Der Fluch der Maorifrau - Laura Walden - E-Book

Der Fluch der Maorifrau E-Book

Laura Walden

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Beschreibung

Ein dunkler Fluch im Land der weißen Wolke.

Kurz vor ihrer Hochzeit reist die junge Hamburgerin Sophie nach Neuseeland, wo ihre Mutter Emma den Tod fand. Zu ihrer Überraschung erfährt sie, dass Emma Neuseeländerin war und ihr dort ein Haus und ein beachtliches Vermögen hinterlassen hat. Sophie ist verstört: Warum hat ihre Mutter all das nie erwähnt? Nur Emmas Tagebuch kann das Geheimnis um die Geschichte ihrer Familie lüften. Fasziniert vom Schicksal ihrer Vorfahren taucht Sophie ein in eine exotische Welt voller Gefahren, und sie begreift, dass ihre Mutter sie schützen wollte - vor einem Unheil bringenden Fluch ...

Eine spannende Familiensaga voller Liebe und Sehnsucht vor der wunderschönen Kulisse Neuseelands.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

1. TEIL

Heiligabend 2007. Über den Wolken

Dunedin, Neuseeland, 26. Dezember 2007

Dunedin/Otago, Januar 1863

Dunedin, Weihnachten 2007

Dunedin/Otago, Januar bis Februar 1863

Dunedin, 27. Dezember 2007

Dunedin, im April 1863

Dunedin, Oktober bis Dezember 1863

Dunedin, 27. Dezember 2007

Dunedin, im Dezember 1863

Dunedin, 27. Dezember 2007

Dunedin, 19. Juli 1867

Dunedin, 27. Dezember 2007

Dunedin, 26. Oktober 1869

Dunedin, 28. Dezember 2007

Dunedin, im Januar 1870

Dunedin, 28. Dezember 2007

Dunedin, im Januar 1870

Dunedin, 28. Dezember 2007

Dunedin, im Januar 1875

Dunedin, 29. Dezember 2007

Dunedin, im Oktober 1880

Dunedin, im Oktober 1881

Dunedin, im November 1881

Dunedin, 30. Dezember 2007

Dunedin, im Februar 1889

Dunedin, 31. Dezember 2007

Dunedin, im Februar 1901

2. TEIL

Apia, Samoa, im Februar 1905

Dunedin, 31. Dezember 2007

Apia, Januar bis März 1906

Apia, im September 1908

Dunedin/Ocean Grove, I. Januar 2008

Apia, Oktober 1908

Ocean Grove, 2. Januar 2008

Apia, Oktober 1908

Ocean Grove, 2. Januar 2008

Apia, im August 1914

Ocean Grove, 3. Januar 2008

Apia, Oktober bis November 1914

Ocean Grove, 3. Januar 2008

Opoho, im November 1914

Ocean Grove, Queenstown, 4. Januar 2008

Dunedin, November bis Dezember 1914

Opoho, im Dezember 1914

Tomahawk/Opoho, Dezember 1914 bis März 1915

Ocean Grove, 17. Januar 2008

Tomahawk/Dunedin, Mai 1915

Dunedin, Juni 1915

Ocean Grove, 17. Januar 2008

Dunedin, im Juni 1915

Dunedin, im Dezember 1915

Ocean Grove, 20. Januar 2008

Tomahawk, im Oktober 1917

Tomahawk, im Dezember 1918

Apia, im Dezember 1918

Apia, Januar bis März 1919

Apia, im Januar 1923

Opoho, im Februar 1923

Ocean Grove, 20. Januar 2008

Dunedin, im Juni 1929

Dunedin, im Januar 1935

Ocean Grove, Februar 1939 bis November 1940

Dunedin, April bis Mai 1941

3. TEIL

Dunedin, im April 1962

Dunedin, im Mai 1962

Ocean Grove, 20. Januar 2008

Dunedin, im Mai 1962

Ocean Grove, 20. Januar 2008

Dunedin, 8. Mai 1962

Portobello, 8. Mai 1962

Portobello/Dunedin, 9. Mai 1962

Dunedin, 1. Juni 1962

Dunedin, im Juni 1962

Ocean Grove, März 1963

Ocean Grove, im April 1963

Ocean Grove, 21. Januar 2008

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Kurz vor ihrer Hochzeit reist die junge Hamburgerin Sophie nach Neuseeland, wo ihre Mutter Emma den Tod fand. Zu ihrer Überraschung erfährt sie, dass Emma Neuseeländerin war und ihr dort ein Haus und ein beachtliches Vermögen hinterlassen hat. Sophie ist verstört: Warum hat ihre Mutter all das nie erwähnt? Nur Emmas Tagebuch kann das Geheimnis um die Geschichte ihrer Familie lüften. Fasziniert vom Schicksal ihrer Vorfahren taucht Sophie ein in eine exotische Welt voller Gefahren, und sie begreift, dass ihre Mutter sie schützen wollte – vor einem Unheil bringenden Fluch …

LAURA WALDEN

Der Fluchder Maorifrau

1. TEIL

ANNA

He aha te me nui?

he tangata, he tangata, he tangata.

Was ist das Wichtigste?

Die Menschen, die Menschen, die Menschen!

Weisheit der Maori

Heiligabend 2007. Über den Wolken

Das Personal von Thai Airways war auf dem Flug von Frankfurt nach Auckland nach Kräften bemüht, den wenigen europäischen Passagieren den Aufenthalt an Bord so weihnachtlich wie möglich zu gestalten. Im Bordkino lief an diesem Abend Irving Berlins White Christmas mit Bing Crosby, und als erstes warmes Essen sollte Ente mit Rotkohl auf deutsche Art serviert werden.

Sophie de Jong schüttelte sich schon beim Lesen der Menükarte. Sie waren jetzt anderthalb Stunden unterwegs und befanden sich laut Ansage des Copiloten gerade über Wien. Sie konnte die Lichter der Stadt dort unten ganz deutlich funkeln sehen. Beim Anblick des Lichtermeers stiegen ihr sofort Tränen in die Augen, aber sie wischte sie mit dem Ärmel ihrer Jacke hastig fort.

»Darf es noch etwas zu trinken sein?«, fragte die Stewardess freundlich.

Sophie nickte. »Ja, danke. Ich nehme noch einen Beaujolais.«

Sie konnte sich sogar zu einem krampfhaften Lächeln durchringen, als die Stewardess ihr ein Glas Rotwein reichte. Das Lächeln erstarb jedoch, kaum dass sich die junge Thailänderin umgedreht hatte. Der Gedanke, dass sie diesen Abend mit ihrer Mutter in Hamburg gefeiert hätte, wenn nicht das Unfassbare geschehen wäre, versetzte Sophie einen Stich ins Herz. Nun konnte sie die Tränen nicht länger unterdrücken. Sie liefen ihr plötzlich die Wangen hinunter. Warum nur?, fragte sich Sophie verzweifelt. Wie konnte das passieren? Emma war doch immer so eine vorsichtige Frau. Diese Fragen quälten sie seit gestern, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erhalten hatte. Sie holte ein Taschentuch hervor und vergrub ihr Gesicht darin. Auf keinen Fall wollte sie von diesen fremden Menschen, die wie sie den Heiligen Abend über den Wolken verbrachten, auf ihren Schmerz angesprochen werden.

Ihr Verlobter Jan hatte sie dazu überreden wollen, erst nach Weihnachten zu fliegen, aber das war Sophie ganz unmöglich erschienen. Sie musste erfahren, was am anderen Ende der Welt wirklich geschehen war.

Immer wieder ertappte sie sich bei der vagen Hoffnung, dass es sich doch nur um eine Verwechslung handelte, die sich bald aufklären würde.

»Ihre Mutter Emma de Jong ist heute auf dem Weg von Dunedin nach Ocean Grove tödlich verunglückt«, hatte der neuseeländische Anwalt, der sich mit John Franklin gemeldet hatte, in deutscher Sprache mit englischem Akzent am Telefon gesagt. »Falsch verbunden«, hatte Sophie schlaftrunken in den Hörer gemurmelt und eilig aufgelegt. Es war kurz vor Mitternacht gewesen. Doch der Mann hatte gleich darauf noch einmal angerufen. »Entschuldigen Sie bitte, ich hätte es Ihnen schonender beibringen müssen, aber es ist am Telefon so schwer. Es tut mir unendlich leid, aber können Sie herkommen? Ich habe ihr Testament.«

Testament? Das grausame Wort brannte immer noch in Sophies Ohren. Bei dem zweiten Anruf erst hatte sie jäh begriffen, was er gesagt hatte, aber ihre Gefühle weigerten sich hartnäckig, den Tod ihrer Mutter zu akzeptieren. Davon, dass Emma nicht mehr lebte, musste sie sich mit eigenen Augen überzeugen. Mit aller Kraft wollte sie daran glauben, dass alles nur ein fataler Irrtum war. Emma war auf einer Urlaubsreise gewesen. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, hätte sich doch wohl eher die Polizei gemeldet und kein Anwalt. Und wieso sollte Emma de Jong überhaupt einen Rechtsanwalt in Dunedin kennen? Einen, der ihr Testament besaß?

»Woher kennen Sie meine Mutter?«, hatte Sophie den Fremden noch gefragt, aber der hatte geantwortet, dass er es ihr vor Ort erklären wolle, weil es zu kompliziert sei, um es ihr am Telefon auseinanderzusetzen. Er hatte immer wieder versichert, wie leid es ihm tue, doch sie hatte nicht einmal geweint. Die ganze Zeit nicht. Bis jetzt.

