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Die Feier des 100. Geburtstages von Schiller wird für Raabe Anlass zur Abrechnung mit dem norddeutschen Philister-Sumpf. Dabei entführt der Autor den Leser in ein Reich der Phantasie. Darin treten zum Beispiel Goethe und Schiller auf. Beide Dichter betrachten aus ihrem Olymp das Treiben im Sumpf ...
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Seitenzahl: 289
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Der Dräumling
Wilhelm Raabe
Inhalt:
Der Dräumling
Vorwort zur zweiten Auflage.
Das erste Kapitel.
Das zweite Kapitel.
Das dritte Kapitel.
Das vierte Kapitel.
Das fünfte Kapitel.
Das sechste Kapitel.
Das siebente Kapitel.
Das achte Kapitel.
Das neunte Kapitel.
Das zehnte Kapitel.
Das elfte Kapitel.
Das zwölfte Kapitel.
Das dreizehnte Kapitel
Das vierzehnte Kapitel.
Das fünfzehnte Kapitel.
Das sechzehnte Kapitel.
Das siebenzehnte Kapitel.
Das achtzehnte Kapitel.
Das neunzehnte Kapitel.
Das zwanzigste Kapitel
Das einundzwanzigste Kapitel
Das zweiundzwanzigste Kapitel
Das dreiundzwanzigste Kapitel.
Das vierundzwanzigste Kapitel
Das fünfundzwanzigste Kapitel.
Das sechsundzwanzigste Kapitel.
Das siebenundzwanzigste Kapitel.
Das achtundzwanzigste Kapitel.
Das neunundzwanzigste Kapitel.
Das dreißigste Kapitel.
Der Dräumling, W. Raabe
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Germany
ISBN:9783849633493
www.jazzybee-verlag.de
Namhafter Romanschriftsteller, der zuerst unter dem Namen Jakob Corvinus auftrat, geb. 8. Sept. 1831 zu Eschershausen im Herzogtum Braunschweig, studierte in Berlin seit 1855 Philosophie und widmete sich unmittelbar nach seinen Studienjahren der Literatur, in die er mit dem lebendigen, jugendfrischen Idyll »Die Chronik der Sperlingsgasse« (Berl. 1857; 41. Aufl. 1905, auch illustriert) und den Erzählungen und Phantasiestücken »Halb Mähr, halb Mehr« (das. 1859) eintrat. Es folgten dann großenteils in mehreren Auflagen: »Ein Frühling« (Braunschw. 1858); »Die Kinder von Finkenrode« (Berl. 1859); »Nach dem großen Kriege«, Geschichte in zwölf Briefen (das. 1861); »Der heilige Born. Blätter aus dem Bilderbuche des 16. Jahrhunderts« (Prag 1861); »Unsers Herrgotts Kanzlei«, historischer Roman (Braunschw. 1862, 2 Bde.); »Verworrenes Leben«, Skizzen und Novellen (Glog. 1862); »Die Leute aus dem Walde« (Braunschw. 1863, 3 Bde.); »Drei Federn« (Berl. 1865); »Der Hungerpastor«, Roman (das. 1864, 3 Bde.; 25. Aufl., das. 1906); »Ferne Stimmen«, Erzählungen (das. 1865); »Abu Telfan, oder die Heimkehr vom Mondgebirge« (Stuttg. 1867, 3 Bde.); »Der Regenbogen«, sieben Erzählungen (Stuttg. 1869, 2 Bde.); »Der Schüdderump«, Roman (Braunschw. 1870, 3 Bde.); »Der Dräumling« (Berl. 1872); »Deutscher Mondschein«, vier Erzählungen (Stuttg. 1873); »Christoph Pechlin, eine internationale Liebesgeschichte« (Leipz. 1873, 2 Bde.); »Meister Autor, oder die Geschichten vom versunkenen Garten« (das. 1874); »Horacker« (Berl. 1876, 11. Aufl. 1906); »Krähenfelder Geschichten« (Braunschw. 1879, 3 Bde.); »Wunnigel« (das. 1879); »Deutscher Adel« (das. 1880); »Alte Nester« (das. 1880); »Das Horn von Wanza« (das. 1881); »Fabian und Sebastian« (das. 1882), »Prinzessin Fisch« (das. 1883); »Villa Schönow« (das. 1884); »Pfisters Mühle« (Leipz. 1884); »Zum wilden Mann« (das. 1885); »Unruhige Gäste« (Berl. 1886); »Im alten Eisen« (das. 1887); »Das Odfeld« (Leipz. 1888); »Der Lar, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte« (Braunschw. 1889); »Stopfkuchen, eine See- und Mordgeschichte« (Berl. 1891); »Gutmanns Reisen« (das. 1892); »Kloster Lugau« (das. 1894); »Die Akten des Vogelsangs« (das. 1896); »Gesammelte Erzählungen« (das. 1896–1900, 4 Bde.); »Hastenbeck« (das. 1899). In seinen größern wie seinen kleinern Erzählungen verbindet R. frischen und echten Humor mit einer elegischen und bittern Darstellung des Lebens, einen energischen Realismus mit einer gewissen phantastischen, traumhaften Erfindung. Am stärksten treten seine Eigentümlichkeiten wohl in den Romanen: »Der Hungerpastor«, »Abu Telfan« und »Der Schüdderump« hervor; wahrhafte Genialität des Humors offenbart auch die kleine Meistererzählung »Horacker«. In den spätern Dichtungen (»Pfisters Mühle«, »Stopfkuchen« u. a.) liebte er eine barocke Einkleidung, Einschachtelung der Erzählung, die ihren tiefen und gediegenen dichterischen Gehalt mehrverhüllte als heraushob. R. siedelte 1862 von Wolfenbüttel nach Stuttgart über und nahm 1870 seinen dauernden Wohnsitz in Braunschweig; 1901, zu seinem 70. Geburtstag, der ihm viele Auszeichnungen brachte, wurde er von der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen zum Ehrendoktor ernannt. Vgl. Gerber, Wilhelm R. (Leipz. 1897); Schriften von W. Jensen (Berl. 1901), W. Brandes (2. Aufl., Wolfenb. 1906), Eug. Wolff (Berl. 1902), Hans Hoffmann (das. 1906).
