Der Auftrag der Zwillinge - Lisa Sandlin - E-Book
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Der Auftrag der Zwillinge E-Book

Lisa Sandlin

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Beschreibung

Beaumont, Texas, im Dezember 1973, während der Watergate-Affäre. Ein neuer Fall für Delpha Wade und Tom Phelan: Die Zwillingsschwestern Ruby und Emerald beauftragen Phelan Investigations damit, herauszufinden, wer sie langsam vermutlich mit Arsen vergiftet. Beide sind schon todkrank. Was die Sache kompliziert macht: Die Zwillinge sitzen in demselben Gefängnis, in dem auch Delpha einst eingesperrt war. Außerdem beginnt gerade die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gefängniswesens in den USA. Delpha und Tom wittern unschöne Zusammenhänge. Dann ist da noch Charlie Benavidez, der sein Glück mit Shelly Petry gefunden hat. Leider ist Shellys Mutter eine beinharte Rassistin, die einen Mexikaner als Schwiegersohn niemals akzeptieren würde. Shelly ist plötzlich verschwunden, Charlie tief besorgt. Viel Arbeit also für Delpha und Tom, die sich endlich näherkommen …

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Seitenzahl: 446

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Ähnliche


Cover

Titel

Lisa Sandlin

Der Auftrag der Zwillinge

Ein Fall für Delpha Wade

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Der Auftrag der Zwillinge ist die deutsche Übersetzung von Lisa Sandlins Roman The People Store, der bislang noch nicht in den USA erschienen ist.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5418.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Copyright © 2024 by Lisa Sandlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagfoto: sakhorn/Shutterstock

eISBN 978-3-518-77897-5

www.suhrkamp.de

Widmung

Im Andenken an die Zwillinge

Motto

Ich hätte gern mehr Schwestern, damit das Herausnehmen von einer nicht eine solche Stille hinterlässt.

Emily Dickinson

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

1. Dezember 1973

3. Dezember 1973

4. Dezember 1973

7. Dezember 1973

8. Dezember 1973

10. Dezember 1973

11. Dezember 1973

12. Dezember 1973

13. Dezember 1973

14. Dezember 1973

16. Dezember 1973

17. Dezember 1973

18. Dezember 1973

19. Dezember 1973

20. Dezember 1973

22. Dezember 1973

23. Dezember 1973

24. Dezember 1973

25. Dezember 1973

26. Dezember 1973

27. Dezember 1973

28. Dezember 1973

28. Dezember 1973

31. Dezember 1973

1. Januar 1974

29. Januar 1974

Informationen zum Buch

Der Auftrag der Zwillinge

1. Dezember 1973

Delpha riss den mit Insta-Tree beschrifteten Karton auf und breitete den Inhalt auf ihrem schmalen Bett aus. Ein schwerer runder Ständer, ein Stab und drei Häuflein borstiger tannengrüner Zweige. Lange, mittellange und kurze Stücke, die aussahen, als könnte man damit Nuckelflaschen putzen. Was sie noch nie getan hatte und wahrscheinlich auch nie tun würde.

Nach einem kurzen Blick in die Aufbauanleitung machte sie das Naheliegende: Sie steckte den Mittelstab in den Ständer. Die langen Zweige sollten unten hin, darüber die mittellangen, ganz oben die kurzen. Sie fing oben an und fummelte einen Zweig nach dem anderen in die Löcher. Der Nachttisch wurde schon von Lampe, Kleenex-Schachtel und Büchereibuch mit Beschlag belegt. Deshalb schob sie auf der Kommode Körperlotion, Aspirin und eine Dose mit nach Geißblatt riechendem Talkumpuder zur Seite und stellte den Baum darauf. Stolze sechzig Zentimeter hoch.

In der Lobby stand ein echter Baum, allerdings hatte Calinda, die Hotelbesitzerin, vor ihrem Urlaub die Anweisung hinterlassen, dass er beflockt werden sollte – also mit weißem Sprühdosenschaum, der angeblich wie Schnee aussah, bekleckert. Ein echter Fortschritt in der Weihnachtsdeko. In den 1940er Jahren war Calinda als frischgebackene Erbin des New Rosemont Hotel Weihnachten noch selbst in die Wälder gefahren, die zu beiden Seiten jeder kleineren und größeren Straße standen, und hatte eigenhändig eine Kiefer gefällt und mit glitzernden Eiszapfen geschmückt. Mittlerweile – kurz vor der Jahreswende 73/74 ‒ war ihr das zu altbacken, und außerdem ließ sie jetzt arbeiten. Der beflockte Baum wurde in einen mit Sternchenstoff verhüllten massiven Ständer gesteckt, mit Schrauben gesichert und mit elektrischen blauen Kerzen und blauen und silbernen Weihnachtskugeln dekoriert.

Die unnatürliche Pracht des beflockten großen Baums beeindruckte Mrs Bibbo, Mr Nystrom und andere Hotelbewohner. Aber Delpha wollte keinen Gemeinschaftsbaum. Die vierzehn Jahre im Gefängnis hatte es immer nur einen Baum für alle gegeben, der im Tagesraum stand. Inzwischen war sie draußen, und das erste Weihnachten in Freiheit wollte sie mit ihrem eigenen Baum begehen. Klein, wohlgeformt, grün. Nur sie sollte ihn anschauen dürfen, und er sollte ihr spärlich eingerichtetes Zimmer ein bisschen hübscher machen. Sie kroch über den Boden und führte das Kabel von der Steckdose hinter der Kommode zu dem Plastikbaum, um die Lichterkette anzuschließen, die sie um den Baum geschlungen hatte. Die Glühbirnen waren für den Minibaum viel zu groß, aber das war ihr egal. Man beklagte sich ja auch nicht darüber, dass der Diamant für den Ring zu groß war.

Delpha beugte sich hinter den Baum und steckte die Lichterkette ein. Farben explodierten: Rot, Blau, Grün, Orange und strahlendes Weiß.

Sie knipste die Deckenlampe aus, ließ sich aufs Bett sinken, saß ruhig atmend im Dunkeln da und sah gebannt auf den Baum. Still stand er da und leuchtete ganz allein für sie in ihrem Zimmer mit der abschließbaren Tür. Seine Farben waren nur für sie. Er gehörte nur ihr. Das war wie Medizin. Sein hübscher Anblick sollte Delpha dabei helfen, einige Bilder in ihrem Kopf zum Verblassen zu bringen. Einen Versuch war es wert.

Eine Viertelstunde lang ließ sie sich von den farbigen Lichtern verzaubern, dann klopfte es an der Tür.

Sie glitt vom Bett, sperrte auf und sah durch den Spalt hinaus.

Oscar.

Ein junger Schwarzer, der über die Küche herrschte und halbwegs nett zu Delpha war. Sein Blick huschte zu dem bunten Baum. »Hinterm Haus ist eine, die dich sprechen will«, sagte er. Seine Augenbrauen und Augen bemühten sich, gleichgültig zu erscheinen.

Im Sommer hatte Delpha ihren jungen Liebhaber durch die Hintertür in der Küche ins Haus gelassen, aber das war vorbei. Der einzige Besucher, den sie in den letzten Monaten im New Rosemont empfangen hatte, war ihr Boss Tom Phelan gewesen, und der kam durch die Vordertür.

»Wie sieht sie aus?«

»Wie ein Gespenst. Als würd sie auf dem Parkplatz tot umsinken, wenn du sie zu lang da draußen stehen lässt. Würd dir vielleicht Scherereien ersparen.«

Angela konnte es nicht sein, Delphas Vielleichtfreundin aus der Bücherei. Dann musste es eine aus Gatesville sein. Delpha ließ vor ihrem geistigen Auge die Insassinnen des Frauengefängnisses zum Appell antreten, von denen sie vermutete, dass sie nach ihr auf Bewährung rausgekommen waren, aber wie ein Gespenst sah keine aus.

Sie machte die Tür vor Oscars Nase zu, zog den Schlüssel aus dem Schloss, trat in den Flur und verriegelte die Tür hinter sich. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter und an dem silber-blauen Weihnachtswunder vorbei.

In der gelb beleuchteten Küche roch es nach Abendessen, und das Abendessen roch nach Hackbraten mit Knoblauch und nach karamellisierten Zwiebeln. Dazu gab es Kartoffelgratin und den Schmelz von Solomon Burkes »Cry to Me« aus dem Radio, das auf dem Regal stand. Oscar bezog Stellung am Herd und widmete sich seinen Töpfen.

