Der Club der geschiedenen Frauen - Rowan Beaird - E-Book

Der Club der geschiedenen Frauen E-Book

Rowan Beaird

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Beschreibung

Nevada in den 1950er Jahren: Die junge Lois reist von Chicago nach Reno mit der Aussicht, nach sechs Wochen als geschiedene Frau ein neues Leben zu beginnen, wie es das Gesetz hier erlaubt. Im Golden Yarrow, der eigens für Frauen wie sie geführten Pension, vertreiben die Bewohnerinnen die Hitze am Pool und im Salon, abends stürmen sie die Casinos und Bars, trinken, flirten und versuchen alle Zukunftsängste zu vergessen. Lois, eher verschlossen, findet zunächst wenig Anschluss. Das ändert sich, als die geheimnisvolle Greer zu der Gruppe stößt und ausgerechnet Lois' Nähe sucht. Zusammen schmieden die beiden Pläne, nach L. A. durchzubrennen. Doch Greer ist nicht die, die sie scheint, und plötzlich steht für Lois alles auf dem Spiel …

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Seitenzahl: 468

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Rowan Beaird

Der Club der geschiedenen Frauen

Roman

Mayela Gerhardt

Für meine Mutter, meine erste Leserin

»Überall lauern Fallstricke. So besteht zum Beispiel die ständige Gefahr, dass die Mädchen außer Rand und Band geraten.«

Robert Wernick, »Last of the Divorce Ranches«, Saturday Evening Post, 17. Juli 1965

*********

Lois findet keinen Schlaf und überlegt, was sie ins Casino anziehen soll. Im schummrigen Schein der Nachttischlampe begutachtet sie die schlaffen Formen ihrer Hemden und Kleider, die im Abstand eines grobzinkigen Kamms dort hängen.

In dem schmalen Schrank, der dem aller anderen Mädchen auf der Ranch gleicht, zupft sie an Säumen und Aufschlägen, fährt mit den Fingern über eine Gürtelschnalle. Das Casino ist anders, als es ihr vor einem Monat erschien, als man sie zum ersten Mal durch die glänzenden Glastüren führte – sein Zauber verblasst wie Lippenstift. Sie stellt sich die niedrigen Decken vor, unter denen sich Zigarettenrauch ballt, die langen, mit grünem Filz bezogenen Tische. Schwitzend drängen sich die Spieler um die Roulettekessel, die Wangen von geplatzten Äderchen gesprenkelt. Make-up verklebt die Lider der Frauen. Lois stellt sich vor, wie die Kellnerinnen zielstrebig über den Teppich schreiten, der mit efeuumrankten Schwertlilien gemustert ist, jedes Motiv so groß wie ihre Hand. Erst einige Tage zuvor hat sie den Teppich zum ersten Mal richtig angesehen. Eine zerdrückte Cocktailolive stupste ihren Absatz an, und sie erkannte, dass das unruhige Muster allen Arten von Abfall als Tarnung dient. Das ist das Bild, das ihr jetzt vom Casino vor Augen steht, bedeckt mit Zigarettenasche und Orangenschalenstreifen, besudelt mit Spucke und verschüttetem Gin.

Sie faltet eine steife blaue Jeans auseinander und stellt sich vor, wie der Stoff über den Lederbezug des Hockers reibt, auf dem sie morgen Abend an der Bar Platz nehmen wird. Den Winkel, aus dem sie die Aufseher im Blick behalten wird, um sicherzustellen, dass sie ihren üblichen Rundgang beschreiten, während sie nicht mehr als einen Drink bestellen wird, um wachsam zu bleiben und Alarm zu schlagen, falls sie davon abweichen sollten. Sie rekapituliert ihre Route zur Damentoilette, zur dritten Kabine von der Tür aus gesehen. Dorthin, wo Greer die Jetons in ihre Handtasche schütten wird.

Der Wind rüttelt am geöffneten Fenster in ihrem Zimmer, und sie muss beide Handflächen dagegenpressen, um es zu schließen. Sie blickt in die dunkle Wüste hinaus, unsicher, ob sie in der Ferne tatsächlich die Umrisse der Berge erkennt oder ob sie bloß weiß, dass sie da sind. Die anderen Mädchen sind noch im Highlands, wo wahrscheinlich jemand eine Perry-Como-Schallplatte aufgelegt hat, nur um die Cowboys zu ärgern, die entweder Hank Williams oder gar keine Musik hören wollen. Obwohl die Bar nicht mehr als fünf Meilen entfernt liegt, scheint es, als befänden sich die Mädchen in einem anderen Land, einer anderen Zeit. Wenn Lois ihnen erzählen würde, was Greer und sie vorhaben, würden sie es nie verstehen, selbst wenn sie nach der gleichen Freiheit gieren. Ihr eigener Appetit ist größer. Das weiß Lois jetzt.

Sie wendet sich wieder ihrem Zimmer zu. Die wenigen Habseligkeiten, mit denen sie angereist ist, ihre Bücher, ihre Schminke, haben sich harmonisch zwischen der blauen Vase und den Vorhängen mit Gänseblümchenmuster eingefügt, sodass sich alles anfühlt, als gehörte es ihr.

Ihr Blick streift über das Stück Wand bei der Tür, wartet darauf, dass die Eidechse darüber huscht. Der Körper des Tieres ist dünn wie Papier, als könnte sie ihn in der Hand zerknüllen.

Sie strafft die Schultern, nimmt einige Bügel von der Stange, hält Kleidungsstücke ins Licht. Darauf muss sie sich konzentrieren – aus den Kleidern auszuwählen, die sie vor sechs Wochen in Lake Forest eingepackt hat. Sie verwirft das gelb karierte Kleid und das fliederfarbene mit den Pünktchen, in denen sie wie eine schlichte, unschuldige Hausfrau aussieht, die gerade mit dem Zug angekommen ist. Das lächerliche Hemd mit Fransenbesatz, das sie sich bei Parker’s hat aufschwatzen lassen, weil sie darin angeblich wie ein waschechtes Western-Girl aussieht, das sie in Wahrheit aber wie eine Karikatur erscheinen lässt, wie jemanden, an den man sich zu leicht erinnert. Die steifen, glänzenden Stiefel, die ihre Zehen einquetschen, sie aber größer machen. Die marineblauen Riemchenpumps mit Zierschleifen an den Schnallen. Die Leinenhemden, deren Flachsfasern sich wie eine weiche Blindenschrift anfühlen.

Sie holt ein dunkelgrünes Cocktailkleid heraus und legt es auf ihr ungemachtes Bett. Letztes Jahr im Dezember hatte sie es für eine Weihnachtsfeier gekauft, aber als der Abend kam, erschien es ihr zu streng, die Farbe wie der Schimmel, der immer wieder an ihrer Badezimmerdecke erblühte, egal wie oft ihr Hausmädchen mit Bleichmittel dagegen anging. Es ist ein Kleid, das eine Geliebte tragen würde. Eine Frau, die sich nimmt, was sie will – eine Diebin. Genau das Richtige fürs Casino.

Es beruhigt sie, mit den Händen über die Seide zu streichen. Nicht an das Mädchen zu denken, das jetzt in einem dünnen Nachthemd dasteht, sondern an die Person, die sie morgen sein wird – und am Tag darauf.

1Sechs Wochen zuvor

Im Zug riecht es nach Schweiß, warm und säuerlich. Sobald sie Nevada erreicht hatten, mussten die Passagiere die Fenster schließen, weil der Wüstenwind roten Sand hereinpeitschte, der ihre Augen und Ohren überzog. »Der erste Sandsturm des Jahres«, sagte der Schaffner. Jetzt kann niemand mehr dem Schmutz entkommen. Die Luft stinkt wie ein Sumpf und lässt alles anschwellen: die hölzernen Geländer, die rotbraunen Sitze, das blasse Gesicht des Fahrkartenkontrolleurs. Alles dehnt sich und birst, während die Wüste vor den Zugfenstern hart wie Glas ist.

Als Lois vor zwei Tagen in Chicago in den Zug gestiegen ist, sahen alle aus wie für den Kirchgang zurechtgemacht, gestärkt und gebügelt. Ein Mann mit einem marineblauen Anzug und Filzhut trug ihr galant das Gepäck ins Abteil. Sie kam an Frauen vorbei, die genau wie die Matronen aus dem Onwentsia Club aussahen, die jeden Versuch ihrer Mutter, beizutreten, abgewehrt hatten. Erst nach der Hochzeit mit Lawrence hatte man Lois dort Einlass gewährt. Im Speisewagen wurde um sie herum laut und fröhlich geplaudert, und beim Abendessen bestellte Lois, von der gemeinschaftlichen Aufbruchsstimmung aufgekratzt, zwei Desserts – eine vorübergehende Extravaganz und zweifellos nicht die Art Ausgabe, die ihr Vater für sein Geld im Sinn gehabt hatte. In der Nacht lag sie wach und lauschte dem rauen Gelächter der Männer, die auf dem Gang Zigaretten rauchten, fasziniert von dem Gedanken, dass sie sich hinzugesellen könnte, ohne dass jemand davon erfahren würde. Sie war noch nie so weit von zu Hause weg.