Der Dräumling ist in der Zeit vom 1. April 1870 bis zum 12. Mai 1871 verfaßt worden; und daß das deutsche Volk damals kein Ohr für jemand hatte, der ihm statt von Wörth, Metz, Sedan, Paris und dem Frankfurter Frieden: von der achtzehnhundertneunundfünfziger Schillerfeier in Paddenau erzählen wollte, durfte freilich das närrische Menschenkind – der Autor nämlich – nur sich selber zuschreiben.
Nun sind aber dreiunddreißig Jahre hingegangen, seit der Rektor Fischarth sich mit allem, was in ihm und an ihm war, seinen Mtbürgern im Sumpfe für das hohe Fest des germanischen Idealismus zur Verfügung stellte, und zwanzig Jahre, seit sein Histioriograph die Erlebnisse dieses andern närrischen Menschenkindes zu Papier brachte und drucken ließ: sollten sich jetzt vielleicht einige nachdenkliche Gönner mehr als damals, sowohl für den Rektor wie für das Buch, zusammenfinden?
Der unterzeichnete, in diesem Falle nicht sehr reuige arme Sünder wagt es zu hoffen; – hat er jetzt doch auch für Gutmanns Reisen verständnisvolle freundliche Leser gefunden; und beide Bücher, der Dräumling und die Reisen, gehören zueinander, wie die Jahreszahlen 1859 und 1860. – Die Familien Gutmann und Blume würden sicherlich nicht in Koburg sich so rasch zur gemeinschaftlichen Aufrichtung des neuen deutschen Reichs die Herzen und die Hände geboten haben, wenn nicht vorher der Rektor Fischarth, der Sumpfmaler Haeseler und Fräulein Wulfhilde in Paddenau im Dräumling die Schillerfeier, trotz allem zustande gebracht hätten! –
Braunschweig, im Dezember 1892.
Raabe.
Es war ein ziemlich bedeutender Morast, an dessen Rande der Storch stand, auf welchen wir, da es einmal nicht anders sein kann, die Aufmerksamkeit des Publikums hinwenden möchten.
Die Sonne war vor ungefähr einer Stunde untergegangen; eine warme Dämmerung lag auf der weiten hügeligen Ebene; gelbes und rotes Gewölk auf grauem Grunde spiegelte sich im stehenden Gewässer, und die feine Sichel des Mondes stand fast ebenso zartscharf unten im glatten Teiche, wie oben am dunkelnden Himmelsgewölbe. Schilf, Binse und Weidenstrauch regten sich so wenig wie der ernsthafte nachdenkliche Vogel, welcher der träumerischen Landschaft vor kurzem sein Nachtessen in Gestalt dreier wohlbeleibter Frösche entnommen hatte und nunmehr ruhig verdauete, ebenfalls mit seinem Bilde zu seinen Füßen in den stillen Fluten.
O, wie wir vor einer Viertelstunde noch dieses lang- und rotbeinige, dünnschnäblige Exemplar von Ciconia alba haßten! Wir hatten es streng im Verdachte, um fünf Uhr nachmittags unsere Helden »gebracht« zu haben, und was dem Leser und unter Umständen auch der Leserin ein Vergnügen oder höchstens ein kurzer Überdruß gewesen wäre, das hätte dem Autor sicherlich das Gegenteil vom erstern und eine hundertfach verdoppelte Dosis des letztem bedeutet.
Wir hatten uns wieder einmal geirrt! Das Tier war von einem viel allgemeinern Gesichtspunkte aus zu betrachten, und wir ersuchen auch die verehrliche Leserin, es von einem solchen aus anzusehen. – Der Sumpf hieß der Dräumling und war seit uralten Zeiten berühmt wegen seiner fetten Frösche und seiner derben Jungen und Mädchen; und wir – wir können und wollen es nicht hindern, daß alles auf dieser Erde seine gewiesenen Wege gehe, und daß immerfort ein wimmelnder Überfluß des Lebens aus der Tiefe in die Höhe geholt wurde.
Der Sumpf oder Morast war von Wäldern, Heiden und kärglichen Ackerfeldern umgeben, und in die Wälder zog er sich in vielen Armen und Abzweigungen hinein; hier stundenbreit sich ausdehnend, dort sich in fast natürliche Gräben und Kanäle zusammenziehend. Eine ärmliche Bevölkerung nährte sich durch harte Arbeit um ihn und in ihm: Waldleute, Landleute, Fischer, Schäfer, und vor allem Bienenzüchter, Torfstecher und Torffuhrleute. – Ein Flüßchen durchschlich – durchschlich wie schlaftrunken die wunderliche Landschaft, und wo dasselbe in Verbindung mit dem Sumpfe und mit Hilfe einer von Hügeln umgebenen Niederung einen See gebildet hatte, lag auf einer Art Halbinsel ein Städtchen von etwa siebentausend Seelen, Paddenau genannt, von Wenden um ein heidnisch greuliches Götzenbild aufgerichtet, von Niedersachsen zur Zeit Heinrichs des Schwarzen und der Frau Wulfhild, der reichen Tochter Herzogs Magnus, der Erbin des Billungschen Allods niedergebrannt und um ein christlich Heiligtum zu Ehren des heiligen Ursus (was für ein Heiliger das war, weiß ich nicht!) von neuem wieder aufgebaut.
