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In Würzburg kommt eine Frau bei einer Demo ums Leben. Getötet durch die Kugel aus einer Polizeiwaffe. Der angebliche Schütze liegt bewusstlos auf der Straße und kann sich an nichts mehr erinnern. Roland Utz glaubt fest an die Unschuld seines Kollegen Carsten und ermittelt auf eigene Faust. Als er dem Geheimnis der Getöteten auf die Spur kommt, muss er erkennen, dass mächtige Organisationen am Werk waren. Doch dann gibt die Aussage einer dubiosen Zeugin dem Vorfall eine ungeahnte Wendung. Am Ende müssen die Protagonisten erkennen, dass es keine Zufälle gibt und alles mit allem zusammenhängt. Wie schon in seinen Krimis "Bullenhitze" und "Am Anschlag" bringt Volker Sebold auch hier wieder Hochspannung in seine fränkische Heimat.
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Seitenzahl: 192
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Der Flügelschlag des Schmetterlings
von Volker Sebold
Gewidmet meiner Mutter, eine von den Guten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abruf bar.
1. Auflage 2024
© 2024 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen
Covermotiv: stock.adobe.com, © nsit0108 (generiert mit KI), © benicoma
Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05989-7 (Print)
978-3-429-06700-7 (PDF)
978-3-429-06701-4 (ePub)
Dieser Roman ist Fiktion.
Jeder Bezug zu realen Ereignissen, Personen und Orten ist hier rein fiktional. Weitere Namen, Figuren, Orte und Ereignisse entstammen der Vorstellungskraft des Autors.
Vorhersehbarkeit: Löst der Schlag eines Schmetterlingsflügels in Brasilien einen Wirbelsturm in Texas aus?
Edward Lorenz, US-Meteorologe,
Wegbereiter der Chaostheorie
PROLOG
Roland Utz, Staatsschützer, lässt Vergangenes Revue passieren und blickt nach vorne
Carsten Beck, Kriminalkommissar, macht sich Sorgen um seinen Vater
Roland freut sich, dass Würzburg bunt ist
Carsten, auf Posten
Philip Tauber fährt zur Arbeit
Caroline Lebert machte gerade eine Pause, als …
Die Stille nach dem Schuss
Wer sagt es Carsten?
Caroline grübelt
Antifaschistische Reflexe
Nadeln
Roland denkt nach
Carstens Leben ist nicht im Lot
Roland träumt
Für Carsten kommt es dicke
An Klotz nagen Zweifel
Einsam ins Totenreich
Ein Gespräch unter Freunden
Fisch & Wein
Ein Rechtsmediziner redet wirres Zeug
Waldbaden
Klotz räumt auf
Roland denkt über die Zukunft nach
Carsten ringt mit der Liebe
Paul ist verschwunden
Roland inspiziert eine Wohnung
Nachwirkungen
Irgendwo im Regenwald …
Roland nimmt eine Beichte ab
Leerlauf
Roland erlebt eine Überraschung
Roland sagt es Carsten
Die Dinge fügen sich
Roland verabschiedet sich
EPILOG
QUELLENANGABEN
SOUNDTRACK ZUM BUCH
Für den Blauen Morphofalter (Morpho peleides) auf Costa Rica war die Welt in Ordnung, als er begann, sich aus seinem Kokon zu quälen. Vier Monate hatte die Entwicklung vom Ei zum Falter gedauert. Das Weibchen hatte es auf eine Mucuna-Rebe gelegt. Schnell wuchs die Raupe heran. Häutete sich fünfmal, um sich schließlich zu verpuppen. Am Ende ihres Körpers wies die geschlüpfte Larve einen mit Dornen versehenen Fortsatz auf. So konnte sie sich mühelos an einen Zweig heften und sich kopfüber hängen lassen. Die Befreiung aus dem Kokon hingegen war ein Kraftakt. Mit unbändigem Willen traten die Füße des Schmetterlings gegen den schützenden Panzer. Als die Hülle endlich aufbrach, boxten zarte Füße jedes störende Teil zur Seite. Dann stieß der Kopf mit den Fühlern ins Freie. Schwach schob sich der restliche Körper aus dem Gespinst. Nun hing der Schmetterling stolz am Ast. Die Fühler zu einem mächtigen V geformt. Quälend langsam breitete er die Flügel aus. Von oben betrachtet war das Insekt von betörender Schönheit. Die Vorderkanten der Flügel waren schwarz gerahmt und verstärkten die betörende Wirkung des satten Blaus, hervorgerufen durch Schuppen, auf die Lichtwellen trafen.
Kein Wunder, dass Sammler der Spezies Mensch zu den Hauptfeinden dieser erhaben wirkenden Schmetterlinge gehörten.