Aber die Hitze macht sie ebenso missmutig und klaustrophobisch wie alle anderen, der Zuckerrausch flacht zu vertrauter Ruhelosigkeit ab. Nachdem die Fenster geschlossen wurden, rieb sich Lois anfangs alle paar Stunden ihre milde Ivory-Seife unter die Achseln, bespritzte sie am Waschbecken mit Wasser. Schließlich stellte sie fest, dass es ein sinnloses Unterfangen war. Alle vernachlässigen inzwischen ein wenig ihre Umgangsformen. Im Speisewagen sagen die Leute kaum ein Wort zueinander. Kinder kratzen an ihren Bäuchen und winseln wie überhitzte Hunde. Selbst die Kellnerinnen bemühen sich nicht länger um Konversation, während sie die Mahlzeiten auftischen, sie füllen wortlos Wassergläser und verteilen lasche belegte Brote. Lois sieht, wie eine Kellnerin einen Eiswürfel in ihr BH-Körbchen gleiten lässt.

In ihrem Abteil träumt Lois von der Dusche mit den minzgrünen Kacheln in ihrem Haus. Die Kacheln müssen wir rausreißen, hatte Lawrence gesagt. Sie werden nie sauber aussehen. Lois hatte erwidert, das ergebe keinen Sinn. Farbe beschmutzt nichts. In ihrem erhitzten Zustand ertappt sie sich dabei, wie sie ihre Worte ein ums andere Mal wiederholt, obwohl er schon so weit weg ist.

 

Etwa eine Stunde bevor sie die Endhaltestelle erreichen, macht sich bei allen eine fast manische Erleichterung breit. Die Passagiere schauen in anderen Abteilen vorbei, um zu plaudern, versprechen einander, in Reno gemeinsam abendessen zu gehen. Vor Lois’ Abteil erklärt ein Mann zwei anderen Männern, wie man am besten Karten zählt.

»Und machen Sie sich auf die Frauen gefasst«, sagt er, während er die Stimme zu einem lauten Flüstern senkt. »In den Casinos wimmelt es von Revuetänzerinnen und Geschiedenen.«

Lois zieht die Vorhänge am Fenster zu, das zum Gang hinausgeht, und blendet die Stimmen der Männer aus. Mit einem Kugelschreiber malt sie Betty Grables Lippen auf der Titelseite des Silver Screen-Magazins schwarz. Dann zupft sie ihre Augenbrauen, bis die Haut gereizt ist und anschwillt. Die Wüste vor dem Fenster wirkt ausgebleicht und karg, wie die Kulisse eines Filmsets, und Lois stellt sich vor, dass sie die Hand ausstreckt und sie umstößt. Es ist ein himmelweiter Unterschied zu den üppigen Wiesen von Lake Forest, wo Spatzen auf den Buchsbäumen hocken.

Jemand klopft an die Scheibe der Abteiltür, und Lois setzt sich auf, knöpft ihre Bluse wieder zu, damit ihr BH nicht zu sehen ist.

»Verzeihung«, sagt ein Mädchen, als es die Tür öffnet.

»Ja?«, sagt Lois.

Das Mädchen betritt das Abteil und schiebt die Tür hinter sich zu. Sie ist etwa in Lois’ Alter, Anfang zwanzig, von der unverbraucht frischen Schönheit, die mit den Jahren verblassen wird, und hat sich ganz offensichtlich gerade ein sauberes Kleid mit schwingendem Rock angezogen und sich geschminkt. Die Form ihrer Oberlippe beschreibt ein perfektes halbes Herz. In einem unschuldigen Nelkenrosa. Lois wird sich ihrer fettigen Gesichtshaut und des geöffneten Koffers bewusst, über dessen Ränder dreckige Unterwäsche quillt.

»Bist du Lois Saunders?«, fragt das Mädchen. Sie spricht mit Südstaatenakzent, bedächtig und besonnen.

»Ja«, erwidert Lois und kneift die Augen zusammen. »Woher weißt du –?«

»Entschuldige, dass ich dich belästige«, sagt das Mädchen und setzt sich auf den Rand der Lederbank. »Ich heiße Mary Elizabeth Shores, ich meine Brown – Mary Elizabeth Brown. Ich komme aus Lexington und bin auch auf dem Weg zum Golden Yarrow. Man hat mir gesagt, dass wir im selben Zug anreisen, und endlich konnte ich einen der Kontrolleure überreden, mir zu sagen, in welchem Abteil du bist. Ich hoffe, das ist nicht unhöflich.«

Lois erinnert sich, Mary Elizabeth am ersten Reisetag im Speisewagen gesehen zu haben, als sie auszumachen versuchte, wer aus dem gleichen Grund wie sie unterwegs sein könnte. Ein Umstand, den die meisten sicher verbergen wollten, weil sie wussten, in welchem Licht es sie dastehen ließ. Sie hatte nach Mädchen Ausschau gehalten, die allein waren und entweder tieftraurig oder überglücklich aussahen, auch wenn keins dieser Gefühle Lois’ eigenes Vakuum beschrieb, das Knistern eines leeren Einzelbilds in einem Film. Mary Elizabeth hatte am anderen Ende des Waggons gesessen, ihre Traurigkeit umgab sie mit einer eigenen Aura, und still an einer Tasse Tee genippt. Ihr Reichtum offenbarte sich anhand der Schwere ihrer Seidenbluse und des engmaschig verwobenen Baumwollrocks, der einstudierten Choreographie, mit der sie die Hände bewegte. Zeichen, die Lois vertraut sind. Sie kennt diese Art Mädchen, und genau deshalb hat sie kein Interesse daran, das Mädchen kennenzulernen.

»Du lässt dich scheiden?«, fragt Lois.

»Ähm – ja.« Die junge Frau blickt zur Tür, um sich zu vergewissern, dass sie geschlossen ist und niemand zuhört. »Alle auf der Ranch tun das, denke ich. Darauf habe ich mich ehrlich gesagt gefreut: nicht diejenige zu sein, über die alle tuscheln.«

»Da hast du wohl recht. Warum lässt du dich scheiden?«

»Oh.« Mary Elizabeth runzelt die Stirn. »Es gab Probleme – mit meinem Mann.«

»Ah.« Lois’ forsche Frage war etwas voreilig, und in ihrem Magen regt sich das vertraute Schamgefühl, etwas Falsches gesagt zu haben.

»Ich dachte, wir könnten zusammen nach dem Fahrer Ausschau halten«, sagt Mary Elizabeth und überbrückt damit behutsam den Moment des Schweigens. »Charlie heißt er, wenn ich mich recht erinnere. Ich hatte wirklich nicht erwartet, dass außer mir noch jemand mit dem Zug hinfährt. Ich habe Flugangst. Ich verstehe einfach nicht, wie sich ein Flugzeug in der Luft halten kann.« Sie lacht über ihre Albernheit, als wäre ihre Angst nur ein Witz.

»Mein Vater traut Flugzeugen auch nicht, deshalb bin ich hier.«

Lois wäre lieber geflogen. Sie denkt an den Film Five Came Back, den sie mit neun Jahren gesehen hatte, als sie mit ihrer Mutter ins Kino gegangen war. Ein chromblitzendes Flugzeug stürzt ab, die Passagiere kommen in der feuchten, brodelnden Finsternis des Dschungels zu sich, ihr Standort ist unbestimmbar. Wie sehr sich Lois selbst in jenem jungen Alter nach einer solchen Flucht gesehnt hatte, so brutal sie auch vonstattenging. Die Augen zu öffnen und eine andere Welt vorzufinden.

»Also dann«, sagt Mary Elizabeth, steht auf und drückt die Handflächen an ihr Kleid. »Ich bin so froh, vor der Ankunft jemanden kennengelernt zu haben. Dann sehen wir uns in einer Stunde?«

Lois lächelt und richtet den Blick auf ihre Zeitschrift, begierig, in der stickigen Luft des Abteils ihre Bluse wieder aufzuknöpfen. Doch dann dreht sich Mary Elizabeth in der geöffneten Tür noch einmal mit einem Rauschen ihres Rocks um.

»Es ist schön, gleich zu Anfang eine Freundin zu haben. Ein bisschen wie im Ferienlager, nicht wahr?«

Lois nickt, und Mary Elizabeth lächelt verschwörerisch, als teilten sie ein Geheimnis, bevor sie die Tür zuschiebt. Lois spürt ein aufgeregtes Kribbeln. Sie hatte noch nie eine enge Verbindung zu einem Mädchen oder einer Frau, abgesehen von ihrer Haushälterin Ela und ihrer Mutter, deren Liebe aber nur in kurzen, hellen Flammen aufflackerte. Als Kind war Lois zu oft allein, dachte sich Geschichten und Freunde aus, zum Beispiel eine große Bulldogge namens Lacey, mit der sie jeden Vormittag Tee trank. Ihre Mutter brauchte viel Zeit für sich selbst. Ihre gemeinsamen Ausflüge beschränkten sich auf die Momente, in denen sie Lois von der Schule befreite, damit jemand sie nachmittags ins Kino begleitete. Sie entfernte Lois dadurch noch mehr von ihren Klassenkameradinnen, die feine Antennen für jegliche Andersartigkeit besaßen. Zweifellos ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Mary Elizabeth diese Seltsamkeit an ihr wittert; sie wird andere Freundinnen finden, und Lois wird wieder einmal allein zurückbleiben.

