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Ruths Leben ist verkorkst. Sie leidet an Panikattacken und Depressionen. An ihrem 18. Geburtstag erfährt sie, wer dafür verantwortlich ist. Viele Jahre später bekommt sie die Gelegenheit, sich zu rächen.
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Sie kommt wieder. Ich spüre es seit Tagen. In mir ist alles tot, abgestorben, leer. Wie ein düsterer Albtraum zieht sie herauf und in mich hinein, um mich völlig lahm zu legen. Und ich kann mich nicht dagegen wehren. Es ist doch noch nicht November? November ist der Monat mit den meisten Selbstmorden. November ist der Monat des Regens, des Nebels und der Depressionen. Aber wir haben April. Der ist allerdings in diesem Jahr auch verregnet. Nach einem furchtbaren Wochenende greife ich heute, am Montag, endlich zum Telefon und wähle meine Notfallnummer. Meine Therapeutin, Else Kriest, meldet sich auch gleich. „Es ist schlimm“ sagte ich nur und Else gibt mir sofort, noch für denselben Tag, einen Termin. „Schaffen Sie es allein zu kommen?“ fragt sie Ich nicke müde. Das sieht sie nicht und deshalb fragt sie noch mal „Ruth, schaffen Sie es her zu kommen?“ „Ja“ sage ich und lege auf. Noch ein, zwei Tage weiter und ich hätte mich ins Bett gelegt und wäre nicht mehr aufgestanden, wäre versunken in einen Sumpf düsterer Gedanken und tiefer Verzweiflung. So aber ziehe ich mir meine Jacke über, schultere meinen Rucksack und nehme den Bus zu Else Kriest, meiner Therapeutin. Ich bin ungeschminkt und ungekämmt und habe wahrscheinlich fettiges Haar, weil ich es schon tagelang nicht mehr gewaschen habe. Mir ist alles egal. Else öffnet mir die Tür, sieht mich besorgt an und bittet mich hinein. Wir gehen in den Raum, in dem ich schon viele Male gesessen oder gelegen und mir alles von der Seele geredet, geweint und geschwiegen habe. Ich bin so schlapp, dass ich heute die Couch bevorzuge. Ich lege mich hin und starre an die Decke. „Was ist passiert?“ fragt Else. „Nichts Besonderes“ sage ich. „Vielleicht ist es das Wetter?“ „Nehmen Sie Ihre Medikamente?“ Ich nicke. Selbst das Sprechen empfinde ich als anstrengend. Else guckt mich ernst an. „Ruth“ sagt sie dann leise aber bestimmt, „es wird Zeit, dass Sie eine stationäre Therapie in Erwägung ziehen!“ Ich schüttele den Kopf und Else seufzt. Sie hat es mir schon mehrmals ans Herz gelegt aber ich wehre mich gegen eine Einweisung in die Psychiatrie. Ich habe Angst wegen des Stigmas, welches man schnell aufgedrückt bekommt, wenn man mal Patient in einer psychiatrischen Klinik war. „Es gibt ja noch andere Möglichkeiten“ sagt Else, steht auf und geht aus dem Raum. Ich starre weiter zur Decke und spüre, wie sich Tränen aus meinen Augen lösen und über die Wange rollen. Ich habe das Gefühl, dass selbst Else mir nicht mehr helfen kann und das ist schlimm. Dann kommt sie mit einer Art Katalog in der Hand zurück, den sie mir hinhält. Als ich ihn nicht nehme seufzt sie wieder, setzt sich und fängt selber an zu blättern. „Ich kenne es nicht persönlich und ich kann auf keinerlei Erfahrungen zurückgreifen aber es hört sich gut an Ruth, schauen Sie doch mal.“ Ich starre weiter an die Decke während mir lautlos die Tränen in den Kragen meines Shirts laufen. „Es ist eine Art Kur für psychisch kranke und mental erschöpfte Menschen. Dort treffen sich Leute mit Burn Out und Depressionen, die etwas in ihrem Leben verändern wollen“ sagt Else. „Dort werden Seminare angeboten und ein individuell ausgeklügeltes Fitness-Programm, Gesprächs-Therapien usw. Und nebenbei ist es ein bisschen wie Urlaub. Ruth, bitte, wäre das nicht eine Alternative für Sie?“ Zum ersten Mal an diesem Tag bewegt sich etwas in mir. Die große Leere meines Inneren füllt sich mit Bildern von Sonne, Meer, Wind und Wellen. Diese Bilder zaubern ein wenig Helligkeit in meine tiefdunkle Seele. Aber nur ein wenig. Wie alles sind auch die Urlaubsbilder in mir von einer tiefen Traurigkeit überschattet. Ich wende den Kopf und schaue Else an „Urlaub?“ frage ich. Wann hatte ich das letzte Mal irgendwo Urlaub gemacht? Strand und das Rauschen des Meeres. Lustiges Treiben überall. Bunte Strandkörbe und Sonnenschirme, Musik aus dem Radio, herumfliegende Strandbälle, lachende und kreischende Kinder. Der Wind schmeckt nach Salz und ein kleines Mädchen sitzt still im Sand und schippt mit einer roten Schaufel Sand in einen kleinen Eimer. Neben ihr steht ein großer, dunkelhaariger Mann in Badehose, seinen Blick in die Ferne aufs Meer gerichtet. Nach einer Weile setzt sich der Mann neben das Mädchen und schaut ihr zu, wie sie im Sand buddelt. „Das macht dir Spaß, hm?“ sagt er, während er eine Handvoll Sand nimmt und diesen durch seine Finger rinnen lässt. Das Mädchen nickt und buddelt weiter im Sand. Nach einer Weile fragt sie, ohne den Blick zu heben: „wann kommt Mami?“ Es dauert lange, bis sie eine Antwort bekommt. „Ich weiß es nicht, meine Süße. Du weißt ja, dass Mami immer so müde ist. Sie wird noch schlafen. Aber wenn sie aufgewacht ist, dann kommt sie bestimmt noch zum Strand“ Das kleine Mädchen nickt. Sie ist traurig, weil Mami selten dabei ist und sie weiß, dass auch Papa darüber traurig ist. Sie ist vor allem traurig, weil immer alles so traurig ist. Eigentlich kann sie ihre Mama gar nicht leiden, weil Mama an allem Schuld ist!