seine flache Ledertasche. Über die Brücke vorn am Graben schiebt er das Fahrrad, lehnt es an die Hauswand.

Wie auch Opa früher arbeitet Onkel Fiete bei Möller & Sohn auf Waltershof. Tropenhölzer werden dort verladen und gelöscht. Auch Onkel Rübcke arbeitet da.

Jetzt bin ich aber dran. Im Backofen trocknen Brotrinden, Knuste und andere Brotreste steinhart, bis mein Großvater sie in einem Geschirrhandtuch mit dem Hammer zerhaut und den Hühnern gibt. Bei den Brotrinden komme ich ihm meistens zuvor. Ich belutsche die knochentrockenen Brotreste, an den Kanten werden sie zuerst sappschig, bald kann ich sie auseinander gnurpschen. Weißbrot ist nicht so gut, wenig Widerstand, kaum Gegenwehr, keine Herausforderung. Diesmal nehme ich einen dicken, schon etwas rissigen Knust. Sein Widerstand wird an den Schluchten gebrochen, Spucke reinlaufen lassen, mit der Zunge drücken. Gegen meine Waffen hat er keine Schangse. Die Einzelbrocken werden nacheinander belutscht, bis sie schön sappschig sind, dann zergnurpscht, schließlich zerkaut und der noch leicht kratzige Brei runtergeschluckt.

Gewonnen. Keine Schangse. Sag ich doch.

„Du frittst de Heuner allns wech", sagt Opa. Aber da ist eine Art Lächeln unter seinem faltigen Gesicht.

Pepernööt

Der Postbote kommt mit einem großen Paket über die Brücke. Oma hat die Wohnungstür schon aufgemacht. „Oh!, vun Erna ut Mandelshagen. Pepernööt. Hool mol ers de Doos ut de Spieskomer, Michalinus.“ Die XOX-Dose ist groß, blau und schon etwas verbeult. Der Deckel hat ein Scharnier. Pepernööt sind die etwas flachen Kekse, so wie eine Handvoll Sand. Ich mag die Kringel, die mit dem Loch in der Mitte, lieber. Sie schmecken anders, süßer. In den Pepernööt - was soll das eigentlich heißen? Pfeffernüsse etwa? +- ist so raspeliges Zeug.

Tante Erna aus der Ostzone schickt die Kekse immer zu Weihnachten. „Wi hebbt jä nix, bi uns gifft’t jo nix.“ Aber ich bekomme doch Bücher, später, furchtbar langweilige, ich quäle mich durch. Geschenkt bekommen, muss man sie auch lesen. Jägergeschichten. Später „Die Abenteuer des Werner Holt“ – das geht.

Aber erst einmal jetzt die Kringel, die Pepernööt. Bis Weihnachten bleibt die XOX-Dose in der Stube, nur anfangs gut gefüllt. „Eet nicht so veel, anners kriss Buukpien“, sagt Opa. Bauchschmerzen? Ich? Wieso denn?

Der Tannenbaum steht schon im Schuppen am Klärgraben. „‘Keff em in Woter sett, in’n Ammer.“ Das Wasser ist gefroren, der Tannenbaum hat einen dicken Klumpfuß aus Eis. Er steht im hinteren Teil des zugigen Schuppens. Zwischen den Brettern sind mächtig Spalten und Lücken. Opa hatte nicht genügend Holz. Der Schuppen steht ja noch auf dieser Seite des Grabens. Er wird erst 1962 wegschwimmen und hinter dem Schweinestall schief im Graben liegen, eine Ecke nach oben. Der Haublock mit kleingemachtem Holz zum Anfeuern des Kachelofens in der Stube und vom Herd in der Küche steht am Eingang, ein Berg Feuerholz dahinter. Eierbrikett, Koks und Kohlen auch. Oma will die nicht mehr im Kohlenkeller in der Wohnung haben: „Dat stofft so…“

Es geht ans Schmücken des Tannenbaums. Oma hat ihn aus dem Schuppen geholt und in den Kohlenkeller gestellt, vier Stufen runter, damit er abtaut. Opa sagt: „Ik kann doch nich mit mien lohmen Arm“ und hebt ihn langsam, das faltige Gesicht verzieht sich im Schmerz. Markiert er? „Jo, jo, dat lot’t, Willi“, sagt sie mit doppeltem Seufzer, „öwer de Beerglöös, doför reckt dat…“

Mittags kommt Onkel Fiete, begutachtet den komisch gewachsenen Baum, unten hat er zu viele dicht gewachsene Zweige, hinten ist ein Loch und die Spitze ist viel zu lang. Das macht nichts, die kann man kappen, damit die silbrige Spitze, die fast wie eine Pickelhaube aussieht, drauf passt und nicht zu hoch sitzt. Das rückwärtige Loch ist schwieriger. Onkel Fiete sucht einen Ast aus, schneidet ihn mit der fast stumpfen Säge, etwas murrend, ab und spitzt ihn an.

Am Stamm sucht er nun eine Stelle und bohrt mit dem Handbohrer ein Loch, Stück für Stück tiefer, probiert und drückt den angespitzten Zweig an seinen neuen Ort. Hält? „Jo, de sitt fast. Wat meenst, Berta?“ Ihr Doppelseufzer kriegt diesmal ein zustimmendes Nicken.

