Der Durst der Seele - Ernst Klatt - E-Book

Der Durst der Seele E-Book

Ernst Klatt

4,8

Beschreibung

Ein erschütternder Bericht über ein dramatisches Schicksal im 20. Jahrhundert: Der Autor erzählt vom Leben der Deutschen im Westpreußen der 30er Jahre, von den Freuden eines Kinderherzens, dem friedlichen Nebeneinander der Deutschen und Polen, die plötzlich Feinde werden im Kriege. Ergreifend ist die Trauer des Kindes über den Verlust lieber Menschen und dann auch der Heimat. Der Junge findet eine neue Heimat, erlebt Kriegsende, amerikanische und sowjetische Besatzung in einem westmecklenburgischen Dorf. Schließlich erfüllt sich ein Kindheitstraum: eine Karriere als Soldat und Offizier. Dies während der "wilden" 50er Jahre, in der DDR. So rätselhaft wie plötzlich aber gerät der Offizier, Frauenheld und fröhliche Trinker in die Mühlen des kalten Krieges: Entlassung aus der Nationalen Volksarmee, Anwerbung durch die CIA, Zuchthaus in der DDR. Ein Absturz ohnegleichen. So unmerklich wie heimtückisch packen ihn nun aber die Klauen eines noch grausameren Gegners: Der Trinker aus Fröhlichkeit wird gefangen von König Alkohol. In schier übermenschlichem Ringen, nach Jahrzehnten, entkommt er - die Freiheit aber bleibt bedroht. Ein in unserer Literatur ungewöhnlicher Lebensbericht.

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Impressum

Ernst Klatt

Der Durst der SeeleMein Weg vom Pimpf zum NVA-Offizier, CIA-Agenten und Alkoholiker Ein Lebensbericht

Bearbeitet und herausgegeben von Jürgen Borchardt

ISBN 978-3-931646-82-0 (E-Book)

EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern

Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com

Am Wendepunkt

1958. An einem Dienstag ging ich wie üblich zum Dienst. Zwei Stunden später musste ich zum Regimentskommandeur. Der Stabschef und der Politoffizier waren auch da. Mir wurde der Befehl Nr. 358 des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR vorgelesen: Auf Grund eines Selbstmordversuches wäre ich mit sofortiger Wirkung vom Oberleutnant zum Soldaten degradiert und in Unehren aus den Reihen der NVA ausgeschlossen. Ich hätte alle Auszeichnungen zurückzugeben. Einige Wochen zuvor war ich noch vor allen Offizieren des Regiments ausgezeichnet worden, für die sehr guten Ergebnisse bei einer Kompanieübung (Angriff und Schießen mit scharfem Schuss). Ich hatte etliche Auszeichnungen, insgesamt an die 20 Belobigungen, darunter einige Geldprämien – für Offiziere ganz selten.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Innerhalb von zwei Stunden hatte ich den Entlassungsschein und mein Geld. Ich stand auf der Straße. Als ich wieder klar denken konnte, fragte ich mich: Entlassung, ohne dass ich überhaupt befragt wurde? So geht das doch nicht! Aber es ging. In mir wallte es, ich grübelte und grübelte. Selbstmordversuch, das war lächerlich; ich und Selbstmord – nie und nimmer! Ob mein Schwager, wegen Spionage zu viereinhalb Jahren verurteilt, der Grund war? War es Alkohol? Getrunken wurde natürlich, das machten fast alle, nach Dienstschluss. Aber ich kam nie betrunken zum Dienst. Oder war es der neue Regimentskommandeur, der nach oben zeigen wollte, auch er griff endlich durch? Überall in der Partei wurde ja „gesäubert“, warum nicht auch in der Armee!

Mein Anrennen gegen dieses Unrecht blieb ohne Erfolg. Da ließ ich mich auf eine Sache ein, die für mich schlimme Folgen haben sollte. Ich lernte einen Mann kennen, der für die Amerikaner arbeitete… Eines Tages sollte ich nach Westberlin, zu der Zeit kein Problem; es gab noch keine Mauer. Man brachte mich nach Oberursel im Taunus – Zentrale und Agentenschule der CIA in der Bundesrepublik Deutschland…

Westpreußen

Elternhaus und Kindheit (1932-1945)

Bevor ich zu meiner eigentlichen Geschichte komme, möchte ich etwas von den Großeltern und Eltern und aus meiner Kindheit erzählen. Sie haben mein Leben nicht wenig geprägt.