Sophie schluchzte laut. In diesem Augenblick fragte sie sich zum ersten Mal, was wohl wäre, wenn es sich nicht um einen Irrtum handelte. Bei der Vorstellung, was sie in jenem Land am anderen Ende der Welt vielleicht erwartete, beschleunigte sich ihr Herzschlag merklich und ihr Magen klumpte sich zusammen. Eine diffuse Angst ergriff plötzlich Besitz von ihr, eine Angst, die sich in Panik auszuweiten drohte.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die fürsorgliche Stimme der Stewardess ließ Sophie zusammenschrecken.

»Nein, nein, alles in Ordnung. Ich habe ein wenig Schnupfen.« Sie konnte nicht mehr verhindern, dass die Flugbegleiterin ihr das Essentablett reichte, und sofort löste der Geruch der gebratenen Entenkeule Übelkeit in Sophie aus. Obwohl sie seit dem Vortag keinen Bissen angerührt hatte, hob sie gar nicht erst den Aludeckel über dem Teller an, sondern schob das Tablett möglichst weit von sich fort. Ihr Nachbar, ein älterer Herr, dem Äußeren nach zu urteilen ein Thailänder, sagte besorgt: »Solly, Sie müssen essen.«

»Nein!«, erwiderte Sophie knapp und bot ihm ihre Portion an. »Ich habe sie nicht angerührt«, fügte sie hinzu und nahm einen kräftigen Schluck von dem Rotwein.

Da sie in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan hatte, sehnte sie sich danach, endlich ein wenig zu schlafen. In der Hoffnung, der schwere Rote würde ihr die Angst nehmen und sie schläfrig machen, trank sie das Glas hastig leer und schenkte sich gleich ein zweites ein. Der Schlaf des Vergessens! Das war es, wonach sie sich sehnte. Zur Sicherheit schluckte Sophie zusätzlich ein leichtes Beruhigungsmittel. Das hatte sie in der Handtasche, seit sie mit ihrer Klasse einen Kunstwettbewerb gewonnen und im Rathaus eine Rede vor den Honoratioren hatte halten müssen. Sie seufzte bei der Erinnerung an diesen unvergesslichen Abend. Ihre Mutter hatte in der ersten Reihe gesessen und wäre vor lauter Stolz auf ihre Tochter beinahe geplatzt.

»Solly, blauchen Sie Hilfe?«, hörte sie nun ihren Nachbarn fragen, aber sie schüttelte nur abwehrend den Kopf und schloss die Augen, bemüht, zur Ruhe zu kommen. Aber die Gedanken tobten wie ein Wirbelsturm durch ihr Hirn. Kein Gedanke ließ sich fassen. Und über allem hing diese lähmende Furcht.

Ich bin jetzt ganz allein, dachte Sophie, mit vierunddreißig Jahren Vollwaise. Diese Gewissheit schnürte ihr die Kehle zu. Sie spürte eine schmerzhafte Sehnsucht nach ihrem Vater und Trauer darüber, dass er ihr nicht beistehen konnte. Sie sah ihn wieder vor sich in seinem Krankenbett, an dem sie bis zu seinem letzten Atemzug gewacht hatte, bis der Krebs ihn endgültig besiegte. Lag das wirklich schon zwei Jahre zurück? Seitdem war kein Tag vergangen, an dem sie ihn nicht vermisst hatte.

Emma hatte sich nach dem Tod ihres Mannes völlig verändert. Sie lebte fortan in einer düsteren Gedankenwelt, zu der sie niemandem Zutritt gewährte - nicht einmal ihrer Tochter. Von einem Tag auf den anderen hatte sie ihre Stelle als Journalistin aufgegeben und nie wieder eine Reisereportage geschrieben. Alle hatten sich Sorgen um sie gemacht, aber keiner war mehr zu ihr durchgedrungen. »Depressionen«, hatte der Arzt diagnostiziert, eine Erklärung, die Sophie nie einleuchten wollte. Emma hatte die Medikamente, die er ihr verschrieben hatte, niemals angerührt. Sophie hatte Emma schließlich vorgeschlagen, zu ihr zu ziehen, doch auch der Wohnungswechsel hatte den seelischen Zustand ihrer Mutter nicht verbessert.

Erst seit Emma eine seltsame Frau konsultierte - eine Heilerin, wie Emma ehrfurchtsvoll behauptet hatte -, lebte sie schlagartig wieder auf. Einmal wöchentlich hatte sie diese Frau schließlich aufgesucht. Sophie hatte ihrer Mutter mehrfach angeboten, sie zu begleiten, weil ihr das nicht ganz geheuer war. Emma hatte das allerdings stets vehement abgelehnt. Auf der regenbogenfarbenen Visitenkarte der Dame hatte nichts von einer Ausbildung gestanden. Als »Lebensberaterin« präsentierte sie sich dort, und das war Sophie entschieden zu schwammig, aber Emma hatte auf ihre Heilerin nichts kommen lassen.

Dann plötzlich hatte ihre Mutter alle mit der Nachricht überrascht, dass sie für drei Monate nach Neuseeland reisen werde. Sie war wie in Trance gewesen, als sie ihrer Tochter davon erzählt hatte. Sophie hatte das Ganze für eine verrückte Idee gehalten.

»Hat deine Lebensberaterin dir diese Reise verordnet?«, hörte sie sich noch ironisch fragen. Und sie erinnerte sich noch genau an das entrückte, geheimnisvolle Lächeln ihrer Mutter, als wäre es gestern gewesen.

Sophie hatte Emma immer wieder mit der Frage bedrängt, warum sie ausgerechnet nach Neuseeland reisen wolle. Doch Emma hatte stets nur geantwortet: »Es muss sein. Du wirst es eines Tages verstehen.« Sophie hatte schließlich aufgehört, Fragen zu stellen. Es zählte doch schließlich nur, dass es ihrer Mutter endlich wieder besser ging. Und danach hatte es in der Tat ausgesehen. »Weihnachten bin ich zurück«, hatte Emma ihrer Tochter noch versprochen. »Dann bereiten wir deine Hochzeit vor.«

Die Hochzeit! Die war plötzlich unendlich weit weg - genau wie Jan. Mit jeder Meile, die Sophie sich von ihrem Zuhause entfernte, entschwand er zunehmend aus ihren Gedanken. Sophie musste sich regelrecht dazu zwingen, sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen. Dabei meldete sich sofort ihr schlechtes Gewissen, hatte er doch wirklich alles getan, was ein Mann nur tun konnte, wenn seine zukünftige Frau vom Tod der geliebten Mutter erfuhr. Oder etwa nicht? Plötzlich überfiel Sophie der Gedanke, dass Jan sie eigentlich hätte begleiten sollen. Schließlich war seine Kanzlei zwischen Weihnachten und Neujahr geschlossen. Andererseits … War er nicht gewöhnt, dass sie alles allein regelte? Und schließlich brauchte auch er dringend Erholung von seinem anstrengenden Job. Aber trotzdem … Sophie starrte nachdenklich aus dem Fenster und zwang sich, tiefer zu atmen.

Und es wirkte, allmählich entspannte sie sich. Statt wie ein Sturm durch ihr Inneres zu fegen, flossen die Gedanken nun wie ein ruhiger Fluss dahin. Sie fühlte sich ein wenig schläfrig, und statt der eisigen Kälte in ihrem Körper breitete sich eine wohlige Wärme in ihr aus.

Bilder ihrer Kindheit zogen an ihr vorüber wie ein Film: Das Haus in Hamburg mit dem großen Garten, in dem sie ihre frühste Kindheit verbracht hatte, der Umzug der Familie nach London, das Internat in Oxford, die vielen Länder, in denen die Eltern gelebt hatten. Sophie seufzte. Wenn sie damals geahnt hätte, wie wenig Zeit ihr noch mit ihren Eltern bleiben sollte, wäre sie vielleicht doch mit nach Afrika und nach Paris gegangen, wie es der diplomatische Dienst von ihrem Vater, Klaas de Jong, verlangt hatte. Sie aber hatte es vorgezogen, im englischen Internat zu bleiben und nicht erneut den Wohnsitz zu wechseln, um nicht den Freundeskreis zu verlieren.

Ihr Vater! Sie sah ihn vor sich: lachend, scherzend, immer gut gelaunt. Sophie war ein ausgesprochenes Vaterkind gewesen. Sie hatte besonders seinen Witz geliebt. Allein mit seinem Akzent, mit dem er als gebürtiger Holländer deutsch gesprochen hatte, hatte er sie immer wieder zum Lachen gebracht. Natürlich hatte Sophie auch an ihrer Mutter gehangen, aber Emma hatte sich stets wie eine Glucke um sie gesorgt, sie oft wie ein Kleinkind behandelt, ja, sie hätte ihre Tochter am liebsten in Watte gepackt. Das war Sophie manchmal zu viel geworden. Ihr Vater war im Vergleich herrlich unbekümmert gewesen.

