Der Brighton-Schwimmclub - Josie Lloyd - E-Book

Der Brighton-Schwimmclub E-Book

Josie Lloyd

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Josie Lloyd erzählt in Der Brighton-Schwimmclub die berührende Geschichte von fünf Frauen zwischen zwanzig und siebzig, die sich mit der Kraft ihrer Freundschaft durch Höhen und Tiefen des Lebens navigieren und auch vom stärksten Wellengang nicht unterkriegen lassen.

Jeden Morgen treffen sie sich am Strand von Brighton und nehmen ein gemeinsames Bad in den Wellen: Die vier »Sea-Gals«, wie sie sich augenzwinkernd nennen, verbindet die Leidenschaft für das Schwimmen im kalten Ärmelkanal und eine Freundschaft, die sie zwischen Familienleben, Jobsuche, Richtungsentscheidungen und Liebestragödien über Wasser hält.

Eines Tages stößt Maddy zu ihnen. Auf der Flucht vor ihrer zerrütteten Ehe und der Suche nach ihrem Sohn hat es sie von London nach Brighton verschlagen. Bald werden die regelmäßigen Schwimmtreffen auch für sie zu einem Rettungsanker und sie hofft, gemeinsam mit den neuen Freundinnen Jamie wiederzufinden … und vielleicht einen Kompass in ihrem eigenen Leben?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 520

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover

Titel

Josie Lloyd

Der Brighton-Schwimmclub

Roman

Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich

Insel Verlag

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem TitelLifesaving for Beginners bei HQ, einem Imprint von Harper Collins Ltd.

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5051.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel VerlagAnton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024Copyright © 2022 by Unomas Productions Ltd

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: FinePic®, München

eISBN 978-3-458-77983-4

www.suhrkamp.de

Widmung

Für die Schwimm-Gang

For whatever we lose (like a you or a me) it's always ourselves we find in the sea

E. ‌E. Cummings

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1 Ach, Blödsinn

2 Soße in hohem Bogen

3 Alle haben Spaß

4 Das Terrain neuer Freundschaften

5 Auf Plünderjagd

6 Entschlüsse

7 Zierkissen

8 Familien-Zoom

9 Der Anbau

10 Luna

11 Das schlechte Juju abwaschen

12 Hundeüberfall

13 Das Versprechen eines Feuerwerks

14 Innerer Superheld

15 Zeltbesuch

16 Austernfischer

17 Robs Erklärung

18 Schwer zu verzeihen

19 Ein Hoffnungsschimmer

20 Schwimmen im Schnee

21 Ein kurzer Blick ins Nachbarhaus

22 Nacht der Verabredungen

23 Quad Bike

24 Zurück im Büro

25 Der Piks

26 Verabredung in aller Frühe

27 Aktzeichnen

28 Äquinoktium

29 Wohnzimmerfriseurin

30 Strandreinigung

31 Häschenohren

32 Die Bombe

33 Die Nachtigall

34 Zerstörung

35 Das Heim in einer Kiste

36 Wieder in Bereitschaft

37 Offen und ehrlich

38 Ein Ausflug zu Hampstead-Pond

39 Ein unverwechselbares Profil

40 Schwimmen bei Vollmond

41 Die unerwartete »Cwych«

42 Ertappt

43 Seichtes Gewässer

44 Von der Seebrücke

45 Im Flug

46 Aale

47 Den Fakten ins Auge geblickt

48 Ein Frühstück für Champions

49 Das Wettbüro

50 Ein gehaltenes Versprechen

51 Ein neuer Gefährte

52 Adiós

53 Familienfeier

54 Dem Horizont entgegen

55 Die Windkraftanlage

56 Um die Seebrücke

Dank

Informationen zum Buch

Der Brighton-Schwimmclub

1 Ach, Blödsinn

Weihnachtsmorgen

Es ist nur kaltes Wasser. Das ist alles. Nach dem beschissenen vergangenen Jahr ist kaltes Wasser einfach gar nichts. Nichts, sagt sich Dominica, während sie den Klettverschluss der Neopren-Handschuhe zudrückt und in Stiefeln, Größe 44, geräuschvoll über den Kies Richtung Meer marschiert. Sie ist froh, dass sie ihre traurigen Knochen aus dem Bett gezerrt und es bis hierher geschafft hat, obwohl es wirklich ganz schön knapp war. Doch wie gewöhnlich hat Helgas Nachricht in ihrer »Sea-Gals«-WhatsApp-Gruppe sie schließlich rumgekriegt. Es ist Tradition, hatte Helga geschrieben. Keine Ausreden.

Sie weiß, dass sie es Helga und Tor schuldig ist, an diesem Morgen zu erscheinen. Sie sind es, die sich im letzten Jahr um sie gekümmert haben. Unabhängig voneinander haben beide sie gebeten, den heutigen Tag zusammen zu verbringen, wohl wissend, dass es ihr erstes Weihnachten ohne Chris ist, doch sie hat ihr freundliches Angebot höflich abgelehnt. Sie möchte allein sein, um sich in ihrem Kummer zu suhlen, auch wenn sie sich jetzt schwört, ihr mit Papiertaschentüchern zugemülltes Schlafzimmer aufzuräumen. Chris würde einen Anfall kriegen, wenn er es sehen könnte.

So weit das Auge reicht, ist der Strand in beide Richtungen übersät mit lauter kleinen Grüppchen; die meisten Leute sind der Kälte entsprechend angezogen, aber etliche ziehen sich auch aus. Seit dem Rückgang der Kirchenbesuche ist das Meer vielleicht tatsächlich die neue Religion. Auf jeden Fall besitzt es eine starke Anziehungskraft. Alle blicken aufs Wasser, und die festliche Stimmung ist geradezu greifbar. Sie hört das Ploppen eines Champagnerkorkens (zehn Uhr ist ein bisschen früh, aber schließlich ist Weihnachtsmorgen), während sich auf der größten Betonbuhne ein junger Typ gedankenverloren auszieht. Ein Dudelsackpfeifer im Kilt spaziert über den angrenzenden Strand, und der näselnde Klang weht bis zu der Stelle, wo Dominica steht, umgeben von intensivem Marihuanaduft.

Früher kam das noch in den landesweiten Nachrichten: die Verrückten, die am Weihnachtsmorgen ins Meer sprangen. Aber mittlerweile ist Kaltwasserschwimmen der letzte Schrei, und auch Krethi und Plethi machen mit.

Kein Wunder, denkt Dominica. Es gibt ja sonst nichts zu tun.

Jede Menge Schwimmer sind bereits im Wasser, viele mit Wollmützen. Zwei Angeberinnen kraulen schon weiter draußen und ziehen ihre roten Schwimmbojen hinter sich her. Während der Wintermonate würde sie gern da draußen schwimmen können wie diese Amazonen, aber wenn sie sich zu weit hinauswagt, gerät sie schnell in Panik. Sie weiß, dass man das Meer ernst nehmen muss – auch an einem ruhigen Tag wie diesem. Außerdem ist sie dafür nicht fit genug. Nicht mehr. Nicht nach einem Jahr, in dem sie nur auf ihrem Hintern gesessen und Kekse gefuttert hat.

Vor dem Ausbruch der Pandemie war Dominica nie untätig gewesen – kein einziges Mal im Lauf ihrer fünfundsechzig Jahre. Wahrscheinlich, weil ihre Eltern ihr eine eiserne Arbeitsmoral beigebracht hatten sowie die Überzeugung, dass ihre Hautfarbe zu einer doppelten Anstrengung verpflichtet. Als Bereichsleiterin bei einem großen Reiseveranstalter ist sie eigentlich die vollendete Multitaskerin, doch seit der Himmel leergefegt ist und Urlaube abgesagt sind, ist die ganze Abteilung beurlaubt. Zumindest in mancher Hinsicht ist das ein Segen. Sie hätte niemals gleichzeitig ihre Arbeit und den Verlust von Chris bewältigen können.

Sie fürchtet sich vor der Rückkehr und weiß, dass jetzt jeden Tag ein E-Mail von der Geschäftsleitung mit einem Stufenplan für den Wiedereinstieg in den Job kommen wird. Ihr Team – früher einmal dreißig Leute – wurde im Lockdown zusammengestrichen, und sie weiß, dass auch viele ihrer Kollegen gerade harte Zeiten durchmachen, doch sie hat Angst davor, sie wiederzusehen. Ihr ist jetzt schon klar, dass sie die Fragen nicht ertragen wird … das Mitleid, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mindestens einer eine vergleichbare Geschichte auskramt von einem Bekannten, der ebenfalls an Covid starb. Das macht ihr am meisten zu schaffen. Dass Chris mit seinen wachen Augen, dem schallenden Lachen und den herzhaften Umarmungen zu einer finsteren Statistik reduziert worden ist, die von Fremden kommentiert und immer wieder durchgekaut wird.

Drüben an der anderen Buhne hüpfen ein paar kreischende Teenager in Bikinis über die Steine. Es wird generell erwartet, dass alle Abstand halten, doch irgendwie scheinen die Vorschriften der Regierung hier am Wasser weniger dringlich. Bis vor Kurzem hat sie sich über schnaufende Jogger und Passanten geärgert, die, die Maske am Kinn, die Gehwege verstopften, doch nach all dem, was Chris widerfahren ist, vergeudet sie ihre Energie nicht länger. Die Welt ist auch so schon voller Besserwisser und Petzer, da muss sie sich nicht noch dazugesellen. Wozu, wenn das Schlimmste bereits geschehen ist? Außerdem ist es nur natürlich, dass Menschen Regeln interpretieren und sie ihren eigenen Wünschen und Gegebenheiten anpassen. Wie Chris stets zu sagen pflegte: Menschen sind wie Wasser … sie finden immer einen Weg.