Nichts ahnend von all dieser Gefahr schickte sich das imposante Wesen an, den ersten Flug zu wagen. In wirrem Zickzack versuchte es instinktiv, potenziellen Feinden zu entkommen.
Ein Mann stapfte durch den Regenwald, dem das Nagoya-Protokoll vollkommen egal zu sein schien. Er war auf der Suche nach dem schönsten Schmetterling, den es seiner Meinung nach, gab: dem Blauen Morphofalter. Da hatte der Schutz von Tierarten in einer bedrohten Welt für ihn keinen Vorrang. Der Sammler war getrieben von seiner Leidenschaft, diesen außergewöhnlichen Falter selbst zu fangen, um ihn endlich zu besitzen.
Licht, Wärme und Feuchtigkeit ließen eine Vegetation gedeihen, die es in dieser Üppigkeit und Schönheit auf der Erde sonst nirgends zu finden gab.
Eine Symphonie der Geräusche, die dem Sammler in den Ohren wehtat. Wenn er nachts in seinem Zelt lag, machten ihn die gefährlich klingenden Laute beinahe verrückt.
Er lehnte sich erschöpft an einen Baumriesen, dessen Laubdächer alles darunter abschirmten. Die mächtigen Wurzeln bohrten sich in den feuchten Boden wie die Füße eines riesigen Sauriers. Lianen hingen wie grünes Lametta von den gewaltigen Bäumen.
Der Mann hatte kein schlechtes Gewissen. Sein Egoismus siegte über den Gedanken der Ausbeutung. Er hatte vor Antritt der Reise seine Fotoausrüstung mit Thymol eingesprüht, um die Verpilzung der empfindlichen Teile zu verhindern. Für sich selbst hatte er zur Sicherheit ein Fläschchen Bio-Thymianöl dabei, mit dem er sich regelmäßig den Mund ausspülte.
Er war dem Objekt seiner Begierde unerbittlich auf den Fersen.
Unbekümmert sendete der Falter jedoch mit jedem Flügelschlag Wellen in die Atmosphäre. Diese Bewegungen setzten Dinge in Gang, die in der Tausende Kilometer entfernten fränkischen Mainmetropole Würzburg für einige Menschen im Chaos enden sollten.
AUGEN IN DER GROßSTADT
von Kurt Tucholsky
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück …
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden …
Zwei fremden Augen, ein kurzer Blick,die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück …
vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
Roland Utz nahm mit sanfter Hand, Finger an Mittelloch und Außenseite der LP, das Vinyl vom Plattenteller. Public Service Broadcasting: Bright Magic – Ich und Die Stadt.
Tucholskys Lyrik kongenial vertont und von Nina Hoss vollendet vorgetragen. Immer noch tief beeindruckt von der Kraft der Musik und des Textes schob Roland die Platte zurück in die Hülle. Streichelte sanft über das kunstvolle Cover und stellte die Scheibe ins Regal unter P, zwischen Portishead und Robert Plant.
Er ging auf den kleinen Balkon hinaus. Blickte über die Dächer der Zellerau, aus deren Schornsteinen Rauch in die Luft stieg. Jetzt, Mitte Januar, hatte sich der Winter doch noch entschieden, seinen Job zu erledigen. In einem Garten bauten Kinder einen Schneemann. Autos schlichen in Zeitlupe auf gesalzenen Straßen. Die Stadt hatte sich ein weißes Kleid übergeworfen und strahlte Unschuld aus.
„Noch knapp acht Monate“, dachte er und fingerte ein bereits angeschnittenes Maßband aus seiner Hosentasche. „Es ist an der Zeit aufzuhören. Meine Zeit als Straßenköter ist gezählt. Die Jungen werden den Laden am Laufen halten. Anders zwar, aber die Dinge verändern sich zwangsläufig und ich habe mir nichts vorzuwerfen. Jetzt gilt es nur noch gesund zu bleiben, um den Ruhestand auch genießen zu können.“
Roland atmete tief durch. Zweifel ließen sich nicht zur Gänze beseitigen.
„Wird mir die Decke auf den Kopf fallen? Ich muss auf jeden Fall mehr Sport treiben! Theater- und Museumsbesuche – auf jeden Fall! Ein Kollege hilft bei der Tafel aus. Die brauchen bestimmt noch Leute.“
Er nickte, ließ seine Gedanken und Zweifel frei und begab sich zurück in die Wohnung.