Merkwürdig, dachte Sophie, von der Art her schlage ich eher nach ihr. Diese Unruhe, diese Rastlosigkeit - genau wie bei Emma. Schon als Kind hatte Sophie diese Unruhe in sich gespürt. In den Ferien hatte sie stets ihre Eltern besucht. Sie war jedes Mal unglaublich aufgeregt gewesen bei dem Gedanken, in ein fernes Land zu reisen, aber es war jedes Mal wieder eine herbe Enttäuschung geworden. Nirgendwo auf der Welt hatte sie das Gefühl gehabt, zu Hause zu sein. Weder im Internat noch in Hamburg, weder in Kapstadt noch in Paris. Und dieses Gefühl verfolgte sie bis heute. Selbst der Gedanke, den Rest ihres Lebens mit Jan von Innering zu verbringen, vermittelte ihr nicht die Geborgenheit, die sie sich von der Entscheidung, den erfolgreichen Anwalt zu heiraten, erhofft hatte.

Erneut wurde Sophie schmerzhaft bewusst, dass sie jetzt völlig allein auf dieser Welt war. Sie besaß keine nahen oder engen Verwandten mehr. Emma und Klaas hatten ihre Eltern früh verloren. Emma hatte immer erzählt, ihr Vater sei im Krieg in Frankreich gefallen und ihre Mutter kurz darauf an gebrochenem Herzen gestorben. Sophie merkte, wie die Müdigkeit Besitz von ihr ergriff. Sie wollte unbedingt mit der Erinnerung an den Mann einschlafen, den sie heiraten würde, aber Jans Gesicht blieb schemenhaft.

Dunedin, Neuseeland, 26. Dezember 2007

Nach einem anstrengenden achtstündigen Zwischenstopp in Bangkok, den Sophie völlig erschöpft, aber hellwach, auf den harten Bänken im Abflugterminal verbracht hatte, war sie pünktlich um zehn Uhr fünfzig Ortszeit auf dem International Airport in Auckland gelandet, wo sie problemlos die Anschlussmaschine erreicht hatte, die sie von der Westküste der Nordinsel zur Ostküste der Südinsel Neuseelands bringen sollte.

Sophie starrte den ganzen Flug über aus dem Fenster, um sich von dem Gedanken abzulenken, dass ihre Mutter sie nie wieder vom Flughafen abholen würde wie so oft in ihrer Jugend. Die übermächtige Angst vor dem, was sie erwartete, war zurückgekehrt und mit ihr der Vorsatz, das hier schnellstens hinter sich zu bringen und rasch nach Hamburg zurückzukehren. Dabei musste sie immer wieder an den Traum denken, der sie auf dem Langstreckenflug schweißgebadet hatte aufwachen lassen: Sie stand auf einer schwingenden Hängebrücke, bekam Panik und drehte sich um. Doch es gab kein Zurück, denn hinter ihr lag alles im Nebel.

Sophie schob die Erinnerung an den Traum beiseite, krampfhaft bemüht, sich auf die Realität dort draußen zu konzentrieren. Die Natur, die sie bei klarer Sicht erkennen konnte, war atemberaubend schön. Der Himmel schien von einem intensiven Blau, das sie nur von Hochsommertagen an der Nordsee kannte. Sie sah Flüsse, Berge, viel sattes Grün und unzählige Schafe. Von oben erinnerte vieles an Europa, nur lagen hier die verschiedenen Landschaften weitaus näher zusammen. Tauchte ein Strand auf, erkannte sie gleich darauf riesige Gletscher mit schneebedeckten Kuppen, wie man sie in den Alpen fand.

»Die Natur Neuseelands ist überwältigend schön. Und stell dir vor, es gibt in diesem Land, das von der Fläche her kleiner als Deutschland ist, zugleich alpines und subtropisches Klima«, hatte Emma ihrer Tochter mit einem Leuchten in den Augen vorgeschwärmt.

Das Flugzeug setzte zum Landeanflug an. Das Grün dort unten wurde satter, die Schafe standen dichter, aber wo war die Stadt? Das Flughafengebäude von Dunedin wirkte von oben wie eine ländliche Lagerhalle. Das scheint das Ende der Welt zu sein, dachte Sophie. Was Emma wohl dazu getrieben hat, ausgerechnet hierher zu reisen?

Als die Maschine sicher gelandet war, klopfte Sophies Herz bis zum Hals. Was würde sie in diesem Land erwarten? Was?

»Weißt du, wie die Maori ihr Land nennen?«, hatte Emma sie einmal gefragt und gleich selbst geantwortet: »Aotearoa, Land der langen weißen Wolke.« Kam es ihr nur im Nachhinein so vor, oder hatten Emmas Augen fiebrig geglänzt, sobald sie von diesem fernen Stück Erde im Pazifik gesprochen hatte?

Als Sophie mit ihrem kleinen Koffer in die Ankunftshalle trat, spürte sie, wie ihre Knie weich wurden. Es standen so viele Menschen dort draußen, dass Sophie nicht wusste, wie sie den Anwalt erkennen sollte.

»Sie müssen mich doch nicht abholen«, hatte sie ihm gesagt. »Es ist schließlich Weihnachten.«

Er hatte sich allerdings nicht davon abbringen lassen.

Obwohl es Sophie eigentlich klar war, dass hier am anderen Ende der Welt Hochsommer herrschte, hatte sie das bei ihrer überstürzten Abreise aus dem nasskalten Hamburg nicht bedacht. Erst bei dem Anblick der sommerlich gekleideten Wartenden fiel ihr ein, dass sie keine passenden Anziehsachen eingepackt hatte.

In diesem Moment trat ein großer dunkelhaariger Mann in heller, sommerlicher Freizeitkleidung auf sie zu.

»Sorry, sind Sie Sophie de Jong?« Die Stimme war unverkennbar. Es war der Mann, der ihr die Nachricht überbracht hatte. Nur sprach er jetzt englisch.

»Ja. Und Sie sind sicherlich John Franklin«, gab Sophie in perfektem Englisch zurück.

Er nickte freundlich und nahm ihr den Koffer aus der Hand. »Wie war Ihr Flug?«, erkundigte er sich höflich und eilte voran.

»Okay. Danke, dass Sie mich abgeholt haben.«

Als sie das Flughafengebäude verließen, musste Sophie die Augen fest zusammenkneifen. Die gleißende Sonne stach unbarmherzig vom Himmel. An eine Sonnenbrille hatte sie auch nicht gedacht. Obwohl ein leichter Wind wehte, der entfernt nach Meer roch, klebte ihr das dunkelblaue Kostüm bereits am Körper. Ein schwarzes, dem Anlass angemessenes Teil hatte sie nicht im Schrank gehabt. John Franklin steuerte zielstrebig auf einen schwarzen Jeep zu und hielt ihr die Beifahrertür auf.

»Soll ich Sie erst in Ihr Hotel fahren, damit Sie sich umziehen können?«, fragte er, während er den Wagen startete.

»Nicht nötig. Ich hoffe, Sie haben eine Klimaanlage«, seufzte Sophie und registrierte, dass der Anwalt sie musterte.

»Wollen Sie sich nicht doch schnell noch etwas Leichtes anziehen, bevor wir in mein Büro fahren?«

»Ich würde lieber gleich …« Sie stockte und seufzte tief, bevor sie fortfuhr: »Meine Mutter sehen, ich würde gern meine Mutter sehen.«

Der junge Anwalt räusperte sich verlegen.

»Frau de Jong, man hat mich gebeten, Ihnen zu sagen …« Er holte tief Luft. »Ihr Wagen ist von der Straße abgekommen und hat Feuer gefangen …« Weiter kam er nicht, denn Sophie stieß ein verzweifeltes »Nein!« hervor, während ihr Tränen in die Augen schossen.

John Franklin legte die Hand auf ihren Arm. »Es tut mir unendlich leid.«

Sophie spürte in jeder Faser ihres Körpers, wie gut ihr diese Berührung tat. Ihr Schmerz, der sie zu zerreißen drohte, verebbte.

»Es ist natürlich Ihre Entscheidung«, sagte er leise, während er ihr ein Taschentuch reichte.

Sie nahm es, wischte sich die Tränen ab und starrte regungslos aus dem Fenster, während der Wagen sich in Bewegung setzte. Doch dann durchfuhr sie eine verzweifelte Hoffnung, und sie flüsterte: »Aber, wenn es gar nicht meine Mutter war, die da im Wagen gesessen hat? Wenn alles verbrannt ist, haben wir doch gar keine Gewissheit. Dann könnte das doch irgendwer gewesen sein. Vielleicht klärt sich ja noch alles auf, und sie lebt!«

Sie hörte den jungen Anwalt schwer atmen, bevor er einwandte: »Es gab einen Zeugen, der den Unfall beobachtet hat und beschwört, dass die Fahrerin Ihre Mutter war.«

»Aber, wer, wer ist das? Und woher will er das so genau wissen?« Vor lauter Aufregung überschlug sich ihre Stimme.

»Frau de Jong, wir fahren nachher zur Polizei. Dort wird man Ihnen sicher Einzelheiten über den Unfall mitteilen. Außerdem befinden sich dort die Sachen, die nicht verbrannt …« Der Anwalt stockte und fuhr dann hastig fort: »Oder wollen Sie erst zur Polizei, bevor ich Ihnen in meinem Büro das Testament verlese?«

Sophie war bei seinen Worten auf ihrem Sitz in sich zusammengesunken. Sie weinte stumm in sich hinein. »Nein, nein, wir fahren erst in Ihr Büro. Aber arbeiten Sie denn heute überhaupt? Am zweiten Weihnachtstag?«, fragte sie ungläubig.

