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Ann-Sybill Björnhof ist 27, als eine plötzliche Diagnose ihr Leben aus der Bahn wirft. Während ihr Körper sich verändert, entgleitet ihr nach und nach auch alles, was sie für sicher hielt: Beziehungen, Pläne, Zukunft. Blütensammler ist eine Geschichte über Abschied und Akzeptanz, über die Stille zwischen den Worten – und über das, was bleibt, wenn alles andere vergeht.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jede Geschichte beginnt mit einer Frage. Meine war: Was passiert, wenn wir uns dem Unausweichlichen stellen müssen?
Der Blütensammler ist kein typisches Drama, sondern eine Reflexion darüber, wie wir mit der eigenen Vergänglichkeit umgehen. Was bleibt, wenn wir loslassen müssen? Wie verändert sich unsere Wahrnehmung des Todes, wenn wir ihm nicht mehr ausweichen können?
Dieses Buch ist für all jene, die sich diesen Fragen stellen wollen – nicht aus Angst, sondern aus der Neugier, das Leben besser zu verstehen.
— Michael Reekers.
Michael Reekers
Der Blütensammler
© 2025 Michael ReekersUmschlag & Illustration: Ein gemeinsames Werk von Mensch und Maschine – Michael Reekers & ChatGPT-4oLektorat & Korrektorat: Michael Reekers im kreativen Dialog mit ChatGPT-4o
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBNSoftcover: 978-3-384-54078-2E-Book: 978-3-384-54079-9
Dieses Buch ist das Ergebnis eines kreativen Austauschs zwischen Mensch und KI. Die Story, die Figuren und die kreativen Inhalte sind allein das Werk von Michael Reekers. Künstliche Intelligenz diente lediglich als unterstützendes Werkzeug für Struktur, sprachliche Präzision und die Reflexion von Ideen – jedoch ohne eigene kreative Impulse oder Entscheidungen. Jeder erzählerische Aspekt, jede Wendung und jede emotionale Tiefe dieses Buches entspringt der Vorstellungskraft und Handschrift des Autors.Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Die Verantwortung für die Inhalte liegt beim Autor. Jede Verwertung ist ohne ausdrückliche Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:
tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice"Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Sonnenblume 🌻
Kapitel 2 – Schwarze Tulpe 🌷
Kapitel 3 – Distel 🌿
Kapitel 4 – Eisenhut 🌿
Kapitel 5 – Vergissmeinnicht 🌸
Kapitel 6 – Chrysantheme 🌼
Kapitel 7 – Kirschblüte 🌸
Kapitel 8 – Lilie ⚜️
Kapitel 9 – Mohnblume ❤️
Epilog
D
er Morgen ist jung, die Luft von kühler Klarheit durchzogen. Die Welt duftet nach Erde, nach frischem Grün und dem Versprechen eines neuen Tages.
Aus der Dunkelheit ihres Stocks krabbelt eine Biene ins Licht. Gestern noch war sie ein träges Geschöpf, schlüpfrige Glieder, ein weicher Leib, der nicht wusste, wie es ist, zu fliegen. Doch heute summt das Leben in ihr. Die Sonne fällt warm auf ihren Panzer, wärmt ihre feinen Flügel. Ein erster Flügelschlag, dann ein zweiter – das Zittern eines Wesens, das seine eigene Schwere überwindet.
Sie hebt sich, taumelt kurz, fängt sich dann. Die Welt öffnet sich vor ihr, weit und duftend, ein unermesslicher Teppich aus Farben. Blütenkelche wiegen sich im Wind, recken sich der Sonne entgegen, offen und wartend. Gelb wie das Licht, weiß wie ein verspieltes Lächeln, violett wie der Abendhimmel. Die Luft flimmert von unsichtbaren Düften, von süßem Nektar und dem leisen Wispern der Blätter.
Die Biene treibt dahin, geführt von einem Instinkt, der älter ist als sie selbst. Sie spürt die Strömungen des Windes, das leise Beben der Natur um sie herum. Dann sieht sie ihn – ihren ersten Kelch, weit geöffnet, als würde er sie willkommen heißen. Sanft lässt sie sich nieder, taucht ein in das goldene Herz der Blüte. Der Duft umfängt sie, süß und tief, während ihre Beine den ersten Blütenstaub sammeln.
Zum ersten Mal gehört sie der Welt.
Die Biene fliegt von Blüte zu Blüte, taumelnd, suchend, während ihre feinen Beine den goldenen Staub einsammeln, der an ihrem Körper haften bleibt. Jede Blume ist ein neuer Tanz, eine neue Entdeckung. Die Welt scheint endlos in Farben zu leuchten, ein einziges, duftendes Mosaik aus Möglichkeiten.
Nach einer Weile spürt sie das erste Ziehen der Erschöpfung. Die Morgensonne wärmt sie, doch ihr kleiner Körper verlangt nach einem Moment der Rast. Sie verlässt die Blütenwiese, trägt die Schwere des ersten Nektars in sich und setzt zur Landung an – auf einem kühlen, glatten Untergrund.
Ein Fensterbrett.
Drinnen, durch das Glas, blickt eine junge Frau auf die kleine Besucherin. Ihr Blick ist ruhig, fast gedankenverloren. Sie hält eine dampfende Tasse Kaffee in den Händen, das dunkle Getränk spiegelt das sanfte Licht des Morgens wider. Ihr langes Haar, frisch gekämmt, fällt ihr in weichen Strähnen über die Schultern, umrahmt ihr Gesicht wie ein goldener Rahmen ein altes Gemälde.
Für einen Moment verweilen ihre Augen auf der Biene.
Draußen summt das Leben, Blüten öffnen sich, Wiesen leuchten. Drinnen schluckt die Stille jedes Geräusch.
Die Frau nimmt einen Schluck Kaffee.
Drinnen, hinter dem Glas, blickt eine junge Frau auf die kleine Biene.
Ann-Sybill Björnhof hatte den Tag mit der gleichen Gewohnheit begonnen wie jeden anderen: aufstehen, Haare bürsten, zusammenbinden, duschen, Kaffee trinken, anziehen. Ein Ritual, in dem die Welt noch für einen Moment geordnet blieb, bevor der Alltag über sie hereinbrach.
