Der Engel von der Nonnenhöhe - Toni Waidacher - E-Book

Der Engel von der Nonnenhöhe E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Sebastian folgte mit schnellen Schritten dem roten Golf, der gerade an ihm vorbei gefahren war. Paul Deininger saß am Lenkrad und hatte ihm einen launigen Gruß zugerufen. Der junge Mann hatte doch gerade erst St. Johann verlassen? Auf Anordnung seines Vaters war er, zusammen mit seiner Verlobten, abgereist. Und Sebastian fragte sich, wieso Paul plötzlich wieder auftauchte. Es war kaum anzunehmen, dass ihn sein Vater zurückbeordert hatte.Der Golf fuhr auf den Parkplatz des Hotels und Paul stieg aus, reckte sich ausgiebig, schaute sich um, und sah den Bergpfarrer mit langen Schritten heraneilen. Schnell wollte er sich abwenden und ins Hotel gehen.Paul hielt an, verzog widerwillig das Gesicht und drehte sich um. Dann sagte er mit einem schiefen Grinsen um den Mund: »Ich glaube, St. Johann hat es mir angetan, Hochwürden. Ich habe es in Landshut nicht mehr ausgehalten.»Weiß Ihr Vater, dass Sie sich entschlossen haben, zurückzukommen?«, fragte Sebastian Trenker.»Nein.« Paul Deiningers Brauen hoben sich. »Über das Alter, ihn fragen zu müssen, bin ich hinaus. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig.»Ich verstehe«, versetzte Sebastian, der diesen Hinweis an ihn sehr wohl verstand.

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Der Bergpfarrer – 447–

Der Engel von der Nonnenhöhe

Alle lieben Erika!

Toni Waidacher

Sebastian folgte mit schnellen Schritten dem roten Golf, der gerade an ihm vorbei gefahren war. Paul Deininger saß am Lenkrad und hatte ihm einen launigen Gruß zugerufen. Der junge Mann hatte doch gerade erst St. Johann verlassen? Auf Anordnung seines Vaters war er, zusammen mit seiner Verlobten, abgereist. Und Sebastian fragte sich, wieso Paul plötzlich wieder auftauchte. Es war kaum anzunehmen, dass ihn sein Vater zurückbeordert hatte.

Der Golf fuhr auf den Parkplatz des Hotels und Paul stieg aus, reckte sich ausgiebig, schaute sich um, und sah den Bergpfarrer mit langen Schritten heraneilen. Schnell wollte er sich abwenden und ins Hotel gehen.

Da rief Sebastian energisch: »Herr Deininger, einen Augenblick …«

Paul hielt an, verzog widerwillig das Gesicht und drehte sich um. Dann sagte er mit einem schiefen Grinsen um den Mund: »Ich glaube, St. Johann hat es mir angetan, Hochwürden. Ich habe es in Landshut nicht mehr ausgehalten.«

»Weiß Ihr Vater, dass Sie sich entschlossen haben, zurückzukommen?«, fragte Sebastian Trenker.

»Nein.« Paul Deiningers Brauen hoben sich. »Über das Alter, ihn fragen zu müssen, bin ich hinaus. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig.«

»Ich verstehe«, versetzte Sebastian, der diesen Hinweis an ihn sehr wohl verstand. »Dann bleibt es mir nur, Ihnen einen angenehmen Aufenthalt zu wünschen, Herr Deininger. Ihr Vater wird sicher nix dagegen haben, wenn S’ ihm ein wenig zur Hand gehen.«

»Das wird sich herausstellen«, knurrte Paul und wandte sich ab. Er würde gleich seinem Vater gegenübertreten, und der würde Fragen stellen. Obwohl er sich mit demonstrativer Selbstsicherheit wappnete, war ihm mulmig zumute. Im Endeffekt war er von seinem Vater abhängig, und er hoffte auf dessen Verständnis. Allzu groß war die Hoffnung nicht, doch er hatte sich vorgenommen, sich dieses Mal auch gegen den Willen seines Vaters durchzusetzen.

