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April 1920. Watson erhält von Holmes ein Telegramm mit der Aufforderung, sich umgehend zu ihm in die Downs aufzumachen. Der Doktor erfährt vom Erhalt eines anonymen Päckchens, dessen Inhalt den im Ruhestand befindlichen Meisterdetektiv zutiefst beunruhigt. Seine ärgsten Befürchtungen bestätigen sich, denn wenig später liegt eine misshandelte Leiche auf der Türschwelle von Holmes' Cottage. Als weitere Gewalttaten folgen, müssen sie erkennen, dass eine diabolische Charade im Gange ist, die ihnen nicht nur alles abverlangt, sondern auch düstere Schatten der Vergangenheit heraufbeschwört.
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Seitenzahl: 194
Peter Jackob
SHERLOCK HOLMES
THE LATE CASES
von
Peter Jackob
Originalausgabe 2024
1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten
© Peter Jackob, Fischergasse 4, 55116 Mainz
www.peterjackob.de
Gestaltung und Satz: Wordwide GmbH, Mainz
Gestaltung Umschlag: Axel Weber
Cover: © Black White Mouse, AdobeStock; Ruth Black_AdobeStock;
Treatzone_AdobeStock
edition-tz.de
TZ-Verlag & Print GmbH, Roßdorf b. Darmstadt
Druck und Bindung: TZ-Verlag & Print GmbH
ISBN: 978-3-96031-057-0
Ein Telegramm
Das Wiedersehen
The Fisherman’s Dream
Brisanter Inhalt
Eine alte Bekanntschaft
Rückzug
Miss Kitty Winter
Der Bericht
Brighton – London – Brighton
Shinwell Porky Johnson
Langdale Pike
Sir James Damery
... und zweitens als man denkt
Hat der Wahnsinn Methode?
Der Aufbruch
Die Gewissheit wächst
Place Kléber
Inter Lacus – zwischen den Seen
Der Vorhang hebt sich
Die Bühne ist bereitet
Der Fall Reichenbach
Dem Glücklichen schlägt keine Stunde
Kein Mythos nie
Zurück in den South Downs
Für K.K.
»The appeal was one which could not be ignored. It was impossible to refusethe request of a fellow-countrywoman dying in a strange land.
Yet I had my scruples about leaving Holmes.«
Sir Arthur Conan Doyle: »The Final Problem« (1893)
Lange Jahre hatte ich Sherlock Holmes nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wie allgemein bekannt sein dürfte, hatte mein berühmter Freund London den Rücken gekehrt und sich auf seinen Alterssitz in die South Downs zurückgezogen. Der einzige Kontakt bestand darin, einander in unregelmäßigen Abständen Briefe zu schreiben und uns über die Lebensumstände des anderen zu erkundigen.