»Eigentlich nicht. Wir feiern Weihnachten im Grunde genommen sehr britisch. Nur dass wir uns bei der Hitze lieber unter Palmen setzen als unter einen Tannenbaum. Eigentlich beginnen jetzt unsere Sommerferien. Da haben die meisten Kanzleien ohnehin geschlossen, aber wir Singles halten die Stellung, während die Kollegen mit Kindern Urlaub machen. Wir sind also für Sie da, meine Partnerin und ich. Auch heute. Also sollten wir jetzt erst einmal in Ruhe im Hotel vorbeifahren, damit Sie Ihre Sommersachen anziehen können.«

»Ich habe in dem Stress vergessen, welche einzupacken«, erklärte Sophie kläglich und putzte sich die Nase.

»Das kann ich gut verstehen«, bemerkte John Franklin, warf ihr einen prüfenden Seitenblick zu und fragte: »Sagen Sie, welche Schuhgröße haben Sie?«

»Vierzig!« Was für eine merkwürdige Frage!

Statt eine Erklärung abzugeben, wählte der Anwalt über seine Freisprechanlage eine Nummer. »Judith, bist du noch zu Hause? Sehr gut. Bring doch ein leichtes Sommerkleid mit ins Büro! Eines, auf das du bis morgen verzichten kannst. Und Sandalen in Größe vierzig. Danke!«

Sophie war es sichtlich peinlich, wie sehr sich der junge Anwalt um ihr Wohl sorgte. Sie kannten einander doch gar nicht. Sophie hatte Probleme damit, wenn jemand ihr zu viel Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Sie war es gewohnt, ihre Angelegenheiten ohne fremde Hilfe zu regeln. »Ich werde versuchen, Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen«, brachte sie förmlich heraus und fügte hastig hinzu: »Ich habe nicht die Absicht, länger als unbedingt nötig zu bleiben. Wenn ich die Formalitäten erledigt habe, überführe ich meine Mutter nach Deutschland, damit sie dort beerdigt werden kann.« Sie sah den Anwalt an. Täuschte sie sich, oder runzelte er die Stirn? »Gibt es ein Problem?«, fragte sie.

»Nein, nein. Kommen Sie erst mal an!«

Sophie spürte an seinem Ton ganz deutlich, dass etwas nicht stimmte, beschloss jedoch, nicht nachzufragen. Sie lehnte sich stattdessen seufzend zurück und warf wieder einen Blick aus dem Fenster. Berge, Wiesen und Schafe rauschten vorbei.

»Ich bedaure das alles unendlich«, sagte John Franklin plötzlich und fuhr zögernd fort: »Halten Sie mich bitte nicht für neugierig, aber wieso sprechen Sie so gut Englisch?«

»Ich war auf einem englischen Internat«, gab Sophie zurück. »Aber jetzt habe ich eine Frage: Wie haben Sie vom Tod meiner Mutter erfahren?«

»Sie hatte ein Papier in ihrer Handtasche, in dem ausdrücklich stand, dass man sich im Falle ihres Todes unbedingt zuerst an mich wenden solle.«

»Merkwürdig«, entgegnete Sophie. »Warum sollte man sich nicht zuerst an mich wenden? An ihre Tochter? Und überhaupt, woher kannte meine Mutter in Neuseeland einen Anwalt, wo sie doch nie zuvor hier gewesen ist?«

John Franklin fuhr zusammen und sah überrascht aus. »Oh Gott, wenn ich gewusst hätte, dass Sie völlig ahnungslos sind!«

»Wie meinen Sie das?«

John Franklin stieß einen Seufzer aus. Er schien sich sichtlich unwohl in seiner Haut zu fühlen. »Ich glaube, ich muss Ihnen einiges erklären. Ihre Mutter hat mich aufgesucht, um ein Testament zu ändern, das sie vor mehr als vierzig Jahren bei meinem Vater aufgesetzt hatte. Sie ist also quasi schon lange eine Mandantin unserer Kanzlei.«

»Schon lange eine Mandantin Ihrer Kanzlei? Das kann ich kaum glauben! Meine Mutter hat noch nie zuvor einen Fuß in Ihr Land gesetzt!«, widersprach Sophie heftig.

»Ihre Mutter besaß die neuseeländische Staatsangehörigkeit«, erklärte er fest, sichtlich geschockt ob ihrer Ahnungslosigkeit.

»Wie bitte?«

»Emma de Jong hatte einen neuseeländischen Pass.«

»Wie bitte? Wieso? Das kann doch nicht sein! Ich verstehe das nicht.« Ihre Stimme klang verzweifelt.

»Bitte gedulden Sie sich ein wenig! Die Unterlagen, die Ihre Mutter mir für Sie gegeben hat, werden Licht in das Dunkel bringen und das Geheimnis lüften.« Sophie spürte erneut seine Hand auf ihrem Arm. »Es wird für alles eine Erklärung geben, Sophie. Ich darf Sie doch Sophie nennen?«

Sophie nickte nur. Ihr Herz klopfte wie wild. Ein Geheimnis? Ihre Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Das alles war ein einziger, nicht enden wollender Albtraum. Die Reise ihrer Mutter war viel mehr gewesen als nur ein harmloser Urlaub - aber was? Was hatte sie ihr bloß verschwiegen? Sophie glaubte plötzlich zu ersticken. Rasch öffnete sie das Fenster und sog die frische Meeresluft tief in die Lungen ein. Es roch noch würziger als am Flugplatz, sie schien näher am Wasser zu sein. Große Möwen segelten kreischend durch die Lüfte. Dort draußen zog plötzlich eine ganz andere Welt vorbei als das satte Grün voller Schafherden. Sie fuhren jetzt durch eine Straße, die zu beiden Seiten von Reihenhäusern gesäumt war. Häuser, deren Stil Sophie auf diesem Flecken Erde überraschte.

»Es sieht hier ja aus wie in Schottland!«, rief sie erstaunt.

»Gut beobachtet. Dunedin ist die schottischste Stadt der Welt - außer Edinburgh. Der Name leitet sich sogar davon ab. Edinburgh heißt auf Gälisch Dùn Eideann. Als sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Schotten hier ansiedelten, nannten sie die Stadt New Edinburgh. 1867 war Dunedin die größte Stadt Neuseelands.« Dem jungen Anwalt war die Erleichterung über den Themenwechsel anzuhören.

Sophie jedoch hatte dem gleichmäßigen Klang seiner tiefen Stimme gelauscht, ohne wirklich aufzunehmen, was er da redete. Seine Stimme wirkte beruhigend auf sie.

Mittlerweile fuhren sie über eine steil ansteigende Straße auf eine Art Stadtzentrum mit hohen Geschäftshäusern zu. Am höchsten Punkt ging es genau so steil wieder hinunter. Der Ort wirkte wie ausgestorben. Natürlich, es ist Weihnachten, dachte Sophie.

Vor einem der Bürohäuser hielt John Franklin an. »Da wären wir bei Franklin, Palmer & Partner. Heute können wir hier parken. Die Leute sind alle draußen am Meer.«

»Gibt es hier schöne Strände?«, fragte Sophie zögernd.

»Ja, die Strände an der Ostküste sind wunderschön, nur dass das Wasser zu kalt ist. Ich gehe da nicht gern schwimmen. Es fehlt der Golfstrom, der das Baden bei Ihnen so angenehm macht«, beeilte sich John Franklin zu sagen, um das Gespräch in Gang zu halten. »Jeder Neuseeländer, der etwas auf sich hält, fliegt nach Europa, so oft er es sich leisten kann. Wir haben doch alle unsere Wurzeln dort. Meine Familie zum Beispiel kommt zu einem Teil aus Schottland, und ich habe als Student einen großen Europa-Trip gemacht. Mit Rucksack.«

Mit diesen Worten sprang er aus dem Wagen und lief zur Beifahrerseite, um ihr höflich die Tür aufzuhalten.

»Am besten lassen wir Ihren Koffer im Wagen. Ich fahre Sie danach in Ihr Hotel. Ich habe mir erlaubt, ein Zimmer im Kingsgate für Sie zu reservieren. Ich hoffe, es ist Ihnen recht.«

Sophie nickte. Ihr war es völlig gleichgültig, wo sie heute Nacht schlief. Hauptsache, sie hatte ein weiches Bett, in dem sie sich ausstrecken konnte, ohne die ganze Nacht das Brummen von Flugzeugdüsen zu hören.

Während sie die Straße überquerten, sickerte in ihr Bewusstsein, was der Anwalt ihr eben mitgeteilt hatte: Emma hatte bereits vor über vierzig Jahren ein Testament in Neuseeland gemacht! Als junge Frau also, aber das bedeutete doch, dass sie …

»Wir sind da!« Damit unterbrach John Franklin ihre Überlegungen.

Die Kanzlei lag im ersten Stock und war modern eingerichtet. Einige alte, wertvolle Möbelstücke verliehen dem Ganzen jedoch eine äußerst stilvolle Note.

Es zeugt von Geschmack, wie er sich eingerichtet hat, schoss es Sophie durch den Kopf.

Der Anwalt führte sie von einem Raum zum anderen. Sie hatte den Eindruck, dass er Zeit gewinnen wollte. Ihm schien das, was er nun zu erledigen hatte, nicht unbedingt leichtzufallen. Diese Kanzleibesichtigung diente eindeutig der Ablenkung. Das spürte Sophie genau, aber sie ging widerspruchslos darauf ein, wenngleich ihre Anspannung beinahe unerträglich geworden war.