Meine Vorfahren waren vor Jahrhunderten aus Deutschland nach Russland ausgewandert, an den Don, in eine Kosakensiedlung. Den Großvater habe ich nur auf Bildern gesehen: Ein großer Mann, schwarzhaarig und sehr bärtig, eigentlich konnte man nur seine Augen richtig sehen. Er war Rittmeister bei den Kosaken geworden, wohlhabend und lebte mit meiner Großmutter in Rostow am Don.

Hier wurde auch mein Vater geboren. In einer Staniza, nicht weit von Rostow entfernt, besaßen sie ein gut gehendes Gehöft, das von einem Verwalter geleitet wurde. Die Großeltern waren Anhänger des Zaren und monarchistisch eingestellt. Beim Ausbruch der Oktoberrevolution schaffte mein Großvater seine Frau und ihre vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, über die Grenze nach Polen zu Verwandten. Diese lebten in dem Dorf Klein Weburg nahe Graudenz. Großvater blieb bei seiner Einheit, im guten Glauben, dass über kurz oder lang die alte Ordnung wieder eingeführt würde. Er war ein treuer Anhänger des Zaren und des Kosakentums in Russland, einer Art Mittelstand, besser gestellt als andere Schichten aus dem Volk. Die Kosaken wurden zum Heer eingezogen, sie mussten aber ihr eigenes Pferd mitbringen, dazu die gesamte Ausrüstung, Kleidung, Säbel, Sattel, Hufeisen, Nägel. Sie hatten auch das Vermögen dazu, es gehörte zu ihrem Stolz, mit den eigenen Waffen zu kämpfen. Wie ich von Großmutter erfuhr, diente Großvater auf Seiten der Weißen, unter dem Ataman Petljura. Keiner hat Großvater je wieder gesehen, noch etwas von ihm gehört. So wuchs mein Vater mit den Geschwistern ohne Vater auf.

Großmutter hatte in Polen ein schönes Häuschen, ungefähr vier Kilometer vom Dorf entfernt, direkt am Waldrand. Die beiden Schwestern meines Vaters heirateten Mitte der 20er Jahre, Tante Hulda einen Großbauern im Nachbardorf. Unsere Gegend bestand aus deutschen Dörfern, an deren Rand aber auch Ukrainer und Polen wohnten, von denen die meisten dort schon geboren waren. Mein Vater und sein Bruder, Onkel Siegmund, arbeiteten bei ihrer Schwester Tante Hulda. Einer kümmerte sich um die Knechte und Pferde und der andere um die Schweizer, also um die Melker. Vater blieb bis 1931 bei seiner Schwester.

Meine Mutter war eine Wolgadeutsche. 1905, während der ersten Revolution, war sie mit ihren Eltern nach Sibirien verschleppt worden. Sie kam später elternlos zu ihrer Cousine nach Polen, in das Dorf von Tante Hulda. Hier arbeitete sie als Dienstmädchen. Hier also lernten Vater und Mutter sich kennen und heirateten 1931. Tante Hulda und ihr Mann Robert Schauer kauften ihnen im nahe gelegenen Dorf Plangenau ein kleines Haus, mit einem Garten und einem Stück Land von 15 Morgen. Plangenau war ein Runddorf mit einem großen Dorfplatz und einer Gastwirtschaft zum Ausspannen, mit einer Schmiede, darum die Höfe einiger Großbauern, mit einem evangelischen und einem katholischen Friedhof und einer Schule. Am Dorfende standen Baracken für die polnischen Tagelöhner.