Das ist entsetzlich lange her! Es ist aus jener Zeit nichts übrig geblieben als das Grundgemäuer der Ursuskirche, die im laufe der Jahrhunderte selbstverständlich einiger Reparaturen bedurft hatte, – und eine Sage von einer Sumpffee des Namens Wulfhilde, welche in Mondscheinnächten durch Bruch und Moor und über das stille Gewässer des Teiches einherzieht, mit dem Falken auf dem zierlichen gespenstischen Fausthandschuh und mit einem großen Gefolge von lustigen Fräulein und durchsichtigen Rittern. Paddenau ist jetzt ein ganz gewöhnliches Landstädtchen, das sich weder um den Herzog Magnus, noch den schwarzen Heinrich und das Erbe der Billunger im geringsten kümmert, und welchem die Frau Oberamtsrichter und ihre Töchter viel bedeutendere Erscheinungen sind, als die Damen der Frau Herzogin Wulfhilde von Sachsen und die Frau Herzogin selber. –
»Kurr, krr, krack, klapp, papp, papp!« sagte unser langbeiniger, rotschnäbeliger Freund, sich wie widerwillig dem tiefsinnigen Spiel seiner Gedanken entreißend und seine Flügel dehnend. Aber wie im klaren über den ruhigen Fortgang seines Verdauungsprozesses erhob er sich in die Luft und nahm seinen Flug Paddenau zu, und wir folgen ihm, wenn auch nicht durch die Lüfte, so doch durch Ried, Wald und Heide zu den Lichtern des Städtchens, die nun bereits in der Dämmerung zu flimmern beginnen und sich in dem See um den dunkeln Häuserhaufen spiegeln, mit demselben Rechte wie die immer klarer hervortretende Mondsichel.
Da heben sich Pfähle aus dem Wasser, Füllplätze an Garten, und Hausmauern, schwarze Gebäude mit spitzen Giebeln und rauchenden Schornsteinen. Einige Kähne liegen am Ufer, und ein Plätschern, Kreischen und Lachen erschallt von Kindern, die nacktbeinig in der seichten, warmen Flut waten. Die Erwachsenen und die Alten sitzen nach vollbrachtem Tagewerk vor den Häusern oder in den Gärten. Von Zeit zu Zeit trifft ein Geruch von gebratenem Speck, von Eierkuchen und dazwischen auch wohl ein absonderlicher süßer Duft von selbstgebautem Tabak die Nase; – alles in allem genommen riechen wir Paddenau viel früher, als wir es sehen; doch das ist einerlei: wir halten uns für heute an den Lampenschein, der aus den Fenstern des Hauses fällt, auf dessen Giebel Bartold der Adebar sich soeben niederläßt, um klappernd sich im Neste seiner Ahnen zur Ruhe zu begeben.
Auch dieses Haus grenzt mit seinem Gärtchen an den Padenauer See, und der Schimmer von zwei Lichtern, die im ersten Stockwerk brennen, zieht uns bedeutend an. Das erste flimmert hinter, den Fenstern des Rektors Gustav Fischarth und das andere in der Wohnstube der Frau Agnes Fischarth, des ehelichen Weibes des Rektors von Paddenau –
Drillinge!
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Wir treten in das letztgenannte Gemach in dem Augenblicke, wo der dreimal glückliche Vater den einen seiner Sprößlinge, und zwar den männlichen (die beiden andern sind weiblichen Geschlechtes), so hoch, als es die niedrige Stubendecke gestattet, emporschwingt und dazu mit sonderbarem Pathos deklamiert:
»Weh der gefügigen Wog', die den Helden Schaukelte an den bithynischen Strand, Und das beflügeltste Herz von Hellas Gab in die feige, barbarische Hand!«
»O Gott, Gustav, wie närrisch!« tönte eine matte, verdrießliche Stimme von dem verhangenen Bette her. »Leg ihn wieder hin und laß ihn in Ruhe, wenn du ihm weiter nichts zu sagen hast.«
»Närrisch? Schatz, ich meine, wenn ich mich hier mit ihm auf den Kopf stellte, so solltest du das für angemessen, natürlich und höchst verständig halten! Versetze dich in den Taumel meiner Seele, wenn es dir möglich ist! O, du würdest einen schönen, schönen Tanz aufführen, wenn das dir passiert wäre, Agnes! Komm, o du des Klinias Sohn und der Dinomache, wollt' ich sagen, Gustav und Agnes Fischarths dreifacher Schlingel; hätte mir mein Vater gleich vom Anfang an einen Gradus ad Parnassum unter das Kopfkissen gelegt, so würde auch aus mir ein wenig mehr als ein Rektor von Paddenau geworden sein! Holla– ä – ä – häh – bäh! Da, Frau Lurchenbach, nehmen Sie mir den jungen Lyriker ab, und du – Agnes – nochmals meinen besten Dank, du hast deine Sache ganz ausgezeichnet gemacht –« »Ja, du hast gut sprechen!«
»Sehr brav hast du deine Sache gemacht, und jetzt schlaf im Glück und träume vom Glück. Frau Lurchenbach, ich verlasse mich ganz auf Sie und sitze nebenan wach bis zur Morgenröte.«
»Das können Sie!« sprach die Wärterin, und der Rektor von Paddenau zog sich nach einem Blick in die Wiege der beiden weiblichen Bruchteile des so überraschend reichlich ihm zuteil gewordenen Familiensegens in sein eigenes Zimmer zurück, setzte sich an den Schreibtisch, nahm ein Papier auf und las mit der verbessernden Feder in der Hand:
»Schwüles Gewölk aus mäotischem Sumpfe, Vorgezerrt von harpyischem Griff, Treiben und hetzen thrakische Winde Über des fliehenden Feldherrn Schiff. Töchter des Pontus, weißliche Nebel Peitscht der Sturmgott zum persischen Meer, Und von Carambis bis Susa beben Des Königs Sklaven und atmen schwer.