Dominica hat Tor erreicht, die am Wassersaum steht; auch Helga kommt nun, nachdem sie ihre Sachen neben der Buhne auf den gemeinsamen Haufen gepackt hat. Dominica winkt ihr zu. Wie üblich trägt Helga ihren ausgebeulten blauen Badeanzug und die altmodische Badekappe mit Kinnriemen. Sie schert sich nicht im Geringsten darum, dass ihre schlaffen, faltigen Schenkel für jedermann sichtbar sind, anders als Dominica, die sich selbst jetzt ihres Körpers sehr bewusst ist.

Wir sind ein ziemlich schräges Trio, denkt Dominica, und plötzlich erfüllt sie ein Gefühl der Zuneigung für ihre eigenwilligen Freundinnen. Es gibt andere Schwimmgruppen, denen sie sich hätte anschließen können. Die Frauen aus ihrer ehemaligen Yogagruppe gehen regelmäßig schwimmen, aber Dominica hätte ihre besorgten Mienen schlecht ertragen. Zufällig war sie ein paar Mal gleichzeitig mit Helga und Tor an den Strand gekommen, und ehe sie sich's versah, hatten sie eine eigene Gang gebildet.

Tor ist Ende dreißig und trägt anlässlich dieses Tages eine Nikolausmütze, ihr leuchtend lilafarbenes, teilweise zu Dreadlocks verfilztes Haar guckt darunter hervor. Dominica legt den Arm um Tors magere, tätowierte Schulter und drückt sie liebevoll.

»Huuuuuuuhh«, murmelt Tor, als die weiß schäumende Brandung an ihren Zehen leckt. »Es ist so k…k…kalt.«

»Alles so weit in Ordnung?«, erkundigt sich Dominica. Sie weiß, wie die Diagnose Tor zu schaffen macht. Armes Kind, es ist einfach nicht fair. Dominica ist tief beeindruckt von Tors positiver Einstellung und ihrer Seelenstärke.

»Ja«, sagt Tor, und der grüne Stein in ihrer Nase glitzert. »Ich bin froh, dass ich hier bin. Lotte hat gedroht, mitzukommen, aber sie hat einen Kater.«

Dominica kann es sich vorstellen. Sie ist Lotte, Tors holländischer Freundin, ein paar Mal begegnet, und Lotte ist eine ziemliche Naturgewalt. Ihr schwant, dass Tor ganz gern an den Strand kommt, um etwas Ruhe und Frieden zu finden.

»Los jetzt«, verkündet Helga mit ihrem komischen Akzent – halb Dänisch, halb Cockney – und stapft an ihnen vorbei. »Hört auf, herumzutrödeln, ihr zwei. Rein mit euch.«

Nach ein, zwei Schritten taucht Helga anmutig unter, mit gebeugten Knien und gesenkten Schultern. Sie seufzt, als sei das Meer ein Liebhaber, der sie zärtlich begrüßt. Sie dreht sich auf den Rücken und strahlt über das ganze Gesicht. Helga mag jenseits der siebzig sein, aber im Wasser sieht sie aus wie sieben. Ihre Füße ragen aus dem Wasser, während sie sich, die Arme seitlich vom Körper weggestreckt, treiben lässt wie ein schrulliger Otter. Dominica sieht, wie sie ihren Blick auf den Musikpavillon richtet, und weiß, dass sie anhand des Sogs an ihrem Körper den Verlauf der Strömung einzuschätzen versucht. Helga achtet immer sehr auf die Sicherheit im Wasser.

Dominica macht mit Tor ein paar Schritte und konzentriert sich darauf, nicht die Luft anzuhalten, trotzdem ist es ein Schock, der ihr wattiges Gehirn wieder in Fokus bringt wie eine Kameralinse. Der Strand, das Land, jeder Gedanke, den sie gerade noch hatte, ist Vergangenheit. Es gibt nur das Jetzt. Sie hat es mit Meditation versucht, doch das hier bringt ihre wirren Gedanken wesentlich besser zur Ruhe. Das Eintauchen im Meer drückt ihren mentalen Reset-Knopf wie nichts sonst.

Sie weiß, der Trick besteht darin, die Hände unterzutauchen, deshalb geht sie tiefer hinein, die Fingerspitzen unter der Oberfläche, und ihre Handschuhe füllen sich mit kaltem Wasser. Jetzt nimmt sie auch das Meeresrauschen und das saugende Schmatzen der rücklaufenden Wellen wahr.

Das Wasser, das vom Ufer aus klar und grün ausgesehen hat, wirkt aus der Nähe teefarben. Eine Wand starken Schwarztees mit Milch rollt heran, füllt ihr Blickfeld aus, und sie bleibt ruhig stehen, lässt sich von der Welle aufnehmen und von den Füßen heben.

Dann ist sie drin.

Sie stößt einen Seufzer aus, wie eine Frau in den Wehen, reagiert ganz natürlich mit einem Aufkeuchen, als die Kälte ihr Rückgrat trifft. Sie kann die schwarzen Schatten ihrer Handschuhe gerade so erkennen, während sie mit ausholenden Zügen auf den glitzernden Horizont zuschwimmt. Die Wellen sind kabbelig, und das nackte Stück Hals unterhalb ihres Haaransatzes summt wie eine stark gespannte Trommel. Sie spürt, wie ihre Haut brennt – von Kopf bis Fuß.

Chris, o Chris, wie sehr würdest du das lieben, denkt sie und merkt, dass ihr die Tränen kommen, und lässt sie fließen. An Land fühlt sie sich immer wie ein Gefäß voll ungeweinter Tränen, das jederzeit leck schlagen und nachgeben könnte, doch hier, wo das Wasser aus ihrem Innern mit dem von außen zusammenfließt, fühlt sie sich gefestigter als seit Tagen.

Sie hält das Gesicht behutsam unter Wasser, möchte ihre Bommelmütze – und ihr Haar – nicht nass machen. Sie mag dieses Gefühl mächtigen, masochistischen Gehirnfrosts und nutzt die Gelegenheit, den Mund aufzureißen und so laut zu schreien, wie sie kann, denn sie weiß, dass nur das Meer dieses Geheimnis kennt und die anderen nichts hören werden.

Sie kommt hoch, Salzwassergeschmack in Mund und Nase, während die Kälte in ihre Blutbahn sickert wie eine köstliche Droge.

Reiß dich zusammen, sagt sie sich. Es ist zehn Monate her, dass Chris starb. Zehn Monate, um einen Grund zum Weitermachen zu finden.

Sie dreht sich nach Helga und Tor um, sieht, dass ein Mann zwischen ihnen schwimmt, und stellt fest, es ist Bill.

»Dominica! Ich dachte mir schon, dass du es bist.« Er ist in Begleitung zweier anderer Männer, die mit ihren Bärten und den roten Schwimmmützen wie Zwillinge aussehen, wie Nachwuchs vom Nikolaus. »Wie ist es dir ergangen?«

»Ach, na ja, so la la«, antwortet sie mit einem schwachen Lächeln. Sie spürt, dass er wirklich besorgt ist. Er blickt so freundlich und teilnahmsvoll wie immer.

»Wie würden uns freuen, dich wieder bei uns zu haben. Wann immer du dich dazu bereit fühlst.«

Sie nickt. Sie hat oft an Bill und das Team gedacht und dass die Telefonleitungen von Kolonnen verzweifelter Menschen verstopft sein müssen. Sie wird das Gefühl einfach nicht los, ihn im Stich gelassen zu haben, aber bisher war sie einfach noch nicht imstande, zurückzukehren.

»Gut, melde dich. Frohe Weihnachten.« Er salutiert mit einem fröhlichen Grinsen.

»Wer war das?«, fragt Helga wie gewöhnlich auf ihre direkte Art.

»Bill. Mein Supervisor bei der Telefonseelsorge.«

»Ich weiß nicht, wie du das machst. Anderer Leute Probleme …« Helga schüttelt den Kopf.

»Du bist nicht im Mindesten so gemein, wie du tust«, erklärt Dominica ihr.

»Es heißt, der Weg zum Glück bestehe darin, dass man anderen hilft«, bemerkt Tor und schnippt den Bommel ihrer Nikolausmütze zur Seite, damit die Welle ihn nicht erwischt.

»Ja, genau, du bist eine Heilige, Tor, das sollten wir nicht vergessen«, sagt Helga.

»Ach, Blödsinn«, stichelt Dominica.

»Im Ernst, Dominica«, sagt Tor, »du solltest wieder damit anfangen. Du bist die beste Zuhörerin, die ich kenne.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Die Gänse, schaut mal«, ruft Helga, und als Dominica sich umdreht, sieht sie Helga nach oben deuten und folgt ihrem Blick. Zwei Gänse fliegen rasch über sie hinweg, ihre Bäuche unglaublich weiß vor dem blauen Himmel. Ein Paar.

Helga beobachtet, wie Dominica ihnen nachstarrt, während sie sich zum Horizont hin entfernen. »Sie sind unterwegs zu ihrer Schar«, sagt sie beruhigend, und Dominica nickt.