Vielleicht ist es besser so, sagt sie sich. Daran ist sie gewöhnt. Als sie ihrem Vater erzählte, dass sie für sechs Wochen nach Reno fahren würde, um ihren Wohnsitz offiziell dorthin zu verlegen und sich scheiden lassen zu können, hatte sie sich ausgemalt, in einem Hotelzimmer abzusteigen, an einem Tisch mit einer dicken weißen Tischdecke allein ein blutiges Steak zu essen und die Blicke der Männer auf sich zu spüren, während sie sich eine Zigarette ansteckte. Ihre Einsamkeit erhielt eine neue Romantik. Aber ihr Vater weigerte sich zu zahlen, sofern sie nicht in einer von Nevadas renommierten Ranches unterkam. Er hatte eine seriöse Pension gewählt, die Diskretion versprach und wo wohlhabende Mädchen, die in der gleichen Lage waren wie sie, beaufsichtigt wurden. Du brauchst jemanden, der auf dich aufpasst, hatte er gesagt. Man sieht ja, in was für Schwierigkeiten du gerätst, wenn du dir selbst überlassen bist.

 

Die Kontrolleure beginnen, durch die Gänge zu laufen und alle anzuweisen, ihre Sachen zusammenzupacken. Lois steckt sich ein frisches Hemd in den Bund. Keine noch so große Menge Puder kann ihr schweißverschmiertes Gesicht retten, aber sie trägt trotzdem etwas pfirsichfarbenes Rouge auf und glättet eine gekräuselte Strähne mit einem Klecks Spucke, in dem Bemühen, sich vorzeigbar zu machen. Ihre Lippen sind in einem souveränen Burgunderrot geschminkt. Sie fand ihr Gesicht schon immer unscheinbar, die schwarzen Haare machen ihre Haut noch blasser. Ohne Lippenstift und Wimperntusche verschwinden ihre Gesichtszüge, deshalb schminkt sie sich sogar, wenn sie allein zu Hause ist, nur um sich zu vergewissern, dass es sie gibt. Sie liebt diesen Prozess, die allmähliche Wiederherstellung ihres Gesichts. In der Schule hat sie bei allen Theateraufführungen die Maske gemacht, und wenn ihre Klassenkameradinnen danach in den Spiegel sahen, erlebte sie einen der seltenen Momente, in denen sie ihr Herzlichkeit entgegenbrachten, ein Aufwallen von Dankbarkeit, die für kurze Zeit in der Luft schwebte, wie ein Hauch Parfüm.

Als sie am Bahnhof einfahren, ist der Gang voller Menschen; Lois hätte nicht gedacht, dass überhaupt so viele in den Zug passen. Nachdem sie ein letztes Mal ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe begutachtet hat, schleift sie ihr Gepäck über den Gang, der Koffer schlägt ihr gegen die Knie. Kein Mann bietet seine Hilfe an.

Draußen breitet sich Reno vor ihr aus, niedrige Backsteingebäude und von Glühbirnen umrahmte Ladenschilder, bei Tageslicht erloschen. Männer mit Cowboyhüten lehnen sich aus Autofenstern, andere geleiten Frauen wie verlorene Schafe zur Rückbank eines Wagens. Gestreifte Markisen bauschen sich im Wüstenwind, und in der Ferne ragen Berge in die Höhe. Es ist nicht mit Chicago oder New York zu vergleichen – die einzigen Städte, die sie besichtigt hat –, mit ihren strengen grauen Wolkenkratzern, und die gewaltige Neuartigkeit lässt ihr Herz höherschlagen.

Dort, wo die Wagen mit laufendem Motor in einer Reihe warten, sieht sie Mary Elizabeth mit einem jungen Mann sprechen, der sich mit ihrem Gepäck abmüht. Sie atmet tief ein. Der rote Sand riecht nach der Kreide in ihrem alten Klassenzimmer und nach etwas anderem, etwas Metallischem und Elementarem, das sich hinten in ihrer Kehle festsetzt, wie Blut.

2

Charlie, der Fahrer, ist nicht attraktiv. Er ist jung, hat ein breites Gesicht und zu volle Lippen, die rissig sind und sich schälen. Lois spürt Enttäuschung aufflackern, ärgert sich darüber wie über einen eingerissenen Nagel. Sie hatte sich einen raueren, älteren Mann vorgestellt, jemanden wie Robert Mitchum – den Typ Mann, der einen so leidenschaftlich küsst, dass man ohnmächtig wird. Immerhin trägt Charlie einen Cowboyhut, und nachdem Mary Elizabeth ihn darauf angesprochen hat, verbringt er den größten Teil der Fahrt damit, ihr zu erklären, welche Art von Hüten die Männer im Westen tragen: In Colorado trägt man Ten-Gallon Hats, deren hohe Krone vor Kälte schützt, während die Cowboyhüte in Nevada nicht so stark aufragen, sondern zum Schutz vor der Sonne eine breite, flache Krempe erfordern. Mary Elizabeth hört höflich zu, und Lois kann nicht sagen, ob es sie wirklich interessiert oder ob Südstaaten-Mädchen einfach besser darin sind, Interesse zu heucheln.

Durch das Fenster sieht Lois, wie die Gebäude hinter ihnen verschwinden und Streifen aus Weideland und Wüstenerde weichen, und sie bedauert, die Stadt so schnell zu verlassen. Die Ranch liegt weiter im Landesinneren, zwanzig Meilen von Renos Zentrum entfernt – ein Pluspunkt für ihren Vater, der ihr aufgetragen hatte, sie solle lernen, wie man Kühe melkt. Kurz vor ihrer Geburt hatte er in Chicago einen Schlachtbetrieb gekauft und brachte immer in Wachspapier eingewickelte Kutteln und Leber mit nach Hause – Fleischstücke, über die Ela seufzte. Er könnteIhnen ein Porterhouse-Steak mitbringen, stattdessen bringt er Innereien, sagte sie zu Lois’ Mutter, während sie neben dem Ofen saßen und bitteren Kaffee tranken. Sie erlaubten Lois, sich dazuzusetzen, und sie unterhielt sie mit übertriebenen Schilderungen ihres Schultags. Je mehr sie sie zum Lachen oder Staunen brachte, desto länger durfte sie bleiben. Geschichten als Zahlungsmittel.

Sie fahren an einer Weide vorbei, wo zwei Pferde mit goldfarbenem Fell die Köpfe in einen Trog stecken. Charlie winkt einem Mann zu, der an einem Zaunpfahl lehnt, den Hut nach hinten gekippt.

»Ist eine von euch schon mal geritten?«, fragt Charlie.

»Ich bin mit Pferden aufgewachsen und habe auch an Turnieren teilgenommen. Allerdings im englischen Stil«, sagt Mary Elizabeth.

»Sag bloß!«, ruft Charlie.

»Ich habe aber nie eine gute Platzierung erreicht«, räumt Mary Elizabeth bescheiden ein und blickt auf ihre Knie hinunter. Dann fragt sie an Lois gewandt: »Gibt es in Chicago auch Reiterhöfe?«

»Außerhalb der Stadt ja. Ich wohne in einem Vorort weiter nördlich am Ufer des Sees.«

Lois’ Eltern waren nie auf die Idee gekommen, sie reiten zu lassen. In dem polnischen Viertel, in dem ihre Eltern aufgewachsen waren, zogen Pferde Karren mit Brennholz und erdigen Kartoffeln. Bei der Zucht stand ein kräftiger Körperbau im Vordergrund. Die Bezeichnungen, die Lois’ Klassenkameradinnen benutzten – Appaloosa, Friese, American Saddlebred –, waren für sie unverständlich, und als sie einmal gefragt hatte, ob sie zum Reitstall gehen dürfe, hatte ihr Vater gelacht, als wäre es ein Witz.

»Dann müssen wir unbedingt zusammen ausreiten.«

Lois lächelt. Es ist so einfach, Mary Elizabeth in dem Glauben zu lassen, dass sie diese Ställe besucht hat. Lügen sind ihr schon immer leicht von den Lippen gegangen, erwachsen aus ihren Stunden allein, aus zu vielen Filmen, die sie geguckt hat, zu vielen Büchern, die sie aus der Sammlung ihrer Mutter gelesen hat. Nur Ela und gelegentlich eine Lehrerin ertappten sie manchmal beim Lügen, auch wenn Lois vermutete, dass ihre Mutter jeden Schwindel durchschaute, sich aber zu sehr darüber amüsierte, um sie zu bestrafen.