»Sie haben ja viele Bücher!« staunte sie, als sie die Bibliothek betraten. Ihr lag bereits auf der Zunge, dass ihr Verlobter auch Anwalt sei, aber nicht ein Bruchteil von diesen Mengen an Büchern besitze, aber da kam John ihr zuvor.

»Sehen Sie, wir haben ein anderes Rechtssystem als Sie. Bei uns herrscht das Fallrecht. Das heißt, in jedem dieser Bücher finden Sie Fälle, die einmal entschieden wurden. An diesen Präzedensfällen orientieren wir uns. Deshalb diese Berge von Büchern.«

Er lächelte sie an. Sophie bemühte sich ebenfalls um ein Lächeln, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie spürte, wie sie vor innerer Unruhe zitterte. Lange würde sie bei diesem Ablenkungsmanöver nicht mehr mitmachen.

»Könnten wir vielleicht anfangen?«, bat sie leise.

Franklin blieb ihr eine Antwort schuldig, denn nun erklang hinter ihnen eine weibliche Stimme.

»Guten Tag, Frau de Jong!«

Sophie drehte sich um. Eine dunkelhaarige, fremdartig aussehende Frau mit einem dunklen Teint - etwa in ihrem Alter - trat auf sie zu und reichte ihr die Hand. Was für eine aparte Schönheit!, dachte Sophie.

»Das ist meine Partnerin, Judith Palmer«, sagte John Franklin.

Die beiden sind bestimmt ein Paar, schoss es Sophie durch den Kopf.

Judith erklärte nun mitfühlend: »Es tut mir so leid für Sie. Schade, dass dieser traurige Anlass Sie in unser Land führt.« Dabei holte sie hastig ein Paar Sandalen und ein Kleid aus einer Tüte hervor und drückte sie Sophie in die Hand. »Ich hoffe, das Kleid gefällt Ihnen. Es steht Ihnen bestimmt besser als mir. Ist mehr etwas für Blonde.«

Sophie betrachtete das hellblaue Sommerkleid unschlüssig, aber als Judith ihr den Weg zur Toilette wies, folgte sie ihr widerspruchslos. Sobald sie allein war, schälte sie sich ungeduldig aus dem Winterkostüm. Es war angenehm, in das leichte Sommerkleid zu schlüpfen. Sophie wusch sich das verquollene Gesicht mit kaltem Wasser, zog die Strümpfe aus und schlüpfte in die Sandalen, die ihr gut passten. Sie fühlte sich fast wie neugeboren, als sie zu den anderen zurückkehrte.

»Ich hatte leider nichts Schwarzes«, erklärte Judith entschuldigend.

»Macht nichts. Das brauche ich erst zur Beerdigung. Und das wird ja noch ein wenig dauern, bis ich mit ihr zurück in Deutschland bin«, erklärte Sophie mit fester Stimme.

Täuschte sie sich, oder warfen sich Judith und Frank skeptische Blicke zu? Sophie begann unwillkürlich zu zittern. Es lag Spannung in der Luft.

Als Sophie dem Anwalt und seiner Partnerin wenig später bei einem Glas Wasser im Konferenzraum der Kanzlei gegenübersaß, hatte sie sich wieder gefangen. Sie hoffte inständig, dass das Rätselraten bald ein Ende haben würde.

Der Anwalt war nun sichtlich nervös. Er räusperte sich mehrmals, bevor er zu reden begann. »Sie wissen ja bereits, dass Ihre Mutter mich aufgesucht hat, um ihr Testament zu ändern, und mir für den Fall ihres Ablebens Unterlagen für Sie ausgehändigt hat. Das war erst letzte Woche. Da erzählte sie mir, dass sie nach Deutschland zurückkehren wolle. Sie ließ mich wissen, dass ich als Erster von ihrem Tod erfahren solle, was auch immer geschehen würde, und dass mir die Aufgabe obliege, Ihnen die traurige Nachricht zu überbringen und Sie zu bitten, nach Dunedin zu reisen.« Ihm war anzusehen, wie wenig ihm die Rolle behagte.

»Ich verstehe das nicht. Auch wenn sie in Deutschland gestorben wäre? Was hätte ich denn dann hier gesollt? Was hat sie sich bloß dabei gedacht?« Sophies Stimme klang trotzig.

»Auch dann wäre ich der Testamentsvollstrecker gewesen, wobei Ihre Mutter, als sie unsere Kanzlei aufsuchte, natürlich hoffte, dass mein Vater Derek noch lebt. Er war damals mit dem Fall betraut und hat auch all die Jahre ihr Erbe verwaltet. Sie war untröstlich, als ich ihr mitteilen musste, dass mein Vater vor drei Jahren gestorben ist.«

»Fall? Erbe? Verzeihen Sie, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, erklärte Sophie.

»Das glaube ich Ihnen sofort. Mir ist auch nicht wohl in meiner Haut. Ich dachte natürlich, Sie wüssten über alles Bescheid.«

John Franklin sah Sophie direkt in die Augen. So konnte er offensichtlich am besten abschätzen, wie viel mehr Wahrheit die junge Frau noch verkraften würde. Auch Judith ließ den Blick nicht von ihr. Sophie wirkte völlig verstört.

»Darf ich jetzt vielleicht den Brief Ihrer Mutter verlesen?«, fragte John hastig.

Sophie nickte.

»Mein über alles geliebtes Kind …«, begann Franklin, und Sophie sah ihn erstaunt an, als er sich plötzlich fehlerfrei ihrer Sprache bediente. Dann fiel ihr das Telefonat wieder ein. Da hatte er ja auch deutsch geredet.

Er machte eine Pause, weil er ihren verwirrten Blick bemerkte.

»Ich war auf meinem Europa-Trip auch länger bei einer Tante in Köln. Und ich hatte Deutsch in der Schule. Die Wurzeln meiner mütterlichen Familie liegen in Deutschland«, kam er Sophies Frage zuvor. Dann fuhr er vorsichtig fort:

»Sei nicht traurig! Bitte. In der Nacht, in der Papa starb, hatte ich einen Traum. Er rief mich und sagte mir, dass ich bald bei ihm sein würde. Da habe ich geahnt, dass ich sterben muss. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich an den Fluch geglaubt und gewusst, dass ich vor der Vergangenheit nicht länger davonlaufen kann – nicht einmal an das andere Ende der Welt. Und vor allem wurde mir klar, dass du ein Recht hast zu erfahren, wo deine Wurzeln liegen. Ich habe oft versucht, es dir zu sagen. Erinnerst du dich, wie wir manchmal bei einem Glas Wein zusammensaßen und über Papa geredet haben?«

John Franklin wurde von Sophies lautem Schluchzen unterbrochen. Judith reichte ihr ein Taschentuch. Die beiden Anwälte schwiegen rücksichtsvoll, bis Sophie mit tränenerstickter Stimme raunte: »Bitte weiter!«

John Franklin räusperte sich.

»So manches Mal war ich kurz davor, dir alles zu erzählen, aber ich brachte es nicht über die Lippen. Ich musste hierher zurück, um es für dich aufzuschreiben, und ich bitte dich von Herzen: Versuche nicht, ungeduldig, hinter mein Geheimnis zu kommen, sondern lass dir Zeit für die Geschichte deiner Familie! Du wirst alles erfahren. Dann erst kannst du dir selbst ein Urteil bilden. Über mich und über den Fluch.«

Mit diesen Worten deutete der Anwalt auf eine Holzkiste, die mitten auf dem Konferenztisch stand.

Das ist also übriggeblieben von dir, Emma, dachte Sophie bitter, und es trieb ihr erneut Tränen in die Augen.

John Franklin aber las weiter:

»Ich hatte solche Angst damals. Verzeih mir! Ich wollte mit Papa und dir ein neues Leben anfangen, vor dem Fluch davonlaufen, euch schützen, aber nun hat er mich eingeholt. Er hat mir meinen über alles geliebten Mann genommen. Ich habe in den letzten Wochen nun meine und damit auch deine Geschichte niedergeschrieben und möchte, dass du sie liest. Hier, in der Heimat deiner Mutter. Ich bete, dass du mich noch lieben wirst, nachdem du alles erfahren hast. Und bitte: Pass gut auf dich auf!«

»Oh, Mama!«, schluchzte Sophie verzweifelt. Tränen rannen ihr über die Wangen, aber sie machte keine Anstalten, sie abzuwischen.

John Franklin holte tief Luft. Er schien zu wissen, was jetzt kam.

»Ich würde so gern bei dir sein, wenn du heiratest, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich in diesem Land sterben werde. Wenn es so sein soll, dann möchte ich in dieser Erde, der Erde meiner Heimat, begraben werden.«

Sophie hörte abrupt mit dem Schluchzen auf und wurde kalkweiß.

Judith sprang auf, holte ein neues Glas Wasser aus der Küche und reichte es der jungen Frau.

»Sie hat es geahnt!«, stöhnte Sophie in einem fort. »Sie hat es geahnt.«

»Sophie!«, unterbrach John Franklin sie mit sanfter Stimme. »Wenn es Ihnen hilft, werde ich alles vorbereiten, damit Ihre Mutter hier beerdigt werden kann.«

Sophie antwortete nicht. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Es konnte doch nicht sein, dass ihr Leben binnen weniger Tage so aus dem Ruder gelaufen war. Was hatte sie in diesem fremden Land zu suchen? Heimat? Was meinte Emma mit Heimat? Sophie wollte nach Hause, nichts wissen von dem, was ihre Mutter für sie niedergeschrieben hatte, einfach davonlaufen.