2 Soße in hohem Bogen

Maddy Wolfe tupft sich mit der Papierserviette die Mundwinkel ab, dann knüllt sie die Serviette zusammen und legt sie auf den leeren Teller. Gestärkte Leinenservietten, Muranogläser und Denby-Porzellan, all das schmückt die Weihnachtstafel im Esszimmer, die sie für ihre Instagram-Posts so sorgfältig hergerichtet hat. Trent war überrascht, als sie nicht dort drinnen zu Mittag aßen, aber sie erklärte ihm, es lohne sich doch nicht, alles nur für sie beide zu verschmutzen, deshalb haben sie in der Essnische vom Küchenporzellan gegessen. Jetzt tut es ihr leid. Vielleicht hätten sie einander bei einem richtigen Weihnachtsessen mehr zu erzählen gehabt – aber ohne Jamie oder die Verwandten fühlt sich das Ganze wie ein Fake an.

Ihren Followern wird sie das natürlich nicht erzählen. Nein, es ist wichtig, die Illusion auf ihren @made_home-Kanälen aufrechtzuerhalten. Ihre sorgfältig bearbeiteten Fotos von der Weihnachtsgrotte im Garten und ihr schön geschmückter Tisch hatten wochenlanger Planung bedurft, doch ihre Posts sehen fantastisch aus – das darf sie ruhig selbst behaupten. Wenn Manpreet, die teure Medienberaterin, recht hat, wird sie bald genügend Follower haben, um Sponsoring-Verträge einzuheimsen. So zumindest der Plan. Aber Gott, wie nervig, ständig diesem ganzen Druck standhalten zu müssen.

»Danke«, sagt Trent, als sie seinen leeren Teller abräumt, sieht sie dabei aber nicht an. Er gießt sich den letzten Schluck Malbec ins Glas. Seine erhitzten Wangen passen sich allmählich seinem burgunderfarbenen Golfpullover an. Früher waren seine jungenhaften brünetten Locken einmal eines seiner besten, hervorstechendsten Merkmale, doch inzwischen wird sein Haar an den Schläfen grau und schütter um den Wirbel. »Das war sehr nett.«

Nett. Das Wort trieft vor Missbilligung.

»Ja, Truthahnbrust ist nicht so teuer. Und wir haben noch etwas für später übrig, für Sandwichs«, verteidigt sie sich in dem Versuch, ihr wenig bemerkenswertes Weihnachtsessen zu rechtfertigen. Voller Widerwillen stellt sie fest, dass er mit einem Cocktailstick von den Würstchen im Schlafrock zwischen den Zähnen nach Essensresten puhlt.

Das ist also inzwischen aus uns geworden?, fragt sie sich, während sie die Teller in die Küche trägt: zwei Leute, die sich über zukünftige Mahlzeiten und Sandwichs unterhalten? Sie muss an vergangene Weihnachtsfeste denken, an die vielen Verwandten, das Gelächter, an die Kinder ihres Bruders und an Jamie, wie sie auf neuen Fahrrädern oder Dreirädern herumkurvten, an den Lärm von sprechendem Spielzeug, während in der Küche George Michael sang und sie und Trent in einem Jongleurakt das Mittagessen servierten und dabei immer beschwipster wurden. Doch jetzt ist es, als hätten sie sich in ihre Eltern verwandelt.

Die Dinge werden sich normalisieren, sobald Trents Immobilienunternehmen wieder in Gang kommt und Verträge abgeschlossen werden, statt sich in Luft aufzulösen, sagt sie sich. Wer hat schließlich kein schwieriges Jahr hinter sich? Im Vergleich steht sie immer noch gut da, hat ein beneidenswertes Dach über dem Kopf, leistet sich Designerkleidung und beschämend kostspielige Strähnen im glänzenden Blondhaar. Wahrhaftig, sie hat wenig Grund zur Klage.

Was sie jetzt braucht: Füße aufs Sofa und dazu einen großen Gin. Früher wäre Trent längst zur Tat geschritten, hätte ihr etwas zu trinken besorgt. Sie weiß, dass er ihr ein Glas einschenken würde, wenn sie ihn darum bäte, aber dass sie überhaupt bitten muss, verdirbt es ihr. Wie bei allem Übrigen – am besten handelt sie selbst.

Sie öffnet den Küchenschrank und sieht verärgert, dass die Flasche Sipsmith Gin beinahe leer ist. So etwas fällt ihr eher auf, seit sie weniger trinkt, aber Trent hat sich fast den ganzen Dezember über einiges hinter die Binde gegossen. Vorsorglich, wie er es nennt, vor dem versprochenen trockenen Januar. Sie schwenkt die Flasche und hält sie gegen das Licht. Um richtig zu entspannen, wird sie mehr Gin benötigen. Sie geht über den Flur zur großen Vorratskammer neben der Hintertür, um eine neue Flasche zu holen.

Das kleine rote Blinklicht neben dem selten benutzten Festnetzanschluss fällt ihr ins Auge. Das ist komisch. Jemand hat eine Nachricht hinterlassen. Sie überlegt rasch, wer der Anrufer sein könnte, sie hat doch mit allen gesprochen. Ihre Eltern in Shropshire essen in ihrem Gartenpavillon mit den Nachbarn zu Mittag, ihre Brüder feiern sämtlich in Familie.

Wie konnte sie einen Festnetzanruf verpassen? Oder auch Trent? Er war doch den ganzen Tag zu Hause.

Sie nimmt den Hörer in die Hand und drückt den Wiedergabeknopf. Sie traut sich nicht, es sich zu wünschen, aber wer sonst würde am Weihnachtstag anrufen?

Außer ihm?

Außer Jamie …

»Mum«, hört sie, und ihr entfährt ein kleiner Schrei. Es ist tatsächlich Jamie. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, während sie wartet, ihn atmen hört, aber er sagt weiter nichts. Das Schweigen scheint sich zu dehnen mit all den Worten, die er nicht sagen kann. Sie weiß, was Trent gern hören möchte: dass es Jamie leidtut, dass er ihren schrecklichen Streit bedauert, dass er mit den Drogen aufgehört hat und sich am Riemen reißt.

Aber leider hört Maddy aus dem Schweigen etwas anderes heraus: dass er in Schwierigkeiten steckt; dass er sie braucht; dass Weihnachten ist und er Heimweh hat und müde ist; dass er nicht weiß, wie er wieder auf sie zugehen soll.

Die Nachricht endet. Es klickt.

»Nein, nein, nein«, sagt Maddy in Panik und spielt die Nachricht noch einmal ab und merkt, dass sie sie dabei aus Versehen gelöscht hat. »Mist!«

Mit zitternden Händen drückt sie die Rückruftaste und vernimmt nur den Klingelton. Sie greift nach einem Kugelschreiber aus dem Becher auf der Arbeitsplatte, aber er funktioniert nicht. Sie zerrt eine Schublade auf und schnappt sich einen Filzstift, dreht einen Umschlag um, betätigt erneut die Rückruftaste und notiert auf der Rückseite eine unbekannte Festnetznummer, dann ruft sie die Auskunft an. Es dauert eine Weile, bis sie durchkommt, und als es ihr schließlich gelungen ist, erklärt man ihr, die Nummer gehöre zu einer Telefonzelle in Brighton.

Brighton? Was hat Jamie in Brighton zu schaffen? Sie ruft wieder an, doch es klingelt und klingelt. Sie stellt sich die leere Telefonzelle vor, Möwen, die darüberfliegen, weggeworfene Chipstüten, die der Wind durch die Gegend bläst.

»Mist!«, ruft sie noch einmal und knallt den Hörer auf. Es ist nicht auszuhalten. Sie hat ihn verpasst. Er ist nicht da.

In ihrem Kopf überschlagen sich die Fragen, während sie gleichzeitig zu verdauen versucht, dass sie endlich weiß, wo ihr Sohn steckt. Ein Gefühl wie Wasser in der Wüste.

Jamie verschwand im Februar kurz vor dem ersten Lockdown, und sie ist in diesem Jahr halb krank geworden vor Sorge, wo er sein mag und was er macht. Sosehr sie versucht hat, sich daran zu erinnern, dass er erwachsen ist und seinen eigenen Weg finden muss, seine Abwesenheit verdrängt manchmal alles andere. Und wie an jedem Tag galt ihr erster schuldbewusster Gedanke nach dem Aufwachen auch heute Jamie.

Bei so viel Zeit zum Nachdenken kommt sie nicht um die Erkenntnis herum, dass sie ihn im Stich gelassen hat. Sie hätte ihn unterstützen müssen, aber Trent hatte darauf bestanden, dass sie als geeinte Front auftraten. Und damals hatte sie zugestimmt. Doch dieser Plan war spektakulär gescheitert, und in dem anschließenden Streit waren schreckliche Worte gefallen, die niemand mehr ungesagt machen kann.

Sie hatte Jamie, vierundzwanzig Stunden nachdem er aus dem Haus gestürmt war, als vermisst gemeldet, doch die Polizei vermittelte ihr das Gefühl, man habe Besseres zu tun, als sich dem Kummer einer Frau in mittleren Jahren und geordneten Verhältnissen zu widmen, deren erwachsener Sohn nach einem Streit verschwunden war. Sie war vor Sorge fast außer sich gewesen; fünf quälend lange Tage vergingen, bis Jamie anrief und ihnen mitteilte, er sei nicht vermisst, sondern ganz einfach gegangen. Sie hatte gehofft, er sei vielleicht milder gestimmt und sogar bereit, ihnen zu verzeihen – oder, noch besser, zerknirscht und reumütig. Doch ganz im Gegenteil, er wirkte eher verhärtet. Mit stählerner Stimme hatte er sie darüber informiert, dass er nicht mehr daran interessiert sei, Teil der Familie zu sein. Seine Worte, die sich fest eingeprägt hatten als Rechtfertigung, ihn gehen zu lassen, beschämen sie heute und geben ihr das Gefühl, es nicht besser verdient zu haben.