Carambis – bis – bis – ein wenig hart. Atmen schwer – des Königs Sklaven atmen schwer! Ich weiß nicht, ob das gedruckt den Leuten gefallen würde, aber mir gefällt es ausnehmend, vorzüglich nach den Erlebnissen der letzten Tage; denn da hab' ich doch wahrlich erfahren, was ein schweres Atmen zu bedeuten hat. Evan! Evoë! fällt mir das Trifolium gerade in diese herrliche Ballade von der grausamen Ermordung des Alkibiades! Ist das nun ein Omen? Wie soll ich ihn taufen lassen, Alkibiades oder Pharnabazus? Pharnabazus! das wäre etwas, was freilich noch nicht in Paddenau groß geworden ist!
Weh der gefügigen Wog', die den Helden Schaukelte an den bithynischen Strand, Und das beflügeltste Herz von Hellas Gab in die feige, barbarische Hand!
Grade so wie mich und meine Frau, oder vielmehr wie meine Frau und mich! Evan, Evoë! Es ist doch ein großes Gefühl, sich alles in Hülle und Fülle selber zu machen! seine Kinder, seine Gedichte und seine gute Laune! o, was nicht sonst alles! Setzen wir schnell einen Drücker auf unsern Übermut, wenn auch nur der alten Warnung vom Neide der Götter zuliebe. Nehmen wir schleunigst diesen Haufen deutscher Stilübungen hiesiger dem hyperboräischen Sumpfe entsprossener Jugend zur Hand. Die Korrektur wird uns gerade bis Mitternacht wach erhalten, und nichts hindert uns, dazwischen den Mantel der hochherzigen Hetäre Timandra in unser Gedicht hinein zu skandieren.«
Das Haus, in welchem der Rektor Fischarth wohnte, lag in der Wassergasse, und die Wassergasse zog sich, durch ihre eine Häuserreihe vom See getrennt, am Ufer hin, soweit Paddenau reichte, von einem Ende bis zu dem andern. Dem Hause des Rektors gegenüber lag die Wirtschaft zum Krebs, welche sich, den beiden vornehmem Gasthäusern der Stadt, dem grünen Esel und dem goldenen Kalbe gegenüber, in einer gewissen altertümlich-verrauchten, ehrbaren Gediegenheit wohl zu behaupten wußte, und allwo im Sommer nicht nur der nahrhafte Bürgerstand, sondern auch die Optimaten bis zum regierenden Bürgermeister hinauf ihr inniges Genügen in dem schattigen Wirtsgarten und an der trefflichen Kegelbahn fanden.
Hierher, und zwar in den Garten, verfügen wir uns, nachdem wir den Rektor Gustav Fischarth mit den Drillingen und der Frau Agnes in seiner Häuslichkeit kennen gelernt haben. –
Von der Kegelbahn herüber erschallte das Rollen der Kugeln, das Gepolter der Kegel und das Rufen des Kegeljungen. In einer dichtbebuschten Laube saß, beleuchtet von einem leise flackernden Lichte, die Gesellschaft, mit welcher wir es augenblicklich zu tun haben, und sechs Schritte weiter ab, in einer andern Laube, saß jemand, der sich heut abend gleichfalls noch ins Spiel mischen wird, und im Fortgange desselben auch sein Vergnügen dabei finden kann.
Das Gespräch in der größern Laube drehte sich im Anfange um ein für die Gegend sehr wichtiges Thema.