Im Januar 1932 wurde ich hier geboren und in der evangelisch- lutherischen Kirche in Villisas getauft. Meine Taufpaten waren die Großbauern, bei denen meine Mutter vor der Ehe als Dienstmädchen beschäftigt war, sie hörten auf den für mich komischen Namen Ast. Es war damals üblich, dass dem Taufkind ein Tablett hingehalten wurde, auf dem drei Dinge lagen: Ein Stück Brot, ein Geldstück und ein Schnapsglas. Ich soll, so meine Mutter, nach dem Geldstück gelangt haben. Für die Verwandtschaft war klar, dass ich immer reichlich Geld im Leben haben würde. Darüber kann ich heute nur lächeln. Zu Ehren dieser Tradition muss ich aber sagen, dass ich immer Geld hatte, von Reichtum konnte jedoch keine Rede sein. Die Taufpaten hatten einige Verpflichtungen. Sie kümmerten sich um ihr Taufkind bis zum 14. Lebensjahr, also bis zur Konfirmation, meist mit kleinen Zuwendungen, auch an die Eltern des Kindes. Nicht allein meine Eltern, auch die Paten waren also für mich verantwortlich. Die Konfirmation hatten sie auch auszurichten. Was konnte mir unter solchen Umständen eigentlich passieren? Meine Pflicht war es, die Paten mit Onkel und Tante anzureden und sie öfters zu besuchen. Das hielt ich schon aus.

Die Gehöfte des Dorfes lagen meistens weit auseinander. Für die Dorfkinder war es selten möglich, zusammen zu spielen. Nur sonntags kam ich auch mit anderen Jungen zusammen. Wir Kinder beschäftigten uns mehr mit den Tieren auf unseren Höfen. Ich hütete schon als kleiner Junge die Gänse und Schafe und spielte mit unserem Hund Dina. Im Winter fing ich Spatzen und Wildtauben. Das ging so: Ein großer Weidenkorb schräg aufgestellt, mit einer Holzgabel gestützt, daran eine lange Schnur befestigt und unter den Korb Körner gestreut. Dann wartete man in der Scheune oder im Stall. Wenn ein Spatz zum Korb hüpfte, brauchte man nur noch zu ziehen. Mit meinen Eltern habe ich oft Großmutter, Tante Hulda und Onkel Siegmund besucht. Aber sie kamen auch zu uns, meistens sonntags. Da fuhren dann alle zusammen zur Kirche nach Villisas, mit der Kutsche. Das war ein leichter, gut gefederter Wagen. Er war lackiert und sah sehr schön aus. Die Pferde trugen am Sonntag extra Kutschgeschirre, mit einer besonderen Kutschleine, der Kutscher hatte eine extra Peitsche, die auch nur für sonntags gedacht war. Im Winter fuhren wir in Schlitten mit schweren Kufen. Die Schlitten hatten für vier bis fünf Personen Platz und waren mit Schafspelzen ausgelegt. Am Riemenzeug der Pferde waren Glöckchen angebracht. Was für ein schöner Klang! Und was für ein Leben in dem verschneiten Dorf! Alle, die nach Villisas zur Kirche wollten, mussten durch unser Dorf.

Vater erkannte viele Schlitten schon am Klang der Glöckchen. Hier mitfahren zu dürfen war meine größte Freude zu dieser Zeit. Die Kirche war ungefähr acht Kilometer entfernt von unserem Dorf. Eine herrlich lange Strecke! Vor der Kirche standen viele Schlitten. Die Kutscher blieben bei den Pferden. Sie hatten aber keine Langeweile, zum Aufwärmen steckte immer ein Fläschchen in ihrer Tasche.

Die Kirche war gewaltig, schon ein Steinbau, innen reichlich mit Holz getäfelt. Jeder Bauer hatte sie mitfinanziert. Sie war auch eine Art Sparkasse; in der Kirche hinterlegten die Bauern einen Teil ihres Geldes, um es bei Bedarf wieder holen zu können. Auch meine Eltern bewahrten dort etwas Geld auf. Ein phantastisches Erlebnis war es dann, wenn alle Schlitten hintereinander heimfuhren. Die Pferde schnauften, der Schnee stiebte, die Glöckchen bimmelten, und die Leute lachten. Unterwegs wurden Wetten darüber abgeschlossen, wer die schnellsten Pferde hätte, und dann begann oft eine wilde Jagd. So mancher Schlitten raste in eine Schneewehe und kippte um, manchmal gab es auch Bruch. Auf den Schreck wurde dann einer getrunken, und schon lachte alles wieder. Können Sie sich vorstellen, was für ein Ereignis solch eine Schlittenfahrt mit dem Glöckchengebimmel war? Ein Traum!