Aber der Stamm ist unten noch zu dick für den gusseisernen Tannenbaumfuß. Onkel Fiete quält sich ordentlich mit der stumpfen Säge. Opa hat mit der Feile an den Zähnen des Fuchsschwanzes rumgefeilt. Gebracht hat’s nicht viel.

Der frisch eingesetzte Zweig fällt wieder ab. Onkel Fiete brummt. Opa sagt: „Fiete, de Soog, de döcht nix mehr. Ik dach - ik harr - ik wull…“ Aus der Küche bringt Oma ein Kartoffelschälmesser. Onkel Fiete schnitzt jetzt, zweimal passt der Stamm noch nicht, dann: „So, he sitt.“ Mit drei Schrauben wird der Baum festgemacht. „Kiek mol eers, steiht he grod?“ Nein, noch nicht. Schrauben losdrehen, bald passt’s. Der falsche Ast, nochmals rausgefallen, wird wieder eingesetzt und der Baum kann zur Probe und beim Sofa und hinter dem Sessel in die Zimmerecke gestellt werden. Die Spitze ist zu hoch, stößt an die Zimmerdecke. Onkel Fiete muss schnitzen. Dann geht’s. Die dünne Seite der Tanne zeigt in die Zimmerecke, sieht man gar nicht, der neue Ast nützt nicht viel.

Nun kann endlich geschmückt werden! Die meisten Tannenbaumkugeln sind silbern, manche rot, einige mit so kruseligem Zeugs drauf, soll wohl Schnee sein. Am besten sind aber die Schokokringel mit weißen oder roten Perlen. Es gibt auch zuckerige Geleeteile, die mag ich nicht so gern. Zum Schluss Lametta, das beim Abputzen des Baumes in vier Wochen, wenn die Tanne schon tüchtig nadelt, vorsichtig wieder abgezupft und, in Zeitungspapier gewickelt, fürs nächste Weihnachten aufbewahrt wird.

Ganz zum Schluss kommen die Kerzenhalter, schwierig – nicht zu weit vorn, sonst biegen die Zweige, nicht zu dicht am Stamm, das sieht nicht aus, nicht zu dicht unter anderen Zweigen, „anners fangt de Füer“. Und: immer weiße Kerzen, nie tropffrei.

Wie immer hatte ich eigentlich wenig zu tun, hier mal ne Kugel, da mal n Kringel mit dem dünnen biegsamen, gezackten Draht anbringen. Oma ist in der Küche. Opa sitzt am Kachelofen, sagt wenig. Der Tannenbaum ist Onkel Fietes Sache.

Dunkel ist es längst, bitterkalt auch, alle Gräben sind zugefroren. Der Eisgang auf dem Köhlbrand so stark, dass der Dampfer beim ersten Mal gar nicht anlegen konnte, erzählt Oma. Als sie mittags am Stack war um die Knackwürste beim Schlachter abzuholen, wurde es von den Frauen erzählt. „Dreemol hett he dat versöcht, stell di dat mol vör.“ Und vor ein paar Tagen sind die Leute gar nicht nach „Altno un Hamborch“ gekommen. Zur Dampferanlegestelle selbst ist Oma nicht gewesen, sie ist gleich den Schlachterweg runter Richtung Sielpool, über die Brücke und dann rechts in den Querweg abgebogen. Da war das Fahrradfahren besser – und keine Leute, die sie im Schnack aufhalten konnten.

Den Kartoffelsalat hat Oma fertig, die Würstchen müssen nachher nur eben heiß gemacht werden. Heiligabend gibt es bei uns immer Kartoffelsalat und Würstchen, immerhin sind die warm. Bei anderen gibt es Braten.

Jetzt aber die Bescherung! Ich werde rausgeschickt, ganz nach draußen. Onkel Fiete meint, er habe den Weihnachtsmann dort gehört. Das glaube ich zwar nicht, aber meinetwegen.

Aber da kommt Mama mir entgegen! Obwohl nur im Hemd, laufe ich auf sie zu. Dabei ist ihr neuer Mann, Hans. Sie heißt mit Nachnamen natürlich nicht mehr wie Oma und Opa, aber auch nicht mehr wie ich, sondern wie der Storch im Märchen. Sie wird im Laufe ihres Lebens noch andere Nachnamen bekommen, zuletzt einen, den keiner aussprechen oder behalten kann – aber das weiß sie natürlich noch nicht, und ich auch nicht.

Jetzt ist sie aus Finkenwerder gekommen mit dem Bus, TOG. Sie wohnt auf der Aue-Insel in einer Werkswohnung der Deutschen Werft. „Nein, am Auedeich“, sagt sie zu Onkel Fiete, als der fragt, ob sie am Steendiek eingestiegen ist. Das sei dichter. Aber ein ganzes Stück zu Fuß sei es doch, die Pontonbrücke von der Insel runter, ganz steil ist die bei Ebbe, übers Kanalstack – naja und dann über die Sandhöhe den gewundenen engen Auedeich entlang. Der TOG-Bus fährt dann über die gruselige Brücke zur Dradenau, vorbei an den Öltanks. Hans ist am Zoll zugestiegen, seine Eltern wohnen ja in der Waltershöfer Laubenkolonie.