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Ein brandheißes Debüt zu den brisantesten Themen der Zeit! Ein hochaktueller Roman über Politik und Kunst, Fakten und Fiktionen, und die Frage, was man für Ruhm und Reichtum alles tun würde. Martin Kreutzer will nach oben. Als Volontär einer überregionalen Berliner Tageszeitung muss er sich jedoch beweisen, denn Ruhm und Reichtum kriegt man nicht einfach geschenkt. Lukas Moretti war sein Kommilitone und schon damals in München ein Star unter den Studenten, doch inzwischen ist ihm mit seinem enervierenden Mix aus Spoken Word, performativer Kunst und euphorischen Elektropartys der internationale Durchbruch gelungen. Vollmundig verspricht Martin der Chefredaktion, das Interview mit Moretti hundertprozentig einzutüten. So richtig kannte er ihn eigentlich damals nicht, aber was ist schon eine kleine Lüge, wenn sie einem die Chance gibt, auf Redaktionskosten nach München zu fahren und der Karriere einen Kickstart zu geben? Unglücklicherweise möchte Herr Moretti weder mit der Zeitung noch mit Martin Kreutzer etwas zu tun haben. Aber sich von einem wie Moretti die Karriere ruinieren lassen, noch bevor sie richtig Fahrt aufgenommen hat? Wer braucht schon so einen Phrasendrescher für ein Interview voller vorhersagbarer Phrasen? So schreibt Martin Kreutzer die ganze Nacht und ist am Ende überzeugt, dass die Redaktion seinen Einsatz würdigen wird. Doch als Lukas Moretti tot aufgefunden wird, nehmen die Dinge einen unvorhergesehenen Lauf. Die Redaktion beschließt, Martin auf den Fall anzusetzen, und schickt ihn nach Kirching, einen Münchner Vorort, in dem alles anfing und schrecklich enden wird …
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Seitenzahl: 317
Moritz Hürtgen
Roman
Verlag Antje Kunstmann
Man kann die größten Buchstaben, aber nicht die kleinste Lüge verantworten.
AXEL CÄSAR SPRINGER
PROLOG
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
»Moretti, dieser Versager!«, brüllte Oliver Michels über den Konferenztisch. »Diese absolute Null, dieser Gutmensch, dieser uninspirierte Dauerstudent, diese nervige Lyrikschwuchtel!«
Alle lachten.
»Olli, Schwuchtel als Schimpfwort?«
Linda Hellwig, Leiterin des Feuilletons und Michels’ Stellvertreterin, war die Einzige, die den Chefredakteur unterbrechen durfte.
»Schwuchtel, Schwuchtel, Schwuchtel. Linda, du weißt genau, wie ich es mein! Ich liebe alle Schwulen, aber Moretti, diesem Trottel, dem gehört es besorgt – und zwar von uns.«
Wieder lachten alle. Das Dutzend Redakteurinnen und Redakteure war bester Stimmung. Alle wussten, dass Michels vor den Konferenzen kokste. Und zwar nicht heimlich auf dem Klo, sondern mitten im grell ausgeleuchteten Newsroom, direkt auf dem großen weißen Tisch, teilweise noch während seine Kollegen Platz nahmen. Der aufgepeitschte Chefredakteur war redaktionsintern Kult, niemand störte sich an seinem Pulverkonsum. Die meisten waren ohnehin »auf Linie« und zogen regelmäßig mit. Michels, der mit einem Arm auf den Tisch gestützt stand, nahm jetzt ein Blatt in die Hand und las mit künstlich gequälter Stimme vor.
»Beschwörungen – ein zweitägiges Performance-Festival, ein Crossover aus Lyrik und elektronischer Musik, veranstaltet von Lukas Moretti, unterstützt unter anderem von der Stadt München, blablabla … alle Einnahmen kommen der Flüchtlingshilfe zugute! Wem auch sonst? Natürlich, natürlich …«
Michels wollte anscheinend eine Kunstpause einlegen, hielt es aber selbst nicht aus und fuhr unmittelbar fort.
»What! the! fuck! Was für ein opportunistischer Dreck, was für eine kulturpolitische Bankrotterklärung, was für eine künstlerische Vollblamage!«
Er zeigte auf Hellwig. »Linda, du schickst da noch heute wen hin, der sich die ganze Scheiße ab Freitag anguckt, und am Montag versenkt ihr diesen Trottel und sein übersubventioniertes Wohlfahrtsfestival in vier Spalten!« Michels ließ sich sportlich in seinen Stuhl fallen.
»Können wir machen, Olli. Aber dann wirken doch wir verzweifelt! Du weißt genau, dass …«
Michels sprang wieder auf.
»Jaa, ich weiß, Linda, ich weiß. Feature in der New York Times vor zwei Wochen, ich hab’s gelesen.«
Er zog einen weiteren Zettel hervor und las genervt näselnd davon ab: »Lukas Moretti, a young german artist, is pioneering by combining electronical music and spoken word elements into a radical mix that is starting to attract attention of producers in California as well as in Tokyo.«
Martin Kreutzer, Ende zwanzig, Volontär in Linda Hellwigs Kulturteil, räusperte sich. Die Konferenzrunde ignorierte ihn. Nur Hellwig, die links neben ihm saß, blickte ihn kurz irritiert an. Sie hatte Martin mitgenommen zur großen Konferenz, an der sonst nur Ressortleiter und deren Stellvertreter teilnehmen durften.
Michels schritt nun langsam um den ovalen Tisch.
»Tokio, Kalifornien, ich lache mich kaputt!«
Wie bestellt lachten ein paar der Anwesenden auf.
»Dass die New York Times so einem gefühlslinken Schwachmaten auf den Leim geht, wäre vor ein paar Jahren auch noch nicht vorstellbar gewesen. Aber es wird ja alles immer …« Michels tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und winkte danach ab. »Linda, hilf mir! Was machen wir?«
Hellwig blickte kurz steil an die hohe unverkleidete Betondecke des mehrere Turnhallen großen Newsrooms, beugte sich dann vor und ächzte.
»Ein kritisch geführtes, für Moretti unbequemes Interview wäre gut. Aber der Kerl will ja nicht mit uns sprechen, ich hab’s versucht.«
Sie zog ihren Laptop hervor und las vom Bildschirm ab.