Jedes Mal, wenn ich an seine hagere Gestalt, die hohe Stirn, die Adlernase und seine durchdringenden, schlauen Augen dachte, spürte ich, wie mir ein Lächeln über die Lippen huschte. Dieser geniale, launische Eigenbrötler, dessen Verhalten von seinen Mitmenschen gerne als hochmütig und abweisend beschrieben wurde, würde immer ein Teil von mir sein. Warum ausgerechnet ich hinter die undurchdringliche Maske seines Wesens blicken durfte, wird wohl sein Geheimnis bleiben. So gingen die Jahre ins Land, der große Krieg war gekommen und endlich vorüber, und das Leben schien allmählich wieder in geregelten Bahnen abzulaufen.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, es war der 15. April 1920, als ich nicht etwa einen Brief, sondern wie zu früheren Zeiten, ein Telegramm von ihm erhielt. Warum wir nie miteinander telefonierten, hätte ich beim besten Willen nicht sagen können. Zu meiner völligen Verblüffung bat er mich, ihn umgehend in den Downs aufzusuchen. Die Nachricht klang ausgesprochen dringlich und endete mit den Worten:
Wenn Ihnen etwas an mir liegt, machen Sie sich auf den Weg. FdF, Sie wissen schon, Watson. SH
Reichlich irritiert ließ ich das Blatt sinken. FdF, der Fall der Fälle, wie wir ihn genannt hatten. Holmes hatte mich vor Jahren darauf eingeschworen, egal unter welchen Umständen, kein Wort darüber zu verlieren. Warum erwähnte er ihn jetzt? Gab es noch etwas Neues darüber zu sagen? Das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich begann zu spekulieren – ging es Holmes gesundheitlich schlecht? Wollte er am Ende seines Lebensweges ein letztes Mal mit mir über vergangene Zeiten sprechen? Ich entschied, ihn so schnell wie möglich aufzusuchen. In meinem Antworttelegramm kündigte ich mich für den 18. April an. Seine Replik ließ nicht lange auf sich warten. Darin hieß es in seiner typisch lapidaren Art: »Ich erwarte Sie, alter Junge.«
Am Tag meiner Reise in die Downs machte ich mich am frühen Morgen zur Victoria Station auf und nahm den ersten Zug in Richtung Sussex. Ich hatte die vergangene Nacht äußerst schlecht geschlafen, wirre Gedanken über den gesundheitlichen Zustand meines Freundes waren mir durch den Kopf gegangen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es wäre, ihn das letzte Mal zu sehen. Überlegungen dieser Art hatte ich bislang verdrängt, denn auch wenn wir uns nicht sahen, war Holmes immer ein Teil meines Lebens geblieben. In welcher Verfassung würde er sein?, fragte ich mich.
Es ist wahrlich kein Geheimnis, dass es einer Herkules-Aufgabe gleicht, in Würde zu altern, und ich hoffte inständig, dass es ihm gelang. Meinen Gedanken nachhängend, saß ich im Abteil und verlor mich im Anblick der Landschaft. Viele Male hatten wir in Zugabteilen auf dem Weg zu schier unlösbaren Verbrechen gesessen. Es waren aufregende und unvergessliche Abenteuer gewesen, obwohl mir Holmes ein ums andere Mal sprichwörtlich den letzten Nerv geraubt hatte. Dennoch war es jede Mühe Wert gewesen.
Nach geruhsamer Fahrt erreichte ich schließlich den Bahnhof von Eastbourne, stieg unverzüglich auf dem Vorplatz in ein Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse meines langjährigen Gefährten. Ganz offenkundig wollte der Mann hinter dem Steuer etwas loswerden, aber es brauchte mehrere Anläufe, bis er sich zu Wort meldete.
»Da wohnt doch dieser Sherlock Holmes, Sir?«
Ich bejahte einsilbig. Den Mann drängte es, mehr über ihn zu berichten.
»Das ist der berühmte Detektiv aus London. Er lebt schon seit einigen Jahren hier, ist im Ruhestand.«
»Das ist mir bekannt.«
Der Taxifahrer gab trotz meiner auffällig kurzen Antworten nicht auf.
»Das soll ein ziemlich eigenartiger Mensch sein, wie ich gehört habe.«
Er wartete kurz ab. Da ich nicht reagierte, raunte er mir schließlich zu:
»Züchtet wohl Bienen und macht lange Spaziergänge.«
Eine weitere Pause folgte, die die Wichtigkeit der nun folgenden Aussage betonen sollte. Erst räusperte er sich etwas zu laut, dann bemerkte er mit übertrieben gedämpfter Stimme: »Wenn Sie mich fragen, ist da nicht viel dahinter.«
Weil ich auch jetzt nicht auf seine Andeutungen einging, schwieg er endlich. Nach weiteren zehn Minuten endete die Fahrt vor einem idyllischen Cottage, das etwa hundert Yards von der Straße entfernt inmitten der Landschaft lag. Der Fahrer ließ es sich nicht nehmen, mir einen letzten Hinweis mit auf den Weg zu geben.