Delpha öffnete die Hintertür, ließ die Fliegengittertür aber geschlossen. Kalte Luft – dreizehn Grad galten im texanischen Beaumont als kalt – drang durch das Fliegengitter. Sie sah raus zu der mit eingezogenen Schultern dastehenden Frau. Oscar hatte sie treffend beschrieben. Das Gesicht weiß wie ein Laken, farblose Lippen, Augen halb geschlossen. Jeansrock und abgetragener puderblauer Mantel mit zu langen Ärmeln, die Arme um sich geschlungen. Der Mantelkragen bestand aus puderblauem Fuchs, am Hals lugte ein kleegrünes T-Shirt hervor. Die Frau zupfte an dem grünen Stoff.

»Emerald McClung«, sagte Delpha.

»Fast«, erwiderte die Frau. »Können wir irgendwo reden?«

»Als Ex-Knackis haben wir Kontaktverbot. Das weißt du so gut wie ich.«

»Deshalb bin ich ja zur Hintertür gekommen.«

Delpha sah sie unverwandt an. Nach einer Weile fielen die aschblonden Haare ihrer Besucherin nach vorne. »Bitte.«

Delpha schloss die Tür. Dann ging sie um den Weihnachtsbaum herum und am Fernseher und der Popcornmaschine vorbei durch die Lobby des Rosemont, wo die Alten saßen und plauderten und rauchten. Es passte ihr nicht, dass Emerald in ihrem neuen Leben auftauchte. Außerdem konnte der Umgang mit bekannten Kriminellen den letzten Ausschlag geben, wenn sie einem was Schlimmeres anhängen wollten. Das allein reichte allerdings nicht.

Trotzdem.

Sie ging zur Haustür, von wo aus man die Straße überblickte, samt dem Gebäude gegenüber, in dem sich Phelan Investigations befand. Dann drehte sie sich um und kehrte durch die Küche an Oscar vorbei zurück zur Hintertür und fluchte.

Da stand sie noch. Die Arme um sich geschlungen.

Delpha schob den Riegel der Fliegengittertür zurück und hielt sie auf.

Sie schaltete die Deckenlampe an und setzte sich aufs Bett. Emerald McClung nahm den Stuhl. Sie sahen sich an, zwei Frauen, die sich das letzte Mal über zwei Tabletts mit zähem Fleisch, Grütze und Weißbrot hinweg angesehen hatten. Dass sie sich in Freiheit wiederbegegneten, hätte Anlass zur Freude sein können, aber keine von beiden wirkte sonderlich erfreut. Emerald hatte immer noch den für frisch Entlassene typischen Blick eines aufgeschreckten Kaninchens. Weil man einfach nicht glauben konnte, dass man dort ging und saß, wo man ging und saß, und jeder, der einem begegnete, etwas im Schilde führen konnte, was man innerhalb von zwei Sekunden herausfinden musste.

»Du siehst ein bisschen spitz aus«, sagte Delpha nach einer Weile.

»Hast du einen Ascher?«

Delpha zog die Schublade ihres Nachttischs auf, nahm den unbenutzten Aschenbecher heraus und gab ihn Emerald. »Wie hast du mich gefunden?«

»So was spricht sich rum.«

»Und? Suchst du Arbeit?«

Die schweren Lider hoben sich. Delpha erinnerte sich an das blasse Grau der Augen. Ungewöhnlich, fast silbern. Wie bei einem dieser Schlittenhunde.

»Ich arbeite im Holiday Inn, mach die Zimmer sauber. War schon immer mein Traumjob.« Mit vorgebeugtem Kopf zündete sie sich die Zigarette an. Ihre Hand zitterte, sie versetzte ihr einen Klaps, wie man jemandem, der im Kino quatschte, einen Klaps auf die Schulter gab.

Delpha neigte den Kopf zur Seite. »Gibt Schlimmeres.«

»Stimmt. Ich werd mir trotzdem bald was in einem Schönheitssalon suchen. Haarewaschen. Zusammenkehren und so. Hübscher Weihnachtsbaum, den du da hast.« Sie stieß den Rauch aus und lehnte sich zurück.

»Hast du dich nicht auch immer nach was gesehnt, als du eingesessen hast? Was dir dauernd im Kopf rumgegangen ist?«

Emerald nickte langsam.

»Ja«, sagte Delpha und deutete mit dem Kinn zu dem Baum. Wobei sie jetzt, wo die Deckenlampe brannte und eine andere Ex-Insassin ihren Weihnachtsbaum begutachtete, sah, was er tatsächlich war. Eine kleine Plastiktanne, kein Seelenschmeichler. Das Gefängnis schaffte es doch zuverlässig, Hoffnung in Scheiße zu verwandeln.

Ihre Besucherin schwenkte ihre Zigarette. »Ruhig hast du’s hier.«

»Im Rosemont wohnen fast nur alte Leute. Die kriegen sich nicht dauernd in die Haare.« Delpha sah sie lange an. »Was willst du, Emerald?«

Emerald schlüpfte mit einem Arm aus dem Mantelärmel, nahm die Zigarette in die andere Hand und wand sich ganz aus dem Mantel. Das knallige Grün ihres T-Shirts ließ ihr Gesicht noch kränklicher aussehen. Sie zog den Saum ihres Jeansrocks über ihren weißen Oberschenkel hoch.

Delpha blickte darauf, dann sah sie die Frau an. Sie hatte die Zigarette zwischen die Zähne geklemmt und kniff die Augen gegen den Rauch zusammen, während sie mit dem Daumennagel über die Haut fuhr. Etwas Helles, Pastoses sammelte sich am Nagel. Sie schnippte das Zeug in den Papierkorb. Delpha wandte den Kopf ab, als die Frau auf ihre Finger spuckte und über ihr Bein rieb. Dann streckte sie es mit hochgeschobenem Rock aus.

Delpha richtete wieder den Blick darauf. Oberhalb des Knies war das weiße Bein von einer Narbe gezeichnet, eine ungefähr fünfzehn Zentimeter lange und einen halben Zentimeter breite Furche. Wie sie ein Kartoffelschäler hinterließ.

»Himmel. Ruby.«

»Ja«, sagte Ruby McClung. »Gatesville hat Emerald noch nicht entlassen, das wissen die nur nicht. So kommt’s, dass ich hier bin.«

»Warum hast du Bewährung gekriegt und Emerald nicht?«

Ruby stieß hustend den Rauch aus. »Hörst du nicht zu? Emerald ist bedingt entlassen worden. Ich bin in eine Prügelei geraten. Dafür haben sie mir noch mal sechs Monate aufgebrummt. Aber ich war krank, und Emerald hat mich in allerletzter Minute überredet, ihren Platz einzunehmen. Jetzt ist sie auch krank, und ich hab Angst, dass sie es nicht schafft.«

»Was heißt krank?«

»Unruhe, Husten, Zittern. Du fühlst dich einfach beschissen und willst manchmal am liebsten aus der Haut fahren. Abgesehen vom Husten ist Em in letzter Zeit auch noch nervös und schwach, ihre Hände zittern wie die von einer alten Frau. Aber wir sind 38, nicht 88. Seit ich draußen bin, geht’s mir ein bisschen besser, hab ich jedenfalls den Eindruck, dafür geht’s Em jetzt schlechter. Dauernd vergisst sie, was ich ihr gesagt hab. Ein paarmal ist sie einfach umgefallen.« Ruby rauchte die Zigarette bis zum Filter runter, spuckte auf ihre Fingerspitzen und drückte die Glut aus. »Wir glauben, dass es Arsen ist.«

Delpha musterte sie skeptisch.