»Liebe Frau Hellwig, bei allem Respekt vor Ihrem Kulturteil kommt ein Gespräch mit Ihrer Tageszeitung für mich nicht infrage. Die Äußerungen Ihres Chefredakteurs zur Immigration, zu Abschiebungen und sozialen Fragen verorte ich am rechten Rand. Und mit diesem möchte ich als Künstler nicht assoziiert werden. Viele Grüße, Lukas Moretti«.
Michels lachte laut auf, rieb sich hektisch unter der Nase und warf einen Kugelschreiber über den Tisch tief in den Raum. Bis zu den Schreibtischen des Sportressorts flog er, das waren gewiss zwanzig Meter.
»Willkommen am rechten Rand der Reichshauptstadt!«, rief Michels und rollte dabei das r. »Meine Befehle sind ab sofort mit ›Jawohl, mein Führer‹ zu beantworten! Verstanden?«
Aus der Sportredaktion hörte man jemanden »Heil!« rufen, der Tisch brach prustend in Gelächter aus. Michels feixte und drehte eine halbe Runde im Stechschritt.
»Es wird das Beste sein, wenn wir den Vogel einfach ignorieren«, sagte Hellwig, als sich die totale Heiterkeit wieder etwas gelegt hatte. »Jede Zeile von uns macht Morettis Unfug nur relevanter.«
Michels setzte sich wieder an den Kopf der Tafel und sah einen Stapel Papiere durch.
»Thema erledigt, jetzt Politik. Heute wird in Nordrhein-Westfalen die Ministerpräsidentin vereidigt und …«
Martin Kreutzer räusperte sich erneut. Diesmal so laut, dass man ihn aus der Runde sofort teils belustigt, teils fragend anblickte.
Michels hingegen wartete ein paar Sekunden, bevor er seinen Kopf hob und Hellwig anguckte.
»Linda, was will dein Volontär? Ist er krank?«
Hellwig versetzte Martin unterm Tisch einen Tritt gegen das Schienbein.
»Nein, Olli, der weiß ganz genau, dass er nur zum Zuhören hier ist. Mach weiter!«
Natürlich wusste Martin, dass jeder Volontär nur ein oder zwei Mal mit in die große Konferenz durfte und dort zum Schweigen verdammt war. Aber er hatte sich fest vorgenommen, sich nicht daran zu halten. Martin musste Eindruck hinterlassen und hatte auf den richtigen Moment dafür gewartet. Jetzt war er gekommen.
»Ich bekomme ein Interview mit Moretti, ich kenne ihn persönlich vom Studium.«
Martin bemühte sich um eine feste Stimme.
»Schicken Sie mich nach München, ich liefere Ihnen das Gespräch!«
Hellwig legte kopfschüttelnd ihre Stirn in die Hand, Michels starrte Martin mit einem irren Grinsen an.
»Du kennst den Moretti, was? Habt eine Studentenzeitschrift zusammen gemacht, oder? Habt in eurer WG bis spätabends Flaschendrehen gespielt, wie?«
Die Konferenzrunde kicherte pflichtbewusst.
»Wir haben ein paar Seminare gemeinsam besucht und ich hatte einen guten Draht zu ihm. Ein künstlerischer Aufschneider war er schon damals, nur noch nicht mit internationalem Erfolg.«
Die eine Hälfte von dem, was er da sagte, dachte Martin, war glatt gelogen, und die andere entsprach auch nicht gerade der Wahrheit. Ja, den gleichen Studiengang hatten sie besucht vor ein paar Jahren in München: Germanistik im Hauptfach. Von gemeinsamen Seminaren oder gar persönlicher Bekanntschaft konnte aber keine Rede sein. Es war eine einzige Vorlesung gewesen, in der Martin ein paar Sitzreihen vor sich Moretti erkannt hatte. Den künstlerisch erfolgreichen und stadtbekannten DJ in Münchner Szeneklubs und Abräumer bei Poetry Slams. Für eine Studentenzeitschrift hingegen war nur Martin tätig gewesen, und zwar als Autor von Glossen, an die er sich zum Glück nicht einmal selbst gut erinnern konnte. Aber all das musste Michels ja nicht wissen. Er durfte es sogar auf keinen Fall erfahren, dachte Martin am Konferenztisch. Das wäre das Ende einer glorreichen Journalistenkarriere, die noch gar nicht richtig begonnen hatte.
»Und dann triffst du deinen Lukas Moretti und ihr plaudert heiter darüber, wo ihr zuletzt im Urlaub wart und wie schlecht das Essen in der Mensa war, was?«
Michels stand wieder mit Schwung auf und behielt Martin wie ein Turner, der die Balance halten will, als Fixpunkt im Blick.
Auf Martins Stirn bildeten sich ein paar Schweißperlen. Hellwig seufzte.
»Olli, lass gut sein, der Junge weiß nicht, was er redet, und geht jetzt mal lieber zurück an seinen Schreibtisch.«
Von wegen! Der Chef forderte ihn heraus, dachte Martin, jetzt musste er liefern.
»Ich kenne den Typen, ich kenne Morettis Schwächen, seine Eitelkeiten. Ich führe ihn im Interview vor, ohne dass er es merkt.«
Michels schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Grandioser Auftritt, fantastisch! Wie heißt dein Volontär, Linda?«
»Martin Kreutzer«, sagte Hellwig und rollte die Augen.
»Kreutzer! Du fährst nach München, du machst das, na klar! Und wenn du uns Moretti bis Sonntagabend nicht komplett zerhackt lieferst, kannst du dir eine Lederhose kaufen und für immer in diesem Provinznest bleiben und Brezeln backen oder was! Zugtickets sind Spesen, aber zweite Klasse! Keine teuren Hotels! Und jetzt verzieh dich ins Bayernland, husch, husch!«
Martin nickte, stand auf und ging, ohne noch einmal in die Konferenzrunde zu blicken, zu seinem Schreibtisch, der ungefähr dreißig Meter entfernt stand. Bis zum Sportressort waren es diagonal durch den Raum gut fünfzig Meter Luftlinie. Wahnsinn! Wie hatte er es in so eine Kathedrale des Journalismus geschafft, fragte sich Martin manchmal. Im Moment dachte er aber: Lieber schnell weg hier. Er wollte es unbedingt vermeiden, Hellwig vor seiner Abreise nach München noch einmal zu begegnen. Dass er sich ihrem Schweigegebot nicht gefügt hatte, konnte sie eigentlich nicht auf sich sitzen lassen.