»Sie müssen klopfen. Es gibt keine Klingel, Sir.«
Ihm für die Auskunft dankend, zahlte ich und stieg mit meinem handlichen Lederkoffer aus. Ich sah mich um und atmete tief durch, die frische Luft war ausgesprochen wohltuend. Die weite, hügelige Landschaft wirkte einladend und hob meine Stimmung, doch hatte mich die Reise mehr mitgenommen als erwartet. Ich war froh, vor dem schön gelegenen Cottage meines alten Freundes zu stehen, mit dem ich so viele gemeinsame Abenteuer bestanden hatte.
Seit der Ankunft am Bahnhof war meine Anspannung stetig gewachsen, aber erst jetzt spürte ich, wie sehr mich unser anstehendes Wiedersehen bewegte. Ich stand da und konnte einfach nicht weitergehen. Wie würde der erste Moment sein? Bei unserem letzten Zusammentreffen hatte Holmes den Agenten Von Bork dingfest gemacht, allerdings war es mir in meinem Bericht nicht vergönnt gewesen, mehr als einen kleinen Teil des vielschichtigen Falls darzulegen. Wir hatten bei unseren Gesprächen die Ereignisse rund um die Überführung des deutschen Agenten, bei dem Holmes mich um besondere Verschwiegenheit gebeten hatte, nicht etwa wie in meiner literarischen Bearbeitung »Die Abschiedsvorstellung«, sondern »Der Fall der Fälle« genannt. Unweigerlich kam mir wieder der große Krieg in den Sinn, der endlich hinter uns lag, wie auch die erschütternden Nachwirkungen, die Europa bis zum heutigen Tag beeinträchtigten. Vieles war nicht mehr so wie zuvor, die schrecklichen Kriegswirren hatte die Menschen bis ins Mark getroffen. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass die gute alte Zeit vorüber war.
Schließlich fand ich die Kraft, mich zu überwinden, passierte den kleinen Vorgarten und klopfte. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Eine Weile geschah nichts, dann öffnete sich knarrend die schwergängige Eingangstür – vor mir stand Sherlock Holmes in eine Rauchwolke gehüllt, seine Meerschaumpfeife schmauchend. Mein ehemaliger Gefährte hatte, wie schon zu früheren Zeiten, den mausgrauen Morgenmantel angelegt. Passend dazu trug er einen dunkelgrauen Seidenschal und zog wiederholt an seiner Pfeife. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann bemerkte er beiläufig, als wäre ich gerade erst am gestrigen Tag bei ihm zu Besuch gewesen:
»Ah, da sind Sie ja endlich, Watson. Kommen Sie rein, die Zeit drängt und wir haben einiges zu besprechen.«
Damit stieß er die Tür auf und ging zurück in den Flur.
»Sie können hier an der Garderobe ablegen. Am Ende des Gangs befindet sich das Wohnzimmer. Dort erwarte ich Sie.«
Nach den vielen gemeinsamen Jahren war ich an seine Verschrobenheit gewöhnt; eine Umarmung hatte ich nicht erwartet, aber doch wenigstens einen Händedruck. Ich hörte Holmes noch sagen, dass die Situation ausgesprochen ernst sei und keinen Aufschub dulde. Einigermaßen verwirrt legte ich also Mantel, Hut und Handschuhe an der Garderobe ab, stellte meinen Koffer daneben und folgte ihm.
Beim Betreten des Zimmers war meine Verwunderung schier grenzenlos, denn es glich unserem ehemaligen Wohnraum in der Baker Street in einer Weise, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Aber anstatt mitten in das pulsierende Herz der Millionenstadt London zu schauen, war bei dem Blick nach draußen lediglich ein gepflegter Garten zu bestaunen. Holmes bot mir einen Platz am Kamin an und begann ein Gespräch.