»Was anderes fällt uns nicht ein.«

»Arsen an der Essensausgabe? Die Frauen dort geben fünfhundert Essen aus. Hast du mal mitgekriegt, dass sich eine seltsam verhält, als du an der Reihe warst?«

»Eine vielleicht. Aber wir haben immer genau hingeschaut, wenn sie das Essen auf unsere Teller geschaufelt haben, und auch danach die Teller nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen.«

»Süßigkeiten oder Coke aus dem Gefängnisladen?«

»Haben wir kaum noch gekauft.«

»Wo habt ihr beiden denn gearbeitet, als ihr krank geworden seid?«

»Näherei. Aber wir haben nicht aus diesen kleinen Döschen mit Maschinenöl getrunken. Und Lauge oder Bleiche auch nicht.« Ruby sah Delpha mit unbewegter Miene an. »Daran würden wir uns erinnern.«

»Was ist mit der Krankenstation? Waren da andere, denen es so ging wie euch?«

»Nein. Die hatten nur das Übliche. Verstauchte Knöchel, Grippe. Jedenfalls nicht das, was wir hatten.«

»Aber … war da nicht mal was mit einer schwachen Lunge, die ihr beide habt?«

»Stimmt. Wir haben uns mal eine Bronchitis eingefangen, die nicht weggehen wollte. Der Gefängnisarzt hat gemeint, dass ein Teil unserer Lunge wahrscheinlich kaputt ist.«

»Okay. Dann hat sich die Lunge vielleicht einfach nur verschlechtert.«

»Das haben wir am Anfang auch gedacht. Aber wegen einer Bronchitis fühlt sich der Kopf nicht wie Watte an. Und … und man stolpert auch nicht plötzlich über Türschwellen, über die man schon tausendmal gegangen ist.«

»Macht Arsen so was?«

»Unsere Mama hat das geglaubt. Einmal hat sie Daddy angebrüllt, dass er ihr Arsen in den Kaffee tut. Daddy hat gelacht und gesagt: ›Ohne dich, Eula, würd ich’s in meinen eigenen tun.‹ Das fand ich so süß von ihm. Eula hat meine Mama geheißen.« Rubys Mundwinkel bogen sich kurz nach oben, dann verdüsterte sich ihre Miene wieder.

»Na, jedenfalls kann Arsen dazu führen, dass deine Finger und Zehen kribbelig werden, haben Em und ich in der Gefängnisbücherei gelesen. Was Emeralds Zitterei erklärt. Außerdem kann Arsen deinen Herzschlag durcheinanderbringen, und das hat Em auch manchmal. Wir haben ständig Lippenherpes und Bläschen im Mund. Durchfall hatten wir nicht, das stimmt, aber wahrscheinlich liegt das nur daran, dass wir so kleine Dosen davon verpasst kriegen.«

Delpha rieb sich die Schläfe, sie bereute, dass sie sich hatte erweichen lassen, Ruby reinzulassen. Sie wollte das alles nicht hören. Sie wollte ihren Baum wieder ganz für sich allein haben, allein in ihrem stillen Zimmer. »Ist jemand sauer auf euch?«

Ruby lehnte sich zurück, ließ den Kopf von Seite zu Seite rollen. »Da war diese Irre, die mir das hier angetan hat. Okay, zuerst hab ich sie angepöbelt, weil sie mir so auf die Nerven gegangen ist, aber das war Monate her. Ich glaub, jemand hat sie dazu angestiftet.« Ruby deutete auf den Rock, der die Narbe wieder bedeckte. »Allerdings haben sie sie nach Rusk verfrachtet. Dann gab’s später noch eine, die uns auf dem Kieker hatte. Ein paarmal sind wir aneinandergeraten. Und sonst? Wir haben uns echt den Kopf zerbrochen, Delpha. Die meisten interessieren sich einen feuchten Kehricht für uns. Eigentlich ist uns nur dieses Monsterweib eingefallen. Carl kann’s jedenfalls nicht sein.«

»Wer ist Carl?«

Ruby richtete sich wieder auf. Sie spulte die Geschichte der McClung-Schwestern runter, bis sie nach zehn Minuten bei Carl ankam, dem Bankräuber, wegen dem sie im Knast gelandet waren. Er hatte ausgesagt, dass der Plan zu dem Bankraub von den Schwestern stammte, und wurde selbst zu einer langen Haftstrafe verurteilt.

»Er ist noch nicht wieder draußen?«

»Frühestens in zwei Jahren, 75 kann er auf Bewährung rauskommen. Carl hat uns einen Brief geschrieben und gesagt, dass er Leute in Gatesville kennt. Aber ich schätz mal, er wollte uns nur nervös machen. Außerdem hat er behauptet, dass er zum Heiligen Geist gefunden hat. Aber eins sag ich dir, Em und ich kennen den Heiligen Geist, und was er auch gefunden hat, der ist es jedenfalls nicht. Na egal, jedenfalls haben wir keine Ahnung, woher das Arsen kommt. Wir glauben inzwischen, dass sie es ins Wasser tun.«

»Ins Wasser? Hör mir auf, Ruby. Das wird nicht vom Zimmerservice gebracht, das kommt aus dem großen Krug, an dem sich alle bedienen. Oder aus den Duschen oder Waschbecken oder Trinkbrunnen. Oder draußen aus den Gartenschläuchen. Dann würden alle das Arsen abkriegen. Aber was willst du eigentlich von mir? Nach Gatesville geh ich nicht zurück, nicht mal als Besucherin, nicht für tausend Dollar und eine Packung Schokotörtchen, das sag ich dir gleich.«

»Ich fahr jeden zweiten Samstag nach Gatesville, um Em zu sehen. Und wie gesagt, Emmie geht’s mies, und es wird immer schlechter.«

Ruby blickte auf, ohne das Kinn mit den scharfen Linien um den Mund zu heben, die Stirn von Falten zerfurcht. »Die Frau im Übergangswohnheim hat gesagt, dass du für einen Privatdetektiv arbeitest. Kannst du ihn bitten, mit mir zu reden? Ich will, dass er meine Schwester rettet.«

Ruby McClung hatte erzählt, dass sie und ihre Zwillingsschwester Emerald 1935 inmitten eines Sandsturms, der über den Texas Panhandle hinwegfegte, zur Welt gekommen waren. Nicht lange vor ihrer Geburt war ihr kleiner Bruder an einer Staublunge gestorben. Die Farm ihres Daddys war nicht viel mehr als ein riesengroßer Sandhaufen, und bis sie das Schulalter erreichten, hatten auch sie eine Menge Staub gefressen. Der Sand wurde durch die Fenster und Türen geweht, und ihre Mama sagte, er würde auch durch die Wände und das Dach dringen. Einige der Nachbarn zogen weg, aber den McClungs gehörte das Land, das sie bewirtschafteten. Bevor ihr Daddy sein ererbtes Land verließ, hätte er eher seine gesamte Familie in Gräbern verscharrt und mit der dünnen Schicht Muttererde bedeckt, die auf dem Weg nach Oklahoma kurz in Texas Station machte.

Die Mädchen gingen früh von zu Hause weg. Zogen herum, bis sie schließlich beide eine gute Stellung bei einer Bank in Austin fanden. Dem Bankdirektor gefiel die Vorstellung von zwei identisch aussehenden Schalterangestellten. Mit einer Rundbürste föhnten sie ihre hellen Haare zu Pagenköpfen und sprühten sie mit Aqua Net ein, oder sie banden sie zu wippenden Pferdeschwänzen zusammen und trugen einreihige Plastikperlenketten. Obwohl sie sich äußerlich ähnelten wie ein Ei dem anderen, konnte man sie leicht auseinanderhalten. Ruby trug Rot und Rosa in allen Schattierungen und Emerald Grün in allen Schattierungen, weil sie wussten, dass die Leute nicht gerne herumrieten, mit wem sie es gerade zu tun hatten. Die Schwestern lebten wie die Maden im Speck: Mittags aßen sie im Drugstore frisch gegrillte Hamburger und Hähnchensalat-Sandwiches mit Salatbeilage. Dazu tranken sie Cola Float. Nicht ein Sandstäubchen zwischen den Zähnen.

Jeden Samstag gingen sie mit Frank und Carl aus. Frank war groß und kräftig, hatte ein rundes, sommersprossiges Gesicht. Der blonde Carl hatte auch ein rundes Gesicht, war aber kleiner und schmaler. Die Brüder waren Verkäufer und stammten aus dem Süden, nicht weit vom Golf in Beaumont, und sie prahlten gerne mit dem Haus, das sie sich an einem Ort namens Crystal Beach gebaut hatten. Die Schwestern waren so lange beeindruckt, bis sie ein Foto davon sahen: eine kleine blaue Schuhschachtel auf Pfählen, die die beiden »Wolke Sieben« nannten.

Eines Abends, nachdem die Schwestern einige Tom Collins inklusive der Cocktailkirschen intus hatten, fragten die Jungs sie nach der Bank aus. Wo was war. Wie viele Leute dort arbeiteten. Ob Geldtransporter zur Bank kamen und an welchen Tagen. Ob die Banknoten markiert waren. Dann unterhielt Carl sie mit Geschichten darüber, wie er hochnäsige Kunden reinlegte. Wie er eine verkratzte Kommode mit Wachs und Farbe aufpoliert und einer Frau als neu verkauft hatte. Er äffte ihre näselnde hohe Stimme nach, und alle lachten außer Emerald. Mit ihren silbernen Augen sah sie ihn ungerührt an.

