Der Dichter und der Risches - Ernst Osterkamp - E-Book

Der Dichter und der Risches E-Book

Ernst Osterkamp

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Beschreibung

Eine Wiederentdeckung: Leben und Werk des vergessenen Dichters Michael Beer, den seine Trauerspiele berühmt machten und der zeitlebens gegen den »Risches«, den Antisemitismus, zu kämpfen hatte Der früh verstorbene und nach seinem Tod bald vergessene Dichter Michael Beer gehörte mit seinen Trauerspielen »Der Paria« und »Struensee« zu den erfolgreichsten deutschen Dramatikern seiner Zeit. Ernst Osterkamp stellt erstmals Leben und Werk des aus einem angesehenen jüdischen Elternhaus stammenden Michael Beer dar. Dabei tritt eine auf vielfache Weise für das literarische Leben des ersten Jahrhundertdrittels repräsentative Gestalt mit herausragenden künstlerischen und politischen Beziehungen hervor. Beer war ein Kosmopolit, der in Paris, Neapel und München genauso zu Hause war wie in seiner Geburtsstadt Berlin und spannungsvoll freundschaftliche Beziehungen zu Karl Immermann, Heinrich Heine und Ludwig Börne unterhielt. Er verfügte über ein beeindruckendes Verständnis für die Formprobleme des Dramas in seiner Zeit, besonders für die Gattungskonkurrenz von Oper und Drama (sein ältester Bruder war der gefeierte Opernkomponist Giacomo Meyerbeer) und für Möglichkeit und Unmöglichkeit des historischen Dramas. Dem Antisemitismus, dem »Risches«, widersetzte er sich mit ganzer Kraft. Osterkamps einfühlsame Beschreibung von Leben und Werk Michael Beers erscheint nun 200 Jahre nach der von Goethe unterstützten Weimarer Aufführung des »Paria« am 6. November 1824, in dem Beer das jüdische Schicksal des Ausgegrenztseins im Spiegel des indischen Kastenwesens reflektiert hat. Das aber wollte Goethe nicht wahrnehmen …

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Ernst Osterkamp

Der Dichter und der Risches

Leben und Werk des Michael Beer (1800 – 1833)

Inhalt

Begegnung mit einem Unbekannten

Tod eines Dichters und Biedermannes

Nachleben und Leben

Michael in Italien

Dramatischer Muttermord:Klytemnestra

Von den Mühen, ein zweites Trauerspiel zu schreiben:Die Bräute von Aragonien

Das notwendige Trauerspiel:Der Paria und seine Geschicke in Weimar

Dichterfreundschaft unterm Druck des Risches:Michael Beer und Karl Immermann

Der große Erfolg:Das historische Trauerspiel Struensee

Abschied vom Geschichtsdrama:Das Trauerspiel Schwert und Hand

Die Suche nach dem Ausweg:Michael Beers Lustspiele

Kulturpolitische Novellistik:Raphael’s Schatten

Der Dramatiker als Lyriker

Das Problem, reißfeste Netzwerke zu knüpfen

Letzte Jahre

Dank

Siglen

Literatur

Archive

Anmerkungen

Begegnung mit einem Unbekannten

Manchmal begegnet der Philologe im Schattenreich der Literaturgeschichte einer undeutlich konturierten Gestalt, die durch einen Brief, ein interessant missratenes kleines Drama, eine Gesprächsaufzeichnung, eine Anekdote seine Aufmerksamkeit auf sich zieht und ihn wünschen lässt, mehr von ihr zu erfahren und sie heraustreten zu lassen aus der traurigen Statistenrolle, die das literarische Gedächtnis ihr zugemessen hat. Aber rasch geht das auf die kanonischen Figuren der Literaturgeschichte konzentrierte Alltagsgeschäft über diesen Wunsch hinweg, und den oder die interessante Unbekannte verschluckt erneut jenes Dunkel, in dem Abertausende von Autoren vergeblich ihrer Wiederentdeckung harren. Dass es danach zu einer zweiten, einer dritten flüchtigen Begegnung mit derselben Gestalt kommt, zudem an Orten, wo nicht damit zu rechnen war, ist recht unwahrscheinlich. Wenn dies aber dennoch geschieht, kann es – wie im richtigen Leben, so auch in der Literaturgeschichte – geschehen, dass man den Passanten tatsächlich anhält und ins Gespräch zu ziehen versucht, um so viel wie denkbar von ihm und über ihn zu erfahren. Dabei kann das Interesse natürlich rasch wieder ermatten, und vermutlich ist dies sogar die Regel. Aber gelegentlich begegnet man doch auch im Limbus der Literaturgeschichte, wo so viele Autoren vergeblich ihrer Wiederauferstehung harren, faszinierenden Gestalten, denen Aufmerksamkeit geschenkt zu haben man nicht bereut.

So ist es mir mit Michael Beer (1800 – 1833) gegangen. Zunächst war er als Autor des Paria für mich nichts anderes als eine Randfigur der Goethe-Philologie. Als ich später anhand der Sämmtlichen Werke mir einen Überblick über seine Dramen verschaffte, stand mein Urteil umgehend fest: ein Epigone, epigonaler geht es nicht. Irritierend blieb nur die Frage, warum das Werk eines Epigonen nach dessen Tod so aufwändig und repräsentativ gedruckt erschien. Erst danach kam es zu den Begegnungen, die Beer mein bleibendes Interesse sicherten: einmal bei Vorlesungen zur Literatur des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit dem Werk Karl Immermanns, bei der ich auf dessen bedeutende Korrespondenz mit Michael Beer stieß, zum anderen in der wiederholten Beschäftigung mit dem Werk Giacomo Meyerbeers, dessen frühe Erfolgsgeschichte in Italien und Frankreich ohne die Hilfe seines jüngsten Bruders fast nicht zu denken ist. Damit weitete sich das Bild auf spannungsvolle Weise aus: Der Dichter, der für mich bisher nur der Autor des Paria war, stand als deutscher Kosmopolit inmitten der europäischen Theater- und Operngeschichte des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts und stellte sich als Autor von Trauerspielen der zeitgenössischen Gattungsrivalität mit der übermächtigen Oper, der das Schaffen seines berühmten Bruders galt. Und Michael Beer war ein deutscher Jude, der alles, was er als Trauerspieldichter zu erreichen sich vorgenommen hatte, im Widerstand gegen das antisemitische Ressentiment, das in der Korrespondenz mit seiner Familie den Namen »Risches« trägt, durchsetzen musste. Ein Epigone? Dies pauschale Urteil besagt angesichts der vielfältigen werkkonstitutiven Spannungen, die sein Leben durchziehen, nicht viel. Eine Randfigur der Literaturgeschichte gar? Michael Beer war eine repräsentative Gestalt des ersten Jahrhundertdrittels und stand inmitten gesellschaftlicher Bezüge und literarischer Verbindungen, wie nur wenige Autoren seiner Zeit über sie verfügten: vom preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm bis zum bayerischen König Ludwig I., von Goethe bis zu Victor Hugo, von Heine bis zu Grillparzer, von den großen Schauspielern bis zu den internationalen Opernstars seiner Zeit. Wer Michael Beers Leben zu vergegenwärtigen sich vorgenommen hat, besichtigt zugleich sein Zeitalter in dessen zentralen künstlerischen, politischen und sozialen Spannungen.