Nun stand sie mit der warmen Tasse in der Hand vor dem Fenster, ihr Blick ruhte auf dem summenden Wesen, das sich für einen Atemzug der Rast genau hier niedergelassen hatte. Sie beobachtete, wie sich die feinen Flügel in der Morgensonne spannten, wie das winzige Leben in einer anderen Taktung pulsierte als ihres.
Sie nahm einen Schluck Kaffee, der erste bittere Geschmack des Tages. Dann wandte sie sich ab.
Der Kleiderschrank stand offen, Farben reihten sich aneinander, Stoffe, die sich anfühlten wie vergangene Tage. Sie strich mit den Fingern über die Bügel, suchte etwas Passendes für diesen 4. Mai. Nicht zu gewagt für die Arbeit, aber ansprechend genug für den Abend. Dezent, aber nicht unscheinbar. Elegant, aber nicht übertrieben. Vielleicht würde sie nach der Arbeit noch mit Tom ausgehen – wenn der Tag sich fügte, wenn das Leben eine neue Hoffnung zuließ.
Es war die feine Balance zwischen Zurückhaltung und Wirkung, zwischen Professionalität und subtiler Verführung. Nicht zu viel, nicht zu wenig – sondern genau richtig, um aufzufallen, ohne anzuecken. Sie wollte Tom auffallen – nicht den Kollegen.
Aber was anziehen?
Die Wahl fiel ihr schwer, fast unmerklich zögerte sie länger als sonst. Ein Hauch von Unsicherheit lag in der Luft, ein kleiner Widerstand, den sie nicht benennen konnte. Schließlich entschied sie sich – eine leichte Carmen-Bluse mit elastischem Ausschnitt. Tagsüber hochgezogen, dezent, kombiniert mit einem gestrickten Bolero. Doch für den Abend? Ein kleiner Handgriff, und die Bluse ließ sich über die Schultern tragen – ein Hauch von Sommer, von Möglichkeit. Eine Einladung, den Abend nicht zu früh enden zu lassen.
Dann der letzte Schritt vor dem Aufbruch: ihre Tasche. Und der Schlüssel.
Er fehlte.
Wie jeden Tag suchte sie. Ein fast absurdes Ritual, ein Spiel, das sie mit sich selbst spielte, ohne es zu wollen. War er in der Küche? Neben dem Spiegel? In der Jackentasche vom Vortag?
Schließlich fand sie ihn – unter ihrer Tasche, dort, wo er nie sein sollte und doch immer wieder war.
Ein kurzer Moment des Erleichtert-Seins, dann das leise Schmunzeln über sich selbst.
Die Biene war längst weitergeflogen.
Schlüssel in der Hand, Tasche über der Schulter – bereit zum Aufbruch.
Doch anstatt zur Haustür zu gehen, blieb Ann für einen Moment stehen. Ihr Blick fiel auf den Autoschlüssel, der neben einer Sonnenbrille auf der Kommode lag. Routine hätte verlangt, dass sie ihn nahm, sich ins Auto setzte und sich durch den morgendlichen Verkehr kämpfte. Doch heute… heute hatte sie keine Lust darauf.
Die Parkplatzsuche vor ihrem Arbeitsgebäude war ein Albtraum geworden, seit die Stadt beschlossen hatte, die Stellflächen in eine öffentliche Parkzone zu verwandeln. Jeden Morgen derselbe Kampf: enge Lücken, hupende Autos, genervte Fahrer, die sich gegenseitig den Platz streitig machten. Der Zeitaufwand war letztlich derselbe, ob mit dem Auto oder mit dem Fahrrad.
Sie ließ den Schlüssel liegen.
Zum ersten Mal in diesem Jahr würde sie ihr Fahrrad nehmen.
Sie ging zur Garage und öffnete das Tor. Der vertraute Geruch von kaltem Metall, ein Hauch von altem Gummi und leichtem Staub empfing sie. Ihr Fahrrad lehnte an der Wand, etwas eingestaubt, aber sonst in gutem Zustand. Sie schob es ins Freie, trat probeweise auf die Pedale – und spürte sofort den Widerstand.
Die Reifen waren weich.
Natürlich.
Sie seufzte, aber es war kein ärgerliches Seufzen, mehr ein resigniertes. Luft aufpumpen war kein Drama, aber es bedeutete einen Umweg – sie musste auf dem Weg zur Arbeit an der Tankstelle vorbeifahren.
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schob das Fahrrad auf den Bürgersteig und trat in die Pedale.
Der Morgen war frisch, und in der Luft lag der Duft von blühenden Bäumen.
An der Tankstelle stellte Ann ihr Fahrrad neben der Luftstation ab und zog sich einen der dünnen Dieselhandschuhe aus dem Spender. Sie wusste es längst: Das größte Problem beim Befüllen der Reifen war nicht die Luft selbst, sondern der feine schwarze Abrieb, der sich bei jeder Berührung auf ihren Fingern absetzte. Ohne Handschuhe konnte sie sich den ganzen Tag lang die Hände schrubben – das Zeug blieb trotzdem haften.
Mit einem routinierten Griff schraubte sie den kleinen Ventildeckel ab und setzte die Luftpumpe an. Ein kurzes Zischen, dann das vertraute leise Dröhnen der komprimierten Luft, die sich in den Schlauch presste. Der Reifen straffte sich unter dem Druck. Sie prüfte ihn mit der flachen Hand, bevor sie zum zweiten wechselte.
Als sie fertig war, streifte sie die Handschuhe ab und warf sie in den Abfallbehälter neben der Zapfsäule. Dann erst fiel ihr Blick auf die Uhr.
Sie war früh dran. Fast zehn Minuten.
Das passierte selten.
Die Tankstelle war leer. Keine Autos an den Zapfsäulen, keine Kunden an der Kasse. Der Duft von frischem Kaffee hing in der Luft, und da sie Zeit hatte, gönnte sie sich einen Cappuccino to go. Der heiße Becher wärmte ihre Finger, als sie zur Kasse ging, um zu bezahlen.