Eines Tages räumte Emerald nach dem Kirchgang das Abendessengeschirr ab und stellte es in die Spüle. Sie öffnete eine frische Packung Salem und warf Ruby eine Zigarette zu. »Setz dich, Schwester«, sagte sie. Sie erklärte Ruby, dass sie Frank und Carl in den Wind schießen mussten.

»Ich mein’s ernst«, sagte Emerald. »Denen geht’s nicht um uns. Denen geht’s um die Bank. Das sollten wir langsam kapiert haben.«

Ruby runzelte die Stirn. Sie war die Leidenschaftlichere von beiden, die schneller in die Luft ging, die sich schneller verknallte. Aber sie wusste, wie sehr Emerald an Frank hing. »Du hast gesagt, dass er ein wirklich guter Küsser ist.«

»Gibt mehr Männer, die gut küssen können.«

Bei Emeralds Ton glättete sich Rubys Stirn, und schon waren sie wieder ein Herz und eine Seele, wie sie es immer gewesen waren. Sie saßen sich gegenüber, lackierten sich gegenseitig die Nägel und tauschten sich über die Gespräche mit Frank beziehungsweise Carl aus, die sie jeweils geführt hatten. Dann breiteten sie das zusammengetragene Wissen aus. Emerald erinnerte Ruby an den Abend, als die Jungs sie zu sich nach Hause eingeladen hatten, um ihre Familie kennenzulernen. Sie spielten gerne, und es war Pokerabend. Emerald hatte sofort Franks verstohlenen Hinweis registriert ‒ ein beiläufiger Blick über ihre Köpfe hinweg ‒ und den von Carl – er steckte den Daumen zwischen Zeigefinger und Mittelfinger und presste sie leicht zusammen.

Emerald hatte Ruby von den kleinen Tricks erzählt. Erinnerst du dich noch?

Ja klar, Ruby erinnerte sich. Sie sagte, dass Em eine gute Beobachterin sei.

Oh, Em – Ruby wagte kaum, ihr davon zu erzählen –, eines Abends hatte Carl sie gefragt, ob sie in der Bank einen Alarmknopf hätten, den sie drücken konnten, wenn jemand sie bedrohte. Ja, entschlüpfte ihr, bevor ihr einfiel, dass man ihnen eingeschärft hatte, auf diese Frage immer mit Nein zu antworten, selbst wenn die eigene Mutter sie stellte. Deshalb verschwieg sie ihm wenigstens das kleine Bündel markierter Scheine, das in ihrem Geldschub lag und nur bei einem Überfall herausgeholt werden sollte. Stattdessen redete sie rasch weiter und erzählte, dass man ihr beigebracht hatte, Geld so schnell zu zählen, dass die Scheine vor den Augen verschwammen.

Ruby erinnerte die ihr gegenübersitzende Emerald daran, wie sie Frank und Carl das erste Mal gesehen hatten. Die beiden waren in der Lobby der Bank herumspaziert. An dem älteren Wachmann vorbei und an dem Tresen mit den Überweisungsformularen und angeketteten Kugelschreibern, der niedrigen Absperrung vor dem Tresorraum. Dann stellten die nett aussehenden jungen Männer sich in die Schlange, weil sie sich mit Ruby und Emerald unterhalten wollten, die amüsierte Blicke tauschten. Die beiden sagten, dass sie gar nichts zu erledigen hätten. Dass sie nur zum Flirten gekommen seien. Linkisch zwinkerte Frank Emerald zu. Carl witzelte, dass Ruby sicher oft angemacht werde. Bei der Vorstellung, wie ein Mann versuchte, sie anzumachen, während sie hinter dem vergitterten Tresen stand, verdrehte Ruby die Augen.

Jetzt setzten die Schwestern die einzelnen Beobachtungen wie Puzzlesteinchen zusammen, bis sich ein Bild ergab. Sie sagten die Verabredung am folgenden Samstag nicht ab, aber montags darauf riefen sie Frank und Carl an und erklärten ihnen, dass es aus sei. Sie hätten zwei andere kennengelernt. Frank war zu stolz, um Emerald um eine Aussprache zu bitten. Für ihn war sie gestorben. Aber Carl fing an zu heulen.

»Denk dir nichts«, sagte Ruby zu Emerald. »Sobald ihm die Nächste schöne Augen macht, wird er mich vergessen haben. Außerdem werden wir die beiden sowieso nie wiedersehen.«

Das stimmte jedoch nicht. Sie sahen sie schon am nächsten Donnerstag wieder, dem Tag des Geldtransports. Zwei Männer mit Strumpf über dem Kopf und gezogener Waffe stürmten herein und brüllten herum. Mit eiskalten Händen gaben die Schwestern ihnen das Bargeld aus ihren Geldschüben, darunter auch die Bündel mit den markierten Scheinen. Sie wussten beide, wem die zerknautschten Gesichter unter den Nylonstrümpfen gehörten, taten jedoch ahnungslos, ohne sich auch nur mit einem raschen Blick darüber verständigen zu müssen. Unter vorgehaltener Waffe öffnete der Bankdirektor den Tresor. Die Männer schnappten sich so viel, wie sie tragen konnten, und rannten an dem schlotternden Wachmann vorbei aus der Bank. Da hatte Ruby mit dem Knie bereits den Knopf am Schalter gedrückt, der im Sheriffbüro Alarm auslöste. Trotzdem entkamen die Bankräuber mit der Beute, die laut den Bankrevisoren aus fast siebenunddreißigtausend Dollar bestand. Emerald und Ruby wurden stundenlang vernommen.

Drei Monate später bezahlten zwei Besoffene in der Piccadilly Cafeteria in Beaumont mit einem markierten Zwanziger. Die Polizei stellte fest, dass der Schein zu der Beute gehörte, die eine Bankangestellte bei einem Bankraub in Austin ausgehändigt hatte, und wies die Kassiererin in dem Lokal an, sich sofort zu melden, wenn die beiden Männer wieder auftauchten.

Sechs Wochen später rief die Kassiererin an.

Die beiden Männer, die sich gerade an einen Tisch im Picadilly gesetzt hatten, zogen ihre Waffen, statt die Hände hochzunehmen. Die anderen Gäste warfen sich auf den Boden und krochen unter Tische, und die Frau mit dem Servierwagen schob ihr Wägelchen schnell zurück in die Küche. Frank erwischte ein Schuss mitten ins Herz. Carl büßte seine Milz ein, überlebte aber. Gegen Ende des Prozesses, der beinahe den Geschwindigkeitsrekord des Austiner Gerichts gebrochen hätte, bestand er auf einmal auf einer Aussage. Sein Anwalt protestierte lautstark.

Im Zeugenstand wand Carl sich, als er den Eid ablegte. Die Lederbibel brannte unter seiner Rechten, und kaum hatte er sie berührt, spürte er Gottes strafenden Blick auf sich. Er konnte nicht länger an einer Lüge festhalten. Gott wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte und eine Gefängnisstrafe verdiente. Ja, er hatte auf nicht schuldig plädiert. Weil sein Anwalt ihn dazu überredet hatte. Der Anwalt wollte, dass er dem toten Frank die Schuld in die Schuhe schob. Aber Frank war sein Bruder. Sein großer Bruder, und so billig wollte er nicht davonkommen.

Carl breitete die tragische Geschichte zweier Brüder aus, die von den hinterlistigen McClung-Schwestern verführt worden waren. Die beiden Frauen hatten sie mit sämtlichen Informationen gefüttert. Ihnen den Plan untergeschoben. Er und Frank waren zwei ehrliche, brave Burschen. Ein Möbelverkäufer und ein Autoverkäufer. Die sich in zwei Schwestern verliebt hatten. Er liebte Ruby McClung aus tiefstem Herzen: Wenn sie von ihm verlangt hätte, zum Mond zu fliegen, hätte er sich Flügel wachsen lassen. Anfangs hatten sich die Brüder gegen den Plan gewehrt, schließlich aber nachgegeben.

Carl ließ den Kopf hängen. Er hatte ein Grübchen, eine Locke seines hübschen blonden Haarschopfs fiel ihm in die Stirn. Er warf einen Blick zu den Geschworenen. Ließ sie die Tränen sehen, die über sein zerknirschtes Männergesicht rollten. Ja, er und Frank hatten die Waffen in der Hand gehalten. Aber Gott wusste, dass die Frauen sie dort hineingelegt hatten.