Sonntagnachmittags wurde im Winter, wenn es das Wetter zuließ, meistens noch eine andere Fahrt veranstaltet. Ein Kutschschlitten mit zwei Pferden zog uns Kinder und andere junge Leute mit unseren Rodelschlitten. Zehn bis fünfzehn waren mit Stricken hintereinander gebunden, so dicht, dass man den vorhergehenden noch mit der Hand fassen konnte. Wer in der Kurve oder sonst wie herunterfiel musste hinterherlaufen. Es war aber für alle ein Spaß.

Ab meinem fünften Lebensjahr durfte ich schon allein zur Großmutter gehen. Etwa sechs Kilometer weit, durch Felder und Wiesen. Wie oft und gerne war ich dort! Im Sommer wuchsen herrlich süße Früchte am Waldrand, Erdbeeren und Himbeeren, Brombeeren und Blaubeeren. Tief in den Wald ging ich aber nicht. Dort war es so dunkel, Tannen und Fichten auch so groß und so dicht, dass ich immer dachte, in diesem Wald gibt es überhaupt keinen Tag, kein Licht, keine Sonne, nur tiefe Nacht.

Großmutter hinkte ein wenig. Als junges Mädchen hatte ihr ein Kosak mit der Nagaika eins übergezogen. Im Alter wurde das Hinken immer schlimmer. Eine Nagaika ist eine kurzstielige sechssträhnige Lederpeitsche, an deren Enden Bleikugeln eingeflochten sind. Oben am Stiel befindet sich eine Lederschlaufe, die über das Handgelenk gestreift wird. Der kurze Stiel ist reichlich mit Silber verziert. Die Nagaika war eine beliebte Waffe der Kosaken. Sie war gut für die Wolfsjagd geeignet, der Wolf wurde vom Pferd aus erlegt. Aber auch Menschen bekamen sie zu spüren, bei Unruhen oder der Jagd nach Räubern. Oder eben Frauen. Großmutter war eine perfekte Schnapsbrennerin. Sie hatte von ihren Söhnen und Schwiegersöhnen zweihundert Meter tief im Wald einen Bunker bauen lassen, und Onkel Robert, der Mann von Tante Hulda, belieferte Großmutter mit Roggen, Gerste und was noch alles dazu gehörte. Sie machte Kräuterliköre, auch Arzneien, gegen Husten, zum Einreiben gegen Gliederschmerzen. Kräuter holte sie sich aus dem Wald. Es kamen viele Leute aus den umliegenden Dörfern zu ihr, um sich behandeln zu lassen. Die Menschen hatten Vertrauen zu ihr. Und sie wird vielen geholfen haben; um gesund zu werden, sind auch Glaube und Vertrauen wichtig. Außerdem war der Weg zu ihr nicht so weit wie zum Arzt in der Stadt, und wohl auch nicht so teuer. Großmutter war bekannt in unserer Gegend auch durch ihren Korn, Ostdeutscher genannt. Aus Korn und Honig machte sie einen guten Bärenfang. Das Geschäft ging gut, sie war keine arme Frau. 1940 aber hörte sie mit der Brennerei auf, die Nazis waren da, sie verboten streng, Schnaps zu brennen. Ich bin aber nicht überzeugt, dass sie überhaupt nichts mehr brannte, für die vielen Verwandten wird wohl immer etwas da gewesen sein.