In der Rezeption saß eine der drei Töchter des Hoteliers. Sie kannte Paul, denn er hatte ja schon für kurze Zeit hier gewohnt, und schaute ihn verblüfft an: »Schon wieder zurück, Herr Deininger?«

»Das sehen Sie ja. Ist mein Vater noch auf seinem Zimmer?«

»Nein. Ihr Herr Vater wollte nach dem Frühstück einen Spaziergang durch den Ort machen.«

»Also werde ich auf ihn warten. Kann ich noch ein Frühstück haben? Und wie sieht es aus mit einem Zimmer für mich. Ich habe mich spontan entschieden, nach St. Johann zurückzukehren, und es versäumt, bei Ihnen anzurufen.«

»Heut’ reist jemand ab, das Zimmer wird allerdings erst gegen zwei Uhr nachmittags bezugsfertig sein.«

»In Ordnung, ich nehme es. Wie sieht es aus mit einem Frühstück?«

»Geh’n S’ nur in den Frühstücksraum. Kaffee bring’ ich Ihnen. Wenn S’ vielleicht ein Ei möchten …«

»Ich schau mal, was noch da ist«, sagte Paul. Wo er den Frühstücksraum suchen musste, wusste er. Da es schon auf zehn Uhr zuging, hatten die meisten Gäste des Hotels ›Zum Löwen‹ bereits gefrühstückt und den Frühstücksraum wieder verlassen.

Nur noch ein Ehepaar saß an einem der Tische. Die beiden beachteten Paul nicht, da dieser es nicht für notwendig fand, zu grüßen. Er schritt das Frühstücksbüffet ab, legte sich Semmeln, Butter und Aufschnitt auf einen Teller und setzte sich an einen Tisch, an dem das Kaffeegeschirr noch unberührt war. Während er sich eine der Semmeln belegte, kam die Haustochter und brachte ein Kännchen mit Kaffee. »Soll ich Ihnen ein Ei kochen, Herr Deininger? Es macht mir nix aus.«

»Ein Spiegelei wäre mir lieber«, erklärte Paul. »Vielleicht auch zwei. Wäre das möglich?«

»Aber natürlich. Lassen S’ sich’s schmecken, Herr Deininger. Die Spiegeleier bring’ ich gleich.«

Paul nickte nur, schenkte sich Kaffee ein, auf Milch und Zucker verzichtete er, dann biss er in das belegte Brötchen.

Das Ehepaar verließ wenig später den Frühstücksraum und die Haustochter erschien, um den Tisch abzuräumen.

Paul hatte gerade den ersten Bissen seiner Spiegeleier probiert. Da betrat sein Vater den Raum.

Die junge Rezeptionistin hatte ihn auf dem Flur abgefangen und darauf hingewiesen, dass er seinen Sohn im Frühstücksraum finde. Mit wahrlich finsterer Miene kam er auf Pauls Tisch zu und blieb davor stehen. »Was willst du hier?«, stieß er hervor.

Paul schluckte den Bissen hinunter, an dem er gerade kaute, legte Messer und Gabel auf den Teller und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Hier gefällt es mir besser als in Landshut«, antwortete er.

Scharf stieß Jürgen die Luft durch die Nase aus. Ihm war nicht der Trotz entgangen, der in Pauls Stimme gelegen hatte. »Und was sagt die Anne dazu?«, schnappte er.

»Ich glaube, der ist es egal. Sie hat mir nämlich den Laufpass gegeben.« Paul hob seine linke Hand und spreizte die Finger. »Fällt dir was auf, Papa? Der Verlobungsring ist weg.«

Jürgen Deininger setzte sich. Fassungslos, geradezu entsetzt, sah er seinen Sohn an. »Erzähle schon! Wie ist es dazu gekommen? Wahrscheinlich hast du einmal wieder dafür gesorgt, dass die Sache den Bach hinuntergegangen ist.«

»Ich weiß, dass du mir nichts zutraust und dass ich in deinen Augen ein kläglicher Versager bin.« Paul zuckte mit den Schultern. »Daran habe ich mich gewöhnt.«

»Bisher hast du ja auch noch nichts gezeigt in deinem Leben«, knurrte Jürgen ungnädig, »das mich veranlasst hätte, mir eine höhere Meinung von dir zu bilden. Zuletzt hast du den Vogel abgeschossen, als du hier auf dem Tanzabend der Tanja Moser an die Wäsche gehen wolltest.«