Keine drei Stunden später saß Martin im Zug. Schreibzeug, Handy, Klamotten für ein langes Wochenende. Es war Mittwoch, der 20. Juni. Am frühen Abend würde er in München eintreffen. Martin hatte die Stadt mit Abschluss seines Studiums verlassen – und war seitdem nicht zurückgekehrt. Wenn von den Berliner Kollegen jemand nach seiner Zeit in München fragte, antwortete er stets etwas wie »War alles richtig scheiße«, was zwar im Grunde aufrichtig, aber auch ausweichend war. Er wollte schlicht nicht dran erinnert werden: nicht an seine halbklugen Wortmeldungen in Seminaren, nicht an seine schrecklichen Texte für die Studentenzeitschrift Unifarben und eigentlich auch nicht an Lukas Moretti. Er hatte ihn viele Semester lang beneidet um seinen Erfolg in der studentischen Szene, wo es zumindest unter den Geisteswissenschaftlern niemanden gegeben hatte, der Moretti nicht kannte. Es würde schwierig werden, dachte Martin, Moretti davon zu überzeugen, dass er, Moretti, ihn, Martin, vom Studium her kannte, wo er ihn in Wahrheit eben nicht kannte. Sie hatten noch nie ein Wort gewechselt, und jetzt sollte es gleich ein ganzes Interview werden für eine Tageszeitung, die Moretti verachtete. Der Kerl hatte den Auftritt in Martins Blatt nicht mal nötig, wenn inzwischen sogar die verdammte New York Times hinter ihm her war.
Kurz nach Nürnberg erreichte Martin eine Kurznachricht von Hellwig. »Wir reden morgen«, schrieb sie unheilvoll. Bis dahin musste er einen ersten Erfolg nachweisen können, im besten Falle einen Gesprächstermin mit Moretti. Doch nicht einmal Gott wusste, wie er das anstellen sollte, dachte Martin.
Nach kurzer Überlegung suchte er den Pressekontakt des »Beschwörungen«-Festivals, wenige Minuten später hatte er eine Nummer. Ein erster Rechercheerfolg, dachte Martin.
»Hallo, Büro Beschwörungen!«
Die Frauenstimme klang jung und sehr gelangweilt. Martin nannte seinen Arbeitgeber und bat darum, dass man ihm eine Pressekarte hinterlegen möge.
»Ne, sorry, Anmeldung war bis letzte Woche! Wir sind supervoll.«
Martin nannte zur Sicherheit noch einmal den Namen der Tageszeitung, die er vertrat.
Die Frauenstimme sagte: »Da kann ich nichts machen.«
»Ich will Ihnen jetzt hier nicht mit unserer Auflage kommen, aber nur der Boulevard verkauft mehr«, sagte Martin und blickte sich um. Nicht dass andere Fahrgäste mithörten.
»Ja, da kann ich trotzdem nichts machen, verstehen Sie?«
Martin beteuerte, zu verstehen. Er schlug der Frauenstimme vor, seine Nummer zu notieren.
»Und dann sagen Sie Moretti, ein Freund aus Studienzeiten bittet um Rückruf.«
»Kann ich nicht machen, Lukas möchte bei den Proben nicht gestört werden.«
Das Büro Beschwörungen legte grußlos auf. Martin wünschte sich, dass sein Zug entgleist. Um sich zu beruhigen, antwortete er auf die Nachricht Linda Hellwigs: »Entschuldigen Sie meinen Auftritt bei der Konferenz. Mit Moretti läuft alles wie am Schnürchen, melde mich morgen mit Details.«
Wenig später trat Martin in München auf den Bahnsteig. Die Suche nach einem Hotel war schnell erledigt. Er fand der Vorgabe seines Chefredakteurs entsprechend ein günstiges direkt am Hauptbahnhof und konnte sogar noch aushandeln, dass der Aufpreis für das Frühstück nicht extra auf der Rechnung ausgewiesen wurde. Um 22 Uhr schlief Martin zwar besorgt, aber ohne jede dunkle Vorahnung ein.
Es sei nicht die Aufgabe von Journalisten, mit der Glaskugel in die Zukunft zu schauen, hatte ihm ein Kollege aus dem Politikressort an einem seiner ersten Arbeitstage eingebläut. Und hätte Martin Kreutzer an diesem Abend einen Blick riskiert, er hätte selbst nicht geglaubt, was da zu sehen gewesen wäre.
24 Stunden vor Beginn des »Beschwörungen«-Festivals nieselte es, ein kühler Mittag im nördlichen München. Martin hatte den Presseeingang zur Kunsthalle »Monolith« schnell gefunden. Dass über der Tür direkt neben dem Haupteingang groß PRESSE stand, war hilfreich gewesen. Am Morgen hatte er gar nicht mehr versucht, eine Freikarte für das »Beschwörungen«-Festival zu bekommen, sondern beschlossen, einfach zum Veranstaltungsort zu fahren und sich zu Lukas Moretti durchzuschlagen. Er würde den fragwürdigen Künstler geschickt überrumpeln und ihn wie ein routinierter Profi in die Mangel nehmen, dachte Martin und bemerkte, dass sich seine innere Stimme ein bisschen wie die seines stets aufgekratzten Chefredakteurs Michels anhörte. Er war auf einem guten Weg.
In seinem Geldbeutel hatte er den Presseausweis in das kleine Fenster geschoben, das weniger ambitionierte Menschen für Fotos ihrer Liebsten nutzten. Sollte sich ihm auf seinem Weg zu Moretti irgendeine vorwitzige Sicherheitsperson in den Weg stellen, würde er die Lederbörse effektvoll aufschnappen lassen und dann flink passieren. Was sollte da noch schiefgehen!
Martin visierte die Tür mit dem PRESSE-Schriftzug und schritt los über den tristen Parkplatz. Auf halben Weg bemerkte er, dass von links mit noch eiligerem Tritt eine große Frau im gelben Friesennerz zur Tür hetzte. Als sie dort anklopfte, stockte er und entschied sich, lieber doch noch eine Runde um die Kunsthalle zu drehen.
»’s Mono«, so nannten die Münchner das »Monolith«, eine ausgediente Eisenbahnhalle, in der jetzt »die Kultur zum Zug kommen« sollte, wie der Oberbürgermeister einst in seiner Rede vor dem Eröffnungskonzert gescherzt hatte.
Die riesige Halle war grau wie ein Felsen, der Name passte ganz gut. Nur der Anbau, in dem die Büroräume des Veranstalters, der Backstage-Bereich und noch ein paar Kämmerchen und Klos beherbergt waren, war mit Graffiti besprüht. Bestimmt, damit jeder sehen konnte, wie progressiv man hier mit junger Kunst umging, dachte Martin.