»Ich hätte nie angenommen, dass Gartenarbeit so entspannend sein kann. Einen Brandy, Watson?«
Ich nahm dankend an. Endlich fand ich Gelegenheit, meinen Freund ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. Mit Ausnahme der üblichen Alterungserscheinungen wie dünner werdendem Haar, faltiger Haut und leicht gebückter Haltung, die mir bereits im Flur aufgefallen war, schien es ihm gut zu gehen. Natürlich war mein Urteil ein wenig getrübt, denn es liegt nun einmal in der Natur des Menschen, Gebrechen bei einer lieb gewonnenen Person nicht wahrhaben zu wollen. Er unterbrach meinen Gedanken in seiner gewohnt ruppigen Art.
»Watson, mit mir ist gesundheitlich alles in Ordnung, obwohl ich, entgegen meiner früheren Gewohnheit, nichts gegen eine gründliche Untersuchung Ihrerseits einzuwenden hätte.«
Mir war mein Erstaunen sicherlich anzusehen, aber Holmes schwieg dazu.
»Eine ausgezeichnete Idee. Sagen Sie mir, wann es Ihnen recht ist. Die notwendigen medizinischen Instrumente habe ich ohnehin mitgebracht.«
»Sie hatten allem Anschein nach Sorge, mich auf dem Sterbebett anzutreffen. Das, muss ich zugeben, habe ich nicht bedacht.«
Er legte Holz nach, dann stießen wir an.
»Sie scheinen verwundert, dass ich die Einrichtung und deren Anordnung aus der Baker Street fast vollständig in die Downs überführt habe.«
»Nur keine Experimente«, spottete ich.
»Ganz gewiss nicht in Sachen Einrichtung, mein Lieber. Das Leben ist Versuchsanordnung genug.«
Er trank einen Schluck und umschloss das Glas mit seinen Händen.
»Wie geht es Ihnen?«, versuchte er von sich abzulenken.
Statt meine Antwort abzuwarten, sprach er einfach weiter.
»Abgesehen davon, dass Sie erschöpft sind von der Reise, scheint es Ihnen, mit Ausnahme des kriegsverletzten Beins, das Ihnen bei kaltfeuchtem Wetter mehr noch als zu unserer gemeinsamen Zeit das Gehen erschwert, sowie der augenfälligen Tatsache, dass Sie zuweilen schlecht Luft bekommen und unter Hitzeattacken leiden, gesundheitlich recht passabel zu gehen.«
»Was Sie nicht sagen, Holmes. Hypertonie oder Bluthochdruck ist die Erklärung für meine leichten Atemprobleme und die Hitzeattacken. Nicht zu vergessen, die Schmerzen in der Schulter.«
Als würde mich seine Bemerkung reizen, überkam mich mit einem Mal Lust zu rauchen.
»Haben Sie vielleicht ein Zigarillo für mich? Eine Zigarette erscheint mir angesichts unseres Wiedersehens ein wenig zu profan.«
Er stand auf, griff eine Holzkiste vom Kaminsims und hielt mir eine Zigarre hin; der Binde nach zu urteilen, handelte es sich um ein vorzügliches Exemplar.
»Zigarillos sind gerade keine im Haus. Wären Sie auch mit einer Zigarre einverstanden? Ein Geschenk des kommenden kubanischen Präsidenten Alfredo Zayas, dem ich bei einem nicht unerheblichen Problem mit seinem mächtigen Nachbarn habe helfen können. Seitdem lässt er mir regelmäßig eine Kiste zukommen. Also, wenn feierlich, dann doch in angemessener Weise, würde ich vorschlagen.«
»Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu.«
Holmes wirkte gelassener und warmherziger als früher. Er schien ganz die innere Verfassung eines gereiften Menschen zu haben. Wir stießen erneut an.