»Die Reseda, Linde und Akazie honigen doch recht gut,« sagte eine Stimme, »ich hätte es nicht gedacht; aber die Völker entwickeln sich recht nett. Mit dem Frühjahr war es gar nichts – fleißige Arbeit an einem Tage und um so niederträchtigere Faulheit am andern! Wäre das dermaßen fortgegangen, so hätte es sich wahrlich gelohnt, ein Imker zu sein.«
»Das sage ich auch; aber ich sage auch, auf den Buchweizen kommt's jetzo hauptsächlich an,« sprach ein zweite Stimme. »Na ja, und hat der abgeblüht, und ist die Heide noch nicht aufgeblüht, so werden wir, wie im vorigen Jahre, die großartigsten Räubereien erleben, daß der jetzige Krieg da drunten in Italien gar nichts dagegen ist.«
»Das meine ich ebenfalls!« schrie eine dritte Stimme; »es ist eben der Buchweizenhoniggeruch, der die Völker aufeinander lockt. Zehn Stöcke sind mir im vorigen Jahre rein ausgeraubt, und was das Wachswerk anging, so war das zerschroten, daß ich bei Betrachtung aus Wut meine Frau hätte prügeln können.«
Hier lachte natürlich Paddenau durch alle Tonarten, doch dann meinte jemand: »Ein recht ordentlicher Landregen im August ist die beste Hilfe dagegen, Herr Nachbar.«
»So ist es; aber nachher gucken Sie dann mal nach der Heide! Alle Stöcke, die infolge der Raubzüge starken Volksverlust gehabt haben, suchen sich sofort durch allmächtigen Brutansatz zu decken, und dann geht es wie der Teufel über die Vorräte her, und das Viech lebt grade wie unsereiner in schlimmen Zeiten von der Hand in den Mund. Da wischt sich der Imker ihn denn gefälligst.«
»Das weiß der liebe Gott!« seufzte die erste Stimme aus Paddenau wieder und fügte hinzu: »Ja, mit dem übermächtigen Brutansatz! Drei Drillinge sind für den Stock da drüben auch zu viel; meine Frau war auch ganz außer sich bei der Nachricht, und es ist ein Wunder, daß sie's nicht hat hinüberbestellen lassen.«
»Und noch dazu bei solch einem Kriege, wo doch niemand es schriftlich hat, ob nicht auch für ihn was dabei abfällt!«
»Nun, was die Drillinge anbetrifft, so könnte dieses gewissermaßen unter Umständen noch ein Lob für Paddenau sein, zumal es in der Stadt und Gegend doch häufiger vorkommt; aber ich meine, der Haushalt paßt in anderer Beziehung ganz und gar nicht zu uns. Seit sie diesen Rektor Fischarth hierher gesetzt haben, kommt mir Paddenau manchmal ganz wie ausgewechselt vor. Die Polizei kann da nichts ausrichten; aber die öffentliche Meinung sollte eben das Ihrige tun; doch das ist grade das Leiden: zu zwei Dritteilen ist die öffentliche Meinung für die Leute, Ihrer lieben Frau zum Trotz, Herr Nachbar! Zum Exempel da sind meine Töchter und da ist meine Frau! Die haben gratulieren lassen und sind wie ans Rand und Band, und was soll man tun, wenn man sein ganzes Anwesen und Hans gegen sich hat?! Man dreht sich mit im Kreise, nur um nicht über den Haufen gestoßen zu werden. Es ist eben eine Schande, daß so ein einzelner Mensch daher kommt und Verse macht und ätherische Kränzchen oder wie es heißt, einrichtet und uns alles junge Volk vor der Nase toll macht. Die Polizei sollte doch einschreiten!«
»Das sagen Sie noch einmal, Herr Timpe! Was mich anbetrifft, so habe ich mir schon längst die Frage gestellt, ob ich nicht lieber meinen Fritzen von wegen seiner neumodischen Naseweisheit enterben solle. Sie wissen, der Schlingel geht zu Michaelis auf die Universität und sitzt jetzo bei mir zu Hause. Nun stehe ich neulich ruhig mit der Pfeife vor der Tür. Kommt Ihr Söhnchen, Herr Timpe, das in denselbigen Umständen wie meines ist – macht einen Kratzfuß, greift an die Mütze, sieht mir auf die Pantoffeln und fragt: Entschuldigen Sie, ist der junge Herr Dörre zu Hause? – Da gucke ich ihm aber nicht auf die Füße, sondern grade in die greinende Visage und antworte: De Herre steit hier, de Junge sitt boven, Musche Timpe! – und so gehörte es sich.«
»Freilich gehörte es sich so; aber was hilft's! Mit dem Respekt ist's doch aus und am Ende, Herr Nachbar. Ich glaube, wenn morgen früh mein Junge sagte: Na, jetzt hört die Langweilerei auf, machen wir die Klappe hinter euch zu! morgen mittag schon säßen wir Alten draußen vor der Stadt, und das junge Volk regierte hier inwendig an unserer Stelle. Respekt? Achtung? Das weiß der liebe Himmel! Gehe ich über die Gasse, so habe ich immer die helle Angst, daß jemand hinter mir drein lacht und sagt: da geht der alte Esel. Und selbst hier im Krebse sind wir unseres Daseins nicht mehr sicher. Da, hört nur, ihr Herren.«
Die vergnügliche Unterhaltung schwieg einen Augenblick, und jedermann horchte, auf den Wunsch des letzten Redners hin.
Von dem entferntesten Tische des Gartens drang ein lautes Durcheinander jugendlicher Stimmen, und in eine Pause des fröhlichen Lärms hinein vernahm man das inhaltvolle Wort:
»Zehn lebendige Töchter!«
und sofort, dem kritischen Worte Saxonia non cantat zum Trotz einen vollen Chorus:
»Sie leben hoch! sie leben hoch! sie leben ho–o–o–och!«
Am Tische der Greise schlug einer derselben ebenfalls sofort giftig auf den Tisch und keifte:
»Ich lasse mich hängen, wenn das nicht meine Mädchen sind! das ist doch zum Tollwerden!«
Und ein zweiter Greis bemerkte: »Das ist auch so eine von den Neuerungen und eine von den ärgerlichsten, dieses Singen an den öffentlichen Orten. Ich komme jetzo an die dreißig Jahre im Sommer in den Krebs, aber den möchte ich sehen, der mich hier hat singen hören. Wir sollten doch mit Gröbel reden und ihm ankündigen, daß wir mit unserm Tische um ein Haus weiter rücken würden, wenn er nicht imstande wäre, dem Skandal und der Ungemütlichkeit ein Ende zu machen.«
»Auch das noch! Ja freilich, zuletzt können wir wirklich nichts weiter tun, als weiter zu rücken, immer weiter! Da ist ja der Dräumling, ich erlebe es noch, daß wir eines Tages mitten drin sitzen – ja!« »Das Allerschlimmste,« sagte der Vernünftigste des Kreises, »das Allerschlimmste ist, daß man immerfort ein Gefühl davon hat, wie unserer immer weniger werden, und wie das junge Volk immerfort in immer größerer Masse heraufkribbelt und krabbelt, daß ein echtes, richtiges Maikäferjahr nichts dagegen ist.«
»Ja, und wir können es nicht einmal ändern!« sagte wieder ein anderer und zwar der Verständigste der Gesellschaft; wir aber könnten uns mit dem letzten Ausspruch vollständig begnügen, wenn nicht seltsamerweise jetzt derjenige das Wort genommen hätte, der von dem ganzen Tische für den größten Dummkopf des Kreises, und zwar mit vollem Recht, geachtet wurde.