Hinter dem Parkplatz wurde ein geschlossener Bierstand mit zwei Stehtischen als »Lounge Area« ausgewiesen, und dahinter, an der Kopfseite der Halle, fand Martin Gestrüpp und ein paar rostige Baumulden vor. Auf dem matschigen Boden lagen Bierflaschen, platt getretene Dosen und sogar zwei oder drei benutzte Kondome. Richtiger Rock’n’Roll, dachte Martin. Vielleicht hatte ja ein international erfolgreicher schwedischer Rockstar eines der Präservative getragen, dann war es für Fans bestimmt eine beträchtliche Summe wert. Aber so am dreckigen Boden und ganz ohne Zertifikat blieb es ein Schatz, den Martin nicht heben wollte.
Er entdeckte eine Stahltür, die einen Spalt offen stand. Als er sich näherte, sah er, wie drinnen Tausende kleine grüne und rote Punkte durch die Dunkelheit huschten. Das musste von der Lichtmaschine kommen, offensichtlich waren die Proben in vollem Gange. Womöglich übte Moretti gerade seine Sperenzchen und konnte direkt auf der Bühne für ein spontanes Interview gestellt werden! Martin nahm die Klinke in die Hand und zog an der schwergängigen Tür, als von innen plötzlich in wahnsinniger Lautstärke ein so monströs tiefer Ton erklang, dass er vor Schreck zurückstolperte, dabei die Tür ganz aufriss und mit den Armen rudernd auf den Rücken fiel.
»Scheiße«, fluchte Martin. Seine Ohren fiepten, obwohl er mit dem Kopf weich gelandet war. Hoffentlich nicht auf einem der Rockstar-Pariser! Zu seiner Erleichterung ertastete er nur feuchte Erde und stellte außerdem fest, dass seine Ohren doch nicht fiepten. Der hohe Ton kam aus dem Mono, wo nun, wie er durch die weit geöffnete Tür sehen konnte, ein Blitzlichtgewitter herrschte, dessen Frequenz sich steigerte. Das Fiepen wurde immer stärker, die Blitze heller und schneller. Martin blinzelte und erkannte im Türrahmen die schlanken schwarzen Silhouetten zweier Personen. Starr und, wie er irritiert feststellte, von exakt gleicher Statur. Martin richtete den Oberkörper auf und wollte dem Impuls folgen, auf allen vieren rückwärts von der Tür wegzukrabbeln, da bewegte sich langsam ein dürrer Arm heraus. Martin versteinerte. Als Tageslicht auf die bleiche Hand fiel, fasste sie in einer schnellen Bewegung nach der Klinke. Für einen Moment sah Martin einen fast kahl rasierten Kopf, dann wurde die schwere Tür mit einem kraftvollen Ruck zugezogen.
Martin lauschte. Das Fiepen hatte aufgehört, es herrschte Stille. Oder war da ein albernes Kichern, das von hinter der Tür kam? Jedenfalls pochte sein Herz stark. Schnell rappelte er sich auf und setzte seinen Weg um das Mono fort. Auf keinen Fall wollte er sich die Blöße geben, zu rennen, aber er ging so schnell, wie es ihm eben möglich war. Immer ein Fuß am Boden, bloß weg von dieser Tür!
Die hintere Längsseite der Konzerthalle grenzte an einen Fußballplatz, auf dem eine Mädchenmannschaft trainierte. Martin schlug sich durch Büsche und Gestrüpp an einem Drahtzaun entlang. Die Trainerin trug zwei gelbe Spieler-Dummys auf den Platz und rammte sie ins Gras. Die Attrappen hatten beinahe die Umrisse der beiden Gestalten in der Tür, Martin schauderte es. Er blieb stehen und starrte hinüber. Durch die Zaunmaschen traf ihn bald ein missbilligender Blick der Übungsleiterin, ein Grüppchen Spielerinnen hinter ihr spielte Ballhochhalten und lachte sorglos. Er nahm wieder Tempo auf und schoss im Gehsprint zwischen Halle und Rasen entlang.
Die Straße, die vorne an Kunsthalle und Sportplatz vorbeiführte, war leer. Aus dem Mono drangen wieder Töne: ein tiefes Grollen und metallische Schläge. Martin atmete ein paar Mal durch – und lachte dann erleichtert in sich hinein. Was plante Moretti da nur für einen Quatsch? Höllengeräusche, Lichteffekte und wahrscheinlich ein paar okkulte Geisterbahntricks? Dazu moderne Lyrik, die garantiert so sehr im Ungefähren schweben würde, dass wirklich jeder irgendetwas hineininterpretieren könnte. Und das Ganze noch mit elektronischen Beats unterlegt. Martin konnte es nicht abwarten, sich von Moretti das brillante Konzept erklären zu lassen. Nur warum hatten ihn diese beiden Gestalten gerade so erschreckt? Die Angst, die er für einen Moment gespürt hatte – so etwas hatte er seit Kindheitstagen nicht mehr gefühlt. Hatte er sich ernsthaft gegruselt vor Gestalten, die wahrscheinlich Kabelträger oder Lichttechniker waren? Es musste eher der berufliche Stress sein, der ihn nervös machte. Denn wen er im Moment wirklich fürchten musste, das war Linda Hellwig, die noch heute Ergebnisse von ihm erwartete. Er konnte also nicht weiter um die Halle laufen, nein, er würde sich jetzt auf direktem Weg zur Tür, über der groß PRESSE stand, begeben und nicht anklopfen, sondern so krachend einfallen, als käme er vom Boulevard.
Zwei Minuten später klopfte Martin doch lieber zurückhaltend an die Tür. So könnte er sich direkt als Pressevertreter ausweisen und hätte alle Hürden auf dem Weg zu Moretti genommen. Und die Kollegen vom Boulevard, das waren ja ohnehin mehr wilde Tiere als zivilisierte Reporter, dachte Martin. Nichts tat sich. Er klopfte erneut, hörte Schritte, die Tür wurde geöffnet, und ihm gegenüber stand die große Frau im gelben Friesennerz. Sie trug einen beeindruckenden Helm aus lockigem braunem Haar und musste etwa Mitte, Ende dreißig sein.
»Na, auch zu dem Elektro-Lyrik-Genie?«, fragte sie und rollte mit den Augen.
»Äh ja.«
Martin blieb bei der Wahrheit.