Sie dachte, Jamie würde nur seine Wunden lecken wollen, sich dann wieder fangen und nach Hause zurückkehren. Wie sehr sie sich geirrt hatte. Darin … in allem.

Mum. Das Wort hallt in ihrem Kopf wie ein Gong. Was ist sie für eine schreckliche Mutter? Er ist endlich auf sie zugegangen … und sie war nicht für ihn da. Vielleicht war es eine sentimentale Regung. Als Kind hatte Jamie Weihnachten immer geliebt. Als Einzelkind, wer hätte es ihm verdenken können? Er war immer schrecklich verwöhnt worden. Sie würde ihm so gern sagen, dass sie eine Dose Quality-Street-Bonbons gekauft hat und ihm die grünen Dreiecke aufheben wird. Sie möchte ihn unbedingt daran erinnern, dass sie einmal eine glückliche Familie waren.

Sie eilt wieder in die Küche und sieht auf der Arbeitsplatte Trents schwarzes iPhone neben einer neuen Weinflasche liegen, die er offensichtlich gerade geöffnet hat. Sie hört die Spülung der unteren Toilette.

Jamie hat sie nicht auf ihrem Handy angerufen, und obwohl sie weiß, dass es lächerlich ist, überlegt sie, dass er vielleicht Trent angerufen hatte, falls er wirklich in Schwierigkeiten steckte.

Sie nimmt das Telefon in die Hand. Zu ihrer Überraschung ist es nicht gesperrt. Trent ist sieben Tage die Woche vierundzwanzig Stunden praktisch körperlich damit verbunden, deshalb fühlt es sich komisch an, dieses vertraute und dennoch verbotene Gerät in Händen zu halten. Sie betrachtet die unbekannten Apps und das seltsame Layout des Displays. Als sie unter den neuen Nachrichten eine Nummer sieht, tippt sie sie automatisch an. Bitte lass es Jamie sein. Bitte … bitte.

Doch da ist keine Nachricht von Jamie, nur eine lange Reihe von Texten von Helen. Ihrer Freundin Helen. Helen Bradbury. Maddy erkennt auf dem Profilbild ihr Gesicht und ihr langes, kastanienbraunes Haar.

Mit einer Art sechstem Sinn klickt sie die oberste Nachricht an; Jamie und sein Anruf sind für kurze Zeit vergessen.

Auf dem Display erscheint ein Selfie von Helen, wie sie in einer so intimen, expliziten Haltung auf einem Stuhl sitzt, dass Maddy zurückzuckt und das Telefon fallen lässt.

Ihr Mund füllt sich mit Speichel, sie reißt sich zusammen, hebt Trents Handy auf, das noch auf der Arbeitsplatte kreiselt, und sieht sich das Foto erneut an. Sie bemerkt, dass ein Banner über das Display flattert: Eine Weihnachtsüberraschung ERWARTET DICH. Vermisse Dich, Babes. Dann ein Strom von Kuss- und Herz-Emojis.

Ihr kribbelt die Haut am ganzen Körper. In einer Mischung aus Schock und Wiedererkennen, die sie benommen macht. Denn jetzt ergibt alles einen Sinn. Sie und Trent und ihrer beider Entfremdung.

Grund ist nicht der Stress wegen der Arbeit … oder wegen Covid … oder wegen Jamie.

Grund ist seine Affäre. Mit Helen fucking Bradbury.

Als ob Helens Möse beißen könnte, umfasst sie das Telefon vorsichtig mit spitzen Fingern und öffnet die Anrufliste. Dutzende von Anrufen, alle von Helen. Der Beweis, den sie braucht.

Wie von einer fremden Macht gelenkt, legt sie das Telefon beherrscht verkehrt herum auf die Arbeitsplatte und geht zur Spüle, wo immer noch die Teller vom Mittagessen stehen. Sie öffnet den Geschirrspüler und beginnt, die Teller einzusortieren. Erst als sie hört, dass Trent die Küche betritt, fällt ihr ein, dass sie sie nicht vorher mit dem schicken Schlauch abgespült hat.

Sie hält inne, sieht, wie er auf die Weinflasche zusteuert, als wäre alles vollkommen normal, und spürt eine solch heiße Wut in sich aufsteigen, dass sie, noch ehe sie weiß, was sie tut, einen Teller mit wildem Schrei quer durch die Küche schleudert. Trent merkt es rechtzeitig und duckt sich, und der Teller zerschellt neben seinem Kopf am Türrahmen und fällt in großen Scherben scheppernd zu Boden.

»Maddy! Was zum Teufel?«, schreit er.

Sie hält gerade lange genug inne, dass sie sieht, wie Spritzer der Truthahnsauce in geradezu elegantem Bogen die weißen Steingutkacheln und hellen Holzschränke zieren, ehe sie einen weiteren Teller nimmt und in seine Richtung schleudert.

Das Ganze ist eine Art außerkörperlicher Erfahrung, in der sie sich von dem Bang-&-Olufsen-Lautsprecher oben in der Ecke aus sehen kann wie jemand mit weit aufgerissenen Augen in einer Trash-Doku-Serie. Sie tut es wirklich. Jetzt ist sie tatsächlich durchgedreht.

»Du Scheißkerl. Ich hasse dich«, schreit Maddy. Diese Worte loszuwerden fühlt sich geradezu majestätisch an. Ihre Wut ist gigantisch – als wäre sie an eine elektrische Steckdose angeschlossen.

»Himmel! Hör auf! Beruhige dich.« Trent kommt langsam näher und tätschelt besänftigend die Luft.

Maddy starrt ihn an und erkennt ihn als den, der er ist – ein rotgesichtiger, ehebrecherischer Fremder. Sie stürmt auf ihn los, nimmt sein Telefon von der Arbeitsplatte und drückt es ihm so heftig gegen die Brust, dass er rückwärts hinfällt.

Sie schwebt herab, vereinigt sich wieder mit ihrem körperlichen Ich, greift im Flur die Autoschlüssel von der restaurierten Konsole und schwingt sich ihre Tasche über die Schulter. Dann knallt sie die Haustür aus Holz und Glas mit aller Macht ins Schloss und bemerkt noch, dass der Kranz an der Tür, den sie selbst angefertigt hat und der über tausend Likes bekommen hat, solidarisch heruntergefallen ist. Sie marschiert über die gekieste Auffahrt zu ihrem Porsche Cayenne, öffnet die Tür, steigt ein und stellt erst jetzt fest, dass sie immer noch ihre Hausschuhe anhat. Macht nichts. Ihre Sportsachen sind im Kofferraum.

Trent steht brüllend in der Tür, doch sie lässt das Fenster geschlossen, als er gegen den Kranz tritt. Eine Lichterkette – eine der zwanzig, die Maddy eigenhändig aufgehängt hat – fällt herunter, und er kämpft damit wie Indiana Jones gegen eine Schlange. Sie betätigt das elektrische Tor und fährt los.

Noch immer kocht sie vor Wut.

Sie biegt auf die Straße ein und fährt Richtung Süden. Sie wird ihren Sohn suchen.

3 Alle haben Spaß

Tor arbeitet hauptsächlich von dem beengten Home-Help-Büro in der Stadt aus, koordiniert Tafel-Spenden und die Caritasverwaltung, doch dank Brexit und Covid hat sie die meisten ihrer Ehrenamtlichen eingebüßt und fährt den Lieferwagen abwechselnd mit Greg und Arek selbst.

Gerade hat sie den letzten senffarbenen Polystyren-Karton aus der Thermotasche hinten im Wagen herausgereicht. Sie stampft mit den Füßen und bläst in die Hände. Die Temperatur ist gefallen, und sie wünscht sich dickere Handschuhe als die billigen fingerlosen, die sie trägt. Sie hat nach dem Schwimmen heute Morgen direkt mit ihrer Schicht angefangen und noch keine Möglichkeit gehabt, sich richtig aufzuwärmen.

Sie springt vom Lieferwagen und fängt an, aufzuräumen. Sie weiß, sie muss bald ins Warme, und zu spät fällt ihr ein, dass sie vergessen hat, ihre Methotrexat-Dosis zu nehmen. Sie ermahnt sich, ihren Zustand doch frohen Mutes zu akzeptieren. Schließlich könnte alles noch viel schlimmer sein. Als sie vor ein paar Monaten anfing, ohne einleuchtenden Grund Gewicht zu verlieren, dachte sie, sie habe vielleicht Krebs oder sonst etwas richtiges Übles. Dann setzten die Gelenkschmerzen ein, und ihre Zehen und Knöchel fühlten sich an, als seien sie zusammengeklebt. Weiteres Grübeln brachte sie auf Covid-19, doch nach einem Bluttest erfuhr sie dann, dass sie an rheumatoider Arthritis litt. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte gedacht, nur alte Damen hätten so etwas, doch offenbar war das ein Irrtum.

Es war wie immer Lotte, stets ihre Prinzessin in schimmernder Rüstung, die sich in die Erforschung von RA stürzte und Tor diverse Artikel über Kaltwasserschwimmen überreichte, zusammen mit einem Paar glitzernder Plastikschuhe. Manchen Leuten helfe es, die Entzündung in Schach zu halten, erklärte sie, und es sei doch sicherlich einen Versuch wert? Nach einem ersten eisigen Eintauchen im Meer gab es kein Zurück mehr. Das Meer ist Tors Droge und ihre Rettung.