Nur: Michael Beers Leben ist, sieht man von Eduard von Schenks biographischem Vorwort zu der von ihm 1835 besorgten Werkausgabe ab, nie umfassend dargestellt worden. Vermutlich ist dies auch gar nicht mehr möglich; einen Nachlass gibt es nicht, und von den kaum mehr als hundert Briefen, die von dem so disziplinierten wie amüsanten Briefschreiber erhalten sind, ist allenfalls die Familienkorrespondenz wissenschaftlich zuverlässig ediert, während die weit über sein eigenes Schaffen hinaus in literaturgeschichtlicher Hinsicht wichtigsten Briefe, diejenigen an Karl Immermann, bis heute nur in trostlos verstümmelter Gestalt gedruckt vorliegen.

Deshalb habe ich, als ich mir Michael Beers Leben und Werk begreiflich zu machen suchte, erst einmal nach ungedruckten Briefen Ausschau gehalten und die an Immermann gerichteten gedruckten Briefe mit den Originalen verglichen. Auf dieser philologischen Grundlage konnte die vorliegende kleine Monographie entstehen. Nicht alles gesammelte Material hat in sie Eingang gefunden, nicht sämtliche literarischen Verbindungen dieses begnadeten Netzwerkers habe ich dargestellt. Dennoch hoffe ich, Leben und Werk Michael Beers in ihren wichtigsten historischen, politischen und literarischen Bezügen so dargestellt zu haben, dass sich die Leser mit Gewinn der Begegnung mit diesem Schriftsteller erinnern werden, der für sie bisher allenfalls eine schattenhafte Randfigur sein konnte. Um eine Rettung des Werks ist es mir dabei nie gegangen; man wird ihm heute auf keine Weise den Erfolg verschaffen können, den es auch zu Beers Zeit nur mit Mühe und für kurze Zeit hat erringen können. Dafür aber kann man lernen, wie schwierig es zu Michael Beers Zeit auch für einen hochbegabten Schriftsteller aus vermögendem Hause war, sich auf dem deutschen Literaturmarkt als Trauerspieldichter zu etablieren, wenn er ein deutscher Jude war. Er hat seinem kurzen Leben auf doppelte Weise Sinn zu geben vermocht: indem er als deutscher Dichter Trauerspiele schrieb und sich dem Risches unbeirrt widersetzte.

Tod eines Dichters und Biedermannes

Zu dem Wenigen, das Michael Beer mit Goethe gemeinsam hatte, gehört sein Todestag; er starb am 22. März 1833, genau ein Jahr nach seinem bewunderten Vorbild. Freilich erreichte Michael Beer nur das Alter von 32 Jahren, während Goethe ein halbes Jahrhundert älter wurde. Und während Goethes Leben im Kreis seiner Familie und zugleich vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu Ende ging, starb der vermögende, vielfach begabte und menschlich gewinnende Kosmopolit Michael Beer, den doch so viele ihren Freund nannten, einsam unter heute nur schwer durchschaubaren Umständen. Seine drei Brüder gelangten nicht rechtzeitig genug an sein Kranken- und Sterbebett, um ihn noch lebend anzutreffen, und seine Mutter, die ihn abgöttisch liebte, wäre ohnehin nicht mehr in der Lage gewesen, in höchster Eile von seinem Heimatort Berlin nach München, wo er starb, zu reisen. So gibt es nur einen einzigen Bericht eines Augenzeugen über Krankheit und Tod Michael Beers, und dieser wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Er findet sich in einem auf Französisch verfassten Brief, den ein junger Mann namens Henry Reeve, der Beer offenbar in Paris kennengelernt hatte, am Tag nach Beers Tod »avec la plus vraie émotion« an den Klaviervirtuosen und Komponisten Ferdinand Hiller, einen gemeinsamen Freund, sandte und in dem er ihn davon unterrichtete, dass Beer in seinen Armen gestorben sei. Mehr noch als Beers Tod selbst scheinen die Umstände, unter denen er erfolgte, und dabei vor allem die Einsamkeit von dessen Tod Reeve erschüttert zu haben:

Vous qui avez connu toutes ses faiblesses, et toute sa bonté, vous en serez bien affligé – cet étrange hazart qui a fait qu’un homme qui s’est dit ami de tout le monde mourut comme cela, sans autre témoin qu’un jeune ètranger avec lequel il s’était brouillé quelques semaines auparavant.[1]

Man darf annehmen, dass Reeve mit dem jungen Fremden, der sich einige Wochen zuvor mit Beer zerstritten hatte und dann doch der einzige Zeuge seines Todes war, sich selbst meinte. Umso mehr Licht sollte freilich auf ihn selbst und auf seine Großherzigkeit fallen, für die es ausgeschlossen gewesen sei, einen Bekannten in den Armen seines Kammerdieners sterben zu lassen:

Moi seul, je m’y suis trouvé, car je ne veux pas que des gens que ’ai connus meurent entre les bras d’un valet de chambre.[2]