Dem Angeklagten, diesem reuigen Sünder, wurden zwölf Jahre aufgebrummt. Die Schwestern, die wegen Mittäterschaft bei einem bewaffneten Raub angeklagt worden waren, bekamen jede zehn Jahre. Sie fuhren in der Goree State Farm in der Nähe von Huntsville ein, wo sie eine Ausbildung zur Kosmetikerin machten. Nach einer Weile wurden einige der Goree-Insassinnen nach Gatesville verlegt. Unter ihnen auch die McClung-Schwestern.

3. Dezember 1973

Nach ihrer Schicht im Holiday Inn klopfte die nach Raumspray duftende Ruby McClung an die Tür von Phelan Investigations. Delpha führte sie hinein. Nervös und mit herumschießendem Blick sah Ruby sich um, als könnte im nächsten Moment ein Tiger hinter einem Schrank hervorspringen, dann riss sie sich zusammen. Sie schlüpfte aus ihrem puderblauen Mantel, den sie über ihrer Zimmermädchenuniform trug – weißer Rock, weiße Schürze, weiße Bluse mit drei roten Streifen an den kurzen Ärmeln und ein Namensschildchen. Delpha fand die Uniform auf den ersten Blick furchtbar und wusste, dass es Ruby genauso ging, weil die Insassinnen von Gatesville Weiß trugen. Außerdem stand Frauen, die so bleich wie die Schwestern waren, Weiß nicht. Die McClungs brauchten Farbe, damit sie nicht wie tot aussahen.

Mit aufgerissenen Silberaugen nahm Ruby auf dem Mandantenstuhl Platz, ihre Wangen färbten sich rosa. An ihrem Hals bildete sich ein rotes Viereck.

Delpha hätte darauf wetten können, dass Ruby einen glatzköpfigen Ex-Cop mit Doppelkinn erwartet hatte, dessen Bauch fast die Hemdknöpfe sprengte. Stattdessen saß da der hübsche Tom Phelan, 29, mit schlampig gebügeltem Hemd und Krawatte, dessen dunkle Haare sich an den Enden lockten und der sich ihr gegenüber so höflich verhielt wie jedem anderen gegenüber.

Delpha öffnete das Fenster einen Spalt, nachdem Phelan gerade eine Zigarette ausdrückte und Ruby sich eine ansteckte, und nahm mit Block und Stift Platz. Seit Xavier Bell, einem Mandanten, der sie mal an der Nase herumgeführt hatte, setzte sich Delpha bei den Erstgesprächen immer dazu.

»Miss McClung, meine Sekretärin hat mir einen groben Überblick über Ihre Vergangenheit und Ihre gegenwärtige Lage gegeben. Soweit ich es verstehe, machen Sie sich Sorgen um Ihre Schwester. Wobei sie offenbar in sechs Monaten rauskommt. Das lässt sich doch abwarten.«

»Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie Emerald gesehen hätten.«

»Was führt Sie nach Beaumont? Warum sind Sie nicht zurück nach Austin? Oder zum Panhandle, wo Ihre Familie lebt?«

Ruby sah ihn überrascht an, als hätte sie nicht mit dieser Frage gerechnet. »Die sind alle tot. Hier wohnt eine Tante von uns. Sie hat mir eine Stelle besorgt.«

»Glauben Sie wirklich, dass Sie und Ihre Schwester mit Arsen vergiftet wurden?«

»Was anderes fällt uns nicht ein. Klar, wir sind Zwillinge, aber deswegen kriegen wir doch nicht gleichzeitig einen Gehirntumor oder so.«

»Wurden Sie von einem Arzt untersucht?«

»Als wir nach Gatesville gekommen sind, und später noch mal. Wir wissen, dass unsere Lungen nicht ganz in Ordnung sind. Wegen dem Staub und Dreck, den wir als Babys eingeatmet haben. Beim letzten Abhören hat der Arzt gesagt, dass Ems Herz Geräusche macht.«

»Wann war das? War es etwas Ernstes?«

»Vor fünf oder sechs Jahren. Ernst war’s nicht, er hat ihr keine Pillen oder so verschrieben.«

»Verstehe. Wer will Sie mit Arsen vergiften?«

»Keine Ahnung.«

»Fällt Ihnen jemand ein, der was gegen Sie haben könnte?«

»Na ja, da war eine Wärterin, die hat uns immer Albinos genannt, weil wir so helle Haut haben. Und uns so ähnlich sehen. Dann natürlich Justine, die mich vor einer Weile angegriffen hat, aber die wurde nach Rusk geschickt – Sie wissen schon, zu den Irren ‒, daher kann sie’s schlecht sein. Aber eine von ihren Freundinnen, die an der Essensausgabe arbeitet, hat irgendwann angefangen, böse Zeichen über unsere Teller zu machen. Und mit uns zu streiten. Sie heißt Helen. Emerald ist ihr aus dem Weg gegangen, aber ich … ich bin stinksauer geworden. Helen ist zwar ein Mordsbrummer, aber nicht gerade helle.«

»Will diese Helen Sie umbringen? Oder will sie Sie nur quälen?«

»Keine Ahnung.«

»Was hat sie denn gegen Sie beide? Hat es mit Ihrer Freundin zu tun?«

»Na ja, verglichen mit Helen sind Em und ich Marilyn Monroe. Und Helen ist Frankensteins Monster.«

»Und Helen war nicht klar, wie sie aussah, bis sie die McClung-Zwillinge das erste Mal gesehen hat?«, fragte Delpha.

Ruby sog den Rauch tief ein und hielt einen Moment die Luft an. Die Röte hatte mittlerweile ihren Kiefer erreicht.

»Könnte es einen anderen Grund geben, Miss McClung?« Die Beiläufigkeit, mit der er das fragte, konnte die Schärfe in seiner Stimme nicht ganz verbergen. Hören Sie auf, mich zu veräppeln.

»Ich hab doch schon gesagt, dass wir keine Ahnung haben. Wir wissen nur, dass was nicht stimmt. Das ganze Jahr über ging’s uns dauernd irgendwie … mies. Ich wehr mich ja, aber Em hat Angst. Es muss Arsen sein.«

Stille breitete sich aus, während Phelan die rauchende Ruby betrachtete.

»Erzählen Sie mir mal, wie’s kam, dass Sie anstelle Ihrer Schwester in Freiheit sind. Delpha sagt, dass es was mit einer Narbe zu tun hat.«

Ruby zuckte mit den Schultern. »Eher damit, dass wir eineiige Zwillinge sind. Wir haben immer dieselbe Frisur getragen und gleich viel gewogen. Weil man weiß ja nie, wann einem das mal zupasskommt. Als ich eines Tages in der Näherei saß, ging diese Irre an mir vorbei. Justine Gaddy hieß sie … die war echt irre, stundenlang hat sie vor sich hin gesungen und gebrabbelt. Jedenfalls hat sie sich vorgebeugt und mir das Bein vom Knie bis untern Rock mit einem Kartoffelschäler aufgeschlitzt. Und dazu hat sie gesagt, ach, nicht wichtig. Ich habe sie weggeschubst, bevor sie dort ankommen konnte, wo sie hinwollte. Sie wissen schon.«

Ruby sah sie stolz an. »Ich hab sie fertiggemacht, die gute Justine, am Schluss hat ihre Nase wie ein angekautes Marshmallow ausgesehen.«

»Klingt übel, Miss McClung. Der Kartoffelschäler muss wehgetan haben.«

»Und wie das wehtut, wenn man geschält wird. Aber das Schlimmste war, dass ich deswegen nicht mehr genauso aussah wie Emerald. Meine Schwester und ich haben immer gleich ausgesehen. Das hat uns gefallen.« Der weiße Rock war so weit hochgerutscht, dass man den Anfang der Narbe sehen konnte. Ruby schob ihn noch ein wenig höher. Ein hellroter Strich.

Entweder lag es an Phelans etwas rauem Mitgefühl oder an seinen sanften braunen Augen, dass Ruby sich hinter ihrer Mauer vorwagte. Jedenfalls bemerkte Delpha, dass Ruby mit ihm anders sprach als mit ihr.

»Wenn es Em und mir dreckig ging, besonders im letzten Jahr …« Rubys Blick huschte kurz zu Delpha. Sie zog an ihrer Zigarette und lehnte sich zurück, bis ihr Kopf an der hohen Rückenlehne des Lederstuhls lag. Der Rauch ringelte sich zur Decke.