»Sofia Costa vom Spiegel. Und Sie?«
»Kreutzer, Martin, von der … äh, sagen Sie, ist Moretti noch drinnen?«
»Boah, ja. Wollen Sie sich das wirklich antun? Der Typ ist kaum auszuhalten.«
Sie zog ein Diktiergerät aus der Jackentasche und fuchtelte damit dramatisch in der Luft herum.
»Kann ich alles wegwerfen, kann man nicht drucken. Nur Künstlerplattitüden und Marketing, vergessen Sie’s!«
»Ach, ich krieg aus dem Kerl schon was raus«, hörte Martin sich etwas nassforsch sagen.
Costa lachte vergnügt auf und warf die gelbe Kapuze über ihre Locken.
»Na dann gutes Gelingen!«
Martin sah noch einmal hoch zum PRESSE-Schild über der Tür und trat endlich ein. Ein schmaler Flur, an der Seite führte eine Metalltreppe in den ersten Stock. An der Wand zeigte ein Pfeil nach oben: »Zum Künstlerbüro«. Warum nicht gleich »Zur goldenen Kunst«, dachte Martin und stieg hinauf. Auf halbem Weg erlosch das Deckenlicht. Martin stand im Dunkeln und hielt inne. Gewiss gab es einen Bewegungsmelder. Er wedelte mit den Armen überm Kopf und nahm weitere Stufen. Aus dem Inneren der Halle tat es erneut zwei laute metallische Schläge, bevor es über ihm leise klickte. Das Licht ging wieder an. Martin sah auf – und blickte direkt auf eine silberne Totenkopf-Gürtelschnalle. Ein Herr in schwarzer Hose und schwarzem T-Shirt mit »Beschwörungen«-Schriftzug stand drei Stufen über ihm am Ende der Treppe.
»Und Sie sind? Haben Sie einen Termin?«
Martins Gegenüber verschränkte die Arme überm Bierbauch.
»Kreutzer, äh ja, Termin … Moretti hat bei meiner Zeitung ein Interview angefragt«, nuschelte Martin.
»Alles klar! Presseausweis?«
Martin führte die Hand mit lässigem Schwung zur Gesäßtasche und griff ins Leere. Er tastete die anderen Hosentaschen ab – nichts. In der Jacke fand er Handy und Notizblock, aber keine Geldbörse, die er in die Höhe recken und auf Brusthöhe des Treppenwächters hätte aufschnappen lassen können.
»Moment«, keuchte er verlegen, der Festivalgesandte nickte gütig.
Martin klopfte sich, wohl wissend, dass er nichts finden würde, noch einmal ab, kratzte sich wie überlegend am Kopf und lachte auf.
»Im Auto vergessen, na klar! Bin gleich wieder da.«
Er machte kehrt, und der Treppenmann, der ja nicht wissen konnte, dass Martin mit der U-Bahn gekommen war, brummte zustimmend. Als er hinabstieg, hörte Martin, wie oben der Lichtschalter betätigt wurde. Fürsorglich, dachte er. Draußen schüttete es nun in Strömen. Er lief über den Parkplatz. Der Geldbeutel musste ihm hinter der Halle abhandengekommen sein, als er zwischen Bierbüchsen und Verhütungsmitteln gestürzt war. Durch die Wände des Monos wummerten jetzt Beats und darüber klopfte jemand zum Test auf ein Mikrofon. Martin hatte den Jackenkragen von hinten über den Kopf gezogen. Zu seiner Beruhigung war die Stahltür an der Rückseite des Monos noch immer geschlossen. Hastig lief er zu der Stelle, an der er vorhin aufgeschlagen war. Er fand den Geldbeutel, entfernte mit seinem Stift den Rockstar-Pariser, der daran klebte, kontrollierte den Inhalt und machte sich leicht angeekelt, aber beruhigt wieder auf den Weg zum Presseeingang. Nach ein paar Schritten hörte er die Klinke der Stahltür. Martin schreckte herum und sah, wie sie sich langsam und unheilvoll quietschend aufschob. Instinktiv sprang er zur Seite, um sich hinter einer Baumulde zu verstecken. Nachdem er sich kurz die Lächerlichkeit dieser Handlung bewusst gemacht hatte, lehnte er sich zur Seite und lugte hinter dem Container hervor. Die Tür stand nun sperrangelweit offen. Und heraus trat mit einer selbst gedrehten Zigarette im Mund: Lukas Moretti.
Martin erkannte ihn sofort. Moretti sah noch immer so aus, wie er ihn aus Studienzeiten in Erinnerung hatte. Ein hochgewachsener Schlaks in weiter Hose und Longsleeve, auf dem Kopf eine Mütze. Neu waren eine Brille und etwas Bart. Moretti rauchte, wie es nur einer fertigbrachte, der Festivals mit elektronischer Musik und moderner Lyrik auf die Beine stellte. Dass er in der linken Hand witterungsbedingt einen Regenschirm halten musste, hinderte ihn zwar, eine allzu lässige Pose einzunehmen, aber auch so war es eine echte Performance: wie er die Kippe hielt, wie er zog, wie er innehielt und mit dem Blick wanderte, bevor er den Rauch entweichen ließ. Natürlich nur durch den Mund. Durch die Nase blasen den Rauch nur Bauarbeiter aus und gehetzte Vertriebler, während sie mit 180 über die Autobahn schießen, dachte Martin, als er sich hinter der Mulde ducken musste, weil Moretti sich in seine Richtung gedreht hatte.
Was nun? Martin konnte sich beim besten Willen keinen günstigen Gesprächsverlauf vorstellen, wenn er jetzt mit dem Jackenkragen überm Kopf aus seinem Versteck trat, um sich vorzustellen. Moretti würde ihn für verrückt halten und hier im Regen stehen lassen. Nein, er musste sich Morettis Rauchtheater heimlich zu Ende anschauen und dann mit etwas Abstand hinter ihm in die Halle schlüpfen. Den Umweg über den offiziellen Eingang wollte er sich sparen. Die PRESSETür war zwar weniger unheimlich, aber bis er dort ankäme, wäre er vollkommen durchnässt.
Moretti ließ sich Zeit und rauchte die Zigarette fast bis auf den Filter runter, was äußerst negative Gefühle in Martin auslöste. Er ärgerte sich immer stärker über die affektierte Art, mit der Moretti rauchte, obwohl er ja nicht mal Zuschauer hatte. Zumindest keine, von denen er wissen konnte, dachte Martin. Zum Glück hatte er nicht ansehen müssen, wie dieser Kerl die Kippe zuvor gedreht hatte. Endlich schnippte Moretti den Filter weg, schüttelte den Regenschirm aus und schlurfte lässig in die Halle. Die Tür ließ er offen.