Der Kammerdiener, über den sich Reeve so herablassend äußert, hatte allerdings einen Namen, und Reeve erwähnt diesen auch im vorhergehenden Absatz seines Briefes: Bellile, wobei er nicht umhin kann einzuräumen, dass Bellile Beer in den zehn Tagen seiner Krankheit gepflegt habe, bis er selbst am Tag vor Beers Tod, wenn auch nicht bedrohlich, erkrankt sei. Es gab neben Reeve also noch mindestens einen zweiten Mann an Beers Totenbett, und dass dessen Rolle mit »valet de chambre« nur unzureichend beschrieben war, geht schon daraus hervor, dass die noch auf den 22. März datierte gedruckte Todesanzeige Michael Beers einzig von A. Bellile unterzeichnet ist;[3] dieser beruft sich dort auf seine »schmerzliche Freundespflicht« und erhebt damit Anspruch darauf, sehr viel mehr für Beer als nur dessen Diener gewesen zu sein. Reeve führt in seinem Brief also einen sozialen Verdrängungskampf darum, wer dem Toten nähergestanden habe, und stellt sich damit selbst ins Zwielicht. Es fällt schwer, sich vorzustellen, was in dem einsamen Sterbezimmer Beers tatsächlich vor sich gegangen ist, zumal der Kranke zumeist bewusstlos war und Ärzte in Reeves Brief nicht erwähnt werden.[4]

Dafür, dass den Sterbenden keiner seiner vielen Münchner Freunde besucht hat, gibt Reeve allerdings eine plausible Begründung: Beer habe zehn Tage vor seinem Tod ein »fièvre nerveuse et putride« ereilt, ein Nerven- und Faulfieber, und was immer dies medizinisch bedeuten mag, für die von der Gefahr der Cholera, deren letzte Welle erst zwei Jahre zuvor über Deutschland hinweggegangen war, traumatisierten Zeitgenossen stand fest, dass sie sich vor jeder Ansteckungsgefahr schützen mussten: »Tout le monde a craint le contagion«. Und so blieb denn Beer, der zeitlebens »tout le monde« zu seinen Freunden zählen durfte, in seinem Sterbezimmer verlassen und allein: »bien triste – bien solitaire – point de musique, point de femmes, point de larmes – rien que deux Rabbins récitaient leurs prières« [»sehr traurig – sehr einsam – keine Musik, keine Frauen, keine Tränen – nichts als zwei Rabbiner, die ihre Gebete sprachen«]. Wird mit den Frauen noch einmal an Beers Schwächen erinnert, deren Kenntnis Reeve zu Anfang seines Briefes bei Hiller voraussetzen durfte? Auch dies bleibt unklar angesichts der Tatsache, dass es zwei Männer waren, die an dessen Bett um die größtmögliche Nähe zu dem Sterbenden wetteiferten. Aber gerade dies lässt den deprimierenden Einblick in Michael Beers Sterbezimmer, den Reeve gibt, so symptomatisch erscheinen: Beer mag »tout le monde« zu seinen Freunden gezählt haben, er selbst blieb aber undurchschaubar und bei aller Bereitschaft, seine »bonté« der Welt zuteilwerden zu lassen, ihr insgesamt verschlossen. So gern und so oft er sich in seinen Briefen auch zur Freundschaft bekannte, so wenig neigte er doch dazu, von sich selbst etwas preiszugeben.

Sein Leben sei, so heißt es in der Todesanzeige, »allem Guten, Schönen und Edlen gewidmet« gewesen, und was dies konkret bedeutet, sagt Bellile zumindest in deren letzter Zeile, in der er dessen »zahlreiche Freunde« auffordert, den »Dichter und Biedermann« zum Grabe zu geleiten. Als Dichter und Biedermann hat die Welt Michael Beer gekannt, als einen Mann, der vor allem ein Dichter sein wollte, keinem bürgerlichen Beruf nachgehen musste und als das gelten durfte, was die Zeit mit dem Ehrentitel des Biedermanns verband: ein rechtschaffener, vertrauenswürdiger, tüchtiger und deshalb achtbarer Mann.[5]

Der Unterzeichnete erfüllt hiermit die schmerzliche Freundespflicht, anzuzeigen, daß Herr

Michael Beer

von Berlin

heute Nachmittag 5 Uhr an den Folgen eines Nervenfiebers ein Leben endete, welches allem Guten, Schönen und Edlen gewidmet war.

Die sterbliche Hülle desselben wird morgen Abend 7 ½ Uhr beigesetzt und Sonntag den 24ten dieses, Morgens 11 Uhr auf dem israelitischen Gottesacker beerdigt werden.

Die zahlreichen Freunde des Verblichenen werden durch Erweisen der letzten Ehren gewiß gerne beitragen, das Andenken des Dichters und Biedermannes zu feiern. –

 München, den 22ten März 1833.

        A. Bellile.[6]

Dem Bericht des Dichters und hohen Regierungsbeamten Eduard von Schenk zufolge, der nicht versäumt, sich selbst »den vertrautesten seiner Freunde« zu nennen,[7] sind die Freunde des Dichters diesem Aufruf tatsächlich gefolgt:

Die Trauer um seinen Tod war groß und allgemein, er war nicht in seiner Heimath, aber doch in einer ihm werthen, fast heimathlich gewordenen Stadt, in Mitte ihn liebender und ehrender Freunde gestorben. Darum war auch der Zug seiner Leiche bis zu dem eine halbe Stunde von der Stadt entlegenen israelitischen Friedhof so zahlreich, rührend und feierlich, als ob ihn aller kirchliche und amtliche Pomp umgeben hätte, und die Reihe von Fackeln, die seinen Leichenwagen umgaben, bestrahlten viele Thränen, die dem so früh vollendeten Loose des edeln Dichters flossen.[8]

Auch wenn man am sachlichen Gehalt dieses Berichtes nicht zweifeln möchte, so sind doch dessen konsolatorische Funktion und der die Umstände von Beers Tod harmonisierende Duktus offensichtlich. Schenk, der nach eigenem Zeugnis seinen Freund zwei Jahre vor dessen Tod zum letzten Mal gesehen hatte, will, dass seine Leser den einsam verstorbenen Biedermann geborgen inmitten seiner Freunde Abschied vom Leben nehmen sehen, und er möchte den frühen Tod des Dichters ideell überhöhen dadurch, dass er ihm den sentimentalen Ehrentitel des Frühvollendeten anheftet; beides geht an der Realität vorbei. Was Schenk hingegen keineswegs verschleiert, ist die Abwesenheit der Familie des mit seiner Mutter und seinen Brüdern so eng verbundenen Michael Beer bei dessen Tod:

Seine Brüder, Wilhelm und Heinrich, die auf die erste Kunde seiner Krankheit von Berlin nach München geeilt waren, fanden ihn nicht mehr am Leben, selbst seine sterblichen Reste kaum mehr über der Erde. Ihre Trauer, – die Trauer der Mutter um einen solchen Sohn ist einer Schilderung weder fähig noch bedürftig.[9]

Wilhelm und Heinrich Beer waren also gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung ihres Bruders am 24. März eingetroffen. Mit der Nennung von Wilhelm und Heinrich Beer markiert Schenk, unausgesprochen, aber für jeden zeitgenössischen Leser offensichtlich, zugleich eine markante Lücke unter den Trauernden am Grab Michael Beers: die unbegreifliche Abwesenheit des in ganz Europa berühmten ältesten Bruders Giacomo Meyerbeer, dessen Name hier nicht einmal fällt. Meyerbeer befand sich damals in Baden-Baden, hatte also einen kürzeren Weg nach München als seine Brüder und hätte deshalb Michael auch noch lebend antreffen können. Er wollte aber, als ihn die »Estafette« mit der Nachricht von Michaels tödlicher Erkrankung erreichte, nicht recht an den Ernst der Lage glauben, obwohl ihm Michael doch in seinem Brief vom 24. Februar 1833, dem letzten, den er an Giacomo schreiben konnte, schon Andeutungen zu seinem schlechten Gesundheitszustand gemacht hatte. Giacomo Meyerbeer aber befand sich in Verhandlungen mit dem Karlsruher Intendanten über eine Aufführung seiner neuen Erfolgsoper Robert le diable und wollte wohl auch seine kränkliche Frau und sein Kind nicht allein in Baden-Baden zurücklassen. Jedenfalls ist er erst an Michaels Todestag nach München aufgebrochen und hat mit schlechtestem Gewissen die Gründe für die Verzögerung seiner Abreise nicht nur in seinen Briefen, sondern auch in seinem Tagebuch zu verschleiern versucht:

Ewiger Vorwurf für mich, für den er so viel in seinem Leben tat! Unerklärliche Gedanken, die mich auf der Hinreise verfolgten, & die ich nicht verscheuchen konnte. Ich traf meine beiden Brüder dort, die ebenfalls von Berlin hingeeilt & ebenfalls zu spät gekommen waren.[10]

Unerklärliche Gedanken? Ebenfalls zu spät? Die Gewissensnot, in die Giacomo Meyerbeer sein egoistisches Zögern gestürzt hatte, konnte jedenfalls durch den in seiner Funktion leicht durchschaubaren exkulpatorischen Hinweis, auch seine Brüder seien zu spät gekommen, schon deshalb nicht beruhigt werden, weil die Brüder einen sehr viel weiteren Weg hatten und dennoch schon in München waren, als Giacomo dort eintraf. Unerklärlich dürften auch die Gedanken, die ihn auf seiner Reise verfolgten, nicht gewesen sein, denn es kann sich nur um eine Mischung aus Selbstvorwürfen, tiefem Schmerz über einen drohenden großen Verlust und quälenden Sorgen gehandelt haben, die der Tod des vertrautesten Helfers in den entscheidenden Jahren seiner Karriere bei ihm auslösen musste. Etwas davon hat er nach seiner Rückkehr in einem Brief aus Karlsruhe an Wilhelm Speyer durchschimmern lassen:

Mein jüngster Bruder Michael, ein edler Mensch im wahren Sinn des Wortes, der mit einem kräftigen, reichgebildeten Geiste, […] ein tiefes Gemüth, und das liebevollste Herz verband, erkrankte plötzlich vor zwölf Tagen in München an einem Nervenfieber, und obgleich ich auf die erste Nachricht davon hineilte [!], so war er doch schon bei meiner Ankunft der Wuth der Krankheit erlegen und ich fand ihn nicht mehr unter den Lebenden. Er war von Jugend auf der Vertraute meiner geheimsten Gedanken und Empfindungen und die Lücke, die sein Verlust in mein Leben reißt, ist für mich nicht zu ersetzen.[11]

Wer Michael Beer gewesen war, sagen auch diese Sätze nicht, die über die Begriffsschablonen der Todesanzeige bis in die Wortwahl hinein (»edel«!) kaum hinausgediehen sind; sie sagen vielmehr nur, welche Rolle er in Giacomos Leben als dessen unersetzlicher Vertrauter und Helfer gespielt hat: »für mich«. Deshalb können sie auch eher einer Charakteristik Giacomo Meyerbeers als derjenigen seines toten Bruders dienen. Wollte man sie in eine bittere Pointe bringen, müsste sie wohl lauten, dass man solche Menschen, die als verlässliche Helfer andere niemals warten lassen, auch auf deren Totenbett ohne weiteres auf sich warten lassen kann. Deshalb bestätigt Giacomo Meyerbeer in seinem Brief nur das Bild des Biedermanns; dass sein Bruder wie er selbst auch ein Künstler, ein Dichter freilich, gewesen ist, erwähnt er hingegen mit keinem Wort. Michael Beers Kammerdiener wusste sehr viel genauer, dass dieser an erster Stelle als Dichter im Gedächtnis der Nachwelt erhalten bleiben wollte, und verlieh seinem Respekt davor in der Todesanzeige Ausdruck. Sosehr sich Giacomo Meyerbeer auch zu seinem Schmerz über den toten Bruder bekannt hat, dessen Gestalt blieb doch im trauernden Rückblick des Komponisten unkenntlich.