»Schön, dass Sie gekommen sind. Auf die alten Zeiten.«
»Auf die alten Zeiten.«
Trotz seiner guten Laune wurde ich den Eindruck nicht los, dass ihm etwas auf der Seele lag. In dem Telegramm hatte er bereits angedeutet, dass die Zeit drängte, auch wenn er nach wie vor nicht darauf einging. Also übernahm ich die Initiative.
»Warum haben Sie mich gebeten, zu Ihnen zu kommen?«
Holmes, der eben noch entspannt und ruhig gewirkt hatte, schien plötzlich etwas nervös. Er schenkte uns noch einmal Brandy nach, kümmerte sich um das Feuer und setzte sich wieder.
»Was sollte der Hinweis auf den ›Fall der Fälle‹ in Ihrem Telegramm?«, hakte ich nach.
»Geben Sie mir noch ein paar Minuten.«
»Ganz wie Sie meinen.«
Ich schloss die Augen und lauschte dem Prasseln des Kaminfeuers. Holmes war dem Geräusch nach aufgestanden und ging im Zimmer umher. Dass es dem Wohnraum aus unseren gemeinsamen Tagen in der Baker Street glich, konnte ich noch immer nicht recht fassen. Offenkundig war es ihm nicht leichtgefallen, die Jahre als beratender Detektiv hinter sich zu lassen. Er musste im Verborgenen weitergearbeitet haben. Das konnte ich mir zwar kaum vorstellen, doch das Telegramm, wie auch die Einrichtung des Wohnzimmers, legten dies nahe. Hatte er den Experimentiertisch mitgenommen?, überlegte ich und schlug die Augen auf. Ich sah mich um und entdeckte ihn schließlich.
»Warum sollte er fehlen?«, meldete sich Holmes zu Wort.
Ich wollte endlich Antworten.
»Wie darf ich das alles verstehen? Das nebulöse Telegramm, ihre kryptischen Andeutungen zum ›Fall der Fälle‹ und die fast unheimlich anmutende Ähnlichkeit des Wohnraums mit dem in der Baker Street. Sind Sie auf Ihre alten Tage etwa zum Nostalgiker geworden?«
Letzteres bemerkte ich in der Hoffnung, dass er dies weit von sich weisen und endlich über den wahren Grund unserer Zusammenkunft sprechen würde. Ein langes Schweigen folgte, dann rang er sich zu einer überraschenden Antwort durch.
»Na ja, vielleicht schon.«
Sein schwaches Lächeln schien die Aussage zu untermauern. Ich geriet in Rage.
»Haben Sie mich ohne handfeste Notwendigkeit hergebeten? Das kann nicht Ihr Ernst sein. Ich habe mir die größten Sorgen um Sie gemacht.«
»Sie klingen verärgert, Watson.«
Holmes’ Tonfall empfand ich als herablassend. Mein Unmut wuchs.
»Wie würden Sie sich fühlen? Gleichwohl es lange her ist, reagiere ich angesichts der Ereignisse am Reichenbachfall zugegebenermaßen auch heute noch etwas empfindlich bei dem Thema Aufrichtigkeit. Sie kennen meine Ansicht, es wäre Ihre verdammte Pflicht gewesen, mich einzuweihen. Das denke ich bis zum heutigen Tag. Gerade deshalb sollten Sie nicht so gedankenlos handeln. Ihre telegrafische Hiobsbotschaft hat mich das Schlimmste befürchten lassen. Ich reise hierher und Sie offenbaren mir, dass der Grund für dieses Theater Nostalgie ist? Das finde ich, gelinde gesagt, ungeheuerlich. Wenn ich nicht so angestrengt und müde wäre, würde ich auf der Stelle abreisen. Vermutlich weiß Mycroft auch dieses Mal wieder Bescheid.«
Ich konnte es zwar nicht zugeben, aber ebendiese Tatsache hatte mich damals am stärksten gekränkt.