»Unsere Pferde sind sehr sanftmütig«, erklärt Charlie. »Besonders Samson ist eins der folgsamsten Pferde, die ich kenne. Er bleibt stehen, wenn man nur mit den Zügeln zuckt. Allerdings kann es auf den Reitwegen brütend heiß werden, je näher der Juli rückt.«

»Können wir zu Hause anrufen, wenn wir auf der Ranch sind? Ich muss meiner Mutter Bescheid geben, dass ich wohlbehalten angekommen bin. Und Lois bestimmt auch«, sagt Mary Elizabeth.

»Ja, natürlich«, sagt Lois.

Ein Verlustschmerz durchschaudert sie, und sie kurbelt das Fenster herunter, legt die Fingerspitzen über den stumpfen Glasrand. Ihre Mutter ist vor knapp sieben Jahren gestorben, in den letzten Zügen des Kriegs. Als ihr Vater Lois erklärte, was auf sie zukommen würde – die Monate, die der Mutter noch blieben, die Strahlungswellen, die sich durch ihren Körper brennen würden –, drang es nicht ganz bis zu ihr durch, die Worte prallten auf einen Schutzwall nur wenige Zentimeter unter ihrer Haut. Sie hatte verstanden, dass ihre Mutter sterben würde, aber sie war nicht in der Lage gewesen, sich die vollständige Abwesenheit vorzustellen, die unmittelbar darauf folgte und wie ein dunkler, dichter Obsidiansplitter alles übrige Licht absorbierte. Die Trauer kehrt zurück, wenn sie es am wenigsten erwartet, unvermittelt und überraschend.

Sie weiß, dass sie Lawrence nicht auf die gleiche Weise vermissen wird, auch wenn es erst knapp zwei Wochen her ist, dass sie ihn zum letzten Mal gesehen hat. Sie schläft besser, seitdem er nicht mehr neben ihr liegt, selbst in den Nächten, in denen sie zitternd erwacht, aufgewühlt von Träumen, an die sie sich nicht erinnern kann.

 

»Also, das da ist sie«, sagt Charlie und deutet über das Lenkrad.

In der Ferne steht eine große weiße Ranch zwischen zwei Ahornbäumen, deren Äste dem Dach und dem langen Balkon, der sich über die gesamte obere Etage erstreckt, Schatten spenden. Auf dem Parkplatz funkeln zwei Autos. Das Haus ist schlichter, als Lois es sich vorgestellt hat, nachdem ihr Vater von einer wohletablierten Einrichtung gesprochen hatte: unverschnörkelt, die Fenster waldgrün gerahmt. Vielleicht macht gerade das den Reiz für wohlhabende Mädchen aus, die weitaus edlere Unterkünfte gewohnt sind; die Ranch bietet ihnen eine neue Lebensweise – Schonfrist oder Strafe.

Beim Näherkommen entdeckt Lois eine Reifenschaukel, die an einem Seil von einem Ast baumelt, und zwei kleine Mädchen. Die eine umklammert den Rumpf des Reifens, ihre Beine schweben über dem Boden, während die andere den Reifen langsam zurück und nach oben zieht. Dann lässt das zweite Mädchen los, und der Reifen schwingt wie ein Pendel hin und her. Lois hat nicht erwartet, auf der Ranch Kinder anzutreffen. Es scheint kein Ort zu sein, an dem sich Kinder aufhalten sollten, und einen Moment lang fragt sie sich, ob sie sich die beiden nur einbildet. Als kleines Kind glaubte sie manchmal, ihre ausgedachten Spielgefährten – Freundinnen und Hunde – wirklich zu sehen. Ihre Sehnsucht nach Gesellschaft war so stark, dass sich in der Luft ihre Umrisse abzeichneten.

Als sie schließlich den Parkplatz erreichen, sind die Mädchen bereits im Haus verschwunden. Charlie sagt, dass er ihnen die Koffer auf ihre Zimmer bringen wird und sie ins Wohnzimmer gehen sollen, um die Besitzerin – Rita – zu begrüßen und sich anzumelden. Lois wünscht sich nichts sehnlicher als eine Dusche, aber bevor sie Charlie fragen kann, ob sie direkt auf ihr Zimmer gehen darf, schwingt die Haustür auf. Eine hochgewachsene, hübsche Frau mit kurzen, von grauen Strähnen durchzogenen Locken tritt heraus. Sie trägt eine Jeans und ein Hemd, dessen hochgekrempelte Ärmel gebräunte, sommersprossige Arme enthüllen. Um den Hals hat sie ein Tuch geknotet, und drei kleine Dackel trippeln ihr hinterher.

»Herzlich willkommen«, sagt die Frau und geht die Stufen hinunter, die Hunde hüpfen neben ihr her, »im Golden Yarrow.«

3

Rita steht keinen Moment still. Lois hat erwartet, dass sie sich zum Kaffeetrinken hinsetzen, doch stattdessen führt Rita sie von einem Zimmer zum nächsten, zum Pool und zur Weide, zieht einen Karottenstummel aus der Gesäßtasche ihrer Jeans hervor und hält ihn einem der Pferde hin. Die Gäste halten in ihren Zimmern ein Nickerchen, um der Hitze zu entkommen, aber Rita stellt ihnen im Esszimmer die Köchin vor, eine rotgesichtige Frau namens Anna, an deren Händen Teig klebt. Eine weitere Frau kommt aus der Küche und nagt an einer kalten Hühnerkeule. Mit ihrer hochgewachsenen Statur und den muskulösen Unterarmen sieht sie eher aus wie jemand, der auf einer Ranch arbeitet, als Charlie, und Lois fragt sich, ob sie je zuvor eine erwachsene Frau gesehen hat, die im Stehen isst.

»Das ist Bailey, meine rechte Hand«, stellt Rita sie vor. »Sie organisiert Ausflüge zum Pyramid Lake und Abstecher in die Stadt. Bailey hat ein Auge auf alles. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie täte.«

»Ach, hör auf, du kämst wunderbar zurecht«, sagt Bailey mit einem Lächeln. Sie hat ein breites, wettergegerbtes Gesicht. Lois schätzt sie auf Anfang dreißig – Fältchen so zart wie Blattadern säumen ihre Augenwinkel.

Rita setzt ihren Rundgang in zügigem Tempo fort. Lois mag ihre Schnelligkeit, ihre Zielstrebigkeit.

Die Ranch steckt voller Widersprüche. Im Wohnzimmer gibt es lange, mit Palmenblättern bedruckte Baumwollvorhänge und rot karierte Kissen, glänzende Rattan-Beistelltische und Stühle im Kolonialstil aus dunklem Walnussholz. Hier trifft Osten auf Westen, eine Blockhütte aus Neuengland auf einen Wüstenbungalow, aber irgendwie – bemerkenswerterweise – wirkt alles so harmonisch wie Rita selbst, mit ihren Perlenohrringen und dem marineblauen Bandana. Als sie am Eingang zum Wohnzimmer stehen bleiben, nimmt Lois einen bemalten Porzellanfasan in die Hand, um zu sehen, wie schwer er ist, doch als sie bemerkt, dass Rita sie beobachtet, stellt sie ihn behutsam zurück. Auf dem Weg nach draußen erzählt Rita, dass sie die Ranch vor zehn Jahren ursprünglich mit ihrem Mann zusammen gekauft hat, den sie deutlich später im Leben gefunden hatte als Mary Elizabeth oder Lois ihre Ehemänner. Doch nach vierzehn Jahren Ehe trennten sie sich, und er heiratete eine Frau, die jedes Mal krank wird, wenn es regnet. Mittlerweile leben sie in Palm Springs, er kommt jedes Jahr an Weihnachten, um die Kinder zu besuchen, und bringt ihnen Orangen und Sommerkleider mit, die immer eine Nummer zu klein sind.

»Du hast Kinder?«, fragt Mary Elizabeth.

»Ja, zwei Töchter. Carol und Patty. Weiß Gott, wo sie gerade stecken, aber sie wissen, dass sie den Gästen nicht in die Quere kommen dürfen. Sie benutzen den Pool nur freitagnachmittags, also macht es euch einfach auf den Liegestühlen bequem, sofern ihr nicht Meerjungfrau spielen wollt.«

Lois denkt daran, wie überrascht sie war, als sie die Kinder gesehen hat, und kommt sich jetzt prüde vor. Es spricht nichts dagegen, dass auf einer Ranch mit Pferden und einem zehn Meter langen Schwimmbecken Kinder unter den Geschiedenen in spe leben. Vielleicht ist es für sie von Vorteil und sie lernen eine Lektion, die keine der Besucherinnen vor der Hochzeit gelernt hat.

Als sie zum Haus zurückkehren, erklärt Rita ihnen den typischen Tagesablauf und wie die meisten Mädchen ihre Zeit verbringen. Sie beide eingeschlossen, wohnen derzeit fünf Gäste auf der Ranch. Es gibt feste Essenszeiten, aber es wird keine förmliche Kleidung erwartet, und Anna hat eine Menüabfolge erstellt, die sich nur alle sechs Wochen wiederholt, sodass sie sich über mangelnde Abwechslung keine Sorgen machen müssen. Um halb sechs ist Cocktailstunde. Außerdem werden Ausritte und Picknicks, Ausflüge in die Wüste und in die Stadt angeboten. Die Vorstellung, offenbar jede Stunde des Tages von anderen Menschen umgeben zu sein, überfordert Lois.