Paul schob die Unterlippe vor und nickte. »Sie ist der Grund, weshalb ich wieder da bin. Ich habe mich ernsthaft in sie verliebt.« Als sein Vater etwas sagen wollte, hob er schnell die Hand. »Ich weiß, mein Benehmen, vor allem an dem Tanzabend hier im Hotel, war anmaßend und blöd. Aber ich habe zu Hause Zeit gehabt, nachzudenken, und jetzt weiß ich, dass ich die Tanja kriegen muss. Sie – oder keine.«

»Du musst übergeschnappt sein, Sohn. Falls du überhaupt je eine Chance bei ihr gehabt hättest, so hast du die verspielt. Warum hat Anne die Verlobung gelöst?«

»Weil ich ihr gesagt habe, dass ich die Tanja liebe.«

Jürgen warf den Kopf in den Nacken und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich werde verrückt! So ein Irrsinn! Die Tanja will nichts von dir wissen.« Er ließ die Hand wieder sinken, beugte sich vor, sein Blick wurde durchdringend. »Ich frage mich ernsthaft, ob du noch ganz bei Trost bist.«

Pauls Züge schienen zu versteinern. »Du solltest nicht so mit mir reden, Papa. Dieses Mal ist es mir nämlich ernst – sehr ernst. Ich spüre zum ersten Mal etwas in mir, das ich bisher noch nicht gekannt habe und – das ich bisher auch noch nicht so richtig zu spüren gekriegt habe, außer von der Mama.«

Sekundenlang schien Jürgen im Gesicht seines Sohnes zu lesen. »Ich habe deine Mutter sehr geliebt, Paul«, stieß er dann hervor. »Mehr als alles auf der Welt, und ich liebe sie immer noch. Das einzige, was ich ihr ankreide, ist, dass sie dich total verzogen hat. Mein Fehler war es, meine ganze Energie auf die Brauerei zu konzentrieren und Elsbeth voll und ganz deine Erziehung überlassen zu haben. Aber Schwamm drüber. Du willst die Tanja, und jetzt, da du einige Male bei ihr abgeblitzt bist, ist dein Jagdtrieb erst recht erwacht. Das ist keine Liebe, sondern allenfalls ein Strohfeuer, das schneller herunterbrennt, als du dir vorstellen kannst. Willst du noch mehr Menschen in deiner Umgebung unglücklich machen, als du …«

»Wenn du jetzt auf Anne anspielst, die hat schon länger über eine Trennung nachgedacht. Das hat sie mir gesagt, als ich ihr gestanden habe, dass ich immerzu an Tanja denken muss. Die ist nicht unglücklich. Ich glaube, Anne hat nur auf einen günstigen Anlass gewartet.«

»Das sagst du!« Jürgen schüttelte den Kopf. »Diesen Grund hättest du der Anne längst geliefert, wenn sie dich wirklich loswerden hätte wollen.« Seine Stimme sank herab. »Für mich bist du ein absoluter Ignorant, Sohn, ein Egoist ersten Ranges und ein vollkommen gefühlsarmer Mensch. Ich gebe dir den Rat, setz' dich sofort wieder in dein Auto, kehre nach Landshut zurück und tue alles, um die Anne zurückzugewinnen. Sie ist die richtige Frau für dich und – die einzige, die dir die Zügel anlegen kann.«

»Und wenn ich es nicht tue?«, blaffte Paul.

»Dann sind wir geschiedene Leute. Und das meine ich ernst. Dann gibt es für dich keinen Platz in der Brauerei, die ich hier aufbauen werde.«

»Die Zeiten, in denen du mir Befehle erteilen durftest, sind vorbei, Papa. Sieh das endlich ein. Ich bin kein kleines Kind mehr, und ich weiß, was ich tu’.«

»Nein, das weißt du nicht, Sohn. Aber du hast nun die Wahl …«

*

Sebastian Trenker war ins Pfarrbüro geeilt und rief von dort aus Tanja an. »Grüß dich, Tanja«, sagte Sebastian. »Ich wollt’ dich nur warnen. Vor wenigen Minuten ist der Paul Deininger in St. Johann angekommen. Keine Ahnung, warum, aber mein Bauchgefühl aber sagt mir, dass du der Grund sein könntest.«

»Dann hat er den Weg umsonst gemacht!«, rief Tanja. »Dass ihn die Anne überhaupt wieder weggelassen hat.«

»Es wird sich herausstellen, was dahintersteckt. Pauls Vater wird auch nicht gerade erbaut sein. Ich komm’ gerade vom Bürgermeister. Er hat mir erzählt, dass der Willi St. Johann verlassen will.«