Martin wartete eine Minute und kam dann hinter der Mulde hervor. Er nahm sich vor, sich nicht noch einmal erschrecken zu lassen, und ging ohne sich umzusehen in die Halle. Gleich hinter der Tür konnte er zwischen zwei schwarzen Vorhängen von hinten auf die leicht erhöhte, in schwaches rotes Licht getauchte Bühne gucken, zu beiden Seiten gingen spärlich beleuchtete Gänge ab. Auf einem Pfeil am Boden stand »Künstler/Artists«, Martin folgte ihm. Die beiden Silhouetten ließen sich nicht blicken, sicherheitshalber warf Martin alle paar Meter einen Blick über die Schulter. Sein Weg führte ihn in eine dunkle Ecke des Monos. Dort angekommen, hörte er Morettis Stimme.
»Yooo, ihr macht noch mal den Séance-Part und guckt, ob Licht und Ton passen. Ich komm nach dem nächsten Pressetermin zu euch.«
»Okay, Lukas!«
»Na klar, Lukas!«
Die zwei Stimmen hörten sich sehr ähnlich an: kindlich, ein bisschen überdreht und heiser.
Martin wagte es nicht, sich zu nähern. Er wollte noch ein paar Sekunden ausharren und Moretti dann unauffällig weiter nachstellen. An der Hallenwand hing ein Veranstaltungsposter des »Beschwörungen«-Festivals. Es wurde von einer Fluchtwegleuchte darüber grün-weiß angestrahlt. »Beschwörungen – Poetry – House Music – Arts Show«, schlanke schwarze Buchstaben auf weinrotem Grund. Darunter waren zahlreiche Künstler angeführt, »LUKAS MORETTI« stand fett an erster Stelle. Es folgte ein internationales Lineup mit Namen, die jeweils mit Herkunftsstädten wie »Tokyo«, »San Diego«, »Stockholm« oder »Cape Town« und Berufsbezeichnungen wie »DJ« oder »Spoken Word Artist« ausgewiesen waren. Ganz unten am Rand des Plakats prangten Sponsorenlogos: eine Bank, die Stadt München und deren Verkehrsbetriebe, ein Immobilienfonds, eine Automarke und eine Limonadenfirma. Für die New York Times war da wohl kein Platz mehr gewesen, dachte Martin und grinste ins Dunkel.
Er streckte seinen Kopf um die Ecke – und erkannte die beiden Gestalten sofort wieder. Sie standen auf Höhe der Bühne, von der rotes Licht auf ihre knochigen Hinterköpfe fiel. Martin fiel auf, dass beide ungewöhnlich breite Schultern für ihre schlanke Statur hatten. Sie stiegen ein paar Stufen hinauf und verschwanden hinterm Bühnenvorhang. Jetzt musste der Séance-Part geprobt werden, dachte Martin. Was auch immer das sein sollte.
Er schlich weiter, das Licht erlosch und eine Sekunde später setzten die Blitzlichter ein. Vorsichtig riskierte er einen Blick auf die Bühne. Die beiden Silhouetten mussten um die zwanzig sein. Eine Frau, ein Mann, aber Martin war sich nicht ganz sicher. Sie trugen dunkle Stiefeletten, enge schwarze Hosen, weiße Hemden und drüber je ein dunkles Nadelstreifenjackett mit auffälligen Schulterpolstern. Still standen sie einander gegenüber und die Frau winkte auffordernd in Richtung des Mischpultes in der Mitte der Halle, wo Martin zwei oder drei weitere Personen ausmachte. Aus den Boxen erklangen ein wabernder, unheimlicher Ton und in unregelmäßigen Abständen erneut die metallischen Schläge, die Martin bereits von draußen gehört hatte. Die beiden Gestalten auf der Bühne gingen langsam auf einen Mikrofonständer zu, der zwischen ihnen stand. Während sich die Blitzlichter erneut zu einem Stroboskopeffekt steigerten, sprachen sie gemeinsam ins Mikro.
»Séance als Chance, Séance als Chance.«
Ihre Stimmen klangen im Chor noch kindlicher. Immer wieder wiederholten sie ihren Reimspruch und wurden dabei lauter.
»Séance als Chance, Séance als Chance, Séance als Chance!«
Unter ihren Sprechgesang mischte sich ein dumpfer Beat, und nachdem sie »Séance als Chance!« ein paar Mal aus vollem, heiseren Hals geschrien hatten, liefen sie hurtig auseinander und stellten sich vor zwei Mikrofone, die an den Bühnenrändern platziert waren.
»Wer ist da? Ist da wer?«, schrie die Person, die Martin für eine junge Frau hielt.
Sie lief herüber zu dem mutmaßlichen jungen Mann und schüttelte an ihm.
»Was sagen sie dir? Was sagen sie dir?«
»Marter! … Tinnitus!«, schrie der junge Mann mit geschlossenen Augen zur Antwort und Martin dachte, dass das eine zutreffende Beschreibung dieser Aufführung war.
»Fanal! … Nibelungen!«, japste der Künstler. »Komplikationen! … Menschenopfer!«
Er schien frei zu assoziieren und führte zuckende Bewegungen mit seinem Oberkörper durch.
»Anwesenheit, Anwesenheit!«, rief seine Bühnenpartnerin.
Mit einem Mal verstummten Beat und Soundeffekte, es blitzte nicht mehr, sondern schimmerte grün auf die Bühne. Eine entspannte, tiefe Männerstimme meldete sich über die Anlange.
»Maike, Paul, sorry! Wir haben den Lichtwechsel verbockt und setzen zurück. Szene von vorne, Strobo kommt gleich.«
»Ohhh Mann, okay, noch mal«, krächzte die Figur, die Maike sein musste.
»Noch mal, noch mal«, japste Paul.
Wieder setzten Blitze ein.
»Okay, okay, wir sind bereit«, sagte Maike und legte sich auf den Boden.
Paul tat es ihr gleich.
»Gleich geht’s los!«, meldete der Mann vom Mischpult.
Martin dachte, dass er sich über das, was er gerade gesehen hatte, später unbedingt eine Meinung bilden, aber vorerst lieber darauf verzichten sollte, »Séance als Chance« ein zweites Mal anzuschauen. Er musste zu Moretti.