»Dann setzten wir uns auf die untere Pritsche. Oder in den Tagesraum. Hielten uns an den Händen. Pressten uns bis runter zu den Füßen aneinander. Das Elend, das uns überkommen hatte, ihrs und meins, floss ineinander und schlug über uns zusammen und drückte uns runter. Manchmal heulten wir. Manchmal spürten wir nach einer Weile auch die Kraft zurückkommen, oder die Hoffnung. Die doppelte Kraft, das fühlte sich gut an. Dann wussten wir, dass wir rauskommen und neu anfangen könnten. Vielleicht heiraten, Kinder kriegen. Daran haben wir ganz fest gedacht, beide zur gleichen Zeit, und uns so aus dem Sumpf rausgekämpft. Wissen Sie, wovor die meisten Leute Angst haben? Vorm Alleinsein. Em und ich, wir sind nie allein. Nie. Das ist unser großes Plus. Wir haben immer uns.«

Ruby verschränkte die Hände und senkte den Kopf, hob an weiterzusprechen.

Delphas Nackenhaare stellten sich auf. Dass die McClungs das manchmal machten, hatte sie gehört. Einmal hatte sie es sogar mit eigenen Augen gesehen. Die anderen hatten leise miteinander getuschelt und zu ihnen rübergesehen. Die beiden gaben keinen Mucks von sich, rührten sich nicht mal. Die meisten glaubten, dass sie beteten. Zwei zierliche versteinerte Frauen, die auf einer Pritsche, einer Bank oder zwei Stühlen saßen, um sich eine Art Graben oder eine unsichtbare Mauer, die keiner überwinden konnte.

»Wissen Sie«, fuhr Ruby mit schwächer werdender Stimme fort, »in der Bank hab ich immer nur rote Sachen getragen und Em immer nur grüne. Damit die Leute uns unterscheiden konnten. Der Direktor fand das süß. Aber im Gefängnis gab’s nur weiße Sachen, höchstens trugen wir mal unsere roten oder grünen Haarspangen. Wenn wir Lust dazu hatten, haben wir unsere Schichten getauscht. Dann konnte Em im Garten arbeiten und ich in der Küche. Oft haben wir das nicht gemacht, weil wir ja brav waren. Nur wenn Em eine blöd gekommen ist, hab ich dafür gesorgt, dass sie’s bereut. Ich hab sie mir vorgeknöpft und ihr’s gezeigt.«

Ruby rutschte tiefer in den Stuhl, wie sie es in Delphas Zimmer gemacht hatte. »So was – solche Sachen«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Schichten tauschen und so, solche Spielchen haben wir vor allem am Anfang gemacht. Aber wir waren sicher, dass es uns eines Tages zu was nutze sein könnte, dass wir uns so ähnlich sehen. Damit war Schluss wegen der Irren. Jetzt musste nur jemand meinen Rock heben und schon wusste er, dass ich Ruby war.«

»Verstehe ich das richtig?«, sagte Phelan und gab Ruby den Aschenbecher, damit sie die heruntergerauchte Kippe hineinwerfen konnte. »Emerald sollte auf Bewährung rauskommen, aber Sie beide tauschten die Rollen, damit Sie freikamen, weil es Ihnen so schlecht ging. Sodass die im Gefängnis glauben, dass Ruby noch einsitzt, nur dass Sie Ruby sind. So in etwa?«

Ruby nickte wachsam.

»Hat man Em aufgefordert, ihre Beine zu zeigen?«

»Die vom Bewährungsausschuss haben nichts dergleichen gewollt.«

»Und Sie?«

»Ich hatte mein Bein hergerichtet, aber niemand wollte es sehen.«

»Du warst vorbereitet«, sagte Delpha.

»Klar. Ich hab’s dir gezeigt. Ich hab die Narbe überschminkt. Der Trick ist, dass man das ganze Bein macht, also den ganzen Oberschenkel. Die Narbe muss ganz mit Schminke ausgefüllt sein. Wir haben’s erst mit Wachs probiert. Am Schluss sind wir bei Theaterschminke und Abdeckstift gelandet. Wir haben ja in Goree Kosmetikerin gelernt. Man muss nur die Ränder mit einem Küchenschwamm gut verwischen. Auf die Entfernung bemerkt man nichts. Solange niemand dran rumreibt oder eine Lupe zückt. Hat beides keiner gemacht. Nur einen kurzen Blick drauf geworfen. Em …« Ruby lachte. »Em hat immer ganz keusch getan und schnell ihren Rock wieder runtergezogen. Hat echt jedes Mal funktioniert, keine Ahnung, warum.«

»Und wie war das mit Ihren Namen?«, fragte Phelan. »Hatten Sie keine Sorge, dass Ihnen Ihrer rausrutscht oder Sie auf ihn reagieren?«

Ruby legte die Stirn in Falten. »Das waren wir gewohnt.«

Schweigend drehte Phelan einen Kugelschreiber zwischen den Fingern und betrachtete Ruby. »Das ist erstaunlich.«

Offenbar nicht für ihre Mandantin.

»Du wolltest doch, dass ich Helen sage, sie soll Emerald in Ruhe lassen«, sagte Delpha. »Sie bestechen. Warum steckst du ihr nicht einfach einen Zettel zu, wenn du zu Besuch bist?«

Ruby legte die Hände auf die Sitzfläche des Stuhls und richtete sich auf. »Könnt ich. Du hast ja schon gesagt, dass du nicht hingehst. Deshalb bin ich hier. Würden Sie hingehen, Mr Phelan? Und Em besuchen? Und vielleicht an einem anderen Samstag hinfahren und mit Helen reden? Ich könnte jeden Monat zwanzig Dollar auf ihr Gefängnisladenkonto überweisen, wenn sie dafür Em in Ruhe lässt. Wär nur besser, wenn jemand anderes als ich das mit ihr aushandelt. Weil wenn ich Helens hässliche Fresse seh, geht’s garantiert mit mir durch. Dann würd ich ihr am liebsten einen Schaschlikspieß so tief ins Ohr rammen, dass er aus dem anderen wieder rauskommt.« Ruby fuhr sich durch die Haare. Dabei blieben einzelne Haare zwischen ihren Fingern hängen. Sie knäulte sie in einer Hand zusammen und schloss die Finger darum.

Besorgt betrachtete Phelan sie.

Ruby richtete sich auf. Die Hände wieder ruhig. »Wenn Sie glauben, dass wir Sie nicht zahlen können, täuschen Sie sich. Emerald und ich haben immer noch die Farm.«

Phelan wirkte überrascht, dann verzog er das Gesicht. »Miss McClung, Sie sollten die Farm nicht beleihen. Die brauchen Sie und Ihre Schwester für einen Neuanfang.«

»Die Nachbarn wollen sie haben, wir werden verkaufen.« Sie schob die Hand in eine Plastikeinkaufstasche und holte eine kleine Handtasche heraus, die Delpha überall wiedererkannt hätte. Wo auch immer sie dieses handgefertigte Stück erblickt hätte, egal an welchem exotischen Ort, auf den sie auf dem Globus in der Gefängnisbücherei den Finger gelegt hatte – Sansibar, Madagaskar, Port-au-Prince, Prag ‒, sie hätte immer gewusst, dass sie aus den Händen einer Insassin von Gatesville stammte. Sie selbst besaß eine dieser Taschen in größerem Format, die sie selbst gemacht hatte, mit einem eingeprägten Flechtmuster.

»Für das Haus interessieren sich die Nachbarn nicht, nur für das Land«, sagte Ruby. »Lang her, dass dort alles weggeweht wurde. Inzwischen bleibt der Mutterboden im Panhandle.« Sie zog ein dickes Bündel Zwanziger aus der Tasche und legte es auf Phelans Schreibtisch. »Von der Anzahlung«, sagte sie. »Den Scheck sollte ich zwar noch nicht einlösen, aber der Verkauf ist sowieso bald abgeschlossen. Reicht das für den Anfang?«

Phelan musterte das Bündel. »Das ist eine Menge für den Anfang.«

Ein Schatten zog über Rubys schmales Gesicht. »Aber nichts im Vergleich dazu, was meine Schwester wert ist.«

Phelan erklärte Ruby McClung, dass Delpha sich bei ihr melden würde, falls sie den Fall übernähmen. Wenn nicht, würden sie ihr die großzügige Anzahlung natürlich zurückerstatten. Rubys Unterlippe zitterte, aber sie nickte. Sie legte das Täschchen zurück in die Einkaufstasche und schlüpfte in den puderblauen Mantel.