»Ja, er hat es angekündigt. Nun, ­jeder ist seines Glückes Schmied. Es geht mich nix mehr an, was er aus ­seinem Leben macht. Vorhin hat mich noch seine Mutter angerufen und mich bekniet, ihm noch eine Chance zu geben. Ich habe ihr zu erklären versucht, dass ich keinen Sinn darin sähe, und am Ende hat sie mir die Schuld zugeschoben, wenn der Willi möglicherweise irgendwo in der Welt draußen – so hat sie sich ausgedrückt –, unter die Räder kommt.«

»Hat sie gesagt, wohin er gehen will?«

»Nein. Ihnen gibt sie allerdings auch eine Mitschuld, Hochwürden. Sie meint, dass Sie Willis Bitte, zu versuchen, mich umzustimmen, nachkommen hätten müssen.«

»Sie ist sicherlich verbittert«, gab Sebastian zu bedenken. »Dass ihr die Entwicklung net gefällt, ist verständlich. Aber sie wird sich wieder beruhigen, und irgendwann sieht sie vielleicht ein, dass niemand – außer Willi selbst – daran schuld ist, dass alles so gekommen ist.«

»Für mich ist das Thema Willi erledigt, Hochwürden«, betonte Tanja. »Hat der Bürgermeister auch etwas zur Brauerei gesagt?«

»Heut’ net. Aber ich hab sein Wort, dass er über Jürgen Deiningers Antrag objektiv urteilen und entscheiden will.«

»Gut, Hochwürden, ich weiß jetzt Bescheid. Und sollte sich der Paul bei mir blicken lassen, werde ich kein Blatt vor den Mund nehmen und ihm klarmachen, dass er mir gestohlen bleiben kann.«

»Dann weiß er gleich, wie der Hase läuft«, sagte Sebastian. »Grüß deine Mutter von mir.«

»Mach ich.«

»Dann pfüat di, Tanja.«

*

Es waren fünf Männer zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren, die mit zwei Autos auf den kleinen Parkplatz vor der Pension Edelweiß fuhren.

Die Burschen stiegen aus, einer von ihnen ging in die Pension und traf Marion Trenker im Flur an.

Marion hatte die beiden Fahrzeuge kommen sehen und war auf dem Weg nach draußen, um die Männer in Empfang zu nehmen. »Sie sind die Bergsteigergruppe aus Freudenstadt, net wahr?«, fragte die blonde Pensionswirtin lächelnd.

Der Ankömmling, ein Mann von etwa dreißig Jahren, groß gewachsen, mit brünetten Haaren und kantig-männlichem Gesicht, antwortete: »Ja. Mein Name ist Richard Kick. Ich habe die Zimmer bei Ihnen reserviert. Können wir sie beziehen, oder sind wir zu früh dran?«

»Die Zimmer sind fertig, Herr Kick. Sie können also ihr Gepäck hereinholen und auf die Zimmer bringen. Sie haben mir am Telefon gesagt, dass Sie die ›Kleine Wand‹ besteigen möchten. Einen Bergführer sollte ich aber nicht vorbestellen – ist das richtig?«

»Meine Freunde und ich haben einige Erfahrung am Berg«, nickte Richard Kick. »Wir haben schon so manche Wand bezwungen. Einen Bergführer brauchen wir nicht.«

»Die ›Kleine Wand‹ ist net so einfach«, gab Marion zu bedenken. »Der Name täuscht. Aber ich denk’, Sie ­haben sich kundig gemacht. Und wenn S’ über die nötige Erfahrung verfügen …«

»Ich denke schon«, sagte Richard, dann ging er hinaus und rief seinen Kameraden zu: »Die Zimmer sind bezugsfertig. Bringen wir unser Gepäck hinein. Und dann schau’n wir, dass wir irgendwo was zum Essen kriegen. Mir knurrt der Magen.«

Sie holten ihre Reisetaschen und Rucksäcke aus den Autos und gingen in die Pension.