»Nein, Bruder Mycroft weiß nichts von alledem. Und seien Sie versichert, ich habe am Reichenbachfall nur zu Ihrem Besten gehandelt.«
»Das hätte ich doch lieber selbst entschieden, Holmes. So viel Vertrauen muss man einfach erwarten können. Aber trotz allem habe ich unsere Beziehung nie darunter leiden lassen.«
Mich überraschte meine harsche Reaktion.
»Mir ist heute bewusst, dass ich Ihr Befinden falsch eingeschätzt habe.«
Das knisternde Kaminfeuer war eine wahre Wohltat. Warum sagte Holmes mir nicht geradeheraus, was ihn beschäftigte? War er wirklich nur nostalgisch? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr schien es mir ein Vorwand zu sein, wenngleich nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Nachdem das Feuer heruntergebrannt war, kam ich ihm zuvor und legte Brennholz nach. Endlich schien er sich erklären zu wollen.
»Watson, ich muss Sie bitten, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Die Zusammenhänge sind komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die ganze Angelegenheit ist ausgesprochen heikel, und ich weiß nicht recht, wie und wo ich beginnen soll.«
»Vielleicht klären Sie mich einfach auf«, konnte ich mir einen gewissen Sarkasmus nicht verkneifen.
Holmes zögerte kurz.
»Ich musste sicherstellen, dass Sie London auf jeden Fall verlassen und zu mir in die Downs kommen.«
Er hielt erneut inne, sprach dann aber zügig weiter.
»Was halten Sie davon, wenn wir einen Spaziergang unternehmen? Unterdessen bringe ich Sie auf den aktuellen Stand.«
Ich glaube sagen zu können, weder nachtragend noch eitel zu sein, sonst hätte ich es wohl kaum die ganzen Jahre mit einem derart selbstbezogenen Menschen wie Sherlock Holmes ausgehalten. Zu früheren Zeiten war es häufig so gewesen, dass man sich im ersten Moment verärgert von ihm abwenden wollte, aber angesichts dessen, was dann für gewöhnlich ans Licht kam, verzieh man ihm seine Eskapaden ohne viel Aufhebens.
»Also gut, lassen Sie uns spazieren gehen. Überzeugen Sie mich.«
Feuchtkalter Wind empfing uns, als wir vor das Cottage traten. In stillem Einvernehmen liefen wir, wenn mich mein Orientierungssinn nicht täuschte, die Landstraße entlang in Richtung Meer. Wie Holmes richtig erkannt hatte, machte sich mit zunehmendem Alter an kühlen Tagen wie diesen die Kugel in meinem Bein stärker bemerkbar. Aber auch an der Konstitution meines Freundes nagte die Zeit. Früher wäre er voller Elan vorausgeeilt, und ich hätte kaum folgen können. Jetzt fiel mir schon nach wenigen Yards auf, dass es vielmehr ihm Schwierigkeiten bereitete, mit mir Schritt zu halten. Also verlangsamte ich unauffällig das Tempo, bis wir einträchtig nebeneinanderher gingen. Mein Ärger über sein Verhalten kam mir jetzt ziemlich lächerlich vor. Ich spürte diese wunderbar distanzierte Vertrautheit zwischen uns. Obgleich wir gealtert und sicherlich davon gezeichnet waren, hatte sich unser Verhältnis in all den Jahren nicht verändert. Dieser unkonventionelle, in Momenten unnahbare und schwierige Einzelgänger würde auf ewig einen Platz in meinem Herzen haben.
Nach etwa zwanzig Minuten näherten wir uns dem Dorf Heads Hill, das nicht weit von East Dean entfernt lag. Holmes hatte sich noch immer nicht geäußert und steuerte auf einen Pub namens The Fisherman’s Dream zu.