Großmutter erzählte gerne Geschichten, meistens von zu Hause. Da sollen so viele Wölfe gewesen sein, dass man in den Fenstern unten Gitter anbringen musste. Die waren in Wirklichkeit Fallen und so konstruiert, dass der Wolf seinen Kopf durchstecken konnte, ihn aber nicht mehr herausbekam. Wenn die Leute im Winter eine längere Fahrt unternahmen, dann brachten sie hinten am Schlitten einen Spiegel an. Kamen die Wölfe hinterher gejagt, hatten sie ihr Spiegelbild vor sich. Das musste sie wohl abgeschreckt haben. So manches Mal wurde mir beim Zuhören unheimlich, ich ging dann abends nicht nach Hause, sondern blieb die Nacht bei ihr.

Bald war ich in dem Alter, auch alleine zu Tante Hulda und Onkel Robert nach Klein Weburg zu gehen. Sie hatten sich ein Grammophon gekauft, mit so einem großen Trichter, der sehr bunt war. Tante Hulda und ich hörten dann immer Musik. Ich lernte, den Apparat aufzuziehen und Nadeln einzustecken. Die Platten waren klein und schwer und der Klang nicht sehr sauber. Es waren wohl die ersten Schellack- Platten. Mir ist noch gut in Erinnerung, dass ich das Lied „Wozu ist die Straße da? Zum marschieren“ mit Heinz Rühmann am liebsten hörte. Miene Mutter schickte mich Sonntagmorgens oft zum Kaufmann, Kakao zu holen. Der Laden war gleichzeitig Gaststätte mit Pferdeausspannung. Der Kaufmann hatte immer geöffnet, ich glaube, dort konnte man sogar nachts noch etwas bekommen. Wenn ich kam, saß meistens mein Patenonkel Ast schon da, ein schwarzhaariger und schöner Mann, immer im schwarzen Anzug und weißen Hemd. Er war reich genug, um andere für sich arbeiten zu lassen. Jedes Mal kaufte er mir dann Süßigkeiten oder gab mir eine Münze für den Automaten. Der Automat sah aus wie ein Schrank, er hatte viele Fächer und Tasten mit verschiedenen Farben. Warf man die Münze ein und drückte eine Taste, sprang eines der Fächer auf, und der Inhalt gehörte dem Spieler. Oder man ging leer aus.

Onkel Ast besaß eine große Bauernwirtschaft, eine Ölpresse, einen großen Dreschkasten und eine Dampfmaschine. Nach der Ernte zog man seine Dampfmaschine mit Pferden von Bauer zu Bauer, sie hatte schwere Einsenräder, sechs Pferde brauchte man. Bedient wurde sie manchmal von meinem Vater. Unsere Wirtschaft war nicht groß genug, als dass man davon hätte gut leben können. Wir hatten das bisschen Land und einen großen Garten, ein paar Schweine, zwei, drei Kühe, zwei Pferde und einige Gänse – waren im wesentlichem auf Selbstversorgung ausgerichtet. Nur durch die Milch kam etwas Geld rein. Und durch Vaters Arbeiten außerhalb.

Zum Dreschen ging ich oft mit meinem Vater mit. Die Dampfmaschine wurde mit Steinkohle betrieben. An der Seite hatte sie ein mächtiges Schwungrad. Dampfmaschine, Riemenscheiben und Dreschkasten mussten genau in eine Linie gestellt werden. War der Treibriemen drauf, ging das Dreschen los. Der Dreschkasten befand sich zwischen zwei Kornmieten, so dass die Garben von beiden Seiten zugereicht werden konnten. In der Nähe stand noch ein Wasserwagen. Natürlich gab es beim Dreschen viel Staub und Dreck. Für mich aber war alles sehr aufregend. Die Dampfmaschine war ungeheuer interessant. Sie pfiff genauso wie eine Lok. Riesenstücke von Steinkohle, groß wie Felsbrocken, mussten zertrümmert werden. Erst dann konnte man sie ins Feuerloch werfen. Beim Aschewegschaffen musste Vater sehr aufpassen, damit er mit den Funken der Glut nicht Feuer legte.