Marion hatte ihren Platz hinter der Rezeption eingenommen. Sie sah fünf durchtrainierte, geradezu verwegen aussehende Burschen. Drei von ihnen hatten nackenlange Haare und ihre Wangen sowie ihr Kinn waren von Drei-Tage-Bärten überwuchert. Die Gesichter waren gebräunt, die Blicke wach und unternehmungslustig. Marion stufte sie spontan als junge Draufgänger ein, die Nervenkitzel suchten. Als sie das wenige Gepäck sah, fragte sie: »Wo haben S’ denn ihre Bergausrüstung? Ihre Rücksäcke sind ja fast leer. Wo haben S’ Ihre Bergschuhe, die Klettergurte, die Seile und die Helme. Wollen S’ das etwa alles im Sportladen ausleihen?«

»Das ganze Zeug brauchen wir nicht«, erklärte Richard Kick. »Wir sind Freikletterer, müssen Sie wissen, und wollen die ›Kleine Wand‹ ohne jedes Hilfsmittel bezwingen.«

»Sie sind verrückt!«, entfuhr es Marion entsetzt. »Lassen S’ sich bloß net vom Namen des Felsens täuschen. Die ›Kleine Wand‹ ist alles andere als klein. Es ist eine fast senkrechte, wohl an die hundert Meter hohe Wand. Die ersten fünfzehn oder zwanzig Meter sind net ganz so steil. Aber dann wird’s kritisch. Ein sehr guter Freeclimber, der aufgeben musste, hat mal gesagt, dass sich an der Wand net mal eine Fliege halten kann.«

»Wir werden beweisen, dass es geht«, erklärte Richard Kick seelenruhig.

In dem Moment kam ihr Mann Andreas die Treppe herunter. »Ah, die Seilschaft aus dem Schwarzwald, nehm’ ich an«, rief er. »Grüß euch! Mein Name ist Andreas.«

»Nix Seilschaft«, sagte seine Frau. »Sie wollen die ›Kleine Wand‹ ohne jede Hilfsmittel ersteigen. Wahrscheinlich in der Badehose und barfuß.«

Andreas Trenkers Grinsen erlosch. »Das ist net Ihr Ernst, oder doch?«

»Wir haben es uns vorgenommen«, erwiderte einer der Burschen, einer mit nackenlangen Haaren und dem Drei-Tage-Bart. »Und alles, was wir uns bisher vorgenommen haben, das haben wir auch geschafft.«

Andreas wiegte den Kopf und stieß hervor: »Die ›Kleine Wand‹ hat schon mehrere Opfer gefordert. Und das waren alles erfahrene und gut ausgerüstete Bergsteiger. Davon, die Wand ohne jede Sicherung besteigen zu wollen, rate ich entschieden ab.«

»Versuchen werden wir es auf jeden Fall«, erklärte Richard Kick mit Nachdruck in der Stimme.

»Ich werd’ Sie net davon abhalten können«, murmelte Andreas. »Ich denk’ aber, allein der Anblick des Felsens belehrt Sie eines Besseren.«

Marion gab die Zimmerschlüssel aus, und Andreas ging vor den fünf Burschen her nach oben, um ihnen die Zimmer zu zeigen.

»Wann haben S’ denn vor, aufzusteigen?«, fragte Andreas an Richard Kick gewandt, als sie alleine waren, weil Richards Gefährten bereits ihre Zimmer zugewiesen bekommen hatten.

»Übermorgen in der Früh. Morgen werden wir uns die Wand mal anschauen und die Aufstiegsroute festlegen.«

»Überlegen S’ sich das gut«, mahnte Andreas. »Der Felsen ist net ohne.«

»Vielen Dank für die Warnung«, lächelte Richard. »Aber wir haben den weiten Weg nach St. Johann nicht gemacht, um am Ende zu kneifen. Haben Sie schon von den Huberbrüdern gehört?«

»Freilich. Wer hat noch net von den beiden gehört? Wollen S’ etwa so berühmt werden wie die zwei?«

»Nein. Aber die beiden wären wohl kaum so berühmt geworden, wenn Sie jedes Mal den Schwanz eingezogen hätten, bloß weil man ihnen einzureden versucht hat, dass das, was sie vorhaben, nicht zu schaffen ist.«

»Ich will Ihnen nix einreden«, sagte Andreas leise aber eindringlich. »Es war eine ernst gemeinte Warnung.«

*

Am späten Nachmittag, Tanja verabschiedete gerade einen Patienten, betrat Paul Deininger die Praxis. Tanja verschluckte sich fast an ihren Worten und bekam einen Hustenanfall.