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Nun gibt es eine exklusive Sonderausgabe – Gaslicht – Neue Edition In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Bettina schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie hatte einen fürchterlichen Alptraum gehabt. Jemand hatte versucht, sie zu erdrosseln. Sie blickte in den Spiegel und wich entsetzt zurück. Was sie sah, konnte sie nicht glauben – rund um ihren Hals waren tatsächlich Würgemale zu sehen! Dunkel und mächtig erhoben sich die Mauern von Gillmore Manor vor der jungen Frau, die die lange, von Pappeln gesäumte Auffahrt, an deren Ende das alte Herrenhaus stand, langsam hinaufschritt. Bettina Hansen setzte ihren schweren Koffer ab und besah sich noch einmal ihren zukünftigen Arbeitsplatz aus einiger Entfernung. Das Gebäude erschien ihr immens groß, viel weitläufiger, als sie es sich vorgestellt hatte. Und auch der um das Haus herum angelegte Park war riesig. Sie ließ ihre Blicke über die Fensterreihen schweifen. Plötzlich sah sie in der obersten Etage an einem der auf der rechten Seite liegenden Fenster eine blonde Frauengestalt, die aufgeregt mit den Armen winkte. Sie machte abwehrende Bewegungen in Bettinas Richtung, als wollte sie ihr bedeuten umzukehren. Im nächsten Augenblick jedoch erschien ein Mann an ihrer Seite, der sie an den Händen packte und in das Zimmer zog. Dann war nichts mehr zu sehen. Etwas zögernd setzte sie ihren Weg auf das alte Gemäuer fort. Was hatte das zu bedeuten? War wirklich sie gemeint gewesen? Aber wovor wollte die Frau sie warnen oder gar bewahren? Vielleicht aber war sie selbst in Gefahr und wollte Bettina bitten, ihr zu helfen. – Das würde es sein!
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Seitenzahl: 145
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Bettina schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie hatte einen fürchterlichen Alptraum gehabt. Jemand hatte versucht, sie zu erdrosseln. Sie blickte in den Spiegel und wich entsetzt zurück. Was sie sah, konnte sie nicht glauben – rund um ihren Hals waren tatsächlich Würgemale zu sehen!
Dunkel und mächtig erhoben sich die Mauern von Gillmore Manor vor der jungen Frau, die die lange, von Pappeln gesäumte Auffahrt, an deren Ende das alte Herrenhaus stand, langsam hinaufschritt.
Bettina Hansen setzte ihren schweren Koffer ab und besah sich noch einmal ihren zukünftigen Arbeitsplatz aus einiger Entfernung. Das Gebäude erschien ihr immens groß, viel weitläufiger, als sie es sich vorgestellt hatte. Und auch der um das Haus herum angelegte Park war riesig.
Sie ließ ihre Blicke über die Fensterreihen schweifen. Plötzlich sah sie in der obersten Etage an einem der auf der rechten Seite liegenden Fenster eine blonde Frauengestalt, die aufgeregt mit den Armen winkte. Sie machte abwehrende Bewegungen in Bettinas Richtung, als wollte sie ihr bedeuten umzukehren. Im nächsten Augenblick jedoch erschien ein Mann an ihrer Seite, der sie an den Händen packte und in das Zimmer zog. Dann war nichts mehr zu sehen.
Etwas zögernd setzte sie ihren Weg auf das alte Gemäuer fort. Was hatte das zu bedeuten? War wirklich sie gemeint gewesen? Aber wovor wollte die Frau sie warnen oder gar bewahren? Vielleicht aber war sie selbst in Gefahr und wollte Bettina bitten, ihr zu helfen. – Das würde es sein! Sie mußte sich beeilen, bis zum Haus zu kommen, um irgend jemanden nach oben schicken zu können.