»Wenn ihr in die Stadt fahrt, hütet euch vor Männern, die zu viele Fragen über die Ranch stellen«, sagt Rita und greift nach den Schlüsseln in der Schublade eines Sekretärs mit Rollverschluss. »Das sind meist Klatschreporter. Es kommt hin und wieder vor, wenn jemand unseren Namen erwähnt, wegen unserer Kundschaft. Sie versuchen immer rauszufinden, ob jemand Berühmtes hier abgestiegen ist oder eine Frau, deren Namen sie im Social Register gelesen haben.«

»Hat denn schon einmal jemand Berühmtes hier gewohnt?«, fragt Lois Rita.

»Nun, ich würde meine Arbeit nicht besonders gut machen, wenn ich euch das verraten würde, nicht wahr?«

»Das stimmt«, sagt Lois. »Verzeihung.«

Rita bückt sich, um einen der Dackel hochzuheben, und klemmt ihn sich unter den Arm. Ihr sanfter Tadel bringt Lois dazu, sich auf die Zunge zu beißen.

»Zwei Dinge noch, dann lasse ich euch gehen, und ihr könnt euch frisch machen«, sagt Rita und bleibt am Treppenaufgang stehen, während der Dackel in ihrer Armbeuge zappelt. »Erstens: Das hier sind eure Schlüssel, aber ihr braucht eure Zimmer nicht abzuschließen. Natürlich ist es hier absolut sicher. Und zweitens: Bailey oder ich werden vor Gericht als eure Zeugin auftreten. Dafür müssen wir euch einmal am Tag sehen, sonst können wir nicht bezeugen, dass ihr die ganzen sechs Wochen hier gewesen seid. Ich weiß, das klingt einfach, aber ihr würdet euch wundern, wie viele Mädchen immer mal wieder verschwinden. Wenn ihr also verschwindet, dann achtet darauf, nicht länger als einen halben Tag wegzubleiben. Einverstanden?«

»Ja«, sagt Lois.

»Selbstverständlich«, versichert Mary Elizabeth.

»Prima«, sagt Rita, und ihr Blick verharrt eine Sekunde zu lang auf Lois. Lois tritt von einem Fuß auf den anderen und hört, wie laut ihr eigenes Schlucken klingt. »Und jetzt geht hoch auf eure Zimmer!«

 

Oben stellt Lois die Dusche an, zieht sich aus und wirft ihre Kleider in eine Ecke des Zimmers. Sie will sie nie wieder anziehen müssen und wünschte, sie könnte sie tief in die Wüste tragen, damit die Sonne sie verbrennt. Das Wasser ist heiß und dampft, und sie steht so lange unter der Duschbrause, bis es wehtut.

Das Zimmer selbst ist klein und verwohnt, mit schweren Eichenmöbeln und verschlissenen Vorhängen mit Gänseblümchenmuster, die sie selbst nie ausgesucht hätte. Lois setzt sich nackt auf den Boden und spürt einen Schauer des Unbehagens, weil sie so weit von allem entfernt ist, was sie bisher kannte. Sie dreht sich zu ihrem Koffer um und lässt die Verschlüsse aufschnappen. Sie hat ihn gepackt, nachdem Lawrence zu seiner Mutter gefahren war, um dort zu übernachten – zwei angespannte Tage nachdem sie um die Scheidung gebeten hatte. Zwei Tage nachdem sie ihre Periode bekommen hatte; eine beinahe erotische Erleichterung. Obwohl sie das Haus oft nur für sich hatte, war das Alleinsein an diesem Nachmittag etwas Neues und Tiefgreifendes, ihr wurde fast schwindlig davon, als hätte sie ein ganzes Glas Gin hinuntergestürzt. Sie brauchte sich nicht für Lawrence’ bevorstehende Rückkehr zu wappnen. Für das scharfe Klicken seines Schlüssels im Schloss, das sich wie ein Schnitt in ihre Haut anfühlte.

Nachdem sie gesehen hatte, wie sein Bentley aus der Einfahrt fuhr, verriegelte sie alle Türen und legte die Columbia Playtime Kinderschallplatten auf, die sie als kleines Mädchen gern gehört hatte, sang die blechernen Lieder über Enten und Blumen mit. Sie masturbierte, während sie auf Lawrence’ ledernem Schreibtischsessel lümmelte, starrte dabei auf einen Wasserfleck an der Decke und stellte sich vor, wie Cary Grant Ingrid Bergman in Weißes Gift küsste. Danach aß sie mit einem Löffel saure Sahne und rauchte die Zigarren, die Lawrence in dem Schränkchen über dem Kühlschrank aufbewahrte, gerade so hoch, dass sie nicht dran kam. Der Rauch brannte ihr hinten in der Kehle, und die Zigarre wurde in ihrem Mund zu feucht, sodass Blattfäden an ihrer Zunge und ihren Lippen kleben blieben. Trotzdem fühlte sie sich stärker. Als führe ein Geist durch sie hindurch, nicht der eines Verstorbenen, sondern einer Person, die erst noch erschaffen wird.

Erst am Morgen danach packte sie ihre Sachen für die Ranch fertig, nachdem sie auf ihrer Wohnzimmercouch aufgewacht war. Lippenstift verschmierte den gelben Chintz. Und erst jetzt, in diesem kleinen Zimmer mitten in der Wüste, beginnt sie darüber nachzudenken, was sie zurückgelassen hat. Nach ihrer Hochzeit hatte sie so wenig zu Lawrence mitgenommen, begierig auf einen Neuanfang, nur ihre Kleidung und die Bücher ihrer Mutter, die ihr ebenso elementar vorkamen wie das Muttermal auf ihrem Oberschenkel oder ihre Schneidezähne. Mit Ausnahme der wenigen Bücher, die sie mitgenommen hat, sind alle noch bei Lawrence, bis sie dafür sorgen kann, dass sie zurück in das Haus ihres Vaters gebracht werden. Wieder in die schmalen Regale geräumt werden, über die sich ihre Mutter immer beschwert hat – die Buchrücken so eng aneinandergedrängt, dass es an den Fingern schmerzte, eines herauszuziehen. Ein weiterer Schauer überläuft Lois’ Körper, und sie zieht sich ein Unterkleid über den Kopf.

Sie beschließt, dass sie sich besser fühlen wird, wenn sie ihre Sachen auspackt, also holt sie die Kleider und Blusen heraus, verstaut sie im Schrank und in der Kommode und reiht ihre Lippenstifte und die Puderdose auf dem Schminktisch auf. Ganz unten im Koffer entdeckt sie die Halskette mit den schwarzen Opalen, die ihre Mutter bei allen Partys trug, die sie veranstaltete, verzweifelt um die Gunst ihrer Nachbarinnen bemüht, die nichts mit ihrem neuen Reichtum zu tun haben wollten oder mit ihrem seltsamen polnischen Namen – Gorski –, den Lois jetzt wieder annehmen muss, wie ihr klar wird. Außerdem holt sie den in einen Seidenschal gewickelten Umschlag heraus. Darin befinden sich Zwanzig-Dollar-Scheine, die sie nachzählt, um sicherzugehen, dass noch alles da ist, was sie bei der Abreise dabeihatte, alles, was sie von ihrem Vater bekommen hat, um genug für die nächsten sechs Wochen und die Heimreise zu haben, jetzt, da sie wieder auf ihn angewiesen ist.

Sie klappt die Verschlusslasche zu und versteckt den Umschlag unter ihrer Matratze wie etwas Sündiges.

4

Unten umrunden alle anderen Mädchen den Esstisch. Während der Cocktailstunde hat sich Lois vor ihnen versteckt, aber als sie unter sich das Scharren der Stühle auf dem Holz und das Klappern des Geschirrs beim Tischdecken hörte, wusste sie, dass sie ihr Zimmer verlassen musste. So wie die Mädchen aus der Schule haben sie alle frische, reine Haut, die nicht nur von Geld, sondern von Wohlstand zeugt – Lois’ geringere Herkunft offenbart sich in den Pickeln auf ihrer Stirn, den borstigen Haaren auf ihren Unterarmen. Die Älteste am Tisch scheint in den Vierzigern zu sein. Alle blicken auf, als Lois’ Absätze über den gebohnerten Boden klacken.

»Sie ist aufgetaucht«, sagt Rita.

»Ja, mich gibt es wirklich«, sagt Lois und spannt bei den vielen Blicken, die auf ihr ruhen, den Kiefer an.

»Und als so blumige Erscheinung.« Rita fasst sich mit Daumen und Zeigefinger an ihr Ohrläppchen und dreht an einem Perlenstecker. »Für diejenigen, die sie noch nicht kennengelernt haben: Das ist Lois Saunders aus Chicago. Lois, das sind, nun ja: alle.«

Alle lächeln, murmeln »hallo«, und Mary Elizabeth winkt Lois auf den Platz an ihrer Seite. Links von Lois sitzt eine Frau um die dreißig mit zinnoberrotem Lippenstift, deren dunkelbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden ist. Beim Anblick des Essens vor ihr, darunter ein gewaltiger Schweinebraten, mit dem man eine Heerschar Männer verpflegen könnte, zieht sich ihr Magen zusammen und knurrt. Lois hofft, dass es niemand gehört hat.