Aber das Dreschen war nicht bloß aufregend. Es gab immer ein gutes Frühstück bei den Bauern, und Pflaumen- und Apfelkuchen. Und nachdem wir mit dem Dreschen bei allen durch waren, feierten wir natürlich das Erntedankfest. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, ich hätte es nicht geglaubt: Die Bauern gingen im schwarzen Anzug und weißen Hemd, mit Fliege, Lackschuhen und weißen Handschuhen zum Tanz. Für die Schuhe benutzte man auf der Straße Galoschen. Meine Mutter erzählte später noch: „Ein Mann, der beim Tanz keine weißen Handschuhe trug, mit dem tanzte keine.“ Der Tanz ging die ganze Nacht durch, erst am nächsten Morgen kamen die Leute heim.

Meine Mutter war eine strenge Frau. Oft bekam ich eins hinter die Ohren. Mutters Ausspruch war immer, wenn ich etwas nicht richtig machte: Ich soll dir wohl die Karbonade scheuern! Vor allem aber war sie eine praktische Frau. Sie führte den Haushalt. Zu ihr kamen auch öfter Kranke. Wir hatten im Nachbarort nur einen Tierarzt, der Landarzt wohnte in der Stadt, und die war 25 Kilometer von uns entfernt. Mutter hatte vieles von Großmutter gelernt. Sie sammelte allerhand Kräuter, heilte Wunden, renkte Glieder oder Gelenke ein und gab für viele Schmerzen Pülverchen. Aber nicht nur Pülverchen. Man probiere es einmal selber aus: Ein doppelter Korn, dazu ein halber Teelöffel gemahlener Pfeffer – schön umrühren und runter damit! So konnte man sich den Arztbesuch wegen Magen- und Gallenschmerzen sparen. Ich musste meinen Teil zu Mutters „Praxis“ beitragen, indem ich Kamille, Breitwegerich, Lindenblüten und Holunderbeeren pflückte. Mutter besprach auch Flechten. Und wer weiß, was nicht noch alles: Zu uns kam öfter ein Mann mit Namen Julius. Vor dem hatte ich große Angst und lief anfangs davon. Aber Mutter holte mich zurück, und ich musste mich neben ihn setzen. Ich hatte keine andere Wahl, musste die Angst überwinden und gewöhnte mich daran. Julius war ein Zweimeter-Mann und sah aus wie ein richtiger Gorilla, total bewachsen mit langen Haaren, und dazu noch gerötete Augen! Welches Kind sollte sich da nicht fürchten! Ich glaube, dass er geschlechtskrank war, sein Verstand war nicht größer als der eines Kindes. Mit Zwiebelschalen färbte Mutter Wolle. Aus Kornblumen machte sie Wein. Das Rezept habe ich noch im Gedächtnis: 350 Kornblumen auf einen Liter Wasser, drei Wochen in die Sonne stellen, das Wasser wird rot, dann richtig filtern und den Gärprozess wie bei jedem anderen Wein mit Zucker und Hefe usw. einleiten.

Mutter braute auch Dunkelbier. Sie besorgte sich Hopfen und einige andere Zutaten. Ich erinnere mich auch daran: Nachts ging durch den Überdruck öfter im Keller eine Flasche auf. Dann hörte ich einen Knall, als wenn ein Schuss fiel. Dadurch wachte ich immer auf.

Eines Tages steht eine Kutsche auf unserem Hof. Tante Frieda, genannt Friedchen, die zweite Schwester meines Vaters, verheiratet mit einem Beamten, war aus Gumbinnen zu Besuch gekommen. Sie war eine schöne Frau. Aber ich denke, wenn man einen Menschen richtig betrachtet, so ist er immer schön, und die wenigen Hässlichen sind so hässlich, dass sie schon wieder schön wirken. Der Schauspieler Eddy Constantine sagte von sich, sein Gesicht würde wie ein Schuhabtreter aussehen, und doch wäre er ein schöner Mann, den die Frauen liebten. Tante Friedchen duftete immer stark nach Parfüm, ein Geruch, der für mich eine andere Welt bedeutete. Noch heute zieht mich Parfüm an wie ein Magnet. Es versetzt mich immer zurück in unseren blühenden Garten, mit Flieder, Jasmin, den Rosen und all den anderen Blumen. Und eben Tante Friedchen. Mit ihr wurden es ein paar lustige Tage. Wir fuhren zu Großmutter, zu Tante Hulda, Onkel Robert und Onkel Siegmund. Wir kamen ja so oft nicht zusammen, und da wurde dann alles erzählt, was inzwischen passiert war, wies mit den Wirtschaften ging, wer heiraten würde usw. usf. Und es wurde viel gegessen und getrunken und getanzt. Wenn wir zusammen waren, wurde tüchtig gefeiert. Da flogen aber die Gläser! Immer übern Kopf gegen die Wand oder auf die Erde! Jedenfalls bei der Begrüßung oder besonders bedeutsamen Gelegenheiten.