Als der wabernde Ton erneut einsetzte, lief er zu der Tür, durch die Moretti den Saal zuvor verlassen hatte. Dass Maike, Paul oder jemand vom Mischpult ihn entdecken könnte, sorgte ihn nicht. Einmal hörte er Maike und Paul noch »Séance als Chance« sagen, dann verließ er die dunkle Halle.
Ein Gang mit weiß gefliestem Boden und grellem Licht empfing ihn, Martin war kurz wie geblendet. Er folgte einigen Pfeilen eine Treppe hinauf. Oben stand direkt an der ersten Tür auf einem Zettel: »Backstage – Lukas Moretti – Head of Beschwörungen-Festival«. Die Gedankenstriche ärgerten Martin. Sie passten zum Bild des prätentiösen Künstlers, das er von Moretti hatte. Martin schwor sich, ohne Anklopfen einzutreten. Zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm.
Lukas Moretti saß mit übereinandergeschlagenen Beinen tief in einem alten Sofa, in einer Hand hielt er eine Limonade des Festivalsponsors. Im Backstageraum waren die Wände schwarz gestrichen. Als Martin die Tür hinter sich geschlossen hatte, herrschte nur noch ein schummriges Halbdunkel, Fenster gab es keine.
»Ahhh, welcome! Tony Miller from the New York Times? You’re early!«
Moretti blickte nicht auf, bedeutete Martin aber mit einer Armbewegung, auf einer Bierbank Platz zu nehmen, die seiner Couch gegenüberstand. Martin hatte keine Zeit, nachzudenken.
»Yes, thank you.«
Erfreut blickte Moretti auf und musterte Martin wohlwollend.
»How was your flight?«
»It was okay, we had some, äh, turbulences.«
Martin improvisierte. Sein Englisch ließ zu wünschen übrig, das wusste er. Lange würde er diesen Identitätsdiebstahl nicht aufrechterhalten können. Und was, wenn gleich ein echter Miller von der echten New York Times hereinspazierte? Moretti schien einen solchen ja zu erwarten. Er entschloss sich zur Flucht nach vorne.
»Actually, I’m not Tony Miller from the New York Times.«
Sofort wirkte Moretti genervt.
»Well, who the hell are you then?«
»Wir können Deutsch reden. Kreutzer ist mein Name, ich komme aus Berlin von der … «
Wie zur Rettung flog die Tür auf. Herein fielen drei Mittzwanziger, und Martins erster Gedanke bei deren Anblick war, dass Moretti sich von seinesgleichen zum Herumlungern bestellt hatte. Der schälte sich aus seinem Sofa und fiel nacheinander zwei jungen Frauen und einem jungen Mann um den Hals. Eine der Frauen bat Martin, auf der Bierbank ein Stück zu rutschen, alle vier setzten sich.
»Können wir rauchen?«, fragte die andere Frau.
»Eigentlich nicht, aber was soll’s!«
Moretti schnappte sich von der Seite eine Ledertasche und klaubte nacheinander Tabak, Blättchen und Filter heraus.
Jetzt musste er das doch noch mitansehen, dachte Martin, während er Moretti dabei beobachtete, wie er sich mit flinken Fingern eine Zigarette drehte. Bevor der Künstler den Rand des Papiers anleckte, legte er eine Pause ein und sah gewinnend in die Runde, aber an Martin vorbei.
»Und Leute, wie geht’s so beim Magazin?«
Die vier steckten sich ihre Kippen an und ein heiteres und für Martin als fünftes Rad im Backstage unangenehm vertrautes Gespräch kam in Gang. Er saß am Ende der Bank und verstand kein Wort. Bald kam die Runde auf das »Beschwörungen«-Festival zu sprechen.
»Die Beschwörungen sollen gewissermaßen Verstörungen beim Publikum hervorrufen«, erklärte Moretti zwischen zwei Zügen von seiner Zigarette.
Seine drei Gäste nickten eifrig.
»Es geht um die Ermöglichung einer Ich-Erfahrung, die so intensiv ist, dass sie wie lyrisch verdichtet in sich selbst zusammenfällt«, sagte Moretti betont nachdenklich. »Und in diesen leeren Raum soll das Unvorstellbare beschwört werden.«
»War die Supernova-Performance letztes Jahr quasi eine experimentelle Vorstufe zu den Beschwörungen?«, wollte eine der Frauen wissen.
Moretti bejahte es wie ein zufriedener Lehrer.
Martin sah, dass die andere Frau sich Notizen machte und der eher schweigsame Dritte an einer Spiegelreflexkamera herumfummelte. Endlich dämmerte ihm, was vor sich ging. Da fand vor seinen Augen ein Interview statt, wo eigentlich er eines führen wollte. Er musste sich in Erinnerung rufen.
»Entschuldigung, dass ich die intime Runde störe, aber Herr Moretti und ich hatten gerade ein Gespräch begonnen. Für welches Medium arbeiten Sie denn?«
Er blickte abwechselnd in drei Gesichter mit belustigten Mienen.
»Das sind Freunde, und sie kommen vom Magazin Unifarben«, sagte Moretti und sah Martin abschätzig in die Augen.
Martin erstarrte. Unifarben? Das war eben jene Studentenzeitschrift, für die er damals vermeintlich kunstvolle Glossen geschrieben hatte. Hoch peinliche Texte, die er gerne nachträglich aus seiner Vita streichen würde. Und jetzt kreuzte die aktuelle Redaktion dieses Blättchens hier auf und stahl ihm sein Interview. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
»Und wer schickt Sie?«, riss Moretti ihn aus seinen Gedanken.
Martin nannte seinen Arbeitgeber. Sofort brach die Runde in Gelächter aus.
»Eben hat er noch behauptet, er sei von der New York Times. Auf Englisch!«, gluckste Moretti.
Die Unifarben-Abordnung kicherte albern, Moretti wurde schnell wieder ernst.
»Kreuzmann oder wie Sie heißen! Ich habe Ihrer Redaktion schon mitgeteilt, dass ich kein Interesse habe, mit einer neoliberalen Zeitung zu sprechen, die politisch rechts außen fischt. Was wollen Sie hier?«
Martin spürte, dass er in die Offensive gehen musste.
»Also führen Sie lieber ein Gespräch mit einem studentischen Käseblatt als mit einer der reichweitenstärksten Tageszeitungen des Landes?«
Moretti schien nicht ins Wanken zu geraten.