»Habt ihr alle gesehen, was George mir heute geschickt hat? Sogar mit Gravur!«

Lois dreht sich zu dem rothaarigen Mädchen um, das vermutlich nur ein paar Jahre älter ist als sie und das Handgelenk in die Höhe reckt. Eine schmale goldene Uhr windet sich darum. Das Mädchen hat sinnlich geschwungene Lippen und dichte, fedrige Wimpern, ist auf zu offensichtliche Art hübsch, findet Lois.

»Eine echte Cartier, falls ihr das nicht erkennt«, sagt sie. Das angespannte Lächeln der anderen Mädchen macht deutlich, dass das nichts Ungewöhnliches ist. Nur Mary Elizabeth gurrt anerkennend.

»Bezaubernd«, sagt Rita. »Lois und Mary Elizabeth, das ist Dorothy.«

Dorothy lächelt selbstgefällig, und die anderen beiden Mädchen stellen sich kurz vor. Die Brünette neben Lois ist June und die Älteste in der Runde Vera. Als der Tisch zu seinem gewohnten Rhythmus zurückkehrt, reicht June Lois eine Schale mit Blätterteigrollen.

»June kommt aus Connecticut«, erzählt Mary Elizabeth.

Trotz der Hitze hat Mary Elizabeth ihr goldgelbes Gingham-Kleid bis zu den Handgelenken zugeknöpft, und sie knabbert wie ein Kaninchen am Brot. Ihr Weinglas ist mit Limonade gefüllt.

»Ja, aber nach meinem Aufenthalt hier ziehe ich mit meinem Cousin nach Los Angeles«, sagt June.

»Mit deinem Cousin? Warum willst –«, setzt Lois an, aber Mary Elizabeth stößt sie behutsam mit dem Ellbogen an, damit sie nicht noch mehr sagt. Lois weiß nicht, ob sie dankbar oder verärgert darüber sein soll, dass Mary Elizabeth ihre potenziellen Verfehlungen bereits wittert.

Lois richtet die Aufmerksamkeit wieder auf ihren Teller. Während sie isst, summt die Unterhaltung um sie herum. Man diskutiert darüber, ob jemand an diesem Morgen tatsächlich eine Schlange gesehen hat oder ob es nur ein Stück Wüstengras war, und über einen Barkeeper, der den Mädels, die er mit nach Hause nehmen will, starke Drinks mischt, was sich lohnt, wenn man ihn rechtzeitig wieder abwimmelt. Während Lois ihnen zuhört, beginnt sie, die feinen Fäden zu erahnen, die die Mädchen miteinander verbinden, welche gespannt und welche verschlungen sind. Alle ignorieren Vera, die so rund und prall ist wie ein Nadelkissen, und Bailey reagiert mit Nachsicht auf Dorothys anhaltende Selbstdarstellung. Alle Mädchen haben eindeutig einen Draht zu Rita. Sie bitten sie um Rat und wollen ihre Meinung hören, erzählen ihr den pikanten, brisanten Höhepunkt jeder Geschichte, was Soundso gesagt, was Soundso getan hat, während einer der Dackel auf Ritas Schoß schläft, seine Nase eine dunkle, feuchte Kirsche. Rita strahlt Gelassenheit aus, die unergründliche Stärke einer Sphinx – sie hat mit den gleichen Problemen und Urteilen kämpfen müssen wie die Mädchen und ist irgendwie unbeschadet davongekommen.

»Du bist also aus Chicago?«, fragt June, und alle halten inne, um zuzuhören, außer Rita und Bailey, die in ein anderes Gespräch vertieft sind. »Was macht deine Familie?«

»Mein Vater leitet ein Unternehmen«, sagt Lois und legt ihre Gabel beiseite.

»Was für eine Art von Unternehmen?«, fragt Vera.

Lois kennt das. Obwohl ihr Vater, besonders aufgrund seiner Knausrigkeit, genauso viel Geld besaß wie alle anderen Familien in Lake Forest, war es »neues Geld«, das noch dazu mit etwas verdient wurde, über das sich niemand Gedanken machen wollte. Sie würden Lois ansehen, als klebte Blut an ihren Händen.

»Immobilien«, antwortet Lois, und alle Mädchen nicken anerkennend. Ihr wird klar, dass ihre Lügen hier draußen in der Wüste hieb- und stichfest sind – die anderen wissen nur, woher ihr Zug gekommen ist. »Ihm gehören Grundstücke überall in der Stadt. Unsere Familie ist schon seit Jahren im Geschäft.«

»Meine Familie auch, aber natürlich weiter im Osten. Und was erwartet dich nach Reno? Altes oder neues Zuhause?«, fragt June.

»Wie bitte?«

»Mary Elizabeth hat uns schon erzählt, dass sie wieder in ihr altes Zuhause zurückkehren muss, die Arme, aber immerhin handelt es sich dabei um ein prächtiges Anwesen in Kentucky«, sagt Dorothy in einem Tonfall, der ebenso schrill und aufdringlich ist wie ihre roten Haare. Lois vermutet, dass sie im Gegensatz zu allen anderen in eine reiche Familie eingeheiratet hat. »Vera geht es genauso – sie zieht zurück zu ihrer Mutter nach Boston. Aber ich heirate George. Neues Zuhause.«

»Und ich bin nicht das ganze Jahr über in Boston. Im Sommer fahren wir nämlich immer in dieses entzückende kleine –«, setzt Vera an.

»Ja, das wissen wir, Vera, aber wir sprechen jetzt über Lois«, unterbricht June sie, und Vera zieht sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück. Lois stellt sich June als Klassenbeste vor, frustriert von der Dummheit ihrer Mitschülerinnen. »Also altes oder neues Zuhause?«

»Nun, zuerst muss ich wieder bei meinem Vater einziehen«, sagt Lois, »aber danach dachte ich, mir irgendwo allein eine Wohnung zu suchen, vielleicht in der Stadt.«

»Allein?«, fragt Mary Elizabeth, die Augenbrauen so fest zusammengekniffen, als wären sie miteinander vernäht.

»Das kannst du unmöglich ernst meinen. Selbst traurige kleine Sekretärinnen haben Mitbewohnerinnen«, sagt June.

Lois ist überrascht; sie hätte nicht gedacht, dass es etwas ist, das sie verheimlichen sollte, und war davon ausgegangen, dass zumindest ein paar der anderen Mädchen auf der Ranch den gleichen Wunsch haben würden. Dass sie ihr als Kompass dienen könnten, um ihr den Weg durch den Nebel zu weisen, der das verschluckt, was vor ihr liegt.

»Ich wüsste gar nicht, wo ich eine Mitbewohnerin finden sollte«, entgegnet sie.

»So leid es mir tut, aber du wirst nie wieder heiraten. Niemals. Eine geschiedene Frau zu sein, wirkt abschreckend genug. Nur Witwen und bestimmte Arten von Mädchen wohnen allein«, sagt Dorothy.

»Und Dorothy muss es wissen«, sagt June, woraufhin Dorothy sie anfunkelt. Es entsteht eine gewichtige Pause, und Lois spürt eine Woge der Aufregung – sie ist es gewohnt, dass Spannungen unter der Oberfläche strömen, wie Wasser, das durch die versteckten Rohre eines Hauses rauscht.

»Als ob du –«, beginnt Dorothy.

»Anna, das war ein köstliches Abendessen«, sagt Rita laut genug, um den Tisch zum Schweigen zu bringen.

Anna, die mit dem Abräumen des Geschirrs begonnen hatte, hält inne und lächelt Rita zu. Die Mädchen stimmen in das Lob ein, Vera und Mary Elizabeth applaudieren sogar.

»Fahrt ihr heute Abend alle ins Highlands?«, fragt Rita.

Die Mädchen nicken, und sofort bricht das Geplauder wieder los. Dorothy und June verschwinden im Badezimmer im Erdgeschoss, um sich den Mund auszuspülen und die Haare zu bürsten. Lois ist erschöpft, aber die Möglichkeit, auszugehen, macht sie neugierig. Sie fragt sich, ob die Clubs so sind wie in Gilda – halbmondförmig aufgereihte Blasensembles, Männer mit hauchdünnen Schnurrbärten, die Drinks ausschenken. Wie viel grausamer June und Dorothy in betrunkenem Zustand wären. Und niemand, der Lois sagt, was sie zu tun hat, genau wie im Zug.

»Möchtest du mitkommen, Lois?«, fragt Bailey.

»Nun, Lois’ Vater legt Wert darauf, dass sie in der Nähe der Ranch bleibt«, wirft Rita dazwischen.

»Mein Vater?«

»Ja. Ich habe ihm versprochen, dass wir auf dich besonders gut achtgeben werden.«

Lois klappt die Kinnlade herunter. Sie weiß, dass sie ohne das Geld ihres Vaters nicht hier wäre, aber sie hätte nicht gedacht, dass sie seine Anwesenheit auf diese Weise zu spüren bekommen würde, als wäre er direkt im Zimmer nebenan.