Tor ist irgendwie stolz auf ihre Gefasstheit und ihre Geduld, besonders dann, wenn ihre Zwillingsschwester Alice sie wieder einmal für verrückt erklärt, weil sie im Winter im Meer schwimmen geht. Alice selbst beliebt allerhöchstens im August das Mittelmeer zu beehren. Aber schließlich ist Alice seit je eine Hypochonderin gewesen und hat ihrer Mutter ständig schulfreie Tage abgepresst, was den Mythos ihrer »zarten Konstitution« festigte, so als wäre sie eine von Jane Austens Romanheldinnen, während sie in Wirklichkeit zäh ist wie alte Stiefel.

Tor könnte ihr natürlich die Wahrheit sagen, aber das wird sie nicht, um Alice keine Munition zu liefern. Zudem gibt es keinen Grund, sich über ihre Gesundheit zu beklagen, wenn sie für so viel in ihrem Leben dankbar sein kann – anders als die Obdachlosen, mit denen sie es bei der Arbeit zu tun hat. Besonders an einem Tag wie diesem.

Unter der aufgespannten Markise herrscht leises Stimmengemurmel, während die Menschen den mageren Inhalt ihrer Kartons untersuchen. Die Luft riecht nach Zigarettenrauch, feuchter Kleidung und Schulspeisung. Wenn sie die Menschen ansieht, kann sie unmöglich sagen, ob sie alt sind oder jung, Mann oder Frau. Was sie verbindet, sind die defensive Körpersprache, die wild durcheinandergewürfelten Lagen aus diversen Kapuzenpullovern und Jacken und ihre allgemeine Resignation. Eigentlich ist die Vergabe ein freudiges Ereignis, doch die Covid-Einschränkungen haben alle reservierter und bedrückter gemacht.

Aus dem Lautsprecher des Lieferwagens schallt ›Merry Xmas Everybody‹ von Slade – eines der Weihnachtslieder, die Tor ganz besonders auf die Nerven gehen. Ein Gutes an Weihnachten ist, dass es bald vorbei sein wird und sie dann endlich nicht mehr diese schrecklichen, munteren Songs spielen muss, deren kitschig übertriebene Texte nur noch zu betonen scheinen, wie bemüht diese wohltätige Veranstaltung wirklich ist. Denn nein, NEIN, nicht alle haben Spaß. Gut, vielleicht mit Ausnahme von Vic.

Sie kann ihn riechen, noch bevor er auftaucht. Sie weiß genau, dass er sich früher jeden Tag in den öffentlichen Strandtoiletten gewaschen hat und entsetzt war, als diese während des Lockdowns geschlossen wurden.

»Es ist Weihnachten«, singt Vic mit alberner Stimme und zieht eine Grimasse, als er Tor die leere Essensbox zurückgibt, damit sie sie in den schwarzen Müllsack steckt. Sein struppiger Bart hat sich im Gummiband einer schmuddeligen medizinischen Maske verheddert; er leckt genüsslich Sauce von seinem schmutzigen Finger.

»Der beste Truthahn seit Jahren. Hat mich an meine Kindheit in Margate erinnert.«

»Hast du früher dort gewohnt?«

»Wir hatten immer wundervolle Weihnachten«, sagt er. »Einen großen Baum. Mit allem Drum und Dran.«

Tor hört geduldig zu, denn sie weiß, dass Vic gern redet, und auch, dass dies an diesem Tag möglicherweise seine erste und letzte freundliche Unterhaltung sein wird. Er verlor alles, als seine Familie ihn wegen seiner Trinksucht hinauswarf, und nachdem er im Gefängnis von Lewes gesessen hatte, war die Familie für ihn nicht mehr auffindbar. Tor weiß, dass sie, wenn ihr Zuhause auch nur noch eine Bushaltestelle wäre, wie Vic zum Frühstück vermutlich Cider trinken würde. Wer nicht? Aber Vic hat ein fröhliches Naturell und scheint sein Schicksal zu akzeptieren.

Ein junger Typ, den sie noch nie gesehen hat, nickt ihr zu und wirft seine leere Essensbox in den Müllsack.

»Alles in Ordnung?«, fragt sie ihn. »Hast du einen Schlafplatz während des Lockdowns?«

Der Premierminister, Boris, hat zwar allen freie Weihnachten »geschenkt«, doch die Regierung hat einen weiteren Lockdown angekündigt. Für Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben, ist das schlimm.

Der junge Typ nickt erneut. Nach seinem ungleichmäßigen Bartwuchs zu urteilen, ist er vermutlich kaum zwanzig, aber sein Gesicht ist bereits von den vertrauten Zeichen der Verzweiflung gezeichnet, und seine Hände zittern – möglicherweise vom Entzug. Tor sieht das ständig und hat Mitleid mit ihm. Sie weiß, wie einfach und verlockend die Drogenfalle ist – junge Männer wie er sind das gefundene Fressen für die Drecksäcke, die nur darauf warten, die Anfälligen unter ihnen anzufixen. Sie weiß, wie unmöglich es ist, dem zu entkommen. Er schlurft zurück Richtung Straße, und am liebsten würde sie ihm etwas Ermutigendes hinterherrufen, doch der Moment geht vorüber, und sie hat wieder einmal das beklemmende Gefühl, nicht genug getan zu haben.

Sie weiß, dass diese Menschen eine Unterkunft finden können, auch wenn Freiluft-Schläfer wie Vic vor dem, was angeboten wird, zurückschrecken. Aber selbst bei allerbestem Willen lassen sich die Hostels und befristeten Unterkünfte kaum als Zuhause bezeichnen, schon gar nicht an Weihnachten. Sie fühlt sehr mit diesen armen Menschen, die nirgendwo Wurzeln schlagen können. Es ist so erschöpfend, immerzu umherziehen zu müssen.

Sie lächelt Arek zu, der sich daranmacht, die Markise abzubauen. Er war in Polen in der Armee und ist ein wahres Muskelpaket. Sie weiß nicht, was sie ohne seine starken Arme tun würde. Normalerweise arbeitet er auf dem Bau, doch nachdem ihre Organisation ihn nach seiner Ankunft in England unterstützt hat, von den Drogen loszukommen, hilft er nun anderen. Er ist ein wirklich guter Typ.

»Ich muss bald gehen. Meiner Frau eine Atempause verschaffen. Das Baby war die ganze Nacht wach«, sagt er. »Was hast du vor, Tor?«

»Mich aufwärmen. Ich friere immer noch vom Schwimmen. Danach gibt es einen Familien-Zoom.«

Eigentlich fürchtet Tor den erzwungenen Familien-Chat, schon weil er sie Lotte gegenüber in eine seltsame Lage bringt. Schon vor Jahren hat sie Lotte versprochen, sich ihrer Familie gegenüber zu outen, so wie Lotte es gegenüber ihrer Familie in Amsterdam getan hat, doch Lottes Leute sind ein liberaler Haufen und das genaue Gegenteil von ihrer Familie in Tunbridge Wells. Aber noch während Tor überlegt, die Bombe – »ach übrigens, ich bin lesbisch« – im Weihnachts-Zoom platzen zu lassen, weiß sie, dass sie auch diesmal kneifen wird.

Ihre Eltern können die Sache mit Mike noch immer nicht begreifen. Sie sind mit den Eltern ihres Ex gut befreundet, und Tor weiß, wie begeistert sie Pläne schmiedeten, sich Tors und Mikes Hochzeit und gemeinsame Enkelkinder ausmalten. Die Enttäuschung, als Tor die zehn Jahre dauernde Beziehung beendete, ist immer noch frisch – sogar heute noch nach all den Jahren. Sie bedauert, dass sie die Beziehung so lange weitergeführt und ohne jede Erklärung beendet hat. Natürlich wusste sie schon die ganze Zeit, dass sie homosexuell war – und hegte lange den Verdacht, dass Mike es insgeheim ebenfalls war. In ihrer Beziehung gab es eigentlich kaum sexuelle Spannung. Doch dann hatte Tor nach ein paar heimlichen Affären schließlich Mut gefasst und die Beziehung aufgekündigt. Sie hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und eine Stelle bei einer Wohltätigkeitsorganisation in Afrika angenommen. Sechs Jahre war sie in Burkina Faso gewesen. Bei ihrer Rückkehr ins Vereinigte Königreich hatte sie sich in Brighton niedergelassen und dank ihres Singledaseins eine Menge dringend benötigten Spaß gehabt. Dann war sie in eine Wohngemeinschaft gezogen und in Lottes Bann geraten.

Anfangs war es ein Lacher gewesen, einfach eine frivole Affäre. Etwas Ernstes war überhaupt nicht in Frage gekommen. Die extrovertierte Lotte mit ihrer enormen Strahlkraft war garantiert nicht die Richtige für Tor, doch irgendwie hatte es trotzdem zwischen ihnen geklickt. Sie ist es Lotte schuldig, ihre Familie zu informieren, so dass sie möglicherweise den nächsten Schritt in ihrer Beziehung tun können, aber noch fehlt ihr der Mut.

»Dann schöne Weihnachten«, wünscht Arek ihr.

»Für dich auch.«

»Hey, Tor. Lächle«, fügt er hinzu. »Wir haben heute Gutes getan.«

4 Das Terrain neuer Freundschaften

»Wir hatten hier schon länger keine Gäste mehr«, sagt die Airbnb-Besitzerin zu Maddy, als sie die Tür zu der Wohnung in dem heruntergekommenen roten Backsteinblock aufschließt, »denn … na ja, Sie wissen schon … es war hart.« Ihre Wangen sind gerötet, die Augenbrauen struppig.