»Mist«, sagte Phelan und schob seinen Stuhl zurück. Delpha hatte Ruby McClung hinausbegleitet und saß ihm jetzt wieder in seinem Büro gegenüber. Die Luft hing schwer im Raum. Nicht nur vom Zigarettenrauch. Auch von Rubys Verzweiflung, die sie zwar unter Kontrolle gehalten hatte, aber nicht ganz hatte verbergen können.

»Sie könnte zum Gefängnisdirektor gehen …«, überlegte Phelan.

Delpha neigte den Kopf zur Seite und kräuselte die Nase.

»Okay, verstanden. Was denken Sie?«, fragte Phelan.

»Ich glaube, da steckt noch mehr dahinter, und ich frage mich, was es sein könnte und warum sie es uns nicht erzählt.«

Phelan nickte. »Wissen Sie irgendetwas über sie, also aus Gatesville, was sie uns nicht erzählt hat?«

»Eigentlich nicht. Ich war nicht besonders eng mit den beiden. Übrigens war genau das das Problem. Es waren immer nur die beiden. Nicht die eine oder die andere. Dass sie kurz vor einer Entlassung auf Bewährung standen, hatte ich schon gehört. Von der Sache mit Helen wusste ich nichts.«

»Was ist diese Helen für eine?«

»Mondgesicht. Akne, störrische Haare, die in alle Richtungen abstehen. Ein echtes Riesenbaby, sicher eins fünfundachtzig und … ja, wahrscheinlich um einiges mehr als zwei Zentner. Breite kräftige Schultern, aber der Rest wabbelig. So als würde sie von der Mitte aus schmelzen. Allerdings hab ich nie was davon gehört, dass sie zu Gewalt neigt.«

»Hm. Haben Sie diese Sache mit dem Kartoffelschäler mitgekriegt?«

»Justine.« Delpha schüttelte den Kopf. »Justine Gaddy. Jeder wusste, dass die arme Frau einen Dachschaden hat. Sie wurde nach Rusk verlegt. Kennen Sie die Anstalt? Die haben eine Abteilung für geistesgestörte Kriminelle. Die McClungs habe ich zwei, drei Jahre miterlebt. Sie kamen aus dem Staatsgefängnis Goree. Ruby sieht mittlerweile ziemlich fertig aus, aber anfangs glichen sie zwei Porzellanpüppchen.«

»Was ist mit dem, was sie über Sie gesagt hat? Dass Sie nicht wieder nach Gatesville wollen.«

Ein bestätigender Blick von Delpha.

»Nicht einmal wegen eines Falls«, sagte Phelan beiläufig.

»Nicht einmal deswegen. Da müsste es schon um Leben und Tod gehen. Und auf meiner Leben-und-Tod-Liste stehen die McClungs nicht, Tom.« Sie sah ihm in die Augen.

»Okay.« Er nickte einige Male. »Kennen Sie draußen jemanden, der mit Helen zu tun haben könnte?«

Er hatte sie nicht rundweg gebeten, nach Gatesville zu fahren. Schließlich hatte Ruby gesagt, dass Delpha nicht dorthin zurückwollte. Nicht deswegen und auch nicht wegen etwas anderem. Daher hatte er sie gar nicht erst gefragt.

Sie rollte mit dem Mandantenstuhl ein Stück zurück und rieb sich die Schläfe. Sie erinnerte sich, dass sie jemanden regelmäßig mit Helen zusammen gesehen hatte, nur wen? Delpha dachte an die Frauen aus dem Übergangswohnheim zurück, wo sie im letzten April nach ihrer Entlassung untergekommen war. Eine nach der anderen x-te sie ihre nervösen Gesichter im Kopf aus. Von denen war es keine. Dann dachte sie an die Frau, die am selben Tag wie sie entlassen worden war. Nein, die war es auch nicht. Oder vielleicht doch? Eine große grauhaarige Frau, Mrs Whitaker. Mrs Whitaker hatte auch einen Vornamen, aber sie hatte einen nie dazu aufgefordert, ihn zu benutzen. Das war ihre unsichtbare Mauer. Manchmal saß sie mit Helen im Speisesaal. Sie waren gleich groß und unterschieden sich hauptsächlich im Alter.

Ein alter Mann von mindestens fünfzig hatte Mrs Whitaker in einem alten Auto abgeholt und Delpha mit zur Bushaltestelle mitgenommen.

»Eine«, antwortete Delpha Phelan und sah die große Helen und die große Mrs Whitaker wie zwei Kamele nebeneinander hertrotten und auf alle anderen herabsehen. Sie überlegte, wohin Mrs Whitaker und, wie sie vermutete, Mr Whitaker an diesem Tag wohl gewollt hatten. Sie selbst war völlig durch den Wind gewesen, ihr Inneres hatte gestottert wie ein eiernder Deckenventilator, die Luft der Freiheit fuhr durch ihre Haare und über ihre nackte Haut: Gesicht, Hals, Unterarme, Beine. Sie trat in diesen Luftschwall, und Tränen schossen ihr in die Augen, strömten unaufhaltsam und still aus ihr heraus. Die kurze Unterhaltung, die sie im Auto führten, ging an ihr vorbei. Die beiden Eheleute fingen an, miteinander zu reden, während Delpha genug damit zu tun hatte, im Auto sitzen zu bleiben, nachdem die Tränen getrocknet waren. Es war, als würden Teile von ihr hinausfliegen wollen. Ihre Haare, ihre Augen, ihre Arme. Sie hielt sich am Türgriff fest und verschlang den Anblick der Straße vor ihr.

»Gut. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie anzurufen?«

»Ich schau mal, ob ich ihre Nummer auftreiben kann«, sagte Delpha.

»Derweil gehe ich zu unserem Freund Joe Ford. Vielleicht kennt er jemanden in Gatesville. Wenn ich zurück bin, werden wir entscheiden.«

Werden wir entscheiden. Nicht werde ich entscheiden.

Joe Ford war ein alter Schulfreund von Phelan – und Delphas Bewährungshelfer. Ein 1,95 m großes sprechendes Handbuch des Texas Board of Pardons and Paroles. Mr Ford war so voll mit guten Ratschlägen wie seine Korkpinnwand mit Zetteln und eselsohrigen Fotos. Er war es gewesen, der den zögernden Phelan überredet hatte, Delpha Wade eine Chance zu geben.

Schau dir die Frau einfach mal an, Tommy. Sie ist gut. Phelan hatte den Eindruck, dass das in einem anderen Leben gewesen war.

Delpha nicht. Sie neigte nicht dazu, Dinge für selbstverständlich zu nehmen. Eigentlich gar nicht. Wenn man auf Bewährung war, dann hatte man das Gefühl, in allem ständig auf Bewährung zu sein.

Nachdem Phelan gegangen war, nahm sich Delpha die örtlichen Telefonbücher vor. Sie hatte sie stapelweise bei der Telefongesellschaft bestellt und bewahrte sie in den beiden unteren Laden des Aktenschranks auf. Einige waren relativ dick, andere waren schmal wie Broschüren. Jetzt musste sie deswegen nicht mehr in die Bücherei gehen. Den dicksten Wälzer für Houston brauchte sie nicht zu konsultieren, weil sie wusste, dass die Whitakers nicht dorthin gewollt hatten. Sie war ziemlich sicher, dass es eine kleine Stadt weit im Südosten gewesen war.

Ohne die Geschäftigkeit, die Phelan ständig verbreitete, war es ruhig im Büro. Delpha saß am Schreibtisch, den Kopf in beide Hände gestützt, die Augen geschlossen, die Handballen dagegengepresst. Sie kehrte in Gedanken zurück zu dem Tag, an dem sie in dem Auto gesessen hatte. Ein altes Auto, das sie an den 49er Ford Sedan erinnerte, den ihr Onkel Lafayette gefahren hatte, und der Geruch der Sitzpolster war ihr wieder in der Nase. Als hätten sich die sommerlichen Hundstage darin festgesetzt.

Sie hatten sich nicht angefasst, Mr und Mrs Whitaker, aber er hatte gegrinst und gesagt: »Gut, dich zu sehen, Shug«, und sie hatte dasselbe erwidert. Dann hatte sie ihm gesagt, dass sie das Mädchen zum Busbahnhof bringen würden. Dabei warf sie Delpha einen entschuldigenden Blick zu.