»Wie wäre es, wenn wir im Wohnzimmer ein paar Runden Gin Rommé spielen?«, schlägt Rita vor.

Lawrence’ Mutter hatte immer Gin Rommé gespielt, die Hände von pulsierenden blauen Adern durchzogen. Lois konnte nie nein sagen, denn sie war an das gebunden, was als Ehefrau von ihr erwartet wurde. Ständig unterdrückte sie ihren Drang, loszulaufen, die Impulse, denen sie als Kind immer gefolgt war – wenn sie am Strand über den feuchten Sand rannte und einen Möwenschwarm aufscheuchte.

»Und, was sagst du?«, fragt Rita, und Lois weiß, was sie antworten muss. Die anderen Mädchen strömen durch die Vordertür hinaus, werden von der nächtlichen Dunkelheit verschlungen, die so plötzlich wie ein Vorhang herabsinkt. Schon sind sie aus Lois’ Reichweite verschwunden.

 

Irgendwo in den Tiefen des Hauses klingelt ein Telefon.

Als Lois es zum ersten Mal hört, glaubt sie, sie sei wieder in Lake Forest. Sie streckt die Hand aus, um Lawrence wachzurütteln, damit er nach unten geht und abhebt, und als sie merkt, dass das Bett leer ist, verkrampft sich ihr Körper, als hätte sie die Hand nach dem Treppengeländer ausgestreckt, um nicht zu stürzen, aber ins Leere gegriffen. Doch dann fällt ihr wieder ein, wo sie ist, und ihr Kopf sinkt erleichtert auf das Kissen zurück.

Das Telefon klingelt erneut. Lois öffnet die Augen und versucht, anhand der tiefen, ozeanartigen Dunkelheit vor ihrem Fenster die Zeit zu bestimmen. Es ist entweder spät in der Nacht oder sehr früh am Morgen, nicht die Zeit, zu der jemand anruft, sofern es sich nicht um einen Notfall handelt. Um ein Uhr war sie von den heimkehrenden Mädchen geweckt worden, vom Aufheulen des Motors und ihrem gedämpften Lachen, als sie nacheinander von der Rückbank rutschten. Das Klingeln verstummt, nur um eine Minute später wieder einzusetzen, und Lois fragt sich, warum niemand abnimmt. Nach zwei weiteren Klingeltönen hört es auf.

Sie liegt im Bett, jetzt hellwach und überrascht, wie kalt es in der Nacht geworden ist. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen, zeichnen sich die Formen ihres Zimmers schärfer ab – die hohe Kommode, die Vase mit den dicht gekräuselten Ringelblumen auf ihrem Schreibtisch. Ihre Kehle ist trocken, und sie steht auf, um das leere Glas vom Fensterbrett zu holen. Als sie sich bückt und danach greift, bemerkt sie aus dem Augenwinkel, wie eine kleine, schmale Person unter dem Verandadach des Hauses verschwindet. Lois richtet den Blick auf die offene Rasenfläche und stellt sich alle Gestalten vor, die ihr als Kind Angst eingejagt haben: Kobolde mit langen, knochigen Fingern, Gloria Holdens gepudertes Gesicht in Draculas Tochter – ihre Mutter hatte sie den Film mit sieben Jahren sehen lassen, als wäre sie schon erwachsen –, aber es ist keine weitere Bewegung zu sehen. Als sie sich neben der Tür ihres Zimmers hinkauert, hört sie nichts.

Vielleicht ein Kojote. Oder ein Kaninchen. Etwas, das bereits zurück in die Dunkelheit gehuscht ist. Sie stellt das leere Glas auf dem Nachttisch ab, sagt sich, dass sie eigentlich keinen Durst hat, schluckt nur einmal, um ihre Kehle zu befeuchten.

5

Als Lois aufwacht, fällt das grelle Sonnenlicht der Wüste in ihr Zimmer und bleicht alle Oberflächen aus. Ein durchdringendes Aroma nach Kaffee und Speck erfüllt die Luft. In der Ferne sitzen wie Wachposten die Gipfel der Sierra Nevada. Die Landschaft wirkt unecht, als wäre ihr Fenster nur ein Gemälde. Lois bindet ihr schwarzes Haar zurück, durchkramt den Kleiderschrank nach etwas Passendem für den Termin bei ihrem Anwalt. Sie zieht ihr hochgeschlossenes marineblaues Kleid mit der breiten Gürtelschnalle heraus und runzelt die Stirn über eine Falte, die den Rock durchschneidet.

Im Erdgeschoss kommt sie am Arbeitszimmer vorbei, dessen Tür aufklafft. Drinnen hockt Rita neben der zusammengekauerten Mary Elizabeth, ihre Stimme ist ein beruhigendes Schnurren. Ein vertraulicher Moment, der nicht für ihre Augen bestimmt war. Bailey ist im Wohnzimmer, als hätte sie auf Lois gewartet. Das Muster eines Patiencespiels überzieht den Beistelltisch, alles andere wirkt unberührt, wie inszeniert. Die Kissen sind aufgeplustert und haben einen adretten Knick in der Mitte, das Ziffernblatt der Standuhr glänzt, als hätte jemand soeben das Glas poliert. Lois verspürt den Drang, eine Teppichkante umzuklappen oder eine Porzellanfigur umzustoßen. Am Abend zuvor hat sie mit Rita nur eine einzige Runde Karten im Wohnzimmer gespielt, bevor eine ihrer Töchter nach ihr rief und wegen eines geschwollenen Mückenstichs weinte, sodass Lois wieder einmal allein zurückblieb.

»Hast du gut geschlafen?«, fragt Bailey. Ihr Haar schimmert von unten rötlich durch, wie das Fell eines Rehs, und ist zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt nur einen Hauch von Schminke, hat eine dünne Schicht Wimperntusche aufgetragen und sich die Augenbrauen nachgezogen.

»Ähm, ja. Das Telefon hat mich ein paarmal geweckt, aber davon abgesehen …«

»Das tut mir leid.« Bailey hakt die Daumen in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. »Mary Elizabeths Mann hat sich betrunken und beschlossen, ihr alles an den Kopf zu werfen, was sie je falsch gemacht hat, und schließlich hat er sich so betrunken, dass er sich dafür entschuldigen musste, ihr alles an den Kopf geworfen zu haben, was sie je falsch gemacht hat.«

»Wie scheußlich.«

»Ja, aber die Mädchen kommen normalerweise nicht hierher, weil sie nichtscheußliche Ehemänner haben.«

»Da hast du sicher recht«, sagt Lois, obwohl sie weiß, dass niemand außer ihr Lawrence als »scheußlich« bezeichnen würde; die Nachbarn liegen ihm zu Füßen, weil er stundenlang an der Seite ihres Gärtners Löwenzahn und Giersch ausrupft. »Der einzige Anwalt mit einem grünen Daumen«, seufzten sie. Als wäre Gartenarbeit nicht nur eine weitere Form der Kontrolle.

Beim Frühstück beobachtet sie, wie Mary Elizabeth Milch in ihren Kaffee träufelt, ihr blondes Haar kräuselt sich in der Hitze. Lois bemerkt, dass sie ein bisschen so aussieht wie beim ersten Mal, als sie ihr im Zug aufgefallen war: ein Schleier über den Augen, eine gewisse Entrücktheit, als betrachtete Lois nicht die Mary Elizabeth aus Fleisch und Blut, sondern nur deren Spiegelbild.

»Gehst du heute zu deinem Anwalt?«, fragt June.

»Am späten Vormittag«, antwortet Lois.

»Das dachte ich mir. Niemand trägt hier tagsüber ein Kleid, außer es steht ein Termin beim Anwalt an.«

Lois sieht sich am Tisch um und stellt fest, dass June recht hat. Nur Mary Elizabeth und sie selbst haben ein Kleid an. Die übrigen Mädchen tragen grobe Jeans oder Stoffhosen, Hemden im Westernstil mit Perlmuttknöpfen oder weiche Flanellhemden mit gelben und rosafarbenen Karomustern. June und Vera tragen Gürtel mit feinen Silberverzierungen an der Schnalle, Dorothy Armreife mit Türkiseinlagerungen. Die Kleidung bewirkt, dass die Mädchen anders dasitzen, die Ellbogen auf den Tisch stützen und sich ganz leicht an die Stuhllehnen zurücksinken lassen, ein Fuß baumelt über den Knien. Sie verhalten sich nicht wie Männer, sondern wie Frauen, wenn keine Männer anwesend sind.

Lois kommt sich albern vor in ihrem Kleid, als wäre sie mit weißen Satinhandschuhen zu einem Abendessen unter Freunden erschienen. Sie besitzt nicht einmal ein Paar Jeans.

»Ich rate dir, nicht mit ihm zu schlafen«, sagt June, nachdem sie einen Schluck Kaffee getrunken hat. Ihr Konturenstift ist einen halben Ton dunkler als ihr Lippenstift, und Lois schließt die Hand zur Faust, um dem Impuls zu widerstehen, die Farben mit dem Daumen zu verreiben.