»Mister Franklin, ich werde die sterblichen Überreste meiner Mutter mit nach Deutschland nehmen, und das, was sie aufgeschrieben hat, das werde ich ungelesen hierlassen«, sagte sie nach einer Weile des Schweigens in die Stille hinein.

»Daran kann ich Sie nicht hindern«, entgegnete der Anwalt ganz ruhig und fügte hinzu: »Trotzdem würde ich jetzt gern das gesamte Testament verlesen.«

Sophie nickte und fauchte: »Wenn es unbedingt sein muss!« Sofort bedauerte sie, dass sie sich im Ton vergriffen hatte. Was konnte der Anwalt dafür, dass Emma sie ein Leben lang belogen hatte? Er tut doch auch nur seine Pflicht, dachte Sophie und wollte sich gerade entschuldigen, als er fortfuhr.

»Mein Vermögen in Höhe von schätzungsweise zwei Millionen Neuseeland-Dollar erben zu gleichen Teilen meine Tochter Sophie de Jong und Thomas Holden. Letzterer soll frühestens acht Wochen nach meinem Tod in Kenntnis gesetzt werden, damit meine Tochter die Gelegenheit hat, vorher alles zu lesen.«

»Vermögen?«, stammelte Sophie.

»Dieses Vermögen der Familie McLean hat mein Vater mehr als vierzig Jahre lang verwaltet. Es entspricht ungefähr eins Komma drei Millionen Euro«, erläuterte ihr der Anwalt ruhig.

Sophie war fassungslos. »Und wer ist dieser Thomas Holden?«

Der Anwalt zuckte mit den Achseln. »Das habe ich Ihre Mutter auch gefragt, aber sie sagte mir, es wäre besser, wenn ich es nicht wisse. Sie würden mich sicherlich danach fragen, hat sie gemeint, und da wäre es sicherer, ich käme nicht in Versuchung, es Ihnen mitzuteilen. Sie werden es erfahren, wenn Sie diese Aufzeichnungen lesen. Aber wenn Sie sie nicht lesen wollen, werden wir nach acht Wochen den zweiten Erben ausfindig machen und ihm das Testament eröffnen. Vielleicht kann er sich dann ja bei Ihnen melden.«

Sophie hatte gar nicht richtig zugehört. Was hat sich Emma nur dabei gedacht?, fragte sie sich. Wie sie ihre Mutter kannte, war dies der Versuch, ihre Tochter über den Tod hinaus zu beschützen, aber wovor? Was musste das für eine schreckliche Wahrheit sein, die sie ihr so schonend beizubringen versuchte? Sophie zitterte.

Nach einer halben Ewigkeit warf sie einen flüchtigen Blick auf die Kiste und spürte intuitiv, dass sich ihr Leben grundlegend ändern würde, wenn sie dieses Vermächtnis annahm. In ihrem Inneren tobten schwere Kämpfe um die richtige Entscheidung. Eine Stimme riet ihr zur Flucht, eine andere forderte sie auf, ihrer Mutter zu gehorchen und zuzugreifen, eine dritte wollte ihr einreden, dass diese Kiste vielleicht ein wertvolles Wissen beinhalte, dass ihr helfen werde, über den Verlust ihrer Mutter hinwegzukommen.

Seufzend beugte sich Sophie vor, berührte die Kiste mit den Eisenbeschlägen, strich zaghaft über das alte Holz, zog sie vorsichtig zu sich heran und öffnete sie. Judith und John hielten den Atem an.

Sophie zögerte. Ein muffiger Geruch schlug ihr entgegen. Sie nahm einen vergilbten Briefumschlag heraus, der in der Mitte durchgerissen war. Sie konnte erkennen, dass auf dem Absender ANZAC stand und darunter Australian and New Zealand Army Corps, aber sie legte ihn hastig zur Seite, ohne auch nur einen einzigen Blick hineinzuwerfen, als fürchte sie, sich daran die Finger zu verbrennen. Darunter befand sich eine Daguerreotypie. Behutsam nahm sie das vorsintflutliche Foto zur Hand. Wer waren diese Menschen aus einem längst vergangenen Jahrhundert, die steif und lustlos in die Kamera blickten? Diese bis obenhin zugeknöpfte junge Frau? Sie schaute entsetzlich ernst aus, doch beim näheren Hinsehen musste Sophie feststellen, dass sie Emmas Mund besaß - und ihre Augen. Hastig legte Sophie das Bild in die Kiste zurück. Sie schob es unter ein Buch aus schwarzem Leder, das schon ganz brüchig war. Dann klappte sie die Kiste entschlossen zu. Ihr Blick blieb an dem Stapel Papier hängen, der neben der Kiste lag - die Aufzeichnungen ihrer Mutter, fein säuberlich auf dem Computer geschrieben. Ganz vorsichtig, als wäre es zerbrechlich, nahm Sophie das Skript zur Hand. Es waren bestimmt weit über vierhundert Seiten, und Sophie spürte augenblicklich einen unwiderstehlichen Sog, in diese Welt einzutauchen, die ihre Mutter für sie niedergeschrieben hatte und die zum Greifen nah schien, selbst auf die Gefahr hin, dass sie darin ertrinken würde. Sie spürte es mit jeder Faser. Sie hatte keine Wahl. Keine ruhige Minute würde sie mehr haben, wenn sie sich dieser Welt verschloss.

Sophie atmete ein paarmal tief durch, bis sie kaum hörbar raunte: »Entschuldigen Sie, Mister Franklin, ich habe Ihnen vorhin kaum zugehört, aber sagten Sie nicht, dass Sie sich um die Beerdigung hier kümmern würden?«

Der Anwalt nickte und erwiderte hastig: »Es freut mich, dass Sie den Wunsch Ihrer Mutter respektieren, aber da wäre noch etwas.«

Sophie hatte das Gefühl, ihr Herzschlag würde für den Bruchteil einer Sekunde aussetzen. Noch mehr konnte sie nicht verkraften. Was gab es denn nun noch? Sie sah den Anwalt ängstlich an.

John hielt ihrem Blick stand, griff erneut nach dem Testament und las mit seiner ruhigen Stimme aus dem Letzten Willen seiner Mandantin vor. »Pakeha, mein Anwesen bei Tomahawk (Ocean Grove), erbt allein meine Tochter Sophie.«

Er legte eine Pause ein, bevor er erklärte: »Das Testament ist unterschrieben von Emma de Jong, geborene McLean.«

»Das glaube ich jetzt nicht!«, brachte Sophie tonlos heraus.

»Was? Dass Ihre Mutter ein Haus besitzt?«

»Das nicht und dass sie eine geborene McLean ist, schon gar nicht. Meine Mutter hat immer behauptet, sie heißt Wortemann und dass wir aus einer Nebenlinie dieser Hamburger Reederfamilie stammen. Sie hat mich stets in dem Glauben gelassen, dass ihre Eltern Deutsche waren, aber McLean, das klingt, das klingt -«

»-schottisch«, ergänzte John.

»Schauen Sie mal ins Telefonbuch! Das ist kein seltener Name hier in Dunedin. Ich kenne allein drei davon«, pflichtete Judith ihm bei.

»Ja, toll. Was ein Trost! Wissen Sie, was das heißt? Sie hat mich belogen und betrogen! Ein Leben lang. Mir wichtige Dinge verheimlicht und mich an der Nase herumgeführt. Und wozu?« Sophie war laut geworden.

»Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist, aber ich hatte keine andere Wahl, als Ihnen die Wahrheit zu überbringen«, erklärte John beinahe bedauernd und legte einen Schlüssel vor Sophie auf den Tisch.

»Das ist für Ihr Haus. Wenn Sie es jetzt besichtigen wollen, fahre ich Sie hin.«

»Danke bestens, aber Sie werden verstehen, dass ich es vorziehe, im Hotel zu übernachten. Es ist alles schon fremd genug, und nun auch noch ein wildfremdes Haus. Nein, auf keinen Fall. Aber wenn Sie mich jetzt bitte ins Kingsgate bringen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich kann nicht mehr. Und wenn ich es jetzt an Ihnen beiden ausgelassen habe, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin, dann bitte ich um Entschuldigung.«

»Schon gut«, meinte John besänftigend und warf Judith einen aufmunternden Blick zu.

»Sie können aber mit zu mir nach Hause kommen. Ich würde etwas kochen für uns drei«, schlug Judith nun vor.

Die beiden sind also wirklich ein Paar, schoss es Sophie durch den Kopf, ein schönes Paar! Es war rührend zu sehen, wie sie versuchten, ihr zu helfen, aber Sophie wollte jetzt nur noch allein sein. Sie hatte das Gefühl, dass das Gerüst ihres Lebens zusammenkrachte und sie unter den Trümmern begrub.

»Ich habe so viel für Weihnachten eingekauft, und nun ist mein Freund einfach zum Mount Cook abgehauen, und ich sitzen auf all dem schönen Essen.«

Ihr Freund? Also gehören der Anwalt und seine Partnerin doch nicht zusammen, fuhr es Sophie durch den Kopf. Egal, was geht mich das an!

»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich kann nicht. Nach allem, was passiert ist. Ich weiß ja nicht mal mehr, wie ich heiße. Ich bin vollkommen durcheinander. Ich glaube, ich muss das alles erst in Ruhe begreifen. Wenn es mir morgen besser geht, dann würde ich gern auf Ihr Angebot zurückkommen.«

»Prima!«, antworteten Judith und John wie aus einem Mund.