Nachleben und Leben

Dass Giacomo Meyerbeer den Dichter Michael Beer in seiner Trauer um den Biedermann vergaß, antizipierte dessen weiteres Schicksal: Die Nachwelt hat den Dichter Michael Beer so gründlich vergessen, wie sie die überwältigende Mehrzahl der Dichter des 19. Jahrhunderts vergaß, von denen nur ein schmaler Kanon von acht bis zwölf Namen überleben konnte. Zwei Jahre nach Michael Beers Tod erschienen mit familiärer Unterstützung in dem renommierten Leipziger Verlag Brockhaus dessen Sämmtliche Werke in einem prächtigen Band von fast tausend Seiten Umfang und mit einem Frontispiz, das den Dichter im modischen Dolman und mit einem dekorativ um die Schultern drapierten Mantel zeigt. 1837 folgte im selben Verlag Beers Briefwechsel mit Karl Immermann, wie die Werke herausgegeben von Eduard von Schenk, und danach wurde es sehr rasch still um ihn auf dem Buchmarkt. Dass Der Paria und Struensee, seine erfolgreichsten Dramen, auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Reclam verfügbar waren, zeigt immerhin, dass die Stücke hier und da noch gespielt wurden. Dauerhaften Erfolg hat ihnen aber nicht einmal die späte Überraschung sichern können, dass Giacomo Meyerbeer, der erfolgreichste Opernkomponist des 19. Jahrhunderts, auf Wunsch seiner hochbetagten Mutter Amalie Beer und des preußischen Königs eine Bühnenmusik für die erste Berliner Aufführung von Struensee im Jahre 1846 schrieb, was auch den Cotta Verlag dazu motivierte, im Folgejahr das Stück noch einmal zu drucken. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts trat Michael Beer endgültig in das Schattenreich der Verschollenen und Vergessenen ein, und keiner literaturwissenschaftlichen Anstrengung wird es je gelingen, seinem Werk noch einmal die Aufmerksamkeit einer größeren Leserschaft zu sichern.

Und dennoch: Michael Beer ist in seinen Ambitionen, in seinen Erfolgen und in seinem Scheitern eine entschieden repräsentative Gestalt des literarischen Lebens in Deutschland am Ende der Goethezeit, an der sich dessen künstlerische Produktionsbedingungen modellhaft studieren lassen. Auf geradezu idealtypische Weise verkörpert er die Problematik von Autorschaft auf einem heftig umkämpften literarischen Markt, dessen Mechanismen er durchschaute und dessen Protagonisten er sorgfältig studierte, um ihn möglichst virtuos bespielen zu können. Zu diesem Zweck baute er mit sicherem Qualitätsurteil gezielt ein europäisches Netzwerk von Freunden und Förderern im weiten Spannungsfeld von Goethe bis Victor Hugo, von Heine bis Grillparzer um sich auf, das ein tragendes Element seiner Werkstrategie bildete. All dies hat ihn zu einem besonders scharfen Beobachter der literarischen Entwicklungen seiner Zeit, aber auch der politischen Ereignisse und Machtverhältnisse zumal in Frankreich, in Preußen und in Bayern werden lassen.

Auf der anderen Seite blieb Michael Beer immer ein Sonderfall im Literaturbetrieb seiner Zeit, weil er sich den Gesetzen eines literarischen Marktes unterwarf, von dem er als Sohn einer der reichsten Familien Deutschlands ökonomisch unabhängig war, und nicht wenige Autoren in seinem weiten Bekanntenkreis, auf denen der existentielle Ernst ihrer ökonomischen Lage beständig lastete, rächten sich für diese Disproportion dadurch, dass sie ihn als Autor ernst zu nehmen sich weigerten. Zudem stand er, der Jude, der ein deutscher Autor war, immer unter dem quälenden Druck des Antisemitismus, auf den er wie sein Bruder Giacomo mit größter Sensibilität und Bewusstheit reagierte. Beides, sein Reichtum und sein Judentum, hat ihn, der nichts so sehr begehrte wie literarische Anerkennung, zu einem Außenseiter im Literaturbetrieb seiner Zeit werden lassen, und Michael Beers »faiblesses« wie seine »bonté«, von denen Reeve in seinem Brief sprach, müssen als Charaktermerkmale auch vor diesem Hintergrund verstanden werden. Den Vorbehalten, die ihm aufgrund seines Vermögens und seines Judentums entgegengebracht wurden, versuchte er durch die Ausweitung seiner lebensgeschichtlichen Horizonte auszuweichen, und deshalb wollte er als Deutscher ein Kosmopolit sein und als Kosmopolit ein Deutscher; es gibt keinen deutschen Autor dieser Jahre, der sich in den wenigen Jahren seines Lebens derart rastlos und frei durch Europa bewegt hätte wie er.

Dies wiederum hat auch damit zu tun, dass er mit seinen Aktivitäten nicht innerhalb der Grenzen des literarischen Systems blieb, sondern sich zu einem einzigartigen Grenzgänger zwischen dem avancierten internationalen Musikmarkt, den sein Bruder Giacomo virtuos bespielte, und der vergleichsweise beschaulichen Theaterkultur der deutschen Residenzstädte in der Restaurationszeit entwickelte und daraus weitreichende theoretische Konsequenzen zog. Und nicht zuletzt gründet die Faszination Michael Beers darin, dass seine »bonté« seine »faiblesses« offenbar so sehr in den Schatten stellte, dass selbst diejenigen, die – wie Ludwig Börne – sich vorgenommen hatten, ihn öffentlich zu attackieren, an ihr scheiterten. Dies alles ändert nichts daran, dass Michael Beer, auch wenn man ihn als von mannigfachen Widersprüchen geprägte Gestalt seiner Epoche zu begreifen versucht, nie sein menschliches Geheimnis verliert.