»Meine Herren,« sagte dieser ganz unzurechnungsfähige Mensch, »meine Herren, ich meine mit gütiger Erlaubnis doch, einer, der noch in die Zeiten reicht, wo man die ersten Chausseen baute, der kann bemerken, daß damals ein jeglicher darauf schwor, darauf werde niemand weder fahren noch reiten, weil das Ding sowohl Pferde wie Wagen zu kujonsmäßig ruiniere. Hatte sich was! Und dann mit den Eisenbahnen, – da sollten dann wieder die Pferde zu drei Taler das Stück auf den Markt kommen. Hatte sich item was! Ich denke also, meine Herren, wir sehen die Sache mit den jungen Leuten da drüben am andern Tische noch ein Weilchen an. Sie gewöhnen sich auch ein; grade wie wir zu unseren Zeiten. – Da kam im Anfange der zwanziger Jahre auch ein junger Geselle heim und wollte Paddenau auf den Kopf stellen; meine Herren, da sitzt er! Prosit, Herr Revisor, ich meine Ihnen! – Und Herr Inspektor, in Göttingen haben Sie doch gesungen: Gaudeamus und Knaster den gelben und: Wenn ich deinen Kahn besteige, oder was es sonst gibt, womit sich der Bruder Studio Luft macht, und ich entsinne mich noch ganz genau, wie Sie Pieperling, der damals auch jünger war, auf offenem Markte durchprügelten –«
»Ich erinnere mich nicht,« sprach der Inspektor mit tiefem Ernste, und wer kann sagen, welche bittere Wendung das bis jetzt trotz allem so behaglich und breiartig dahinfließende Gespräch genommen haben würde, wenn es nicht in der eigentümlichsten Weise unterbrochen worden wäre?
Der einzelne Gast am Nebentische hatte nämlich mit großem Interesse gehorcht, und es war ein Glück für ihn gewesen, daß er seine befriedigten Mienen zur Seite in die Dunkelheit der Sommernacht hineingeschnitten hatte; denn hätten die braven Spießbürger eine Ahnung von der Befriedigung gehabt, die sie ihm gaben, sie würden ihn sicherlich sofort in ihre Unterhaltung hineingezogen haben, und wahrscheinlicherweise hätte er noch einiges weniger Annehmliche am heutigen Abend im Dräumling erlebt.
So aber setzte der Fremdling den Tisch der Stammgäste des Krebses dadurch in ein großes Erstaunen, daß er sich plötzlich erhob, mit dem Hute in der Hand herantrat, und als ob er stundenlang an ihrer Unterhaltung teilgenommen und seit zehn Jahren ihre Freundschaft und ihr Vertrauen genossen habe, ihnen – einen recht schönen guten Abend und recht wohl zu schlafen wünschte.
»Na nu? ... Himmeldonnerwetter!« sagte derjenige der Paddenauer, der sich zuerst von der Überraschung, von dem halben Erschrecken über die unvermutete innige teilnahmevolle Begrüßung erholte. – – –
»Es sitzt seit einer halben Stunde einer in Ihrer Stube und wartet auf Sie, Herr Rektor,« sagte die Dienstmagd am folgenden Morgen zu dem aus seiner Schule schwitzend heimkehrenden Philologen.
»Es sitzt einer in meiner Stube?« wiederholte Fischarth. »Und zwar seit einer halben Stunde? hat er denn seinen Namen nicht genannt?«
»Nein; aber er hat ihn auf einem Blatt Papier der Frau hineingeschickt, und er hat zwei lange Ohren darauf und sitzt aufrecht und sieht aus wie ein Hase, der drei Eier gelegt hat, wie ein Osterhase. Die Frau hat durch mich heraussagen lassen, es sei ihr angenehm, und sie freue sich, und er solle es sich bequem machen, der Herr Rektor kämen gleich.«
»Der Herr Rektor kämen gleich. Gut!« sagte der lateinische Schulmeister und trat vor allen Dingen erst in das Gemach seiner Gattin; wir aber gewinnen dadurch Zeit, uns dem Unbekannten mit den zwei langen Ohren, der wie ein Osterhase aussah und in des Hausherrn Stube wartend saß, ein wenig eingehender zu widmen.
Der Gast hatte es sich bequem gemacht. Er saß in des Rektors Stuhle vor des Rektors Schreibtische und blätterte unbefangen in des Rektors Papieren; – ein etwas dürrer Mensch mit einem langen Gesicht, gelbrötlichem Haarwuchs und rötlichem Schnauz- und Spitzbart. Er war angetan mit einer braungelblichen Joppe, trug den braunrötlichen breiträndigen Filzhut noch auf dem Kopfe und gähnte augenblicklich sehr, eines der Manuskriptstücke des Rektors Gustav Fischarth in der Hand haltend.