Neben dem Tresen stand ein Aufsteller mit Blumensträußen.
Ein Dutzend dicht gebundener Gebinde, Blüten in tiefem Rot, leuchtendem Gelb, sanftem Rosa. Die Farben waren satt, die Stiele frisch geschnitten, winzige Wassertropfen schimmerten auf den Blättern. Die Blüten waren so voll, so lebendig, als würden sie förmlich aus den Sträußen quellen.
Für einen Moment blieb Ann stehen und betrachtete sie.
Sie stellte sich vor, wie sich heute jemand – vermutlich Frauen – über diese Blumen freuen würden. Vielleicht würden Männer sie auf dem Heimweg kaufen, mit einem Hauch von schlechtem Gewissen, oder als spontane Geste. Vielleicht würden sie einen Küchentisch schmücken, vielleicht die Fensterbank eines kleinen Apartments.
Ann nahm einen Schluck ihres Cappuccinos. Der Schaum war süß, das Kaffeearoma kräftig.
Sie wandte sich ab, schob die Tür auf und trat zurück in die Morgenluft.
Das Bürogebäude war ein moderner Bau aus Glas und Beton, funktional, aber nicht einladend. Ann stellte ihr Fahrrad im Innenhof ab, schob es in eine der Halterungen und schüttelte sich kurz die Schultern aus. Die Bewegung tat gut, nach der Fahrt durch die noch kühle Morgenluft. Ein letzter Schluck vom inzwischen lauwarmen Cappuccino, dann betrat sie das Gebäude.
Der Flur roch nach frisch gewischtem Boden, vermischt mit dem dezenten Duft von Kopierpapier und abgestandener Klimaanlagenluft. Sie trat durch die Glastür in ihr Büro – ein Raum mit drei Arbeitsplätzen, getrennt durch blickdichte Trennwände aus grauem Stoff. Es war ein merkwürdiges Arrangement: Man hörte die anderen, wusste, dass sie da waren, aber man sah sie nicht.
"Hey Ann!", rief eine Stimme von der anderen Seite der Trennwand. Es war Jonas, ihr direkter Sitznachbar. "Hab dir einen Platz in der Kaffeemaschinen-Schlange freigehalten."
Ann lachte leise. "Oh, wie großzügig. Aber ich hab mir unterwegs schon was gegönnt."
"Na, dann bist du heute ja richtig luxuriös unterwegs!"
Von der anderen Seite des Büros summte bereits das Geräusch einer Tastatur. Laura, die Dritte im Bunde, hatte sich schon in die erste Beschwerde-Mail vertieft. Ann konnte sie nicht sehen, aber sie wusste genau, dass Laura ihre Brille mit der leicht schiefen Haltung auf der Nase trug und mit zusammengezogenen Augenbrauen las.
"Schwieriger Fall?" fragte Ann in den Raum hinein.
Ein genervtes Seufzen. "Familie bucht versehentlich für November statt Juli, taucht dann am Flughafen auf und verlangt eine kostenlose Umbuchung."
Jonas lachte. "Die Klassiker. Lass mich raten: 'Aber wir sind doch treue Kunden!'"
"Exakt."
Ann ließ sich in ihren Stuhl sinken, startete den Rechner und öffnete die erste Mail des Tages. Alltag. Struktur. Ein bisschen chaotisch, aber im Grunde immer gleich.
Mittagspause
Bis zum Mittag war der Morgen ohne besondere Vorkommnisse verstrichen – nur das übliche Rauschen aus E-Mails, Telefonaten und kurzen Abstimmungen über die Trennwände hinweg.
Kurz nach zwölf schob Jonas seinen Stuhl zurück. "Foodtruck?"
"Foodtruck," bestätigte Laura, die sich endlich aus ihrem Bildschirm löste.
Ann stand auf, streckte sich kurz und folgte den beiden nach draußen.
Der erste Sommertag lag über der Stadt. Die Sonne strahlte warm auf die Bürgersteige, und ein leichtes Flimmern lag über dem Asphalt. Vor dem Bürogebäude hatte sich eine kleine Schlange vor dem Foodtruck gebildet, der jeden Mittag in die Seitenstraße rollte. Der Geruch von frisch gegrilltem Gemüse, Brot und Gewürzen hing in der Luft, vermischt mit der fernen Brise von Blüten und warmem Stein.
Sie stellten sich an, warteten, redeten über nichts Bedeutendes – das Wetter, ein absurd hohes Beschwerdeanliegen von heute Morgen, Jonas’ neues Fahrrad, das er angeblich schon seit zwei Wochen „wieder richtig flott machen“ wollte.
Als sie ihre Bestellungen in den Händen hielten – Wraps für Jonas und Laura, ein belegtes Ciabatta für Ann – suchten sie sich eine Bank in der Sonne.
Ann lehnte sich zurück und ließ den Blick über die Straße schweifen. Es war einer dieser Tage, an denen der Sommer sich das erste Mal wirklich ankündigte, an denen die Luft einen Hauch von Urlaub trug. Die Welt war in Bewegung, Autos rauschten vorbei, eine Gruppe Studenten saß auf einer Wiese, lachend und mit Kaffeebechern in den Händen.
Laura senkte plötzlich den Blick und murmelte mit bedeutungsvoller Stimme: „Uuuuh… Verehrer auf 11 Uhr.“
Jonas riss den Kopf herum – aber in die falsche Richtung.
Ann hingegen warf automatisch einen Blick auf ihre Armbanduhr, was Laura kurz irritierte.
„Du Idiotin, Tom steht am Foodtruck“, flüsterte Laura mit einem breiten Grinsen.
Jonas, immer noch suchend, runzelte die Stirn. „11 Uhr? Wo denn?“
„Da, genau da!“, zischte Laura.
„Von mir aus oder von dir aus?“
„Dann ist es da!“
Ann und Laura lachten. Jonas jedoch versuchte weiterhin, mit leichtem Kopfwinkel „11 Uhr“ irgendwo in seiner Umgebung zu verorten, während Ann endlich in Richtung des Foodtrucks sah.