Endlich hatte sie das große Portal erreicht und blickte noch einmal nach oben. Aber der Mann und die Frau am Fenster blieben verschwunden. Hoffentlich war nichts passiert. Bettina holte noch einmal tief Luft, bevor sie die Stufen bis vor die Eingangstür hinaufging. Oben angekommen betätigte sie den schweren Messingtürklopfer in Form eines Löwenkopfes, und nach einem kurzen Moment, in dem ihr vor lauter Aufregung ganz übel ward, wurde die mächtige Eichentür mit einem deutlich vernehmbaren Knarren geöffnet. Bettina setzte ihr freundlichstes Lächeln auf, wurde aber bitter enttäuscht durch den Anblick, der sich ihr bot. Eine hochgewachsene Frau etwa Mitte fünfzig erschien im Türrahmen. Sie hatte herbe, kalte Gesichtszüge und trug ihre schon von vielen grauen Strähnen durchzogenen dunklen Haare straff aus dem Gesicht gekämmt und hinten zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und ihr einziger Schmuck war eine alte Gemme, die sie vorne zwischen ihren Kragenecken befestigt hatte. Überrascht und wenig einladend musterte sie Bettina, bevor sie sie fragte: »Was wünschen Sie, Miss? Es ist schon recht spät für einen unangemeldeten Besuch.« Ihre Stimme hatte einen vorwurfsvollen Ton, so daß Bettina das Herz in die Hose rutschte und sie sich schon überlegte, ob sie einfach umdrehen und wieder nach Hause fahren sollte.
»Guten Abend, mein Name ist Bettina Hansen. Ich bin die neue Erzieherin. Aber bevor ich weiterspreche, ich habe das Gefühl, daß dort oben jemand in Gefahr ist. Ich sah an einem Fenster im oberen Stockwerk einen Mann und eine Frau, und ich glaube, daß die Frau mir zugewinkt hat, weil sie Hilfe brauchte.«
Es war unbeschreiblich, was für ein Blick sie jetzt traf. Die Frau in der Tür sah sie an, als sei sie verrückt.
»Wie kommen Sie darauf, daß in irgendeinem Fenster dieses Hauses eine Frau und ein Mann zu sehen waren? Es befinden sich außer mir nur noch die Köchin und das Hausmädchen hier, und von denen hat niemand etwas dort oben zu suchen. Und schon gar kein Mann!«
»Aber glauben Sie mir doch, ich habe es selbst gesehen.« Bettina trat einen Schritt zurück und deutete auf das bewußte Fenster.
»Hier, schauen Sie bitte, hier oben war es.«
Die Frau in Schwarz warf einen kurzen Blick nach oben, wandte sich aber sogleich wieder Bettina zu.
»Sie können mir schon glauben, daß da oben niemand ist. Ich denke, damit ist die Sache erledigt. Sie haben sicher eine weite Reise hinter sich und sind erschöpft. Da hat man manchmal die seltsamsten Erscheinungen. Aber würden Sie mir jetzt bitte erklären, weshalb Sie schon heute hier sind? Wir haben Sie erst morgen erwartet.« Sie durchbohrte Bettina mit einem unfreundlichen Blick.
Diese jedoch war fassungslos. Sie war sich ganz sicher, daß sie die beiden am Fenster gesehen hatte. Sie war doch nicht verrückt! Und so müde konnte man doch gar nicht sein, daß man zwei Menschen sah, die überhaupt nicht existierten. Irgend etwas stimmte hier nicht – entweder mit dieser Frau oder mit dem ganzen Haus. Sie fühlte ein geradezu körperliches Unwohlsein in Gegenwart der Frau, so wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Aber im Moment wollte sie eigentlich nur eintreten, denn die lange Fahrt von Lübeck hierher war tatsächlich sehr anstrengend gewesen.