»Nicht ist's das gleiche, ob wir übersommern In Hinter-Indien oder Hinter-Pommern,«
las er und brummte: »Auch eine Bemerkung, der man den Paddenauer Boden anmerkt. – Alkibiades? Wie kommt denn dieser frivole Grieche in den Dräumling? – Sulamith, ein Epos – das muß ich sagen, an Stoffen scheint es dem Menschen nicht zu mangeln! Die Poesie hat doch in betreff ihrer Verbreitung eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Hundswut. Einer beißt den andern – der Raptus bricht aus nach neun Tagen, neun Wochen, Monaten oder Jahren, und über ein Radikalmittel dagegen zerbricht sich die Menschheit bis heute vergeblich den Kopf.
O Sonne, hohe Göttin, Zauberin, Du schufst mein Herz, den Löwen und den Pfau, Du schufst das Gold, das Auge, den Rubin, Den Haß, die Liebe, so wie meine Frau; Smaragd und Purpur sinkt dein Mantel hin Zu Füßen dir – um dich das ewge Blau! Den König schufest du und Sulamith, Und Sabas Herrscherin und dieses Hohe Lied.
Kleopatra? Ach du liebster Herr Jesus, noch ein Epos!
Vom Steuer winkte jetzt der braune Mann, Und klirrend fielen ab die leichten Bande. Wie dieses Verses Wohllaut schwoll heran Des Cydnos Flut und hob das Schiff vom Lande; Ein lindes Wehen füllt das Segel an, Und helles Jauchzen schallt herab vom Strande: Die Mädchen kreischen, doch die Königin Steht hoch und still und sieht zum Ufer hin.
Nun beim Apoll und seinen neun Ambubajen, ich würde dasselbe tun, wenn ich nur Ufer sähe in dieser Flut von Reimen! Der Verstand steht mir auch ohne das still, das ist eine Tatsache. Und alles in Stanzen ... Don Quixote:
Wie lachten sie, wenn er vorüberzog Auf magerm Gaul, gewappnet wunderlich In rostig Eisen; aus dem Fenster bog In Hütte und Palast der Pöbel spottend sich. Des Helden Blick weit in die Ferne flog, Mit dürrer Hand den Knebelbart er strich –«
Der Genießende strich während einer geraumen Zeit seinen eigenen spitzen Bart; dann warf er plötzlich das Blatt hin, sprang auf und zum Fenster und holte sich ein halbes Dutzend Atemzüge der frischesten Luft, welche Paddenau zu bieten hatte. Dann schritt er mit untergeschlagenen Armen auf und ab.
»Es soll mich wundern,« sagte er mit innigstem Mitleid und unbeschreiblichem Nachdruck, »wie ein Mensch, welcher das alles im Manuskripte liegen hat, aussieht! Das muß ja ein wahres Jammerbild sein! ... Ja, wenn er es noch hätte drucken lassen; aber – so! ... das ist in der Tat entsetzlich! O ihr Götter, jetzt weiß ich, weshalb ich den armen Teufel mit solcher Verwunderung in den Gassen von Paddenau vermißt habe. Ich bin ihm zwanzigmal begegnet, aber ich habe ihn nicht erkannt. Er muß furchtbar heruntergekommen sein – und noch dazu Gatte – und Vater – dreifacher Vater –«
Er brachte seine Lamentationen nicht zu Ende, denn in diesem Augenblicke wurde die Tür aufgerissen und der Paddenauer Rektor Gustav Fischarth erschien auf der Schwelle, den Hut im Nacken, seine Schulbücher unter dem Arme, glänzend, grinsend, im vollen hellblonden Bart, breitschulterig, ungemein wohlgenährt und sehr gesund mit dem Rufe:
»Haeseler?! Ist es denn möglich? Mensch! Freund! Göttergesendeter! Ungeheuer, wo kommst du denn her?«
»Na, das muß ich sagen!« rief der Gast, auf der Stelle vom tiefsten Mitleid zur höchsten Verwunderung übergehend, und darauf fast betreten an sich selber hinunter und mit neuem Erstaunen an dem Rektor hinaufblickend. »Und ich habe ihn soeben noch bedauert! Guten Morgen, lieber Fischarth; – ich brauche mich wohl nicht zu erkundigen, wie du dich befindest? Ein Trauerspiel hast du sicherlich – wollt' ich sagen, hast du übrigens wohl nicht vorrätig?«
Der Rektor sah nur einen Augenblick lang den Fragenden fragend an, nach dem ersten Blick über die durchwühlten Schriften auf seinem Schreibtische kam ihm sofort das Verständnis. Sein Lächeln wurde womöglich noch sonniger.
»Eines?« rief er verächtlich, legte schnell seinen Schulapparat auf den vor dem Sopha stehenden runden Tisch, schob den Gast von seinem Schreibtische fort, bückte sich, griff in die Tiefe und zog ein Paket Papiere hervor, das durch rote, grüne, blaue Bänder und Bindfaden wie ein Paket Wäsche abgeteilt war.
»Eines?« wiederholte er. »Da!« sagte er stolz.