Ihr Blick traf auf Tom.
Für einen Moment schien der Trubel um sie herum leiser zu werden. Tom hatte sie bereits gesehen, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Ann erwiderte es, fast unbewusst, ein stiller Austausch, der keine Worte brauchte.
Es war nur ein Augenblick, ein winziger Moment zwischen den Geräuschen der Stadt, dem Summen der Gespräche und dem Duft von warmem Brot in der Luft.
Tom war Operations Manager, oder irgendetwas in der Richtung – eine Position in der Firmenleitung, die ihn zwar mit Autorität ausstattete, aber nie überheblich wirken ließ. Er war nahbar, lachte viel und hatte ein Talent dafür, aus jeder noch so trockenen Teamsitzung einen halbwegs erträglichen Termin zu machen. Seit der Weihnachtsfeier, als sie sich länger unterhalten hatten, machte er Ann immer wieder schöne Augen. Kleine Blicke, ein Lächeln hier, ein zufälliges Treffen am Kaffeeautomaten dort.
Jetzt kam er mit einem Wrap in der Hand von der Foodtruck-Schlange herüber und blieb neben ihnen stehen.
„Stör ich?“
„Nein, nein, ganz und gar nicht!“, rief Jonas mit einer Spur zu viel Begeisterung.
Ann nickte, während Laura Jonas unauffällig in die Seite knuffte.
Tom ließ sich neben Ann auf die Bank sinken, riss einen Bissen von seinem Wrap ab und kaute kurz.
„Wie geht’s dir heute?“ fragte er dann, während er sie ansah.
Ann lächelte vorsichtig – nicht zu breit, aus Angst, dass sich irgendwo noch ein Stück Ciabatta in ihren Zähnen versteckt hielt. „Gut… wirklich gut. Ich genieße das wunderschöne Wetter.“
„Ja…“ Tom blickte kurz in den Himmel, dann auf seine Hände, für einen Sekundenbruchteil unsicher. Es drohte, eines dieser belanglosen Gespräche über das Wetter zu werden.
Ann bemerkte sein Zögern.
„Hast du nicht Lust, mich heute Nachmittag nach Feierabend in die Stadt zu begleiten?“ Ihre Stimme klang leichter, als sie sich fühlte. „Ich wollte mir neue Wanderschuhe ansehen, und du hast doch gesagt, du kennst dich da aus.“
Tom blinzelte, überrascht – aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht, eines, das ein wenig tiefer ging als die üblichen Bürofloskeln.
„Klar“, sagte er. „Ich kenne da einen guten Laden. Und ich kann garantieren, dass du mit den richtigen Schuhen nach Hause gehst.“
Ann nahm noch einen Bissen von ihrem Ciabatta, kaute und sagte dann: „Oh, ich will heute vielleicht noch gar nicht kaufen, nur mal umsehen.“
Tom grinste. „Kein Problem. Ich bin ein geduldiger Berater.“
„Das hoffe ich.“
Jonas sah auf seine Uhr und schob sich den letzten Bissen seines Wraps in den Mund. „Wir müssen zurück.“
Laura verdrehte die Augen, knuffte ihn erneut in die Seite und seufzte gespielt. „Komm, wir lassen die beiden und gehen schon mal vor.“
Mit einem leicht irritierten Blick wanderte Jonas’ Aufmerksamkeit von ihr zu Ann und Tom. Es dauerte einen Moment, bis der Groschen fiel. „Ah. Jaja. Gut. Dann bis gleich.“
Er stand auf, während Laura ihn lachend mit sich zog und sich noch einmal grinsend zu Ann umdrehte.
Zwischen ihr und Tom kehrte für einen Moment Ruhe ein. Nur das ferne Rauschen des Stadtverkehrs und das gelegentliche Klappern von Geschirr von den anderen Bänken füllten die Stille.
Behutsam legte sie eine Hand auf seinen Unterarm, spürte den leichten Stoff seines Hemdes unter ihren Fingern. Als er aufsah, begegneten sich ihre Blicke.
„Ich freu mich auf nachher“, sagte sie leise.
Sein Lächeln war nicht nur gespielt oder beiläufig – es wirkte echt.
„Ich mich auch.“
Die Sonne tauchte die Stadt in warmes Gold, als sie später mit ihrem Fahrrad vor dem Bürogebäude wartete. Locker ruhte eine Hand auf dem Lenker, während ihr Blick über die Passanten glitt, die nach einem langen Arbeitstag den Heimweg antraten.
Dann trat Tom aus der Drehtür. Das Jackett hatte er lässig über den Arm gelegt, seine Haltung wirkte entspannt.
„Bereit?“
Ein Nicken. „Es ist ja nicht weit, oder?“
„Nein, ein kurzer Spaziergang. Wir nehmen den Parkweg, dann durch die Altstadt.“
Während sie losgingen, rollte Ann das Fahrrad neben sich her. In der Luft lag der Duft nach warmem Stein und den ersten blühenden Bäumen. Der kleine Stadtpark war noch belebt – Kinder spielten fangen, ein Hund jagte unermüdlich einem Ball hinterher, und auf den Bänken genossen Menschen mit Kaffeebechern die letzten Sonnenstrahlen.
Es fühlte sich angenehm an, nebeneinander herzugehen. Das Gespräch drehte sich um Jonas, der es vermutlich schaffen würde, sein Fahrrad noch drei weitere Monate „reparieren zu wollen“. Um Laura, die heute beim Foodtruck fünf Minuten überlegte, nur um dann doch wieder das Gleiche zu nehmen wie immer. Und um die absurden Beschwerden, die täglich auf ihren Bildschirmen landeten.
Die Altstadt öffnete sich vor ihnen mit ihren kopfsteingepflasterten Gassen, den verschnörkelten Laternen und den kleinen Läden, die jetzt im Abendlicht besonders einladend wirkten. Vor einer Patisserie standen Menschen mit Eis in der Hand, von irgendwo spielte jemand Gitarre.
Auf dem großen Platz blieb Ann kurz stehen.