»Es tut mir leid, daß ich heute schon eingetroffen bin. Ich hatte allerdings ein Telegramm geschickt, in dem ich meine Ankunftszeit mitgeteilt habe. Ich hoffe, ich mache Ihnen nicht zu große Schwierigkeiten.«
»Sicher machen Sie uns Schwierigkeiten mit Ihrer verfrühten Ankunft. Aber da Sie nun schon einmal da sind, kommen Sie schon herein. Mein Name ist Elinor Hampbell. Ich bin die Hausdame und leite diesen Haushalt schon seit vielen Jahren. Ich bin dafür verantwortlich, daß alles in diesem Hause seine Ordnung hat, vom Keller bis zum Dach.« Dies kam sehr bestimmt von ihren Lippen, und Bettina mißverstand den unausgesprochenen Hinweis nicht. Elinor Hampbell gab die Anweisungen, und alle anderen hatten sich danach zu richten.
Sie betrat hinter Mrs. Hampbell die ihr riesig erscheinende Halle des alten Herrenhauses, die an Deckenhöhe einer Kirche in nichts nachstand. Alles wirkte wuchtig und erdrückend, diesen Eindruck hatte sie vom ersten Moment an. Und sie fragte sich schon jetzt, ob sie mit dieser Umgebung jemals zurechtkommen würde.
Aber sie wollte sich nicht beirren lassen und ging hinter Mrs. Hampbell durch die Halle bis zu der Treppe, die sich weit und ausladend in der Mitte des Hauses erhob. Sie führte auf die Galerie, von der zahlreiche Türen abgingen. Eine weitere Treppe schloß sich an, die in die obere Etage führte, wo sich auch Bettinas Zimmer befanden. Dies mußte das Stockwerk sein, in das sie von unten geblickt hatte.
Elinor zog einen Schlüssel aus ihrer Rocktasche und schloß auf. Sie öffnete die Tür, und Bettina konnte eintreten. Sie war auf das angenehmste überrascht. Sie stand in einem wunderhübsch möblierten Raum, an dessen Stirnseite sich zwei Fenster befanden. Alles war hell und freundlich eingerichtet, mit einem großen Schrank, zwei Kommoden und einem breiten, antiken Messingbett.
»Es ist sehr hübsch hier. Ich werde mich sicher sehr wohl fühlen in diesen Räumen.«
»Wir werden sehen. Es ist ein Teil der Gemächer der ehemaligen Lady Gillmore. Hier war das Zimmer ihrer Zofe. Lord Gillmore hat alles neu für Sie herrichten lassen.« Für einen Augenblick schien die Hausdame ihre Gedanken abschweifen zu lassen, doch schnell hatte sie sich wieder im Griff. »Sie sollten sich jetzt ein wenig frisch machen und Ihre Koffer auspacken. Ich lasse unten ein Abendessen für Sie zubereiten. Wenn Sie sich dann bitte im Speisezimmer einfinden wollen.« Mit diesen Worten ließ sie Bettina allein in ihrem neuen Zuhause.
Diese ließ sich, kaum hatte die andere den Raum verlassen, mit einem tiefen Seufzer auf das Bett fallen. Sie blickte sich in dem Zimmer um, und all das, was sie gerade erlebt hatte, und auch das, was sie hierhergeführt hatte, purzelte wild in ihrem übermüdeten Kopf hin und her.
Zu Hause in Deutschland hatte sie schon zwei Jahre in einem Kindergarten gearbeitet. Diese Arbeit hatte ihr immer viel Freude bereitet, denn sie liebte Kinder über alles. Doch als dann ihre Freundschaft mit einem jungen Lehrer in die Brüche gegangen war und all das, was sie sich für die Zukunft ausgemalt hatte, mit einem Mal bedeutungslos geworden war, hatte sie sich auf eine Anzeige in einer überregionalen Zeitung hin hier in England beworben.