Michael Beer wurde am 19. August 1800 in Berlin als jüngster Sohn des Ehepaars Amalie und Jacob Herz Beer geboren. Sein Vater hatte als Zuckerfabrikant ein großes Vermögen erworben; seine Mutter Amalie war die älteste Tochter des Bankiers Liepmann Meyer Wulff und entstammte damit einem äußerst vermögenden Elternhaus.[12] Ihre vier Söhne Jacob Liepmann Meyer Beer, der sich seit seinen Opernerfolgen in Italien Giacomo Meyerbeer nannte, Heinrich, Wilhelm und Michael wuchsen in großem Wohlstand auf und erhielten eine vorzügliche Bildung, in der Wissenschaft und Kunst in gleicher Weise zum Zuge kamen. Das theaterbegeisterte Ehepaar Beer unterhielt in seinem Hause einen glanzvollen Salon, der zu den kultiviertesten Orten der preußischen Hauptstadt zählte; hier lernten die Kinder des Hauses Beer schon in jungen Jahren führende Schauspieler und Musiker ihrer Zeit kennen und kamen zugleich mit den tonangebenden gesellschaftlichen Kreisen – bis zum Kronprinzen, der ebenfalls zu den Gästen des Hauses gehörte – in Berührung. So konnten sich Giacomo Meyerbeer und Michael Beer, die beide mit entschiedener Förderung durch ihre Eltern künstlerische Laufbahnen anstrebten, geradezu spielerisch in die musikalische, literarische und gesellschaftliche Kultur ihrer Zeit einüben und dabei auf die Unterstützung durch die besten Musiker und Schauspieler der Stadt vertrauen. Hinzu kamen bedeutende Erzieher, die für die wissenschaftliche Ausbildung der Kinder sorgten. Für Michael besonders wichtig waren Eduard Israel Kley, der, Schüler Schleiermachers und Fichtes, einen Katechismus der mosaischen Religionslehre (1814) verfasste und nach dem Wunsch der Eltern Michaels religiöse Überzeugungen im Sinne der die Glaubenspraxis modernisierenden jüdischen Reformpartei in Preußen geprägt hat, und der bedeutende Philologe Karl Zumpt, der, nur acht Jahre älter als Michael, sein Lehrer am Werderschen Gymnasium war und Michael auch in späteren Jahren, als er zum Professor an der Berliner Universität aufgestiegen war, verbunden blieb.[13]

So wuchs Michael Beer, von Kindesbeinen an »von den Freunden und Bekannten des Beerschen Hauses verwöhnt und übermäßig bewundert«,[14] ganz selbstverständlich in die literarische Kultur seiner Zeit hinein, wobei das seit Humboldts Reform von Schule und Universität in Preußen nachdrücklich geförderte humanistische Bildungsideal, die Schiller-Verehrung der Mutter und der in den jüdischen Salons Berlins gepflegte Goethe-Kult von Anbeginn dafür sorgten, dass er sich in nachdrücklicher Distanz zu den romantischen Strömungen mit ihrem Patriotismus und ihrer Idealisierung des christlichen Mittelalters – Nährboden auch des seit den Befreiungskriegen wiedererstarkenden Antisemitismus – hielt. Fix- und Angelpunkt der literarischen Geschmacksbildung war für Michael Beer bis an sein Lebensende Weimar, die Stadt Schillers und Goethes, und auch wenn er die kultische Verehrung Goethes, die vielfach in Berlin betrieben wurde, nicht vollständig geteilt hat (und als Autor auch nur um den Preis der Selbstparalyse hätte teilen können), so erscheint es in literaturgeschichtlicher Perspektive nahezu symptomatisch, dass schon bald nach Goethes Tod auch er selbst starb.

Es haben sich nur wenige Briefe und Dokumente aus Michael Beers Jugendjahren erhalten. Er war schon früh der besondere Liebling seiner Mutter, die mit ihrem Salon für ihre Familie auch einen »Wechsel von der Wirtschafts- zur Bildungselite« anstrebte,[15] was ihren jüngsten Sohn dafür disponierte, dass sie ihren kulturellen Ehrgeiz mit Nachdruck auf ihn übertrug. Seit Giacomo, dessen herausragende musikalische Begabung schon früh erkannt und in jeder Hinsicht gefördert worden war, im Frühjahr 1810 Berlin verlassen hatte, um bei Abbé Vogler in Darmstadt seine kompositorische und musiktheoretische Ausbildung fortzusetzen, war Michael das umsorgte Objekt der mütterlichen Ambitionen, und dies umso mehr, als sich bei den beiden anderen im Hause verbliebenen Brüdern keine künstlerischen Interessen abzeichneten. Im Salon Amalie Beers konnte er bis zu dessen Tod Rezitationen des gefeierten Dramatikers, Schauspielers und Schauspielhaus-Intendanten August Wilhelm Iffland (1759 – 1814) erleben, hier gewann er die Zuneigung der im Folgejahr verstorbenen gefeierten Schauspielerin und Sängerin Friederike Unzelmann-Bethmann[16] und danach diejenige des berühmten Schauspielerehepaars Amalie und Pius Alexander Wolff, das bis 1816 in Weimar engagiert gewesen war und sich dort der besonderen Förderung durch Goethe erfreut hatte, und der Schauspielerin Auguste Crelinger, mit der er bis zu seinem Tod in engem Kontakt blieb. Während ihm diese Verbindungen schon früh eine genaue Kenntnis der Theaterpraxis verschafften, sorgte der schulische Bildungshumanismus für die nötigen dramengeschichtlichen und dramaturgischen Kenntnisse. Beides zusammen erklärt die erstaunliche künstlerische Metiersicherheit, mit der es dem erst 19-jährigen gelang, sein Erstlingsdrama Klytemnestra gleich auf der führenden Bühne der Hauptstadt zur Aufführung zu bringen.

So bildete sich innerhalb der Familie Beer schon früh ein von künstlerischen Interessen und Ambitionen zusammengehaltenes Kerndreieck heraus, das die Mutter mit dem ältesten und dem jüngsten Sohn verband und dessen affektiv-artistische Produktivität über zwei Jahrzehnte hinweg überhaupt erst die tiefe Verstörung Giacomos und den Zusammenbruch der Mutter nach Michaels Tod erklärt. Ohne den beeindruckenden familiären Zusammenhalt der Beers ist die Gestalt Michael Beers nicht zu denken; ihm verdankte er seinen nie gefährdeten lebensgeschichtlichen Rückhalt, wie er auf der anderen Seite aber auch als erhebliche Last auf ihm lag. So viel und so weit er auch durch Europa reiste, so wenig hat er sich doch von seiner Familie zu lösen vermocht, zumal er kaum Anstalten dazu gemacht zu haben scheint, eine eigene Familie zu gründen. Die einzige Frau, die sein Leben geprägt hat, war und blieb seine Mutter. Wann immer Amalie Beer bei ihren Reisen nach Italien, Frankreich und zu den fashionablen Bädern Europas eines Gefährten bedurfte, stand ihr Michael Beer unbegrenzt zur Verfügung. Und wann immer Giacomo Meyerbeer in Italien und Frankreich einen Assistenten, Organisator und Sekretär brauchte, stand ihm sein Bruder Michael hilfreich zur Seite – und dies schon deshalb, um durch seine Briefe und Berichte von den Orten der Meyerbeer’schen Erfolge und, seltener freilich, Misserfolge die Familie in Berlin auf dem Laufenden zu halten und so die familiäre Kohärenz zu sichern, denn Giacomo Meyerbeer selbst war nicht selten ein säumiger Briefschreiber.