Fast wie ein bunter Fleck mitten in der Stadt leuchtete dort ein riesiger Blumenstand. Unter einem weißen Stoffdach breitete sich ein Meer aus Farben aus – Rosen, Tulpen, Sonnenblumen, Lavendel. Der süßliche Duft hing in der Luft, eine Mischung aus frischem Grün und blühender Fülle. Dahinter, mitten in dieser farbenfrohen Oase, stand eine junge Frau in einem leichten Sommerkleid und band mit geschickten Fingern Sträuße.
„Ah, das Spital“, sagte Tom beiläufig.
Ihr Blick wanderte weiter, während er sprach.
„Ich lag da mal“, fuhr er fort. „Vor drei Jahren. Fahrradsturz. Bin über einen Bordstein geflogen und hab mir das Bein gebrochen.“
Ein belustigtes Schnauben. „Autsch.“
„Oh ja. War nicht mein glorreichster Moment.“
Beide lachten.
Tom trat näher an den Blumenstand heran und deutete auf einen Strauß. „Schau mal, die gelben Tulpen da – die sehen aus, als hätten sie eben erst die Sonne verschluckt.“
Ann folgte seinem Blick, ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. „Und die Rosen daneben? Wie aus einem kitschigen Liebesfilm.“
„Kitschig, aber irgendwie schön“, gab er zu, während er den Duft einer Blüte in sich aufnahm.
Mit einem nachdenklichen Ausdruck betrachtete sie die Blumen. „Ich muss den Stand meiner Schwester zeigen. Sie liebt Blumen, und sie will bald heiraten. Solche Sachen sind ihr gerade sehr, sehr wichtig.“
Tom nickte. „Dann solltet ihr unbedingt mal herkommen. Die Auswahl ist der Wahnsinn.“
Ein sanftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der Stand war wirklich wunderschön. Vielleicht würde sie Yjka hierher mitnehmen – sobald die Hochzeitsvorbereitungen sie das nächste Mal in Aufregung versetzten.
Das Date lief beinahe mühelos weiter, als hätte der Abend beschlossen, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Nachdem sie den Blumenstand hinter sich gelassen hatten, schlenderten sie noch ein wenig durch die Altstadt, vorbei an den gemütlichen kleinen Läden, die ihre Fenster mit warmem Licht füllten.
„Ich kenne da einen Laden, der den besten Chai der Stadt macht“, sagte Tom plötzlich und zeigte in eine schmale Seitengasse.
„Besser als der im Büro?“ fragte Ann mit gespieltem Zweifel.
„Welten besser.“
„Na gut, ich vertraue dir.“
Der kleine Teeladen lag versteckt zwischen zwei alten Fachwerkhäusern, fast unscheinbar, doch sobald sie eintraten, umfing sie eine warme, einladende Atmosphäre. Der Raum war in sanftes Licht getaucht, der Duft von Gewürzen und frisch aufgebrühtem Tee lag in der Luft. Statt normaler Tische gab es kleine abgetrennte Nischen mit niedrigen Sitzkissen, in die man sich fast wie in eine eigene kleine Welt zurückziehen konnte.
Sie bestellten zwei große Tassen Chai und machten es sich in einer dieser Nischen bequem. Die Kissen gaben nach, und Ann ließ sich mit einer tiefen Zufriedenheit in die warme Ecke sinken.
„Okay, du hattest recht“, sagte sie nach dem ersten Schluck. „Das ist der beste Chai, den ich je hatte.“
Tom lehnte sich zurück, sein Blick entspannt. „Ich bin froh, dass du mir vertraut hast.“
Sie unterhielten sich noch eine Weile, ließen den Tag ausklingen, lachten über Geschichten aus dem Büro, verloren sich in kleinen Gesprächen, die in den gedämpften Raum passten. Kein übermäßiger Lärm, kein hektischer Trubel – nur sie beide, zwei dampfende Tassen und die Zeit, die sich für einen Moment langzuziehen schien.
Irgendwann war der Tee ausgetrunken, und es war Zeit zu gehen.
Tom bezahlte, dann verließen sie den Laden und traten in die frische Nachtluft hinaus. Es war angenehm mild, die Straßen ruhiger als zuvor. Sie liefen zurück Richtung Büro, wo sein Auto noch auf dem Parkplatz stand.
Als sie dort ankamen, blieben sie vor seinem Wagen stehen.
„Also… war ein richtig schöner Abend“, sagte Tom und strich sich einmal kurz durch die Haare.
„Ja, fand ich auch.“
Ein kurzer Moment entstand, in dem keiner von ihnen genau wusste, was als Nächstes kam.
„Wollen wir uns wiedersehen?“ fragte er schließlich.
Ann musste grinsen. „Ja. Unbedingt.“
„Dann machen wir das.“
Sie wusste, dass sie jetzt gehen konnte, einfach auf ihr Fahrrad steigen und in die Nacht radeln. Doch ihr Herz schlug schneller, und sie wusste nicht, ob es das Licht der Laternen war, die frische Luft oder einfach die Tatsache, dass sich dieser Moment perfekt anfühlte.
Sie fasste all ihren Mut zusammen, trat einen halben Schritt näher an Tom heran – und küsste ihn.
Es war nur ein kurzer Kuss, leicht, fast tastend, aber in dem Moment fühlte es sich genau richtig an.
Als sie sich zurückzog, sah sie in sein überraschte, aber eindeutig erfreute Gesicht.
„Okay“, sagte er leise und lächelte.
„Okay“, erwiderte sie mit einem Schmunzeln.
Dann drehte sie sich um, schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr los – mit dem Gefühl, dass dieser Abend länger in ihr nachklingen würde, als sie es erwartet hatte.
Später am Abend, als Ann bereits in ihrem Pyjama auf dem Sofa lag, die Füße unter eine weiche Decke gekuschelt, griff sie nach ihrem Handy.
Sie wählte die Nummer ihrer Schwester.
Nach dem dritten Klingeln ging Yjka ran.