»Was halten Sie von einem Ale und einer zünftigen englischen Mahlzeit zur Stärkung, mein lieber Watson?«
»Ich könnte in der Tat etwas Herzhaftes vertragen.«
Wir betraten den Gastraum. Die Anwesenden begrüßten Holmes freundlich, aber mit einer gewissen Zurückhaltung. Er war offensichtlich bestens bekannt hier. Mein Begleiter wies mir den Weg zu einem Tisch links in der Ecke neben dem Tresen. Mir fiel gleich ein kleiner Holzklotz in Form von Pfeife und Lupe auf, an dessen Fuß ein Messingschild mit der Inschrift Reserviert prangte.
»Sie sind öfter hier«, stellte ich lächelnd fest.
»Sehr richtig beobachtet.«
Der Wirt kam zu uns an den Tisch und stellte sich mir vor.
»Ich bin Maxwell Packer, genannt Fisherman. Sie müssen Dr. Watson sein.«
»Der bin ich.«
»Ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sir.«
»Ganz meinerseits, Mister Packer.«
»Ich geh’ mal davon aus, die Herren wollen ein frisches Ale und ’was zu essen.«
Holmes schaltete sich ins Gespräch ein.
»So ist es, Packer. Legen Sie sich ins Zeug, ich möchte keine Klagen von meinem Freund hier zu hören bekommen.«
»Es wär’ das erste Mal, dass sich jemand über’s Essen beim Fisherman beschwert.«
Er wischte mit seinem Tuch über den sauberen Tisch, als wolle er so jeden Zweifel an seiner Ankündigung bereinigen, und ging zurück zum Tresen.
»Seine Frau ist eine ausgezeichnete Köchin, Watson. Außerdem schaut sie einmal die Woche im Cottage vorbei und kümmert sich um den Haushalt.«
Packer brachte uns das Ale, und wir stießen an.
»Gut, dass Sie hier sind, mein Lieber.«
Holmes schien in den Downs seinen Frieden gefunden zu haben, obwohl man sich bei ihm nie ganz sicher sein konnte. Der Fisherman’s Pie, die Spezialität des Hauses, wurde serviert. Holmes hatte nicht zu viel versprochen, der traditionelle Auflauf mit Kabeljau und Garnelen in einer weißen Sauce, schmeckte vorzüglich. Anschließend rauchten wir, er seine Pfeife, und ich den Rest der Zigarre von heute Mittag. Packer kam zu uns und stellte den bevorzugten Digestif meines Gefährten, einen Chartreuse, mit zwei Gläsern auf den Tisch. Noch immer wartete ich darauf, dass Holmes mir den wahren Grund seines Telegramms offenbarte. Ging es tatsächlich um den »Fall der Fälle«, oder war dessen Erwähnung nur der Köder gewesen, um mich in die Downs zu locken? Ich genoss zwar den Augenblick, doch meine Ungeduld wuchs. Mit einem Mal unterbrach Holmes seinen Vortrag über den ersten Satz von Bruckners Neunten, den er als eine der Sternstunden der europäischen Musik bezeichnete, und wandte sich mir zu.
»Sie warten auf eine Erklärung.«
»Glauben Sie wirklich, eine reicht aus?«
Er legte die Pfeife zur Seite und sah mich an. Sein Blick war konzentriert und durchdringend, ganz so, wie ich es aus unseren gemeinsamen Tagen in der Baker Street kannte. Er lehnte sich fast unmerklich zu mir vor und bemerkte leise:
»Es gibt einen Umstand, der mir große Sorgen bereitet.«
»Worum geht es denn? Steht die Angelegenheit in Verbindung mit dem ›Fall der Fälle‹?«
Er wartete kurz ab und setzte erneut zum Sprechen an.