Der alte Mann hatte gefragt, wohin Delpha wollte, und Delpha hatte geantwortet, Beaumont. »Wohin sind Sie unterwegs?«

Darauf hatte er den Namen des Städtchens genannt. Im selben Moment hatte Mrs Whitaker mit der größten Erleichterung »nach Hause« gesagt. Und die Stimme ihres Mannes halb übertönt. Wie hatte die Stadt geheißen? Sie hatte den Namen vergessen, aber damals war ihr klar gewesen, dass sie durch Beaumont kommen oder nicht weit daran vorbeifahren würden. Sie erinnerte sich, dass sie gedacht hatte, sie könnten sie ein gutes Stück des Wegs mitnehmen, aber dass sie keine Lust dazu hatten. Es machte ihr nichts aus. Mrs Whitaker war nett zu ihr gewesen, hatte sie Schätzchen genannt, wollte sich aber offenbar lieber mit ihrem Mann unterhalten. Außerdem hatte Delpha keine Lust gehabt, sich irgendwas aus den Fingern zu saugen, worüber sie sich mit ihnen unterhalten konnte. Jedenfalls nicht an diesem Tag, an dem ihre Gedanken sich sowieso nicht in Worte fassen ließen.

Sie presste ihre Handballen noch fester gegen die Augen, aber der Name des Ehemanns wollte ihr einfach nicht einfallen. Gut, dich zu sehen … Mit welchem Namen hatte Mrs Whitaker ihren Mann begrüßt? Delpha sprach es sich schnell vor. Gut, dich zu sehen … Gut, … Gut, dich zu sehen … Dan. Nein. Dean? Gut, dich zu sehen, Dean. Das könnte es gewesen sein.

Die Tür zu dem Gebäude, in dem sich das Büro des Bewährungshelfers befand, wurde aufgerissen. Ein muskulöser, rotgesichtiger Weißer in einem verdreckten T-Shirt und khakifarbenen Arbeitshosen rumpelte in Tom Phelan. Ungeduldig befreite sich der Mann und machte sich davon. Phelan schaffte es gerade so eben, auf den Füßen zu bleiben. Sein Freund Joe Ford, der Bewährungshelfer, lief dem Mann hinterher und rief Tom zu: »Du musst mir helfen.«

Phelan verdrehte die Augen, dann lief auch er los.

»Mann, Felton, bleib stehen!«, rief Joe. »Dale, verflixt! Du hast mich gar nicht zu Ende reden lassen.«

Die breiten Straßen von Downtown mit den heruntergekommenen riesigen Gebäuden, auf denen nur wenige Leute unterwegs waren und es kaum Grün gab, wo man sich verstecken konnte, waren für eine Flucht denkbar ungeeignet, aber die Arme und Beine des Mannes pumpten: Scheiß auf den Staat Texas.

Der Flüchtende verschwand zwischen zwei Gebäuden. Phelan legte einen Zahn zu. Er rannte an Joe Ford vorbei und um die Ecke. Sah gerade noch die Füße des Manns, als er um die nächste Ecke bog. Der Mann rannte auf das Jefferson Theatre zu, kürzte über den danebenliegenden Parkplatz ab und verschwand auf der Rückseite des Gebäudes.

Phelan folgte ihm über den Parkplatz, überquerte eine Straße und landete in einer Gasse. Niemand. Ächzend und keuchend erreichte eine Minute später auch Joe Ford die Gasse, in der Phelan sich wie ein Kreisel um die eigene Achse drehte und alle Richtungen absuchte.

»Der ist weg. Warum sind wir überhaupt hinter ihm her?« Phelans Hemd klebte an seiner Haut.

Schnaufend beugte Joe sich vor. »Ich hab … den harten Hund gegeben. Dass ich einen Verstoß gegen die Bewährungsauflagen in seiner Akte vermerken würde, weil er einen Termin vergeigt hat. Er hat mir erklärt, warum er nicht zu dem Termin erschienen ist, und gerade als ich ihm sagen wollte, dass ich noch mal ein Auge zudrücken würde … da ist er ausgeflippt. Hat rumgeschrien, dass er lieber tot wäre, als zurück nach Naught zu gehen.«

»McNaught Unit? Der Knast draußen an der Landstraße?«

»Ja.«

Auf einmal hörten sie ein ständig an- und abschwellendes schwaches Geräusch. Als würde etwas irgendwo herunterkollern, aber rhythmisch. Sie blickten die Straße rauf und runter, dann in die Gasse auf der anderen Seite. Kartons lagen herum, ein Müllcontainer war unter die Feuertreppe an der Rückseite des Hotel Beaumont geschoben worden.

Joe legte den Kopf in den Nacken. »Ach du Scheiße. Genau das hat mir noch gefehlt.«

Phelan sah nach oben. Der Mann hangelte sich die Feuertreppe des Hotel Beaumont hinauf, das Weiß seines T-Shirts verschmolz mit dem der Ziegelmauer. War das etwa … ja, es war.

Das war das Geräusch. Dale schluchzte.

»Was will er denn da oben?«, sagte Phelan. »Zehn Stockwerke über einem Meer aus Kartons.«

Mit großen Schritten überquerten sie die Straße. Der Deckel des Müllcontainers war geschlossen. Von dort aus konnte man knapp die unterste Stufe der Feuertreppe erreichen. Es war eindeutig der Weg, den der Flüchtende genommen hatte. Stockwerk um Stockwerk führte die schmale Treppe im Zickzack an den weißen Ziegeln entlang in die Höhe, bis zum kühlen Blau des Himmels.

Joe erschauerte.

Phelan wusste, warum. »Cops schauen gern auf die Welt runter. Lass uns warten, bis sie da sind.«

»Würd ich ja gerne. Da ist nur eins, Tom. Erinnerst du dich an den Typ vor ein paar Jahren, zu dem ich die Cops geschickt hatte, um ihn abzuholen? Sie haben ihn zusammen mit seinem Hund und einem Loch im Kopf im Bett gefunden.«

»Na und?«

»Eine Personalakte mit lauter toten Klienten ist nicht gerade eine Empfehlung, Tom.« Joe hielt eine Hand an die Seite des Munds und rief: »Dale! Komm schon runter!«

Drei Stockwerke über ihnen drehte sich der Mann auf der Feuertreppe um und spuckte auf Joe herunter.

Beide sprangen zur Seite, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Mit einer düsteren Ahnung sah Phelan kurz zu Joe. Dasselbe knochige Gesicht, das er zum ersten Mal mit elf Jahren gesehen hatte. Dieselbe Bohnenstange, die einmal an einem anderen trostlosen Ort neben ihm gestanden hatte, als er mit einem miesen Arschloch abrechnen wollte und sich die Cousins des miesen Arschlochs hinter ihm aufbauten. Das Gefühl der Dankbarkeit lastete schwer auf ihm. Er und Joe bei Joes Hochzeit, Seite an Seite in geliehenen Fräcken. Und es war Joe, der ihm Delpha Wade vermittelt hatte.

»Okay, aber du schuldest mir einen Gefallen, und zwar einen ohne Ablaufdatum«, sagte Phelan. »Zugang zu sämtlichen deiner Akten, ob vertraulich oder nicht.«

Joe funkelte ihn an.

»Wie heißt er mit Nachnamen?«

»Felton. Dale Felton.«

»Okay. Hilf mir.« Die beiden kletterten auf den Container, und Joe, der fast einen Kopf größer als Phelan war, schob ihn zu der Feuertreppe hoch. Phelan spannte Schultern und Brust an und zog sich auf das Metallgerüst. Er richtete sich auf, packte das windige Geländer und rannte zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf. Dabei brüllte er Dale etwas zu.

Der Mann hangelte sich weiter nach oben. Dabei heulte er und redete eindringlich auf sich ein. Phelan konnte nur einzelne Wörter ausmachen.

Allein war das häufigste.

Phelan erreichte den ersten Absatz, schwang sich um das Geländer herum und rannte weiter. Dann blieb er einen kurzen Augenblick stehen, um Luft zu holen. Er legte den Kopf in den Nacken, um abzuschätzen, wie weit er noch hatte. Soweit man von hier aus sehen konnte, endete die Metalltreppe an einer Tür. Nein, doch nicht. Auf der einen Seite der Tür war ein Fenster wie in den anderen Stockwerken. Auf der anderen Seite war eine wacklige Leiter, die hoch zum Hoteldach führte.

Dale kletterte weiter.

Windig hier oben. Und um einiges kälter. »Dale! Joe will mit Ihnen reden.«

Ohne das Geländer loszulassen, drehte der Mann ihm halb den Kopf zu. »Er schickt mich zurück!«

»Nein, das stimmt nicht. Vielleicht kriegen Sie zwei Tage wegen …, höchstens –«, rief Phelan, und in dem Moment plärrte unter ihm eine Sirene los.