»Ja schon, Mann! Und wir wissen doch alle, wie die Auflage deines Blattes seit Jahren abschmiert.«
Die drei Nachwuchsjournalisten feixten. Martin war alles so unangenehm, dass er in einiger Erregung Worte wählte, die er schon beim Aussprechen bereute.
»Da du mich hier duzt, Lukas, sag mal: Wir kennen uns doch vom Studium früher. Erinnerst du dich nicht? Du kannst mich doch hier nicht so abblitzen lassen!«
Moretti blickte ihn beinahe mitleidig an, drückte seine Zigarette aus und kniff die Augen zusammen.
»Ne, sorry, ich erinnere mich null. Ich muss mal weiter!«
»Peinliiiiich!«, quietschte die Frau mit dem Notizbuch.
Moretti stand auf und animierte seine drei Freunde mit einer Geste, ihm zu folgen.
»Kommt ihr? Maike und Paul proben gerade die Séance. Das müsst ihr sehen!«
»Die beiden von der Schauspielschule?«
»Genau!«
Weil sich die Unifarben-Leute gleichzeitig von der Bierbank erhoben, kippte sie unter Martins Gewicht. Er rutschte vom Rand ab und landete auf dem Boden. Niemand drehte sich nach ihm um. Als Letzter verließ der Fotograf den Raum. Er knipste das Licht aus und zog die Tür hinter sich zu. Martin saß im Dunkeln.
Vorsichtig kroch er in Richtung der Tür und hörte dabei leise er den Beat der Séance. Als er eine Weile vergeblich nach dem Lichtschalter getastet hatte, fiel ihm ein, dass er ja mit seinem Handy leuchten konnte. Er wurde fündig, knipste die Deckenlampe an und erwischte sich dabei, wie er die Bierbank wieder ordentlich hinstellte. Von wegen! Martin warf sie wieder um, ging zum Sofa, auf dem Moretti gesessen hatte, und gab dessen halb voller Limonadenflasche einen kleinen Stups. Sie fiel von der Lehne und leerte sich über die Sitzfläche. Ich war’s nicht, dachte Martin, sondern Tony Miller von der New York Times.
Er ging zurück in die Konzerthalle. Sie war wieder in schwaches rotes Licht getaucht, die Soundanlage verstummt. Die Gruppe um Moretti schlurfte gerade hinter die Bühne. Am Mischpult stand niemand mehr. Martin hatte wenig Lust, der Crew aus dem Backstageraum noch einmal zu begegnen, und entschied sich, die Halle durch den Haupteingang zu verlassen.
Je weiter er sich von der Bühne entfernte, desto dunkler wurde es. Und finster sah es jetzt auch für Martin aus. Dass er sich eben vor Moretti blamiert hatte – geschenkt. Sein wahres Problem hieß Linda Hellwig. Und der Satan hieß Michels und war Chefredakteur. Was sollte er jetzt tun? Unmöglich, noch ein Interview mit Moretti zu bekommen. Er konnte ihn schließlich nicht unter Drogen setzen. Womöglich war Moretti vorhin schon high gewesen – Speed oder was auch immer so einer nimmt –, und Martin hatte ihn trotzdem nicht überlisten können. Blamabel. Musste er jetzt für immer in München bleiben und Brezeln backen, wie Michels es ihm angedroht hatte?
In der Ecke, wo sich der Ausgang befinden musste, war es stockfinster. Martin leuchtete wieder mit seinem Handy, fand die große Stahltür, schickte ein Stoßgebet nach oben – hoffentlich war nicht abgesperrt – und griff nach der Klinke. Als die Tür sich öffnete, atmete er erleichtert auf. Grelles Licht fiel in die Halle. Es hatte aufgehört zu regnen. Martin wollte gerade nach draußen treten, da entdeckte er an der Wand zwei schwere Metallfässer, die vom Sonnenlicht direkt angestrahlt wurden. Sie waren dunkelrot, im Deckel je einen Schlitz wie bei Wahlurnen, daneben lagen weiße Zettel und Kugelschreiber. An Holzlatten, die hinten an den Fässern nach oben ragten, waren zwei Schilder mit identischer Aufschrift befestigt. Unter einem »Beschwörungen«-Logo stand:
Werde Teil der Schlussperformance!
Deine Lyrik auf der Beschwörungen-Bühne!
Verse aufschreiben und einwerfen!
Auswahl erfolgt durch Lukas Moretti persönlich!
Das war doch eine schöne Möglichkeit, Moretti einen Abschiedsgruß zukommen zu lassen! Seit Schulzeiten hatte er kein Gedicht mehr geschrieben oder gelesen, von Jambus, Daktylus und Kreuzreimen keinen Schimmer – aber Morettis Wummer-Poesie schwebte auch frei, ganz ohne jede Regel oder Begrenzung. Ein Konzept hatte Martin bereits zur Hand: Wüste Beleidigungen für Moretti. Er stellte sich an eine Tonne, schloss nach Maike und Pauls Vorbild die Augen und schrieb dann alles hin, was ihm in Assoziation mit Moretti durch den Kopf schoss:
Verwünschungen
für Lukas Moretti
Lulatsch, Kastrat, Nachmacher, House-Depp,
Angeber, Fangschrecke, Sprichwortschreiber, Auswurf,
Wehrdienstverweigerer, Vortäuscher, Meldehund, Kannibale,
Zündler, Edmund, Wasserkopf, Angeber,
Fischkopf, Inzestler, Derblecker, Zuchthäusler,
Totgeburt, Aufschneider, Derwisch, Fluchtverdächtiger,
Vorgaukler, Ordnungsstörer, Gesinnungstäter, Trendtrottel,
Zwillenschießer, Linksradikaler, Partypoet, Rentnerschreck,
Fantast, Niete, Simulant, Weißwurst,
Feudel, Erfolgsautor, Soziopath, Heißsporn,
Entenbrust, Denkerstirn, Wirtshausdichter, Erstsemester –
Martin wollte den Kuli gerade ansetzen, um den letzten Vers zu schreiben, da hörte er hinter sich Schritte.
»Was macht er denn da?«
»Ja was macht er denn da?«
Zwei kindliche, heisere Stimmen.
Martin fuhr erschrocken halb um die eigene Achse, als hätte ihn der Blitz getroffen. Maike und Paul kamen langsam näher. Ihre Gesichter glichen einander stark. Schmale Nasen, blasse Wangen, volle, aber farblose Lippen und graue Augen.