»Stilicho, fünf Akte – ein Stoff, wie kein zweiter! Gewaltige Szene zwischen dem Helden der Tragödie und dem Gotenkönig Alarich! Große tragische Charakterentwicklung der Thermantia, und dazu ein Ruffian wie der Staatsminister Rufinus! ich sage dir, mir schaudert selber vor dem Gemetzel im fünften Akte.«
»Einen Konradin oder sonstigen Hohenstaufen hast du aber nicht vorrätig?«
»Nein; – einen Konradin hat der Geheimerat Mühlenhoff im Pulte, aber ich der Abwechslung wegen einen Petrus a Vineis.«
»Ist es möglich?!«
»Gewiß! Und hier einen Thomas Münzer. Erlaube mir, dir schleunigst ein weniges daraus vortragen zu dürfen.«
»Mit Vergnügen,« sagte der Gast, ganz den Erwartungen des Lesers entgegen; und, sich behaglich reckend, begann der so sehr unbekannte Dichter mit der Bemerkung:
»Klaus Storch aus Zwickau hat das Wort –
So schleudert wohl die Flut ein Riesenschwert, Das manch Jahrhundert durch das Meer bedeckte, Hin an den Strand und läßt es dort zurück, Versteckt dem Aug´ durch Muscheln, Sand und Seetang. Da findet es des Fischers Kind und bringt's Des Dorfes Alten, die im Kreis sich sammeln, Von Hand zu Hand die alte Waffe reichen Und schüchtern manche Deutung darob wagen. Aus Heldenzeit der Väter Wehr! so geht's Von Mund zu Mund, und staunend prüfen alle Die Wucht der Klinge und die dunkeln Runen, Die auf ihr schrecken, und die niemand löst, Bis kommt der rechte Mann –«
»Erlaube mir,« unterbrach hier der Gast, »dieser Zwickauer muß jedenfalls auf seiner Wanderschaft bis an den Strand der lauttönenden Amphitrite gekommen sein. Ein binnenländischer Tuchmacher würde sich eines solchen Bildes sonst wohl nicht bedienen.«
»Versteht sich!« rief der Poet. »Sein Wanderbuch liegt bei meinen und seinen dramatischen Personalakten. Die Visa der Schulzen von Heringsdorf und Misdroy stehen dir zur Einsicht bereit; sonst aber fragt jetzt Martin Kellner den Klaus Storch –
Und dieser Mann, Meinst du, sei nun gekommen, und die Klinge Funkle zur Siegesschlacht in seiner Hand? Der rechte Mann, dem dieses Schwert bestimmt, Der rechte Mann, für den das Meer es barg Durch tausend Jahre bis zu diesem Tag?
worauf Pfeifer meint:
So ist's! des Volkes Retter ist vorhanden. Und alles ist bereit ihn zu empfangen.«
»Äh ... äh ... häh ... häh!« erklang es in diesem Moment hell und schrillstimmig aus einem entferntern Gemache; der Poet warf sein Trauerspiel, seinen Thomas Münzer in den Winkel, packte den Fremden an beiden Schultern, schüttelte ihn derb und schrie:
»Aber Mensch, das alles ist ja lauter dummes Zeug! Meine Frau ist niedergekommen, und wir sind obenauf! Du stehst natürlich dreifach Gevatter, Rudolf; und nun verkündige mir vor allen Dingen: wo kommst du her, und was willst du eigentlich hier in Paddenau?«
»Auf die erste Frage antworte ich: aus München. Was die zweite Frage betrifft, so ist die nicht so leicht zu beantworten. Die Begriffe Sumpfstudium und Freundschaft drücken meine Bedürfnisse und Entschuldigungen in dieser Hinsicht vielleicht am passendsten und umfassendsten aus.«
»Und wann bist du angekommen, Seltsamster der Sterblichen?«
»Nun, vor ungefähr acht Tagen.«
Dem Rektor fielen die Arme am Leibe herunter, mit ungläubigem Staunen und fast verlegenem Lächeln sah er auf den Gast:
»Und du wohnst?«
»In der nächsten Gasse. Im goldenen Kalbe.«
Dem Rektor entging der Atem; er mußte sich setzen, tat es, starrte wie geistig gestört auf den Freund und sprach, nach Luft schnappend:
»Ich glaube, du lügst, Haeseler. Ich hoffe fest, daß du lügst; denn vieles wäre doch offengestanden etwas zu unheimlich.«
»Ich rede die Wahrheit.«
»Paddenau zählt höchstens sechs, bis siebentausend Einwohner.«
»Zu denen du vielleicht nicht gehörst.«
»Im goldenen Kalbe?«
»Im goldenen Kalbe.«
»Seit acht Tagen?«
»Wende dich an den Wirt.«
»Lieber Freund, ich hätte fast Lust, dich dort aus jener Tür, in welche du hereingekommen bist, wieder hinaus zu werfen.«
»Und ich bitte dich, mich vorher deiner Gattin vorzustellen, und um dieses möglich zu machen, werde ich mich noch einige Zelt länger in Paddenau aufhalten.«
Einige Wochen sind vergangen; es ist eigentlich ein Wunder, wie ein so junges Weib, als die Frau Agnes Fischarth, schon eine so stattliche Familie haben kann. Ein kleiner Hof trennt die Hinterseite des Hauses des Paddenauer Rektors von einem ebenfalls nicht großen Garten. Dieser ist durch einen Lattenzaun von dem See oder Sumpfe geschieden.
Der Zaun ist überwuchert von Schlinggewächsen, und auf einer winzigen Erhöhung dicht daran ist eine Laube von kurzstämmigen Hainbuchen und einigen Holunderbüschen angepflanzt. Die Sommerabendsonne scheint in die Laube, auf den Tisch und auf die beiden Wiegen mit den drei jungen Fischarths. Die junge Mutter sitzt zwischen den beiden Wiegen und hat zur Rechten das Söhnlein und zur Linken die zwei Töchterchen. Herr Rudolf Haeseler sitzt am Tische, und der Rektor lehnt mit seiner Pfeife an seinem Gartenzaune, sieht über Schilf und Wasserpflanzen ins Weite und bläst blaue Rauchwolken seinen auch grade nicht grauen ober gar schwarzen Gedanken nach.