Es wurde eine Erzieherin für zwei Jungen gesucht, deren alleinstehender Vater – ein englischer Lord und Besitzer mehrerer Firmen – aus beruflichen Gründen nicht die Zeit hatte, sich ständig um seine Söhne zu kümmern. Aufgrund ihrer hervorragenden Zeugnisse und ihrer sehr guten Englischkenntnisse hatte Bettina die Stelle fast sofort bekommen. Doch auf was sie sich da eingelassen hatte, wußte sie in diesem Moment noch nicht…
Noch nie war Bettina jemandem begegnet, der so viel rätselhafte Kälte ausstrahlte wie Elinor Hampbell.
Sie stand auf und ging in das angrenzende Zimmer, das als Wohn- und Arbeitszimmer hergerichtet war. Bettina durchschritt ihre Räume und fühlte sich gleich sehr viel bedeutender als zu Hause in Lübeck, wo sie sich nur eine kleine Einzimmerwohnung hatte leisten können. Dies hier hatte doch wirklich Stil. Sie ging noch einmal in ihr Wohnzimmer und wollte sich dort auf das Sofa setzen, da fiel ihr eine Tür auf, die sie wohl vorher übersehen hatte. Es war auch keine richtige Tür im eigentlichen Sinne, sondern ein offensichtlich lange nicht genutzter Durchgang, den man mit Tapeten überklebt hatte. Auch die Türklinke war entfernt. Doch Bettina stutzte. Natürlich wollte sie wissen, was sich hinter dieser Tür verbarg. Wahrscheinlich ging es dahinter zu den Gemächern der verstorbenen Lady Gillmore, aber warum hatte man die Tür zugeklebt und verschlossen? Wurden die Räume heute gar nicht mehr genutzt? Und so wie es von außen den Anschein gehabt hatte, mußten sich doch hier auch die Räume befinden, in deren Fenster sie bei ihrer Ankunft die blonde Frau und den Mann gesehen hatte!
Bettina trat näher an die Tür heran und versuchte einen Spalt zu finden, durch den sie vielleicht in das benachbarte Zimmer sehen konnte. Doch ohne Erfolg! Sie wollte sich schon wieder abwenden, als sie eine leise Musik vernahm. Es hörte sich an, als würde jemand auf dem Klavier spielen – eine kleine Melodie, wie ein Liebeslied, begleitet von dem sanften Summen einer Frauenstimme.
Merkwürdig, dachte sie. Man hatte ihr doch gesagt, daß außer der Köchin und dem Hausmädchen niemand sonst im Hause war. Wer aber spielte dort auf dem Klavier, wo doch diese beiden Frauen angeblich nichts hier oben zu suchen hatten? Und daß die Musik von dieser Etage zu ihr herüberklang, daran hatte Bettina keinen Zweifel.
Sie hatte ganz im Gegenteil den Eindruck, daß das, was sie hörte, aus einem der nebenan liegenden Zimmer kam. Wie war das möglich?
Sie konnte es nicht vermeiden, daß ein leichter Schauer sie überlief. Obwohl ihre Räume mit allem Inventar wahrhaftig dazu angetan waren, sich in ihnen wohl zu fühlen, war ihr bei dem Gedanken, daß hier Dinge geschahen, von denen entweder niemand etwas wußte oder niemand ihr etwas sagen wollte, doch ziemlich unwohl. Wenn in einem Haushalt alles in Ordnung war, gab es auch nichts zu verschweigen. Was aber, wenn in den Räumen hinter der Tür doch irgend etwas vor sich ging, was niemand wissen durfte!
Bettina bemerkte jetzt, daß die Musik verstummt war, und sie vernahm auch keine weiteren Geräusche mehr. Also widmete sie sich erst einmal ihrem Gepäck und räumte ihre von zu Hause mitgebrachten Sachen in die Schränke ein.
Bettinas Gedanken blieben noch eine Weile bei der Tapetentür, dann fiel ihr ein, daß sie die beiden Jungen, wegen denen sie schließlich hergekommen war, noch gar nicht gesehen hatte. Es hatte gar nicht den Anschein gehabt, als würden hier Kinder wohnen. Alles wirkte düster und mit Ausnahme ihrer beiden Zimmer doch recht ungemütlich.