„Na, große Schwester, was gibt’s?“
Ann lächelte. „Ich dachte, ich ruf mal an und erzähle dir von meinem Date.“
„Ohhh!“ In Yjkas Stimme lag sofort begeisterte Neugier. „Also, erzähl. War es schön?“
„Sehr. Wir sind ein bisschen durch die Stadt gelaufen, haben Blumen angeschaut, Chai getrunken…“
„Chai? Oha, romantisch! Und?“
„Und dann hab ich ihn geküsst“, sagte Ann, als wäre es nichts Besonderes – doch sie spürte, wie ihr Herz dabei einen kleinen Sprung machte.
„Waaas?!“ Yjka quietschte fast vor Freude. „Meine Schwester! Du wagst endlich was! Wie war’s?“
„Gut.“ Ann biss sich grinsend auf die Lippe. „Also… wirklich gut.“
„Awww! Und gibt’s ein zweites Date?“
„Ja, wir verabreden uns wieder.“
„Sehr gut“, sagte Yjka zufrieden. „Der Typ ist heiß. Ich hab’s dir doch gesagt!“
Ann lachte. „Okay, genug von mir. Was ist mit dir? Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?“
Am anderen Ende der Leitung blieb es für einen Moment verdächtig still. Dann atmete Yjka hörbar ein.
„Ich hab den Antrag bekommen.“
Ann setzte sich ruckartig auf. „Was?!“
„Ja… gestern Abend. Jean hat es endlich getan!“
Ein breites Lächeln breitete sich auf Anns Gesicht aus. „Oh mein Gott! Ich freu mich so für dich!“
„Ich kann es selber noch nicht ganz fassen… aber es ist offiziell. Jean-Luca hat gefragt, und ich hab Ja gesagt.“
Ann spürte, wie ihre Brust sich warm anfühlte – echte Freude, tief aus dem Herzen heraus. Ihre kleine Schwester würde heiraten.
„Das muss gefeiert werden! Lass uns morgen Kaffee trinken gehen.“
„Deal.“
„Und du erzählst mir jedes winzige Detail von diesem Antrag, verstanden?“
Yjka lachte. „Verstanden!“
Ann lehnte sich zurück, das Handy noch am Ohr, während sich das Glück ihrer Schwester wie ein sanfter Schein in ihr ausbreitete.
Alles fühlte sich leicht an.
D
er Morgen begann wie jeder andere.
Ann streckte sich in ihrem Bett, blinzelte ins fahle Licht, das durch die Jalousien fiel, und gähnte leise. Noch ein paar Minuten liegen bleiben oder direkt aufstehen? Nach kurzem Überlegen entschied sie sich für Letzteres.
Als sie sich aus dem Bett schwang, spürte sie ein unangenehmes Ziehen im unteren Rücken. Sie runzelte die Stirn und rieb sich unbewusst die schmerzende Stelle. Muskelkater? Wahrscheinlich. Der lange Spaziergang gestern, das ungewohnte Radfahren – es war eine Weile her, dass sie sich so viel bewegt hatte.
Sie schüttelte das Gefühl ab, bürstete sich die Haare und machte sich fertig für den Tag.
Wenig später rollte ihr Fahrrad durch die morgendlichen Straßen. Die Luft war noch frisch, das Licht weich, und in den Bäumen zwitscherten die ersten Vögel. Der Schmerz im Rücken war noch da, aber nicht schlimm genug, um sich weiter Gedanken zu machen. Wahrscheinlich war es nach der Mittagspause ohnehin vergessen.
Im Büro verlief der Vormittag unspektakulär. Die ersten E-Mails trudelten ein, Jonas beklagte sich über das lahmende Intranet, Laura verschwand in einem Berg aus Kundenbeschwerden. Alles wie immer.
Dann kam die Mittagspause.
Draußen war es milder als am Vortag, fast sommerlich warm. Wieder holte sich das Team etwas vom Foodtruck, und als sie sich an den üblichen Platz setzten, tauchte Tom auf.
„Ich hoffe, ich bin wieder willkommen“, sagte er schmunzelnd, während er sich zu ihnen gesellte.
„Wir haben noch mal abgestimmt“, meinte Jonas trocken, „und es war eine knappe Entscheidung. Aber du darfst bleiben.“
Ann lachte und rückte ein Stück, damit Tom sich setzen konnte.
Die Gespräche drehten sich um Belanglosigkeiten – ein neuer Kollege, der sich bereits am zweiten Tag unbeliebt gemacht hatte, die katastrophalen Rechtschreibfehler in den Kundenanfragen und Lauras anhaltende Theorie, dass die Kaffeemaschine in der Küche nach Mitternacht ein Eigenleben entwickelte.
Ann merkte, dass sie sich entspannt fühlte. Der Tag lief gut, Tom war da, und die Sonne wärmte angenehm ihr Gesicht.
Irgendwann lehnte Tom sich ein wenig zu ihr und sagte leise: „Wir müssen das von gestern Abend bald wiederholen.“
Sein Blick war eindeutig, sein Lächeln spielte leicht um die Lippen.
Ann spürte, wie ihr Herz einen kurzen Hüpfer machte.
„Finde ich auch“, erwiderte sie und nahm einen Bissen von ihrem Ciabatta, um ihr Grinsen zu verbergen.
Der Nachmittag zog sich.
Ann seufzte leise und rieb sich unauffällig den Bauch. Das Ciabatta lag schwerer im Magen, als sie erwartet hatte. Vielleicht hätte sie nicht noch diesen letzten Bissen nehmen sollen, oder es war einfach die Wärme des Tages, die sie etwas träge machte.
Doch was sie wirklich beschäftigte, war etwas ganz anderes.
Sie zermarterte sich das Hirn darüber, wie sie zufällig einen Grund finden könnte, Tom anzurufen – oder noch besser, direkt in seinem Büro aufzutauchen. Nur ein kleiner Vorwand, nichts Aufdringliches, vielleicht eine harmlose Frage zu einem internen Prozess oder einem Kundenfall, mit dem er ohnehin zu tun hatte.
Aber nein. Er war drei Stockwerke höher.
Und es war unmöglich.
Nicht, weil sie nicht einfach den Aufzug nehmen und nach oben spazieren könnte. Sondern weil alle es sofort bemerken würden.