»Vor vier Tagen erhielt ich ein Päckchen ohne Absender. Es erregte meinen Argwohn, denn nur wenige Personen kennen meine Adresse hier in den Downs. Jemand hatte sich nicht nur die Mühe gemacht, sie herauszufinden, was kein einfaches Unterfangen ist, er schickte mir außerdem diese Postsendung, ohne sich zu erkennen zu geben. Natürlich musste ich gleich an Culverton Smith denken.«
Ich erinnerte mich an den heimtückischen Plan des ehemaligen Plantagenbesitzers. Smith hatte Holmes anonym ein Päckchen mit einer kostbaren elfenbeinernen Schatulle zugesandt, in der sich eine scharfe, mit einem höchst seltenen asiatischen Fieber infizierte Springfeder befand. Aber der brillanteste der Detektive durchschaute den Plan, fingierte seine Erkrankung und überführte Smith bei der direkten Konfrontation in unserem Wohnraum. Mit mir als heimlichen Zeugen.
»Das war die großartigste schauspielerische Leistung Ihrer Karriere, Holmes. Wenn ich daran denke, wie Sie delirierend über Austern phantasierten. Unerreicht!«
»Übertreiben Sie mal nicht, mein Lieber. Zurück zu unserem aktuellen Problem. Ich habe das Päckchen mit größter Vorsicht einer genauen Kontrolle unterzogen und lediglich ein Fläschchen darin gefunden. Es hat mich einige Zeit und Mühe gekostet, den Inhalt zu bestimmen. Ich war zugegebenermaßen überrascht.«
»Spannen Sie mich nicht auf die Folter. Worum handelt es sich denn?«
»Vitriolöl oder Schwefelsäure«, war seine kurze, unmissverständliche Antwort.
Ich sah ihn erstaunt an. Vitriolöl? Im Laufe unserer gemeinsamen Zeit war mir diese teuflische Substanz nur im Fall des »Illustren Klienten« begegnet.
»Denken Sie etwa, dass Baron Gruner der Absender dieses Päckchens ist?«, platzte ich heraus.
Der österreichische Adelige galt seinerzeit als der gefährlichste Mann Europas. Neben der nicht nachzuweisenden Ermordung seiner Ehefrau am Splügenpass und dem Tod eines vermeintlichen Zeugen der Tat, ging auch die Attacke auf den französischen Agenten Le Brun, der Gruners verbrecherischen Machenschaften nachspürte, auf sein Konto. Le Brun wurde im Stadtteil Montmartre von den Schergen des Barons zum Krüppel geschlagen. Dazu kam eine Unmenge anderer Taten. Auch Holmes sah sich einem ähnlichen Anschlag wie Le Brun ausgesetzt, aber seine Fähigkeiten im Stockfechten bewahrten ihn vor dem Schlimmsten.
Bei dem Aufeinandertreffen mit Sherlock Holmes waren das Gesicht und die rechte Hand des Barons durch die Vitriol-Attacke seiner ehemaligen Mätresse Kitty Winter stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Detektiv war mit ihr in Gruners Haus eingedrungen, um gemeinsam dessen geheimes Tagebuch in seinem Arbeitszimmer zu suchen. Als mein Kamerad entdeckt wurde und sich mit einem Sprung vom Balkon in den Garten rettete, wollte ihm der Österreicher nachsetzen. Doch dazu kam es nicht, denn Kitty Winter spritzte ihm Vitriol ins Gesicht. Eine grauenvolle Tat. Sann der Baron nach knapp zwanzig Jahren auf Rache? Holmes unterbrach meine Gedanken.
»Ich vermute, dieses spezielle Präsent muss man als Warnung verstehen, von wem auch immer es stammt. Das ist im Übrigen auch der Grund, warum Sie hier sind, Watson, denn wir beide waren maßgeblich daran beteiligt, dass es in jener Nacht zu der Attacke gegen Gruner hatte kommen können. Sie haben den Baron erlebt, er ist ein eiskalter, skrupelloser Mörder und ein Meisterhirn dazu – eine äußerst gefährliche Kombination. Solange wir nichts Gegenteiliges herausfinden, sollten wir davon ausgehen, dass er der Absender des Fläschchens ist.«