Sie machte sich rasch ein wenig frisch und verließ dann ihr neues Zuhause. Ihr Magen meldete sich jetzt doch mit Nachdruck, denn seit fünf Stunden hatte sie nichts mehr gegessen und getrunken. Was, wenn Lord Gillmore seiner Hausdame in Unfreundlichkeit in nichts nachstand? Na ja, sie hatte ja immer noch die Möglichkeit, wieder zurück nach Deutschland zu fahren…
*
Bettina stieg langsam die Stufen in die Halle hinab. Unten blieb sie zögernd stehen. Elinor hatte gesagt, sie solle sich im Speisezimmer einfinden. Doch wo war das Speisezimmer? Niemand war zu sehen, den sie hätte fragen können. So ging sie von Tür zu Tür, öffnete leise und tat einen vorsichtigen Blick hinein. So sah sie in die Bibliothek, den Salon, das Herrenzimmer, das Arbeitszimmer des Lords und kam schließlich auch an eine große zweiflügelige Tür.
Als sie diese behutsam öffnete, hörte sie die Stimme Elinor Hampbells, die leise, aber eindringlich auf jemanden, den Bettina nicht sehen konnte, einredete.
»Sie ist gerade angekommen. Du weißt also Bescheid: Es wird über nichts geredet, was die unselige Vergangenheit anbelangt. Sollte sie Fragen stellen, weich ihr aus. Und du brauchst gar nicht allzu freundlich zu ihr zu sein. Sie ist genauso eine Fremde, wie die, die all das Unglück hierhergebracht haben. Sollte mir irgend etwas zu Ohren kommen, verlierst du deine Arbeit hier, merk dir das!« Schritte entfernten sich, und niemand schien bemerkt zu haben, daß Bettina gelauscht hatte.
Es war das Speisezimmer, in dem das Gespräch stattgefunden hatte, das offenbar ihr gegolten hatte. Was sollte ihr verschwiegen werden? Gab es in diesem Haus ein Geheimnis? Bettina war beunruhigt und zugleich auch neugierig. Es mußte ja wohl irgend etwas in diesem Haus passiert sein, das Unglück über Gillmore Manor gebracht hatte. Was es gewesen sein könnte, wußte sie natürlich nach einem so kurzen Aufenthalt nicht zu sagen, und es war ja aus dem Gespräch nicht hervorgegangen. Vielleicht hing es ja mit dem Tod der Lady zusammen, von dem Bettina bis heute nichts gewußt hatte, den Elinor aber kurz ihr gegenüber erwähnt hatte.
Sie sagte sich, daß sie erst einmal abwarten mußte, wie sich die anderen Hausbewohner ihr gegenüber verhalten würden, besonders ihr neuer Arbeitgeber und seine beiden Söhne, von denen immer noch nichts zu sehen war.
Sie betrat also erst einmal den großen Raum, in dessen Mitte sich ein Tisch befand, der jedes von ihr jemals gesehene Maß überstieg. Sie setzte sich hin und wartete. Irgendwann würde sich hoffentlich jemand blicken lassen.
Endlich wurde die Tür zum Speisezimmer geöffnet, und Elinor trat ein. Ihr folgte eine junge Frau mit Häubchen und weißem Servierschürzchen, deren rosige Wangen einen erfreulichen Anblick in diesem dunklen Raum boten und die mit ihrem fröhlichen, offenen Gesichtsausdruck einen angenehmen Gegensatz zu der immerwährenden kalten Zurückhaltung Elinor Hampbells bildete.