Sophie nahm die hölzerne Kiste vom Tisch, steckte den Schlüssel ein und folgte dem Anwalt, der sofort aufgesprungen war, zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Danke, für das Kleid, Misses Palmer, und überhaupt für alles«, erklärte sie an Judith gewandt.

»Nicht der Rede wert!« Die junge Frau lächelte verständnisvoll.

Wortlos fuhren sie durch Dunedin. Stumm starrte Sophie auf die Kiste auf ihrem Schoß, die wie eine zentnerschwere Last auf ihr lag, obwohl sie in Wirklichkeit gar nicht so schwer war. Dann hielt der Wagen.

John Franklin nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum und begleitete Sophie bis zu ihrer Zimmertür. Dort verabschiedete er sich mit den Worten: »Sie können sich jederzeit bei mir melden, wenn Sie mich brauchen. Und das sage ich nicht nur so daher. Sie brauchen jetzt ganz viel Ruhe! Schlafen Sie sich erst einmal richtig aus. Und wenn ich nichts Gegenteiliges höre, hole ich sie morgen um achtzehn Uhr zum Dinner ab.«

»Danke. Auf Wiedersehen, Mister Franklin!«, hauchte Sophie, sichtlich erschöpft.

John Franklin zögerte noch, sich umzudrehen und zu gehen. Er räusperte sich verlegen. »Wir haben ganz vergessen, bei der Polizei vorbeizufahren. Schaffen Sie das noch, oder warten wir lieber bis morgen?«, fragte er beinahe entschuldigend.

»Das machen wir morgen!«, entgegnete Sophie schwach. Sie hatte inzwischen nicht mehr den geringsten Zweifel daran, dass Emma tot war. Plötzlich war es ihr gleichgültig, wer dieser Zeuge war. Das würde sie noch früh genug erfahren.

»Dann hole ich Sie morgen gegen siebzehn Uhr ab. Bevor wir Judith einen Besuch abstatten, fahren wir bei der zuständigen Polizeistation vorbei. Die befindet sich nämlich in St Kilda.«

»Dort, wo das Haus ist?«, fragte Sophie tonlos.

»In der Nähe.«

»Dann bis morgen!« Sophie lächelte tapfer zum Abschied, zog die Tür hinter sich zu, setzte sich in einen Sessel und blieb dort eine Weile regungslos sitzen. Bei dem Gedanken an all das, was sie in den letzten Stunden bei Franklin, Palmer & Partner hatte erfahren müssen, wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Schließlich stand sie auf, holte ihren Morgenmantel aus dem Koffer, zog das fremde Kleid aus und warf ihren seidenen Kimono über. Dann nahm sie das Manuskript aus der Kiste und ließ sich aufs Bett fallen.

Statt zu lesen, blätterte sie das Skript jedoch nur von hinten nach vorn durch auf der verzweifelten Suche nach dem Namen Thomas Holden, aber der war auf die Schnelle nicht zu entdecken. Sophie kämpfte gegen ihre inneren Dämonen an. Sollte sie nicht einfach hinten anfangen, um das Geheimnis schnellstens zu lüften? Oder sollte sie ihrer Mutter eine letzte Ehre erweisen, indem sie ihr den Wunsch erfüllte, es chronologisch zu lesen?

Seufzend beschloss sie zu tun, was ihre Mutter verlangte, auch wenn es ihr schwerfiel. In ihre Trauer mischte sich Wut. Was mutete Emma ihr da eigentlich zu? Ein Leben lang hatte sie versucht, alles Unabwägbare von ihr fernzuhalten, und nun musste sie so viel Unbegreifliches auf einmal verkraften.

Das ist nicht fair, Emma!, dachte Sophie, bevor sie zögernd die erste Seite zur Hand nahm. Als sie die Widmung las, erstarrte sie: Für Sophie und Thomas. Mit klopfendem Herzen vertiefte sie sich in die Aufzeichnungen ihrer Mutter.

Dunedin/Otago, Januar 1863

Anna Peters weinte stumm in sich hinein. Ihr Ehemann Christian, der neben ihr im Bett laut schnarchte, durfte es auf keinen Fall mitbekommen. Wenn er aufwachte, würde er sie bestimmt für ein undankbares, dummes Ding halten und sie dafür mit groben Worten bestrafen.

Anna empfand es ja selbst so, dass sie eigentlich keinen Grund zum Klagen hatte. Sie wusste durchaus zu schätzen, was er auf sich genommen hatte, aber sie fühlte sich so entsetzlich einsam an diesem Ort am Ende der Welt, der ihr im Gegensatz zu Hamburg wie die Wildnis vorkam. Für Christian jedoch bedeutete er die Chance, es zu Ansehen und Reichtum zu bringen. Er war nun der Chef der neuen Handelsniederlassung Wortemann in Otago.

Annas Tränen waren versiegt, aber die Traurigkeit blieb. Für sie war das hier nur der Beginn eines weiteren Lebensabschnitts, den andere für sie vorgesehen hatten. Seit ihrer frühen Kindheit hatten ihr Onkel Rasmus Wortemann und seine Frau Margarete über sie, das arme Waisenkind, bestimmt. Sie hatten ihr das kleinste Zimmer in der Sommervilla der Familie an der Elbe zugewiesen, nachdem sie sie bei sich aufgenommen hatten. Sie hatten auch entschieden, wie das Erbe ihrer Eltern angelegt werden solle - mit dem Ergebnis, dass angeblich nichts mehr davon übriggeblieben war. Und sie hatten beschlossen, dass ihre Ziehtochter, kaum achtzehnjährig, dem zehn Jahre älteren Christian Peters, der rechten Hand ihres Onkels in der Handelsgesellschaft Wortemann, zur Frau gegeben wurde.

Anna atmete schwer bei dem Gedanken. Sie wusste, dass ihr Unrecht widerfahren war, nachdem ihre Eltern kurz nacheinander den Pocken zum Opfer gefallen waren, an denen sich ihr Vater auf einem Wortmann'schen Schiff nach Übersee angesteckt hatte. Andererseits hatten Onkel und Tante ihr ein neues Zuhause gegeben. Man hatte sie niemals schlecht behandelt. In einem Waisenhaus wäre es mir bestimmt schlimmer ergangen, tröstete Anna sich einmal mehr und merkte, wie weit weg Europa war. Wieder spürte sie, wie ihre Augen feucht wurden bei dem Gedanken an das ferne Hamburg.

Es sind die Strapazen der Überfahrt, redete sich die junge Frau ein. Aber das würde Christian niemals als Entschuldigung gelten lassen. Sie war schließlich auf der Margarete gereist, einem Handelsschiff der Familie Wortemann. Der reine Luxus, wie Christian behauptet hatte, zumal er Monate zuvor auf einem einfachen Auswandererschiff nach Neuseeland gekommen war. Vier Monate hatte seine Überfahrt gedauert. Das sind kaum vorstellbare Strapazen gewesen, würde er ihr vorhalten, während sie wie eine Prinzessin gereist sei. Es würde wenig nützen, ihm zu erklären, dass es auch für sie eine einzige Qual gewesen war, hatte sie doch volle drei Monate unter Seekrankheit gelitten. Er würde ihr entgegenhalten, er habe die Menschen wie Vieh unter Deck sterben sehen und sei einer um sich greifenden Seuche nur knapp entronnen. Vor allem würde er ihr in Erinnerung rufen, dass er Tag und Nacht geschuftet hatte, um diese Handelsvertretung im vom Goldrausch profitierenden Otago aufzubauen, damit er ihr, dem verwöhnten Hamburger Mädchen, ein gutes Leben bereiten könne. Nein, es war besser, ihm nicht zu zeigen, wie elend ihr zumute war.

Er durfte vor allem niemals erfahren, dass es einen viel tieferen Grund für ihre Tränen gab. Sie war keine gute Ehefrau, und sie würde es niemals werden, denn sie hasste das, was er ihr soeben hatte antun wollen. Wie ein Tier hatte er sich auf sie gewälzt, sie mit seinem Gewicht fast zerquetscht, und sie hatte ihn schließlich angefleht, sie heute noch nicht anzurühren. Sie hatte seit ihrer Ankunft vor zwei Tagen nur blass und erschöpft im Bett gelegen. In der vergangenen Nacht hatte er sie in Ruhe gelassen, aber nun hatte er versucht, ihre ehelichen Pflichten einzufordern, und sie dabei mit seinem ekelhaft stinkenden Atem angehaucht. Er hat Schnaps getrunken, vermutete Anna. Sie spürte immer noch die groben Hände auf ihren Schenkeln, die ihr Nachthemd immer höher schoben. »Bitte, nicht!«, hatte sie gefleht. »Mir ist nicht gut!« Und das war die reine Wahrheit gewesen, war ihr doch beim Geruch seines widerlichen Atems speiübel geworden.

Mit einem brummigen »Morgen ist die Schonfrist vorüber!« hatte er die Pranken von ihren Schenkeln genommen, sein Schlafhemd mit einem Ruck hinuntergezogen und sich wütend auf die andere Seite gerollt. Bald danach hatte er laut zu schnarchen angefangen.

In diesem Augenblick hörte Anna ein pfeifendes Geräusch, erst leise, dann immer lauter. Sie vermutete, dass es ein einheimisches Tier war, eines von diesen vielen unbekannten Wesen dort draußen, die ihr Angst einjagten.