Wäre in Brighton irgendein Hotel geöffnet gewesen, hätte Maddy vielleicht sogar eine Suite gemietet, in ihrer Verzweiflung hat sie sich jetzt an Airbnb gewandt. Hinter Cobham hatte sie auf dem Parkplatz von Pease Pottage Services über zwanzig Nachrichten an diverse Gastgeber verschickt und die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, als eine Nachricht zu dieser Wohnung aufgeploppt war. Trotzdem war die Besitzerin wegen der kurzfristigen Anfrage auf der Hut. Mit einer Vorauszahlung für zwei Wochen hatte Maddy sie dann aber überzeugt. Eine Wohnung im Zentrum mit Meerblick und privatem Parkplatz war schließlich Gold wert.

Sie hat keinen Palast erwartet, doch das Appartement, in neutralen Farben gehalten, ist wirklich sehr trostlos. Ihr dämmert, dass es vielleicht doch ein Fehler war, so dramatisch aus dem Haus zu stürmen. Vielleicht hätte sie zu Lisa gehen sollen. Ihre beste Freundin hätte sie sicherlich mit offenen Armen aufgenommen. Aber sie weiß, dass Lisa ein volles Haus hat, und Maddys Probleme sind zu gewaltig; sie kann sie nicht einfach am Nachmittag des Weihnachtstags abladen – nicht einmal bei ihrer besten Freundin.

In der kleinen Küche öffnet sie den Kühlschrank und wird von dem Schwall schimmliger Luft schier überwältigt.

»Der Fernseher funktioniert«, sagt die Besitzerin und richtet die Fernbedienung auf den Flachbildschirm an der Wand. Glitzerndes Feengeklingel einer Weihnachtswerbung erfüllt den Raum, gefolgt von Konservenapplaus, als Michael McIntyres Weihnachts-Spielshow Christmas Wheel aufleuchtet. Maddy muss an all die Familien im ganzen Land denken, die sich auf ihren Sofas fläzen und zuschauen.

Sie spürt, dass die Wohnungsinhaberin furchtbar gern weitere Fragen stellen möchte. Ganz offensichtlich ist mit dem weihnachtlichen Auftauchen einer alleinstehenden Frau, einfach so, aus heiterem Himmel, ein saftiges Drama verbunden, doch Maddy lotst sie zur Tür und nimmt ihr den Schlüssel ab.

Als sie weg ist, setzt Maddy sich auf die dünne Armlehne des billigen Bettsofas und schaltet den Fernseher aus. Aus der Wohnung nebenan ist gedämpft klassische Musik zu hören.

Sie schiebt die Hände zwischen die Knie, wobei ihr die schweren Diamantringe in die wohltrainierten Oberschenkel schneiden, und stößt einen tiefen Seufzer aus. Eiserne Entschlusskraft hat sich im Lauf der Fahrt in ein Gefühl der Niederlage verwandelt; sie kommt sich vor wie ein schlaffer Airbag. Sie macht sich lächerlich, oder? Sie hat sich lächerlich gemacht, ist zu weit gegangen. Was zum Teufel tut sie hier, in dieser scheußlichen Wohnung, an einem Ort, wo sie keine Menschenseele kennt? Sie ist zweiundfünfzig, um Himmels willen. Sie sollte einfach gehen und in ihr hübsches, warmes Zuhause zurückfahren.

Sie kann sich die Szene so gut vorstellen: Trent zerknirscht und reuig. Er wird einer Therapie zustimmen, Helens Nummer löschen und ihr ein Bad einlaufen lassen. Er wird ihr einen geeisten Bailey's bringen, und sie wird sich einen ganzen Tag lang in dem Emotional-Detox-Schaumbad suhlen, das sie in der extravaganten Space-NK-Geschenkbox zu Weihnachten bekommen hat. Dann kann sie ihren bestickten Seidenpyjama anziehen, ihre Lavendel-Augenmaske auflegen und so tun, als sei das alles heute nie passiert.

Aber nein. Das kann sie nicht. Der Traum ist zerplatzt. Sie kann nicht so tun, als ob. Nicht mehr.

Trent und Helen. Helen und Trent. Die schreckliche Wahrheit jagt durch ihr Gehirn.

Ist es nur eine Episode? Eine unerhörte Liaison? Oder sind die beiden zusammen? Planen, auf Dauer zusammenzubleiben? Der Gedanke fühlt sich entsetzlich an. Hatte Trent vor, sie zu verlassen? Ihre Ehe zu beenden? Und was ist mit Helens Ehe? Alex, ihr Mann, gehört nicht zu den Menschen, die die Welt in Flammen aufgehen lassen, doch bei den seltenen Gelegenheiten hat Maddy ihn als guten Menschen kennengelernt. Er ist aufrichtig und zuverlässig, ein guter Vater und erfolgreicher Geschäftsmann mit einem beeindruckenden Golf-Handicap. Wie konnten Helen und Trent das Leben aller Beteiligten völlig auf den Kopf stellen? Die Auswirkungen sind einfach zu gewaltig. Oder halten sie Maddy und Alex schlicht für Kollateralschäden? Und was ist mit Helens Kindern, Lois und Max? Will Trent bei ihnen Vaterstelle vertreten? Unmöglich.

Das sind voreilige Schlüsse, sagt sie sich. Es muss etwas Sexuelles sein. Ein Fehler. Eine törichte Episode, die so schnell zu Ende sein wird, wie sie begonnen hat.

Seufzend greift sie nach ihrem Handy. Für ihre Weihnachts-Posts sind ein Haufen Instagram-Likes und Emojis eingegangen. Kurz ist sie versucht, die Nachrichten zu beantworten, kann aber die nötige Fröhlichkeit nicht aufbringen.

Überall gibt es auch direkte Nachrichten – WhatsApp, Instagram und Messenger, einige von Trent, doch die meisten von Lisa, mit dem gleichen Inhalt: RUF MICH AN.

Die Buschtrommeln haben also nicht lange auf sich warten lassen. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und ruft Lisa an.

»Oh, Gott sei Dank. Du lebst«, sagt Lisa. Ihre beste Freundin klingt echt erleichtert. »Warte kurz.« Im Hintergrund ist Musik zu hören und das Klackern eines Brettspiels, das am Küchentisch gespielt wird. Tess, die, so alt wie James, letztes Jahr die Universität abgeschlossen hat, ist zu Hause mit ihrem tollen Freund, dazu Lisas Stiefkinder. Ein Schrei, als jemand eine Gewinnkarte aufdeckt. Sie war schon immer ein wenig neidisch auf Lisas vielköpfige Brut.

»Maddy, was zum Teufel? Geht es dir gut?«, fragt Lisa, eindeutig nicht mehr in der Küche, sondern auf dem ruhigeren Flur.

»Mir geht's gut.« Maddy bricht die Stimme. Es geht ihr nicht gut. Nicht im Entferntesten, und beim Klang von Lisas Stimme verstopfen Tränen ihre Kehle mit Selbstmitleid. Ihre Besorgnis fühlt sich an wie die liebevolle Umarmung, die sie jetzt braucht. Lisa ist mit ihr durch dick und dünn gegangen, seit sie sich mit zweiundzwanzig im Graduiertenprogramm kennengelernt haben. Sie teilen das Glück, einander schon ihr ganzes Leben lang gegenseitig den Rücken zu stärken.

»Stimmt es? Ich habe gehört …. Na ja, dass du und Trent …«, beginnt Lisa.

Trent muss Lisa angerufen haben, in der Annahme, sie wäre die Erste, an die Maddy sich wenden würde. Doch seit sie weiß, was für ein Lügner Trent ist, hat sie das Gefühl, dies überprüfen zu müssen.

»Wer hat es dir erzählt?«

»Helen.«

Damit hatte Maddy nicht gerechnet.

»Sprich mir nicht von dieser Hure«, faucht Maddy.

»O Gott«, stöhnt Lisa. »O Babes, sie dachte doch, du wüsstest Bescheid. Du weißt schon … über sie und Trent.«

»Heißt das etwa, du wusstest Bescheid? Über sie?« Maddy kneift die Augen zu und versucht zu begreifen, was Lisa da gerade gesagt hat. »Wie kommt sie darauf, ich wäre einverstanden, dass sie meinen Ehemann vögelt?« Ihre Stimme klingt jetzt hysterisch. »Und warum hast du mir nichts gesagt? Warum, Lis? Warum? Wenn du doch Bescheid wusstest?«

Ein schreckliches, angestrengtes Schweigen folgt, während Lisa sich ihrer Schuld bewusst wird. Maddy wartet auf eine Erklärung. Im Geist sieht sie, wie Lisa sich mit der Hand an die ginumwölkte Stirn fasst. Sie selbst hat sich hingegen noch nie nüchterner gefühlt.

»Ich weiß es nicht. Ich wollte dich warnen, aber eigentlich ist es nur etwas zwischen dir und Trent … du scheinst nicht … na ja, du hast doch eher deine Karriere im Kopf als ihn und …« Lisa rudert verzweifelt.

»Und das gibt Helen das Recht …? Himmel!« Maddy explodiert, kann nicht fassen, was sie da hört. »Wie lange schon? Und lüg mich nicht an, Lis. Sag mir einfach die Wahrheit. Wie lange geht das schon? Mit ihr?«

»Zwei, vielleicht drei.«

»Wochen? Monate?«

Unheilvolles Schweigen. »Lisa …«

»Jahre«, sagt sie rasch, und Maddy weiß, dass sie die Augen zukneift.