»Ah, Sie haben schon Platz genommen, wie ich sehe. Ich habe Ihnen ein wenig Huhn mit Salat und Toast zubereiten lassen, und ich dachte mir, daß Sie sicher keinen Alkohol, sondern lieber Mineralwasser trinken möchten. Ich hoffe, das ist recht so. Ach, übrigens hat Lord Gillmore angerufen. Er wünscht Ihnen einen angenehmen ersten Abend. Er wird es vermutlich nicht schaffen, vor heute nacht wieder im Hause zu sein. So werden Sie ihn wahrscheinlich erst beim Frühstück sehen. Falls Sie noch Wünsche haben, wenden Sie sich bitte an Gilda.« Sie deutete auf das Mädchen, das daraufhin einen Knicks in Bettinas Richtung machte und vorsichtig lächelte.
»Vielen Dank, Mrs. Elinor. Wann werde ich die Kinder sehen? Ich bin schon so gespannt auf die beiden.«
»Die Jungen stehen morgens um sieben Uhr auf und nehmen um halb acht das Frühstück ein. Die Schule fängt zwar erst um neun Uhr an, aber der Weg ist weit, und die Jungen verlassen das Haus um acht Uhr, um den Schulbus zu erreichen. Es liegt also an Ihnen, ob Sie rechtzeitig genug aufstehen um sie zu sehen, oder ob sie es vorziehen, länger zu schlafen. Guten Abend.« Damit verließ Elinor das Speisezimmer.
Ein wenig eingeschüchtert saß Bettina an der großen Tafel. Die junge Gilda stand noch immer an ihrem Platz neben dem Tisch und blickte beinahe ebenso auf Bettina.
»Ach bitte, setzen Sie sich doch hin. Das macht mich ja ganz nervös, wenn Sie dort immer so in der Ecke stehen. Und außerdem ist es mir peinlich. Ich bin hier – demnächst – ja schließlich auch nur eine Angestellte und keine Herrschaft.«
»Aber nein, wenn Mrs. Elinor das sieht.« Gilda sagte dies sehr zaghaft und auch ein wenig ängstlich. »Sie wäre sehr ärgerlich über ein solches Verhalten. Sie hat mir extra vorhin noch einmal gesagt, daß ich Sie wie eine Lady behandeln soll.«
Bettina mußte lachen.
»Ach du meine Güte, was bezweckt sie denn damit? Ich bitte Sie jetzt, setzen Sie sich hin. Möchten Sie auch noch etwas essen?« Sie hatte in der Zwischenzeit schon angefangen zu essen und dabei festgestellt, daß das Huhn ganz ausgezeichnet schmeckte. Gilda hatte sich jetzt tatsächlich zu ihr an den Tisch gesetzt, ganz vorne auf die Stuhlkante, stets zum Absprung bereit, falls sich die Tür öffnete und Elinor Hampbell eintreten würde.
Bettina war vorsichtig genug, nicht gleich nach ihrem Verhältnis zu Mrs. Elinor zu fragen. Jedoch so ganz konnte sie ihre Neugier nicht im Zaum halten.
»Lady Gillmore muß ja noch sehr jung gewesen sein. Woran ist sie denn gestorben?«
Gildas Gesicht nahm sofort einen verschlossenen Ausdruck an.
»Das weiß ich nicht. Darüber wird hier im Haus nicht gesprochen. Wir sprechen sowieso sehr wenig über die Lady. Seine Lordschaft wünscht das nicht. Falls nichts mehr sein sollte, wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.«
Gilda entschwand, und Bettina goß sich noch ein zweites Glas Mineralwasser ein. Sie war wirklich sehr befremdet über das Verhalten der beiden Frauen, die sie bis jetzt hier getroffen hatte. Hatten sie sich abgesprochen? Ja, war es vielleicht sogar Gilda gewesen, mit der Elinor getuschelt hatte, als Bettina die Tür öffnete?
Als sie in ihrem Schlafzimmer angekommen war, legte sie sich in das alte, gemütliche Messingbett. Fast augenblicklich schlief sie ein – die lange Reise hatte sie müder gemacht, als sie gedacht hatte.
*