Die junge Blonde aus dem Kundenservice, die sich an den heißen Direktor ranschmeißt? Das wäre eine Geschichte, die sich in weniger als einer Stunde durch die ganze Firma ziehen würde.
Tödlich.
Ann ließ ihren Kopf für einen Moment gegen die gepolsterte Rückwand ihres Stuhls sinken und seufzte innerlich.
Es blieb also nur Warten.
Oder sie musste darauf hoffen, dass Tom einen besseren Grund fand, sich bei ihr zu melden.
Sie zog eines der internen Postkuverts aus dem Stapel – ein mehrfach verwendbares, leicht abgenutztes Ding mit aufgedruckten kleinen Feldern für Adressen. Eine dünne Linie trennte alte Einträge von neuen.
Mit ihrem Kuli schrieb sie Toms Namen und Büroetage in eines der leeren Felder, faltete das Blatt mit ihrer Notiz zusammen und schob es in das Kuvert. Dann drückte sie den Klebeverschluss fest.
So natürlich wie möglich, als wäre es ein gewöhnlicher Vorgang, ging sie zum Postausgang.
Ein schneller Blick. Jonas und Laura waren beide beschäftigt.
Ann legte das Kuvert zwischen die anderen – unauffällig, in der Hoffnung, dass keiner ihrer Kollegen zufällig draufschaute, bevor der interne Postdienst es einsammelte.
Als sie sich wieder an ihren Platz setzte, spürte sie ein leichtes Kribbeln im Bauch.
Jetzt blieb nur noch eines: Warten.
Der Feierabend kam, und mit ihm das gewohnte Summen im Büro – das leise Klappern von Tastaturen, das Schieben von Stühlen, das Aufsetzen von Kopfhörern für die letzte Mail des Tages.
Ann verabschiedete sich von den anderen, schulterte ihre Tasche und ging nach draußen.
Als sie die frische Luft einatmete, fühlte sie sich plötzlich aufmerksamer. Ihre Schritte wurden langsamer, als sie den Parkplatz erreichte.
Rein zufällig natürlich.
Vielleicht würde Tom auch gerade Feierabend machen, vielleicht käme er aus der Tür, vielleicht gäbe es einen dieser beiläufigen Momente, in denen sich Blicke treffen und jemand sagt: „Ach, du auch noch hier?“
Aber er war nirgends zu sehen.
Ann biss sich auf die Lippe, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und tat so, als hätte sie das ohnehin nicht erwartet. Dann schwang sie sich auf ihr Fahrrad und fuhr los.
Yjka wartete in der Stadt. Die beiden hatten sich in einem kleinen Café mit dem Namen Eieruhr verabredet – ein gemütlicher Ort mit warmem Licht, abgenutzten Holztischen und einer Kuchenvitrine, die immer ein wenig zu verführerisch aussah.
Als Ann das Café betrat, erhob sich Yjka bereits von ihrem Platz. Ohne zu zögern, kam sie ihr entgegen und schloss sie fest in die Arme.
„Hey, du!“, sagte sie mit einem breiten Lächeln, während sie Ann einen herzlichen Kuss auf die Wange drückte.
Ann erwiderte die Umarmung genauso innig. Die beiden Schwestern hatten eine starke Bindung zueinander. Seit ihre Eltern vor ein paar Jahren bei einem Autounfall in Frankreich ums Leben gekommen waren, war ihr Verhältnis noch enger geworden – liebevoll, unerschütterlich. Es gab niemanden, mit dem Ann sich verbundener fühlte als mit Yjka.
„Setz dich, ich hab schon bestellt“, sagte Yjka und zog Ann an den Tisch, an dem eine dampfende Tasse Tee und ein kleines Stück Mohnkuchen warteten.
„Oh, du kennst mich einfach zu gut“, lachte Ann, bevor sie sich setzte und sich in ihren Stuhl sinken ließ.
„Natürlich. Und jetzt erzähl: Wie war das Date?“
Ann winkte ab. „Date hin oder her. Erzähl vom Antrag!“
Yjkas Gesicht begann sofort zu strahlen. Sie hob die Hand und hielt sie Ann entgegen – an ihrem Finger glänzte ein eleganter, schlichter Ring, der im warmen Licht des Cafés funkelte.
„Gott, ist der schön!“, rief Ann aus und nahm Yjkas Hand in ihre.
„Oder? Jean hat wirklich alles perfekt gemacht“, sagte Yjka und konnte ihr Grinsen kaum verbergen.
„Also, los, raus mit der Geschichte! Wie hat er’s gemacht?“
Yjka nahm einen tiefen Atemzug, als würde sie den Moment noch einmal durchleben.
„Wir waren in einem kleinen Strandcafé“, begann sie. „Total entspannt, ganz normal – wir haben über alles Mögliche geredet, über Urlaub, unsere Jobs, irgendwelche Serien. Dann guckt er plötzlich auf die Uhr und meint: 'Ich muss da noch über etwas mit dir reden.'“
Ann zog eine Augenbraue hoch. „Das ist ja subtil.“
Yjka lachte. „Warte ab! In dem Moment bringt die Kellnerin eine einzelne Straußrose und stellt sie vor mich hin. Ich dachte erst, das wäre einfach so ein romantisches Extra von dem Laden. Und dann – auf einmal kommt eine Band rein.“
„Eine Band?!“
„Ja! Und sie fangen an, 'Nothing Else Matters' in so einer richtig schönen, ruhigen Version zu spielen.“
Ann schlug sich die Hand vor den Mund. „Sag mir nicht, er hat sich vor dir hingekniet…“
Yjka nickte und verzog das Gesicht zu einem fast ungläubigen Lächeln. „Doch! Er kniet sich hin, schaut mich an wie in so einem verdammten Liebesfilm und sagt: 'Ich will keinen einzigen Tag mehr ohne dich sein. Willst du meine Frau werden?'“
Ann ließ sich in ihren Stuhl zurückfallen. „Verdammt, das ist ja eine richtige Show gewesen!“
„Ja! Und weißt du was? Ich habe angefangen zu weinen. Einfach so. Ich konnte gar nicht anders.“
„Natürlich hast du geweint. Wer hätte das nicht?!“
„Und das Beste: Ein paar Freunde von uns waren eingeweiht und haben ein Video davon gemacht. Ich hab’s auf dem Handy – ich kann’s dir gleich zeigen!“
Ann lachte, schüttelte den Kopf und nahm ihre Tasse Tee in die Hand. „Jean hat sich echt Mühe gegeben. Also, wenn du da Nein gesagt hättest…“
„Ich hätte ihn töten müssen. Aber stattdessen hab ich natürlich Ja gesagt!“
Die beiden Schwestern sahen sich an – Yjka noch immer mit leuchtenden Augen, Ann voller ehrlicher Freude für sie.