Der Verrat fühlt sich an, als hätte Lisa sie geschlagen. Diese Demütigung ist der K.-o.-Schlag, der Maddy endgültig zu Boden gehen lässt. Eine dreijährige Affäre hinter ihrem Rücken. Also kein Techtelmechtel. Eine Beziehung. Eine ernsthafte Beziehung. Und Lisa hat es geschehen lassen, ohne sie zu warnen?

»Maddy, bitte«, beginnt Lisa, um Verständnis bettelnd, aber Maddy ist so wütend, dass sie das Telefon mit einem wilden Schrei voller Wucht an die Wand schmettert.

Schon als sie es loslässt, weiß sie, das war bis jetzt ihr schlimmstes Eigentor.

»Verdammt«, keucht sie, hechtet durchs Zimmer und sieht, dass das Display gesprungen ist. Sie schaltet das Telefon ein und aus, doch es ist tot. »Nein, nein, nein, nein, nein.«

Auf der anderen Wandseite ist plötzlich alles still. Ob die Nachbarn sie gehört haben?

Leise steht sie auf und legt das kaputte Telefon auf den Couchtisch, die zerbrochenen Teile purzeln neben ihren Tränen auf die Tischplatte. Sie holt zittrig Luft und tritt ans Fenster, sie braucht frische Luft.

Als sie das Rollo zur Seite schiebt, fällt ihr Blick auf die beiden Gebäude gegenüber – wohl kaum der Meerblick, den die Anzeige versprochen hat –, aber auf dem schwarzen Wasser dazwischen glänzt ein Streifen Mondlicht. Noch nie, nie in ihrem ganzen Leben hat sie sich so allein gefühlt.

Sie lehnt den Kopf gegen die kalte Scheibe und fängt an zu schluchzen.

5 Auf Plünderjagd

Durch die Lücke zwischen den Schornsteinen auf Helgas Cottage kann man die Seebrücke sehen. Nachdem sie mit dem letzten Mörtel das undichte Oberlicht geflickt hat, richtet sie sich auf, und ihr Blick fällt auf die Stare. Das Flugverhalten des Schwarms in der Dämmerung ist atemberaubend. Sie liebt die fröhlichen Schattenspiele, die das Hin und Her der Vögel an den weißen Himmel malt, wenn sie sich unisono hoch in die Luft schwingen und wieder absinken lassen. Sie weiß, dass die schlauen Stare sich zusammentun, um die Falken zu überlisten, von denen sie andernfalls angegriffen würden, aber sie wirken auch, als hätten sie ihren Spaß, und Helga fragt sich, ob sie untereinander Tipps und Informationen austauschen, bevor sie sich im Schutz der eisernen Brücke zum Brüten niederlassen. Sie beschirmt ihre Augen, als immer neue Schwärme dazukommen und alle gemeinsam eine gewaltige, bewegliche Masse bilden, die am Himmel für einen Moment den Umriss eines Wals zeigt.

Sie löst die leere Kartusche von der schwarzen Versiegelungspistole und wischt sich die Hände an der Segeltuchhose ab. Sie denkt kurz an Mette und wie entsetzt ihre Nichte wäre, wenn sie sie jetzt sehen könnte. Sie erklärt Helga immer, mit über siebzig dürfe sie nicht mehr alles selbst machen. Mette findet, sie sollte nach Dänemark in ihre Nähe zurückkehren, aber sosehr Helga sie auch liebt, diese Vorstellung behagt ihr nicht. Mette ist sehr bestimmend, und Helga weiß, dass ihre Beziehung am besten funktioniert, wenn eine gewisse See- und Landmasse zwischen ihnen liegt. Mette mit ihrem tollen Firmenjob und ihrer perfekten Wohnung käme es nie in den Sinn, irgendwo selbst Hand anzulegen, Helga hingegen ist ziemlich stolz auf ihre Geschicklichkeit.

Als ihr das Vogelfutter einfällt, das sie noch in der Tasche hat, nimmt sie eine Handvoll und streut es auf den kleinen asphaltierten Platz für die Ringeltaube. Ihre braungraue Brust schimmert regenbogenfarben, und der weiße Ring um ihren Hals sieht aus wie eine hübsche Rüsche.

»Gute Nacht«, sagt sie. Der Vogel trippelt ein paar Schritte auf sie zu, spannt die Flügel und faltet sie – mit einem kleinen Schlenker – wieder zusammen. Er nickt und gurrt, was sich anhört wie ein freundliches Glucksen. »Lass dich von ihnen nicht einschüchtern, verstanden?« Sie nickt in Richtung der Schornsteine, wo die Möwen hausen. Sie nennt sie Terry und Julie, nach dem Song der Kinks, ›Waterloo Sunset‹. Das war einmal der Song von Linus und ihr. Terry pickt öfter mal gegen die Küchentür, dann lässt Helga ihn ein und füttert ihn mit Resten. Am liebsten mag er kleine Stückchen Schinkenschwarte.

Ende April werden er und Julie abwechselnd die Eier ausbrüten. Meist haben sie im Mai drei bis vier Küken, dann wird Helga nicht aufs Dach steigen können. Sie weiß, dass die Nachbarn sich wahrscheinlich wieder über den Lärm beschweren werden. Nicht das nette Paar von nebenan, sondern die garstige Frau mit dem nichtsnutzigen Freund von gegenüber. Sie können das morgendliche Gekreische nicht ausstehen, aber Helga hat sie darauf hingewiesen, dass es nichts bringt, die Königliche Vogelschutzgesellschaft anzurufen, da Möwen als Zugvögel eingestuft sind und unter gesetzlichem Schutz stehen.

Es ärgert sie, wenn Leute sich über die Möwen aufregen. Warum können sie nicht akzeptieren, dass diese herrlichen weißen Plünderer zur Landschaft gehören? Aus ihrer Sicht haben die schlauen Möwen wesentlich mehr Rechte, in Meeresnähe zu leben, als die Menschen. Insgeheim freut sie sich immer diebisch, wenn den Touristen Eiswaffeln und Chips geklaut werden, auch wenn der Stadtrat regelmäßig darauf hinweist, dass Möwen Träger von Escherichia coli und anderen schädlichen Bakterien sein können. Helga begreift dieses ganze Gewese um Hygiene und Sicherheit nicht. Was ist bloß aus dem gesunden Menschenverstand geworden? Sie denkt oft, die Welt sei verrückt geworden.

Vorsichtig setzt sie einen Fuß nach dem anderen und steigt mit ihrem metallenen Werkzeugkasten wieder durch die Luke. Sie verriegelt den Speicherzugang über ihrem Kopf und hält sich dabei an einer Leitersprosse fest. Einen Moment lang ist ihr schwindlig, und sie wartet mit geschlossenen Augen, bis das Gefühl vorüber ist.

Ihr Boot Sheelagh kommt ihr in den Sinn und wie sie sich früher auf dem Atlantik nachts immer unter Deck zurückzog. Und wie sie sich dort gleichzeitig sicher und verletzlich fühlte. Sicher, weil sie vor den Elementen geschützt war, verletzlich, weil sie nicht draußen war, um nach Gefahren Ausschau zu halten. Auch als überzeugte Atheistin richtete sie immer ein Gebet an Poseidon, den Gott des Meeres, er möge sie beschützen, und das hatte er immer getan.

Ihr Blick fällt auf die Vitrine mit den verstaubten Segeltrophäen, und sie erinnert sich an das Gefühl von Salz auf ihrer Haut und ihrer Hand an der Pinne, an den Wind in ihrem Gesicht. Sie vermisst das Gefühl, wenn man auf den Horizont zusegelt, ohne zu wissen, was einen erwartet. Ein Gefühl wie mit fünfundzwanzig, aber sie weiß, dass ihre Segeltage bedauerlicherweise hinter ihr liegen. Zuerst einmal kann sie es sich finanziell nicht leisten, darüber hinaus ist ihr Selbstvertrauen dahin. Ihr fehlt der Mut für das Einhandsegeln, und mit jemand anderem könnte sie nicht auf Fahrt gehen. Es ist schon schlimm genug, zwischen anderen Menschen in einem Reihenhaus zu wohnen, aber ganz unmöglich, sich mit jemandem eine Kabine zu teilen.

Doch sehnt sie sich nach dem Meer, deshalb geht sie schwimmen, denn nur, wenn sie wieder in ihr natürliches Element eintaucht, kann sie so tun, als wäre alles immer noch möglich.

Sie beschließt, auf WhatsApp noch einen Aufruf für ein Morgenschwimmen abzusetzen. Hoffentlich kommt Dominica wieder. Es wird ihr guttun.

Ungeachtet ihrer guten Vorsätze verschläft Helga. Das Herzflimmern hat sie in den frühen Morgenstunden wieder einmal wachgehalten, obwohl sie es mit Tiefenatmung versucht hat. Der Teufel soll sie holen, wenn sie zum Arzt geht – nicht, dass die ihre Patienten überhaupt leibhaftig zu Gesicht bekämen. Sie will keinen Gutmenschen, der ihr irgendwelche Pillen verschreibt, nach denen sie sich komisch fühlt.

Als Helga an der gewohnten Stelle ankommt, ist die Morgenluft satt vor Feuchtigkeit und das Meer rauer, als sie erwartet hat. Das Wasser wird kalt sein, aber das ist nicht schlimm. Sie liebt das Meer in all seinen Stimmungen und weiß, dass seine kalte Umarmung die nächtlichen Ängste abwaschen wird.