Der Tod des Vaters im Jahre 1825, der Michael Beer durch ein bedeutendes Erbe dauerhafte finanzielle Unabhängigkeit sicherte, minderte den Grad seiner engen familiären Einbindung nur in Maßen. Zwar lebte er fortan in großer Distanz zu Berlin, vor allem in Paris und schließlich in München, aber wann immer Mutter und Bruder ihn brauchten, stand er hilfreich zur Verfügung, zuletzt bei den langen und aufwändigen Vorbereitungen zur Pariser Uraufführung von Giacomo Meyerbeers Erfolgsoper Robert le diable am 21. November 1831. Vor diesem Hintergrund mutet der Umzug nach München im Herbst 1832 an wie die Suche nach einem lebensgeschichtlichen Freiraum fern von Mutter und Bruder, an dem er seine eigenen Werkpläne zu entfalten vermocht hätte. Aber da war es wohl schon zu spät; statt seine Energien auf sein Werk zu konzentrieren, hatte er sie nicht zuletzt im Dienst seiner Familie verzettelt. Während Giacomo Meyerbeer nach dem Triumph von Robert le diable unaufhaltsam zum Zentralgestirn des europäischen Opernbetriebs aufstieg, erlosch der kleine Stern seines Bruders, des Dramatikers, und der Versuch der Familie und des Freundes Schenk, zwei Jahre nach Michael Beers Tod seinem Schaffen durch die repräsentative Ausgabe der Sämmtlichen Werke zu dauerhafter Sichtbarkeit zu verhelfen, blieb am Ende ununterscheidbar von der Setzung eines Grabmals für all seine Träume von literarischem Ruhm. Amalie Beers Hoffnung, die Mutter nicht allein eines großen Musikers, sondern auch eines herausragenden Dichters zu sein, erfüllte sich nicht. Sie überlebte das Zerbrechen des innerfamiliären Dreiecks um nicht weniger als 21 Jahre.

Michael in Italien

Die Quellen zu Michael Beers frühen Jahren fließen spärlich. Er dürfte die weitgehend unbeschwerte Jugend eines hochbegabten Nesthäkchens aus wohlhabendem Hause verbracht haben. Die Schule wird ihm schwerlich Probleme bereitet haben; in den erhaltenen biographischen Zeugnissen findet sie kaum Erwähnung. Nur sehr wenig lässt sich auch über Beers vermutlich 1818 aufgenommenes Studium an der Berliner Universität in Erfahrung bringen. Als sicher darf gelten, dass er Vorlesungen bei dem großen Philologen Friedrich August Wolf, der ohnehin im Beer’schen Salon verkehrte, und bei Hegel gehört hat; vermutlich war er auch Hörer des Historikers Raumer. Dass er damit ein Berufsziel verknüpft hat, ist wenig wahrscheinlich; es dürfte sich um das Studium eines Gentleman-Gelehrten gehandelt haben, der seine Bildung auf eine solide wissenschaftliche Grundlage stellen wollte, um gegebenenfalls später dem Staat in einem angesehenen Amt von Nutzen sein zu können.[17] Als er in Bonn sein Studium fortsetzte, hat er sich gar nicht erst ins Matrikelbuch eingetragen[18] und wohl eher den direkten Kontakt zu den dortigen Gelehrten gesucht: zu August Wilhelm von Schlegel, zu dem Botaniker Nees von Esenbeck, zu dem Archäologen Eduard d’Alton; die Verbindung zu ihnen hielt er auch nach seiner Studienzeit brieflich und bei späteren Besuchen in Bonn aufrecht. So lässt sich denn auch kaum mehr sagen, als dass Beers wissenschaftliche Interessen, soweit sie sich überhaupt aus den raren einschlägigen Zeugnissen erschließen lassen, durch die zeittypische Verbindung von klassischem Bildungshumanismus und aufblühendem Historismus charakterisiert waren. Sie sicherten eine solide Grundlage für die stofflich-thematische Welt seiner Dramen. Sie erklären zugleich, weshalb zunächst Italien Beers bevorzugtes Reiseziel bildete.

Seinen familiären Grund hatte dies freilich vor allem darin, dass Beers Bruder Giacomo zu Beginn des Jahres 1816 nach Italien gegangen und dort bis 1824 mit sechs Opern sehr rasch zum neben Gioacchino Rossini gefeiertsten Opernkomponisten Italiens aufgestiegen war. Michael Beers enge Bindung an Giacomo geht schon aus dem frühesten erhaltenen Lebenszeugnis hervor, einem Brief Amalie Beers an Giacomo vom 3. April 1810 nach Darmstadt, wo dieser soeben sein Kompositionsstudium bei Georg Joseph Vogler aufgenommen hatte; dieser Brief berichtet vor allem von dem bis zu Fieberzuständen sich steigernden Abschiedsschmerz Michaels.[19] Zu einer Wiederbegegnung der Brüder kam es erst nach über fünfjähriger Trennung im Herbst 1816, als Michael in Begleitung seiner Mutter nach Italien reiste;[20] von da an war er der wichtigste familiäre Weggefährte seines berühmten Bruders und entwickelte sich rasch zu einem vorzüglichen Kenner der italienischen Opernszene, der Komponisten und Direktoren, der Sänger und insbesondere Sängerinnen. Dass er sich dazu entschloss, nach der Rückreise Amalies Anfang des Jahres 1817 bei seinem Bruder zu bleiben und weitere Reisen in Italien zu unternehmen, wird man wohl auch als einen Versuch der Befreiung des noch nicht 17-jährigen von der übermächtigen Mutter bewerten dürfen; jedenfalls schrieb er (allerdings noch vor deren Rückreise) am Neujahrstag in einem Brief aus Tivoli, er sei »jetzt unendlich glücklich«, und die vergangenen sechs Wochen in Rom seien die »glücklichste« Zeit seines Lebens gewesen, ja der Beginn eines »neuen Lebens«.[21] Tatsächlich blieb er bis Anfang des Jahres 1818 in Italien bei seinem Bruder und reiste erst dann zurück nach Berlin.