»Mit wem?«, fragt Lois.

»Deinem Anwalt. Denk einfach an all die Mandantinnen, die vor dir mit ihm geschlafen haben. Die Betten der Scheidungsanwälte sind wie Drehtüren.«

»Das war ohnehin nicht mein Plan.«

»Ich glaube nicht, dass irgendjemand das wirklich plant.« June stellt ihre Tasse wieder ab, und Lois weiß nicht, ob ihr ein Witz entgangen ist.

 

Das Wartezimmer der Anwaltskanzlei erinnert Lois an das ihres Kinderarztes. Die satinierte Deckenleuchte strahlt ein ähnlich weißes Licht aus, von dem ihrer Mutter angeblich immer übel wurde. Manchmal sagte ihre Mutter, sie werde im Auto auf sie warten, selbst wenn Lois sie anflehte, mit reinzukommen. Sonst laufe ich auf die Straße, drohte Lois. Nein, das tust du nicht, entgegnete ihre Mutter und behielt recht, auch wenn Lois kurz davor stand: die Ferse auf dem Bordstein angewinkelt und zum Sprung bereit, das warme Dröhnen der vorbeifahrenden Autos so nah, dass sie die Abgase schmeckte. Sie hasste ihren Arzt. Ihm wuchsen Haare aus der Nase, und er legte seine Hand immer zu nah an ihren Po, wenn er ihre Lunge abhorchte.

Lois’ Vater hatte den Anwalt für sie gefunden. An einem regnerischen Morgen Ende Mai, der Boden weich und matschig, ging sie zu ihm, um ihm mitzuteilen, dass sie sich scheiden lassen wolle. Bei der Vorstellung, es ihm zu sagen, hatte sie das Gefühl, als würde sich unter ihrer Haut langsam ein Ballon aufblasen. Es erinnerte sie daran, wie sie als Kind im Haus ausgeharrt hatte, während ihre Mutter ihm von ihren schlechten Noten berichtete oder davon, dass Lois die Nachbarskatze entführt, sie fast drei Tage lang in ihrem Schrank gehalten und mit Hühnerkeulen und Butterkeksen gefüttert hatte. Ihr Vater erklärte, es sei eine Dummheit gewesen, sich in diese Ehe zu stürzen, es sei eine weitere Dummheit, sie jetzt zu beenden, und er schäme sich einmal mehr, ihr Vater zu sein. Dann schickte er sie auf ihr Zimmer. Nach einer Stunde rief er sie wieder zu sich und teilte ihr, ohne ihr in die Augen zu sehen, mit, welchen Zug sie nehmen und mit wem sie in Reno sprechen sollte. Der Kollege eines Kollegen hatte einen Anwalt empfohlen. Nach ihrer Rückkehr würde sie in ihrem alten Zimmer wohnen, bis sie einen anderen naiven Mann aus Lake Forest zum Heiraten fände.

»Ich will nicht wieder heiraten«, erklärte Lois.

»Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Ich möchte, dass du bis zum Ende des Jahres das Haus verlässt, und was solltest du sonst tun?«

Seine Worte schockierten sie nicht. Lois dachte daran, wie es gewesen war, nach dem Tod ihrer Mutter dort zu leben. Die angespannte Stille beim Abendessen. Wie ihr Vater abrupt über den Boden des Wohnzimmers schritt und eine ganze Zeitung ins Feuer warf oder wie er auf ihrer Kommode eine monatliche Kostenaufstellung für ihre Kleidung hinterließ.

Als sie den Entschluss fasste, Lawrence zu verlassen – an dem Tag, an dem sie herausgefunden hatte, dass sie nicht schwanger war, sieben Wochen nachdem er ihr Diaphragma im Müll vergraben hatte –, weigerte sich ihr Verstand, an eine Rückkehr in ihr Elternhaus zu denken. Sie hasste es, Ehefrau zu sein, hatte Angst davor, Mutter zu werden, aber sie konnte sich auch nicht mit dem Gedanken abfinden, wieder nur Tochter zu sein. Jede Rolle ein unpassendes Kleid. Dennoch wusste sie nicht, wie ein Leben außerhalb von Lake Forest aussehen könnte. Vor ihrem inneren Auge blitzten nur Bilder aus Filmen auf: feuchtfröhliche Abende in großen Ballsälen, Fremde und fremde Städte, ein Lippenstiftabdruck auf einer Serviette, auf einem Hals. Szenen, die vor Verlangen sprühten. Szenen, die zu dramatisch waren, um echt zu sein. Und dann eine, die sie nicht einordnen konnte: Lois löst eine Seite aus ihrer Zeitung und reicht sie einer Person, die ihr im Diner gegenübersitzt, ihr Schweigen wohlig wie ein warmes Bad.

»Miss Gorski?«, sagt eine Stimme, und Lois blickt auf, zu einem älteren Mann mit einem Bauch so rund wie ein Goldfischglas und einer Krawatte aus schwerer Seide. Er ist jung genug, um im Krieg gekämpft zu haben, auch wenn man ihn sich unmöglich in einem Schützengraben hockend vorstellen kann, mit einem Karabiner auf der Schulter. Sie denkt an das, was June gesagt hat, und beim Bild seines nackten Körpers wird ihr flau im Magen.

»Ja, Verzeihung, das bin ich«, sagt sie und erhebt sich von ihrem Stuhl. Sie muss sich erst wieder an ihren Mädchennamen gewöhnen.

»Wunderbar. Nennen Sie mich Mr Tarleton.«

Während er sie in sein Büro führt, lässt sich Mr Tarleton zu lange darüber aus, dass die Mädchen, die im Golden Yarrow unterkommen, stets eine Klasse für sich sind, als wären sie Schlachtvieh mit einem besonderen Gütesiegel. Er hat Lois’ Vater bei seinem Anruf die Ranch empfohlen und versichert, sie sei ihren Preis wert.

»Also, was genau muss ich für die Scheidung tun?«, fragt Lois, als er eine Atempause einlegt.

»Ha, direkt zur Sache, ja?«

»Nun, deshalb bin ich schließlich hier.«

Mit mürrischem Blick öffnet Mr Tarleton eine Ledermappe. Auch wenn Lois das Gefühl hat, sich entschuldigen zu müssen, hat sie nie begriffen, wie man Männer bezirzt. Ihre Energie ist zu intensiv, gesättigt wie ein Tintentropfen.

»Hat Ihr Vater Ihnen die möglichen Gründe für eine Scheidung genannt?«, fragt er und setzt eine Brille mit goldenem Metallgestell auf.

»Nein. Er hat mir nur gesagt, wann mein Zug abfährt.«

»Nun, die Zeiten, in denen man einen Beweis für irgendeine Art von Ehebruch vorlegen musste, sind vorbei, zumindest in Nevada. Wenn Sie also deswegen hier sind, machen Sie sich keine Sorgen. Letzte Woche kam eine Frau mit einer Mappe voller Fotos herein, alle von verschiedenen Frauen, alle im selben Hotelzimmer. Es war wirklich bemerkenswert, wie ein Casting.«

»Mein Mann war nicht untreu.«

»Also gut«, sagt er mit einem Hauch von Enttäuschung. »In diesem Bundesstaat gibt es acht weitere Scheidungsgründe: Zeugungsunfähigkeit, Verlassen, Verurteilung wegen einer Straftat, Trunkenheit, Vernachlässigung – finanzielle Vernachlässigung, was bei Ihnen wohl nicht der Fall ist –, Unzurechnungsfähigkeit, dreijähriges Getrenntleben und extreme Grausamkeit.«

»Gut«, sagt Lois, und ihr Mund wird trocken.

»Also, was sind Ihre Gründe?«

»Können Sie sie noch einmal wiederholen?«

Mr Tarleton zieht ein Blatt Papier hervor, auf dem jeder Grund mit verschmierten Buchstaben gedruckt steht, und schaut auf seine Armbanduhr. Lois beugt sich über die Liste und berührt mit den Fingerspitzen den Rand. Alle wussten, dass man sich in Reno scheiden lassen konnte. Es war ein offenes Geheimnis. Die Frauen im Friseursalon tuschelten über gefallene Nachbarinnen, die dorthin reisten, schüttelten den Kopf über diese Kühnheit, während sich ihre Locken unter milchweißen Hauben festigten. Lois hatte in Zeitschriften Berichte über Filmstars gelesen, die sich nach sechs Wochen scheiden ließen, indem sie einen kurzen Abstecher in das Gerichtsgebäude der Stadt machten. Maureen O’Hara, Myrna Loy. In Illinois bräuchte sie Begründungen, die sie nicht hatte, und Lois war davon ausgegangen, dass sie in Nevada einfach um die Scheidung bitten konnte. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie einen Grund dafür angeben musste.

»Hatten Sie versucht, ein Kind zu bekommen?«, fragt Mr Tarleton.

»Nicht direkt.«

»In Ordnung. Manchmal denke ich, die Frauen geben Zeugungsunfähigkeit nur an, um Salz in die Wunde zu streuen.«