Sie freut sich, als sie entdeckt, dass Dominica und Tor an der Buhne auf sie warten. Seit ihrem gemeinsamen Weihnachtsschwimmen vor ein paar Tagen hat sie sie nicht mehr gesehen. Nicht dass Weihnachten Helga besonders gekümmert hätte, sie hat den Tag mit Malen und Toastessen verbracht.

Tor stampft mit den Füßen, um sich warm zu halten. Sie trägt eine Thermoweste mit Camouflagemuster über dem Badeanzug.

»Was meinst du?«, fragt Tor Helga, als sie bei ihnen ist, ihre Tasche abstellt und bereits die Segeltuchschuhe abstreift.

Helga kann die Wassertemperatur immer bis auf ein Grad genau abschätzen und kennt auch den Gezeitenplan, aber heute ist alles ein wenig verwirrend. Das Meer ist eine schäumende Masse unablässig kollidierender Gipfel. Sie hebt die Nase, fühlt den Wind auf ihrem Gesicht. Aus südwestlicher Richtung. Windstärke vier auf der Skala, vermutet sie.

»Ein bisschen rau, meinst du nicht?«, fragt Dominica.

Helga nickt. »Du hast recht. Lasst uns plündern gehen, wo wir schon einmal hier sind.«

Sie zieht sich rasch um, und zusammen gehen sie an den Wassersaum, wo die Wellen brechen, sie drängeln, schubsen und rempeln einander an wie Jungs auf dem Fußballplatz, weil jede als Erste unten sein will. Über ihren Köpfen kreischen die Möwen, stehen mit ausgebreiteten Flügeln still im Wind.

Helga setzt sich auf die Steine, als wollte sie ein Sonnenbad nehmen, lehnt sie sich auf die Ellbogen gestützt nach hinten. Sie nickt Tor zu, die ihr folgt und sich ebenfalls auf die Steine setzt. Sie sind eiskalt unter ihrem Hintern. Aber sie liebt das. Dabei wird man am besten klitschnass und kommt in den Genuss des Meeres, ohne zu schwimmen.

Aus der Nähe glitzern die Steine feucht im schwachen Sonnenlicht – beige, braun und schwarz, und wenn das Meer sie bewegt, scheinen sie miteinander zu schwatzen. Auf Augenhöhe betrachtet, ist das Meer ein wirbelnder, schäumender Mahlstrom. Helga wappnet sich gegen die nächste Welle, hält sich am Ufer fest, während die zurückrollenden Wellen an ihr zerren, als wollte das Meer sie holen.

»Ganz schön wild heute.«

Plötzlich wird Tor von einer mächtigen Welle überrollt und herumgewirbelt.

»Als wäre man in der Waschmaschine«, keucht sie, als sie hochkommt und nach Luft schnappt, aber sie lacht, das Wasser klebt ihr die langen, lilafarbenen Haare wie Seetang ins Gesicht.

Dominica ist vom Rückstrom ins Meer gezogen worden. Sie gewinnt wieder Boden unter den Füßen, aber nur knapp, bevor die nächste Welle sie erfassen kann.

»Ich habe Kiesel, wo niemals Kiesel sein sollten«, lacht sie, als Tor sie schließlich erreicht. Selbst in diesem knietiefen Wasser sehen beide beim Gehen aus, als schleppten sie Zehn-Tonnen-Gewichte hinter sich her. Sie fassen jetzt auch Helga bei der Hand und retten sie vor dem Zugriff der nächsten Welle. Helga strahlt begeistert, als auf Dominicas Gesicht dieses umwerfende Lächeln erscheint. Die Mischung aus Lachen und Meer ist die beste Medizin, die sie kennt.

Sie legen sich hin, wo die Wellen auf dem Sand auslaufen, kichern wie kleine Kinder. Helga plantscht mit den Händen, streckt die Arme hoch und schluckt unfreiwillig Wasser, als die nächste Welle sie mitten ins Gesicht trifft, doch es macht ihr nichts aus. Das hier ist Zauberwerk.

6 Entschlüsse

»Gehst du schon?«, fragt Pim unter Gähnen und klingt ein wenig anklagend. Früher fand Claire ihn morgens immer so sexy, doch während des Lockdowns hat er sich einen Bart wachsen lassen, der den größten Teil seines Gesichts verdeckt. Ohne Brille späht er blinzelnd über die Kissen ihres gemeinsamen Bettes.

Pim hat grüne Augen, und die Iris ist von einem dicken schwarzen Rand umrundet, was sie früher an Shah Rukh Khan erinnert hat, ihren liebsten Bollywood-Star, mit dem er eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Sie fragt sich, ob der ›König von Bollywood‹ sich in den letzten Monaten wohl ähnlich hat gehen lassen wie Pim. »Sie haben noch nicht einmal geöffnet.«

Sie nimmt ihm übel, dass er ihren Plan kritisiert. Das tut er in letzter Zeit dauernd. Er kapiert nicht, dass sie, wenn sie jetzt aufbricht, im Supermarkt die Erste ist und schon wieder zu Hause, wenn die Jungen aufstehen.

»Ich habe Ash ein warmes Frühstück versprochen, und wir haben keine Hashbrowns mehr.«

»Er kann auch ohne überleben. Wir ersticken in Essen.«

Wie wenig er seine eigenen Kinder kennt. Er weiß nicht, dass sie jeden einzelnen greifbaren Snack verputzt haben, ebenso die beiden Schachteln mit Celebration-Schokoriegeln (obwohl auch Claire daran nicht ganz unbeteiligt war). Sie ersticken also nicht in Essen, und selbst wenn er recht hat – Ash kann auch ohne Hashbrowns überleben –, hat Claire noch eine lange Liste anderer Dinge, die sie besorgen muss. Es ist eine Ganztagsbeschäftigung, mit dem Heißhunger der Jungen Schritt zu halten.

»Bleib«, drängt er und wirft einen Arm über sie, aber sie entwischt seiner haarigen Umarmung und spürt, wie eine neue Hitzewelle anrollt. Die ganze Nacht lang war ihr abwechselnd glühend heiß oder, genauso plötzlich, eisig kalt. Und zwar zusätzlich zu der gefürchteten Schlaflosigkeit, die sie letzte Nacht wieder fest im Griff hatte. Ihren Einkaufsplan hat sie schon vor Anbruch der Dämmerung ausgebrütet, und jetzt hält sie es im Bett keine Sekunde länger aus.

Trotzdem schenkt sie Pim ein schuldbewusstes Lächeln, und der stöhnt erneut und drückt das Gesicht ins Kissen, wohl wissend, dass er verloren hat. Als sie ihren Bademantel überstreift, wirft sie noch einen Blick auf ihn und auf seinen Arm, der quer über ihrer verschwitzten Seite des Bettes liegt. Sie weiß, was er wahrscheinlich denkt: dass die Jungs noch schlafen. Es sind Weihnachtsferien, und dies ist eine der seltenen Gelegenheiten, auszuschlafen. Eine der seltenen Gelegenheiten für Sex.

Das letzte Mal ist Monate her, sie scheint ihre Libido verlegt zu haben. Es hat nicht einmal etwas mit Pim zu tun; es sieht schlicht so aus, als hätten sämtliche sexuelle Regungen ihren Körper verlassen. Sich komplett davongemacht. Das Weite gesucht. Selbst ihre schmutzigsten Fantasien lassen sie gleichgültig und kalt. Man denke nur, dass sie einmal als das schärfste Mädchen von Galway galt.

Sie horcht an Ashs Tür und dann an der von Felix, und als sie beide schnarchen hört, tappt sie leise ins Badezimmer und stellt fest, dass der Toilettensitz hochgeklappt ist, obwohl sie es den Jungs und Pim schon tausend Mal erklärt hat. Sie bemerkt den feuchten Fleck auf dem Linoleum. Wie schaffen sie es nur immer alle, danebenzupinkeln?

Sie versucht natürlich, sich in diesen Dingen durchzusetzen und zu verhindern, dass alle sie wie ein Dienstmädchen behandeln. Sogar viktorianische Küchenmädchen hatten manchmal frei, betont sie immer wieder, doch die Konflikte in diesem Haushalt sind unerbittlich. Sie weiß, dass sie es ist, die etwas ändern muss, aber es ist schwer. Gestern hat sie Felix aufgefordert, das Badezimmer zu putzen, aber er nahm den Lappen und das Spray mit in sein Zimmer und vergaß es dann. Sie hatte es so satt, ihn immer wieder daran zu erinnern, dass sie es am Ende selbst machte.

Während sie mit Klopapier den Fußboden aufwischt, stellt sie fest, dass sie blutet. Es ist ihre erste Periode seit beinahe sechs Monaten. Seltsam, dass es nicht die üblichen Vorzeichen gab, aber ihr Zyklus scheint zu machen, was er will. Sie hat ein Hassliebe-Verhältnis zu ihrer Periode. Fast zehn Jahre lang hat sie vergeblich versucht, schwanger zu werden, und jedes Mal geweint, wenn sie doch blutete. Bis sie endlich mit Hilfe künstlicher Befruchtung Felix bekam. Ash stellte sich dann von ganz allein ein. Heutzutage verbringt sie viel Zeit damit, sich zu fragen, was aus ihrer superpünktlichen Periode geworden ist. Sie würde gern mit einer Freundin besprechen, was da gerade passiert, dass ihr erratischer Zyklus und die Hitzeattacken höchstwahrscheinlich den Beginn ihrer Menopause anzeigen. Sie überlegt, ob sie das Thema gegenüber einer ihrer Schwestern in Irland anschneiden soll, aber nachdem sie sie das ganze Jahr über nicht gesehen hat, sind sie ihr für so ein persönliches Gespräch zu fremd geworden.