Bis zum Herbst 1825, als Giacomo von Italien nach Paris als dem ersehnten Ziel seiner Karriere wechselte, blieb Italien Michael Beers bevorzugtes Reiseziel. Unter den deutschen Dichtern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählt er zu denjenigen, die sich am häufigsten und längsten in Italien aufgehalten haben. Umso bemerkenswerter ist allerdings, wie gering die Spuren sind, die Italien in seinen Briefen und Dichtungen hinterlassen hat. Neben einer Handvoll von Gedichten mit italienischer Thematik ist hier vor allem ein Zyklus maßvoll erotischer Elegien unter dem Titel Genua zu erwähnen, die sich mühelos auch in Berlin, München oder Rom hätten schreiben lassen und die den Namen der von den deutschen Reisenden eher vernachlässigten Stadt Genua wohl nicht zuletzt deshalb als einen Originalität signalisierenden Titel tragen, weil es Römische Elegien schon gab. In Beers Briefen aus Italien taucht Italien als Thema jenseits des Opernbetriebs, soweit er Giacomos Aktivitäten betraf, hingegen so gut wie gar nicht auf; Landschaftserfahrungen, Volksleben, prägende Kunsteindrücke finden keine Erwähnung, so dass sich kaum angeben lässt, was den jungen Dichter an dem Land fasziniert hat.

Ich gebe zwei signifikante Beispiele für diese Unkenntlichkeit Italiens als Bildungslandschaft in Beers italienischen Briefen: Am 14. März 1821 schrieb er aus Venedig an den Dresdner Archäologen Carl August Böttiger einen Brief, in dem er vor allem über seine literarischen Pläne, aber auch über seine in Aussicht genommene Weiterreise berichtet, die ihn über Florenz nach Rom führen sollte. Über Absicht und Ziel seiner Reise aber sagt er nicht mehr, als dass ihn das »Wiedersehen Italiens« »innerlich unbeschreiblich erheitert«, weil in diesem Land »die Natur das überreiche Füllhorn ausschüttet«: »Wer hier die Lippen nicht öffnet, wenn sie ein Gott ihm nicht verschlossen, der hat kein Herz und er fühlt das Licht nicht, der Blinde, den es berührt ohne ihn zu durchdringen.«[22] Aber Michael Beer öffnete die Lippen im Angesicht Italiens eben auch nicht, obgleich er hätte ahnen können, welche Enttäuschung, ja Kränkung dies für den Archäologen Böttiger bedeuten musste, dem er für die lobende Besprechung seines Erstlingsdramas Klytemnestra zu großem Dank verpflichtet war und der sich im Unterschied zu dem jungen Mann nie eine Italienreise (und schon gar nicht eine zweite oder dritte) hätte leisten können. Da Beer sich am Schluss seines Briefes doch noch daran erinnerte, dass ihn Böttiger um Nachrichten über »die neuen Erscheinungen im Gebiete der bildenden Künste« gebeten hatte, füllte er dessen letzte Seite immerhin mit der Beschreibung eines eben in der Carità ausgestellten akademischen Historiengemäldes, ohne auch nur den Namen des Malers zu nennen. Mit einem Wort: Der Bruder des beruflich fest in Italien eingebundenen gefeierten Komponisten bewegte sich so selbstverständlich durch das Sehnsuchtsland der Deutschen, dass er nichts darüber zu sagen wusste. Irritierende Fremdheitserfahrungen, beglückende Bildungserlebnisse kommen in seinen Briefen nicht vor; es sind Mitteilungen eines jungen Mannes, der es gewohnt war, sich ohne materielle Sorgen und ohne berufliche Zwänge durch die Welt zu bewegen.

Das bestätigt ein besonders schöner Brief, den Michael Beer von seiner zweiten Italienreise am 16. August 1821 aus Neapel an seine Mutter gerichtet hat. Amalie Beer war von Venedig aus nach Berlin zurückgereist, während ihr Sohn sich von dort in den Süden Italiens begeben hatte. Statt in dem Brief auch nur ein Wort über seine Reise zu sagen, entwirft Michael Beer ein hinreißendes Panorama der Familie Beer und ihrer Freunde, in dem er sich mit liebevollem Spott ausmalt, wie Amalie, aus Italien zurückgekehrt, im Berliner Kreise ihrer Lieben begrüßt wird. Es ist dies einer der seltsamsten Briefe, die jemals aus Neapel nach Deutschland gerichtet worden sein dürften: Die Stadt kommt in ihm nicht vor, über das Tun und Treiben des Reisenden in ihr wird nichts gesagt, nicht einmal seine Wohnung wird erwähnt. Und weil er weiß, dass dies für die Empfängerin nicht befriedigend sein kann, schützt er sich mit launigen Schlusswendungen vor deren Protest: »Mein Brief ist wieder possenhaft, aber Neapel läßt mich nur bey meinen Dichtungen tragisch seyn. Meine Stimmung ist heiter wie mein Leben.«[23]

Die Unsichtbarkeit Italiens in Michael Beers italienischen Briefen lässt sich, nur wenige Jahre nach Erscheinen der ersten beiden Teile von Goethes Italienischer Reise, mit einiger Vorsicht als Symptom eines historischen Wandels in der Italienwahrnehmung verstehen: Italien ist – jenseits des turbulenten Operngeschäfts – für Beer der Dynamik der Moderne entzogen, und deshalb gibt es für den vermögenden Touristen, der keine spezifischen Bildungsansprüche an das Land stellt, nach der emphatischen klassischen und romantischen Italienerfahrung auch nichts Neues und Interessantes mehr über Italien zu sagen. Der Ort der dynamischen Moderne und damit des Neuen und Interessanten war für ihn hingegen Paris, wo Giacomo Meyerbeer seit 1831 seine größten Triumphe feierte; so wenig Michael Beer über Italien zu sagen weiß, so viel hat er später in seinen Pariser Briefen aus der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts zu berichten. Dieser Wechsel von Italien, dem klassischen Sehnsuchtsland der Deutschen, nach Paris, der modernen Metropole, signalisiert ein wachsendes Modernitätsbewusstsein im Leben des jungen Autors, was freilich nicht ohne irritierende Konsequenzen für seine auf die Tradition der deutschen Klassik gesockelte Autorschaft bleiben konnte.