Wir schreiben das Jahr 1938. Das Leben wurde ernster. Ich musste im Herbst zur Schule. Weit zu laufen brauchte ich nicht, die Schule war nur 200 Meter von uns entfernt. Eine Schultasche hatte ich nicht, nur eine Schiefertafel mit Griffel und Schwamm, im ersten Jahr jedenfalls. Mehr brauchte man nicht. Später gab’s dann ein Heft mit verschiedenen Linien in einer Zeile, für die Groß- und Kleinbuchstaben. Die älteren und die jüngeren Schüler waren alle in einem Raum. Auf dem großen Schulhof hatten wir ein dolles Sportgerät, eine Eisenstange zwischen zwei Bäumen, für Klimmzüge und ähnliches. An Lehrer erinnere ich mich nicht mehr, nur daran, dass sie während des Krieges sehr streng waren. Wenn man unaufmerksam oder wenn irgendeine Schulaufgabe nicht erfüllt war, gab’s Prügel, mit dem Rohrstock auf die Handballen. Es tat unheimlich weh. In der Schule und auch zu Hause hörte ich jetzt den Namen Hitler zum ersten Mal. Ich hatte aber keine Vorstellung, wer oder was er eigentlich war. Mein Vater sagte mir später auf meine Frage, Hitler wäre der Führer des Deutschen Reiches. Da war ich genauso schlau wie vorher. Aber ich merkte wohl, dass die Menschen ernst wurden, und es gab, wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt, auch schon kleine Reibereien zwischen Deutschen, Ukrainern und Polen, bei den Erwachsenen, zwischen uns Kindern nicht. Die Schule war zwar so eingerichtet, dass auf einer Seite die Deutschen und auf der anderen Ukrainer und Polen ihre Räume hatten, aber in den Pausen waren wir zusammen. Es gab keine Schlägereien. Ich erinnere mich jedenfalls nicht daran. Was ich über das Verhältnis der Kinder zueinander noch im Gedächtnis habe ist: Die Großen passten darauf auf, dass die Kleineren nicht rauchten. Jedenfalls herrschte solch eine Atmosphäre, dass sich die Kleineren das Rauchen nicht trauten.

Im Herbst und Winter begann bei uns die Treibjagd, besonders auf Hasen. Das ging sehr früh am Tage los. Auf freien Flächen bildete man große Kessel, aus Trupps von fünf Treibern und einem Schützen. Die Kessel wurden immer kleiner gezogen, indem man aufeinander zuging. Die Treiber schrieen, und die Hasen, die auf dem Feld meistens in Furchen lagen, sprangen auf und konnten dann abgeschossen werden. Trotz vielen Bittens nahm mich mein Vater aber nicht zur Treibjagd mit, obwohl ich sonst zur Entenjagd mit ihm mitgehen durfte. So freute ich mich stets auf den Abend, da waren sie alle bei uns. Onkel Robert und Onkel Siegmund waren immer dabei. Auch Großmutter kam. Die Frauen fingen schon gleich nach dem Mittagessen wieder an zu kochen und zu braten. Abends wurde weiter gegessen, wieder wurde getrunken, man erzählte viele Geschichten. Das ging so bis in die Morgenstunden. Alle schliefen bei uns, am nächsten Tag erst fuhr jeder nach Hause.

1942/43 durfte ich das erste Mal eine solche Jagd mitmachen, als ich bei Onkel Robert war. Da fehlten aber schon mein Vater und Onkel Siegmund.