Das Pfeifen wurde immer lauter und ging in ein Zischen über. In diesem Augenblick schreckte ihr Mann hoch. Anna schloss die Augen und wagte kaum zu atmen, damit er nicht merkte, dass sie noch wach lag. Der Mond beleuchtete das Zimmer so hell, dass man alles deutlich erkennen konnte. Das schlichte Eisenbett, die Kommode, den Schrank, die Nachttische und zwei Stühle für ihre Kleidung. Dazwischen ihre riesigen Überseekoffer.

Anna hielt die Augen fest zusammengekniffen, als das Geräusch noch einmal ertönte. Täuschte sie sich, oder ging das Zischen in einen menschlichen Ruf über? Annas Herz klopfte bis zum Hals. Sie hoffte, er würde es nicht hören und damit erraten, dass sie noch nicht schlief. Zu groß war ihre Angst, dass er seinen massigen Körper noch einmal auf sie wälzen würde. Sie konnte nicht garantieren, dass sie bei dem nächsten Versuch nicht vor Ekel würgen würde. Es war ja nicht nur der Schnaps, es war ja auch der Geruch nach erkaltetem Schweiß, der in seinem Nachthemd saß und den er bei jeder Bewegung ausdünstete.

Hat er eigentlich immer schon solche übel riechenden Schwaden ausgestoßen?, fragte sich Anna und versuchte sich zu erinnern. Sie hatte ihn ja schließlich schon über ein Jahr nicht mehr gesehen.

Doch statt sich an seinen Geruch zu erinnern, fiel ihr plötzlich die erste Begegnung mit ihrem Mann ein. Auf dem Sofa des Onkels in der Sommervilla an der Elbe.

»Das ist Christian. Er hat um deine Hand angehalten.« Mit diesen Worten hatte der Onkel ihr den linkisch wirkenden Mann vorgestellt.

Sie war zu Tode erschrocken, als Christian ihr eine Hand entgegenstreckte, die sie an die Pranke des Braunbären erinnerte, den sie einmal in einem Wanderzirkus bewundert hatte. Dieser Mann war das Gegenteil von Frederik Goldhammer, ihrem schöngeistigen Klavierlehrer, den sie lange heimlich verehrt hatte. Bis zu dem Tag, an dem er beim vierhändigen Spiel ihre Hände berührt hatte. Bei dem Gedanken, was dann geschehen war, konnte Anna ein Zittern nicht unterdrücken. Sie hatten sich angesehen, bis ihre Münder einander gefunden hatten.

»Ich halte gleich morgen um deine Hand an, Liebste«, hatte Frederik ihr nach diesem Kuss hoch und heilig versprochen. Und sie hatte ihn nie wiedergesehen! Sie wusste nur, dass er dem Onkel tatsächlich seine Aufwartung gemacht und dieser ihn hochkantig hinausgeworfen hatte.

»Wir haben andere Pläne mit dir«, hatten Onkel Rasmus und seine Frau Margarete ihr wenig später ungerührt mitgeteilt. »Es kommt gar nicht in Frage, dass du so einen brotlosen Künstler nimmst!«

Und dann saß plötzlich dieser grobschlächtige Kerl auf dem Sofa und blickte sie hoffnungsvoll an. Anna war wie erstarrt gewesen. Diese erste Begegnung mit Christian Peters lag inzwischen mehr als drei Jahre zurück. Nachdem Anna dem Heiratskandidaten die Hand gereicht hatte, war sie damals einfach aus dem Zimmer gerannt, aber die Tante hatte sie zurückgeholt und ihr befohlen, seinen Antrag anzunehmen. »Sonst geben wir dich in das Damenstift.«

Das war eine schlimme Drohung, denn Anna kannte zwei alte Tanten, die dort lebten, und etwas Verknöcherteres als diese beiden schwarz gekleideten, frömmelnden Krähen war ihr nie zuvor begegnet. Anna hatte sich in ihrer Verzweiflung Bedenkzeit ausgebeten in der stillen Hoffnung, dass Frederik sie retten würde. Wochenlang hatte sie Abend für Abend in die Kissen geweint und gebetet, dass Frederik sie entführen möge. Ja, sie hatte sogar ein Köfferchen gepackt für den Fall, dass er sie eines Nachts abholen würde, aber der Klavierlehrer war niemals gekommen. Ja, sie wäre sogar zu ihm gegangen, doch sie kannte ja nicht einmal seine Adresse.

Und nach einem Monat hatte der grobe Geselle wieder auf dem Sofa ihres Onkels gesessen. Anna sah alles vor ihrem inneren Auge ablaufen, als wäre es erst gestern gewesen: wie sie sich brav neben den Gehilfen ihres Onkels gesetzt und mit den Tränen gekämpft hatte. Sie fand ihn schrecklich. Seine ungelenken Bewegungen, sein verlegenes Lächeln, das gelbliche Zähne preisgab, seine ungeschickt formulierten Sätze. All das hatte sie abgestoßen.

Ein erneutes Pfeifen riss Anna aus ihren Erinnerungen.

Christian schien sich jetzt leise, ganz leise zu erheben: das Rascheln seiner Bettdecke, tapsende Schritte auf den Holzdielen. Eins, zwei, drei, bis zum Schemel. Aber was war das? Warum zog er seine Hosen an, wenn er doch nur seine Notdurft verrichten wollte? Und die Stiefel. Wieder Schritte; die Tür klappte. Die schweren Schritte seiner Stiefel auf der Stiege. Dann war alles ruhig.

Vorsichtig öffnete Anna die Augen und setzte sich im Bett auf. Sie seufzte. Überall im Zimmer standen noch die Koffer, die sie mitgebracht hatte. Zum Auspacken war sie viel zu erschöpft gewesen. Und dann all das Neue, das sie hier erwartete! Am meisten schockierte sie, dass sie vorerst in einem Holzhaus leben sollte. Gut, man hatte sie in Hamburg mit dem kleinsten Zimmer der Villa abgespeist, aber gegen diese Hütte war es der reinste Palast gewesen. Und überall zwischen den eilig hochgezogenen Holzbehausungen führten sandige Wege hindurch, die der Regen in Schlamm verwandelt hatte. Die Kutsche war mehrmals stecken geblieben. Dazu der plötzliche Sommer. Als sie in Hamburg an Bord gegangen war, hatte Schnee gelegen.

Erschrocken merkte Anna, wie ihr allein bei dem Gedanken an ihre Ankunft im Hafen von Otago wieder eine Träne über das Gesicht rollte. Hastig wischte sie die Spur ihres Kummers fort.

»Hör auf zu heulen!«, hatte Christian gebrüllt, als sie beim Anblick der kargen Behausung in Tränen ausgebrochen war. »Stell dich nicht so an! Du hast keinen Grund dazu! Wir werden bald das prachtvollste Haus vor Ort haben. Ich habe schon mit dem Baumeister gesprochen.«

Alles war so fremd. Nicht nur das Land, sondern auch ihr Mann. Er hatte sie noch nie zuvor angebrüllt. Bis auf die Tatsache, dass er ihr einmal wöchentlich große Schmerzen bereitete, hatte sie sich in den ersten beiden Ehejahren fast ein wenig an ihn gewöhnt. Wenn er auch grob wirkte, war er in seinem Wesen ihr gegenüber stets sanftmütig gewesen. Nur manchmal, da hatte er sie merkwürdig angesehen und lauernd gefragt: »Und, bist du endlich in anderen Umständen?« Nein, sie war in den beiden ersten Ehejahren zu ihrem eigenen Kummer nicht schwanger geworden. Ein Kind, ja, das war ihre große Sehnsucht. Obwohl er jedes Mal enttäuscht gewesen war, weil sie es verneinen musste, war er nie wirklich böse geworden. Im Gegenteil, er hatte sie sogar getröstet und ihr Mut gemacht. »Warte nur ab, eines Tages haben wir einen ganzen Stall voller Kinder!« Christian hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich mindestens sechs Nachkommen wünschte. Er war immer freundlich zu ihr gewesen, ja, mehr noch, er hatte ihr eigentlich jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Was hatte ihre beste Freundin Gertrud ihr noch bei der Hochzeit zugeflüstert? »Er ist ein stattlicher Mann, und er liebt dich!« Daran, dass er sie auf seine Weise liebte, hatte es nie einen Zweifel gegeben. Jedenfalls nicht bis vor einem Jahr, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Bevor er zu diesem Ort an der neuseeländischen Ostküste aufgebrochen war, der über Nacht zum Ziel vieler Glückssucher geworden war.

Hier in der Fremde schien Christian ein völlig anderer Mensch geworden zu sein. Ein Tyrann, der sich nicht wirklich über ihre Ankunft zu freuen schien. Gut, er hatte sie vom Schiff abgeholt, aber zwischen ihnen herrschte Fremdheit. Sie hatten bislang nur wenige Worte gewechselt, und das nur, weil Anna ihren Mann mit Fragen überhäuft hatte. Sie hatte das Gefühl, als betrachte er sie nicht mehr mit den Augen der Liebe, sondern beinahe wie einen Eindringling. Anna hatte sich natürlich vorgestellt, den Mann vorzufinden, von dem sie sich vor einem Jahr getrennt hatte. Die Aussicht, von diesem Mann auf Händen getragen zu werden, das war ihr einziger Trost gewesen, als sie Hamburg verlassen hatte. Jetzt benimmt er sich genauso grob, wie er aussieht, dachte sie seufzend. Ob er sich zu sehr an ein Junggesellendasein gewöhnt hat?