„Oh Mann“, sagte Ann und schüttelte den Kopf. „Ich freu mich so für dich.“
Yjka legte ihre Hand auf Anns. „Und du? Denkst du, dein Mister Operations Manager ist auch so ein Typ für große Gesten?“
Ann verdrehte spielerisch die Augen. „Oh bitte, wir hatten gerade mal unser erstes Date. Lass mir ein bisschen Zeit, bevor du mich zum Altar schleifst.“
Sie lachten beide, während draußen die Abendlichter der Stadt langsam aufleuchteten.
Ann nahm das Handy entgegen, und Yjka startete das Video.
Auf dem Bildschirm sah sie die warme Beleuchtung des Strandcafés, hörte das leise Gemurmel der Gäste im Hintergrund und dann, ganz plötzlich, den ersten sanften Akkord der Band. Die Kamera fing Jeans Gesicht ein – aufgeregt, aber voller Entschlossenheit.
Dann kniete er sich vor Yjka hin.
Ann schluckte. Der Blick ihrer Schwester war ungläubig, ihre Hände zitterten leicht, während Jean zu ihr aufblickte und sprach. "Ich will keinen einzigen Tag mehr ohne dich sein. Willst du meine Frau werden?"
Yjka hielt sich im Video die Hände vors Gesicht, und selbst wenn Ann das Ende längst kannte, fühlte sie wieder dieses warme Ziehen in der Brust. Es war perfekt.
Der Moment, als Yjka unter Tränen nickte und Jean ihr den Ring ansteckte, ließ Ann schlucken. Verdammt.
Sie wischte sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel und lachte leise. „Okay, ich geb’s zu. Das war... wirklich wunderschön.“
Yjka strahlte. „Hab ich doch gesagt!“
Ann schüttelte den Kopf, aber ihr Lächeln verschwand nicht. Sie liebte ihre kleine Schwester, und Jean war wirklich ein toller Partner für sie. Ein wenig zu albern für Anns Geschmack, vielleicht, aber spätestens mit diesem Antrag hatte er jeden Zweifel aus ihrem Herzen geschossen.
Dieser Mann durfte ihre Schwester heiraten.
Sie reichte Yjka das Handy zurück und wollte noch etwas sagen – doch plötzlich spürte sie ein unangenehmes Prickeln auf ihrer Stirn.
Mit der Hand strich sie sich über die Haut. Feucht.
Sie hatte Schweiß auf der Stirn.
Seltsam. Dabei war es gar nicht so heiß im Café.
Ann nahm einen Schluck Tee, versuchte das flaue Gefühl zu ignorieren. Vielleicht war es einfach die Emotion des Moments, vielleicht ein bisschen Kreislauf. Alles in Ordnung.
Alles in Ordnung.
Ann wischte sich unauffällig über die Stirn und nahm einen weiteren Schluck von ihrem Tee. Das warme Getränk tat gut, und das flaue Gefühl in ihrem Körper war nur eine Randnotiz – nicht weiter erwähnenswert.
Sie setzte sich etwas bequemer hin und grinste. „Okay, genug von dir und deinem Hollywood-Antrag. Ich schulde dir ja noch das Date-Update.“
Yjka lehnte sich erwartungsvoll nach vorne. „Na endlich! Also? War’s gut? Hat er sich Mühe gegeben?“
Ann nickte langsam. „Ja. Sehr sogar. Wir sind durch die Stadt gelaufen, haben uns einen Blumenstand angeschaut, sind in so einen versteckten Teeladen gegangen… es war richtig schön. Und am Ende hab ich ihn geküsst.“
„DAS HAST DU?!!“ Yjka schlug begeistert die Hände auf den Tisch, dass ihr Löffel klirrte.
Ann zuckte mit einem gespielten Unschuldslächeln die Schultern. „Tja, irgendjemand musste ja den ersten Schritt machen.“
„Du wirst ja noch mutig! Und? Was hat er gesagt? Also nicht wörtlich – aber du weißt schon.“
Ann seufzte und rührte nachdenklich mit ihrem Löffel in der Tasse. „Ich glaube, er mag mich. Wirklich. Aber er ist zurückhaltend. Er ist halt mein Vorgesetzter – auch wenn wir kaum direkt zusammenarbeiten. Er kann sich keine Affäre im Büro leisten. Wenn das rauskommt… du weißt ja, wie Leute reden.“
Yjka nickte verstehend. „Klar. So ein Typ wie er steht ja sowieso unter Beobachtung. Operations Manager, attraktiv, charmant – der braucht nur eine Kollegin einmal zu lange anzusehen, und die Gerüchteküche explodiert.“
„Eben. Ich versteh das auch. Aber es nervt trotzdem.“
Yjka schmunzelte und nahm Ann spielerisch die Tasse aus der Hand, um selbst einen Schluck zu probieren. „Du solltest dir nicht so viele Gedanken machen. Ruhig bleiben, weitermachen. Glaub mir, wenn ein Mann dich will – und dieser hier will dich – dann findet er seinen Weg.“
Ann hob eine Augenbraue. „Oh, so sicher?“
„Definitiv. Ich meine, wer könnte dir bitte widerstehen?“
Ann lachte. „Oh bitte, Yjka…“
„Nein, im Ernst! Du bist witzig, klug, hast ein umwerfendes Lächeln…“
Ann verdrehte die Augen. „Jetzt wird’s kitschig.“