Als er sich in der Küche einen Tee aufbrühte, stellte er fest, dass es in letzter Zeit im Dienst äußerst ruhig abgelaufen war. Sicher hatte die Covid-Pandemie dazu beigetragen. Immerhin hatte die Sache mit dem bewaffneten Somalier am Barbarossaplatz für große Aufregung gesorgt. Es war zu erwarten gewesen, dass viele zunächst dachten, es handelte sich um einen islamistisch motivierten Anschlag: Der Täter soll angeblich während seiner Attacken mit dem Messer Allahu Akbar gerufen haben. Doch sein Kommissariat hielt dem Druck vom Ministerium stand. Es ermittelte ruhig und sachlich. Schließlich gab es keinerlei Beweise für diese Theorie. Selbst Klotz, sein Chef, wuchs über sich hinaus und war die Ruhe in Person. Leider passierten immer noch zu viele Amokläufe von psychisch kranken Menschen, denen die Politik zu wenig Angebote unterbreitete, sich helfen zu lassen. Wo blieb das von Fachleuten geforderte psychologische Screening? Wo waren die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen? Stattdessen hilfloses Agieren von Seiten konservativer Politiker und Politikerinnen, die die einzige populistische Lösung darin sahen, die Gestrandeten abzuschieben. Als seien damit alle Probleme gelöst?!
Roland schüttelte den Kopf. Der Tee war fertig und das heiße Getränk beruhigte seine aufgewühlten Gedanken.
Der letzte Song der LP hatte ihn nicht nur an seine geliebte Stadt denken lassen, sondern auch an Rebecca. Wehmut überkam ihn.
Zumal Dorothea, seine letzte intensivere Beziehung, ihn endgültig dazu gebracht hatte, alleine zu leben. Kurz vor Weihnachten hatte er ihr den Laufpass gegeben. Dabei hatte doch alles so harmonisch begonnen, damals nach dem forschen Auftritt an der Vogelsburg, als er sie leicht beschwipst und neugierig zu einem Glas Wein eingeladen hatte. Daraus hatten sich viele gemeinsame kulturelle Unternehmungen entwickelt, die Roland auf andere Gedanken brachten und ihn wieder an eine positive Zukunft glauben ließ.
Er stand wieder auf dem Balkon. Blickte seinem Atem nach, der sich mit den Schwaden aus der Tasse paarte und in die kalte Luft davonschlich. Die Kälte kroch an ihm hoch. Er schloss die Balkontür endgültig. Auf dem Weg in die Küche sah er, dass das Thermometer 19,5 Grad anzeigte. Nicht gerade kuschelig, aber es passte. Er fand es richtig, die neue Regierung bei den gewünschten Energiesparmaßnahmen zu unterstützen. Was blieb sonst auch übrig, nachdem der irrsinnige Despot aus Moskau die Ukraine überfallen und den Gashahn zugedreht hatte?
Er schnippelte rohe Kartoffeln klein. Schnitt Zwiebeln, Karotten und Knoblauch in hauchdünne Scheiben. Briet die Kartoffeln bei geschlossenem Deckel an. Die restlichen Zutaten dazu. Vegeta-Gewürz und dann, ihm lief schon das Wasser im Mund zusammen, warf er Blutwurst aus der Dose von der Münsterschwarzacher Kloster-Metzgerei dazu. 20 Minuten später biss er in eine Gewürzgurke und genoss das kross gebratene Mahl. Ab und zu gönnte er sich eine kleine Sünde. Hatte er doch das Trinken aufgegeben. Er vermisste den Alkohol auch nicht mehr. Er hatte sich soweit im Griff, dass es ihm gelang, nur ein Bier am Abend zu trinken.
Für diesen konsequenten Schritt war er Dorothea sehr dankbar.
Doro. Als er sich von ihr getrennt hatte, ließ er sich einen Bart und die Haare wachsen. Graumeliert. Er gefiel sich. Und das war ihm das Wichtigste.
Er saß satt und müde im Sessel. Sein Blick glitt hinüber zu den Weinbergen am Stein. Vorwitzig ragten die Stützen für die Reben aus der Erde und bildeten einen dunklen Kontrast zum schneebedeckten Boden. Wie Bartstoppeln, die man vergessen hatte zu rasieren.
Corona.
Kurz vor Weihnachten hatte es ihn dann doch erwischt. Trotz dreifacher Impfung. Er hatte immer sorgfältig seine Maske getragen, und trotzdem hatte das Virus ein Schlupfloch gefunden. Roland lag eine Woche darnieder. Schnupfen, Gliederschmerzen, Halskratzen und vier Tage tatsächlich keinen Geschmackssinn. Er schlief viel und ließ sich vor Mattigkeit von TV-Serien ablenken. Er staunte, welche Qualität die Streamingdienste abliefern konnten. Es wunderte ihn nicht mehr, dass die Kinos immer mehr Einbußen hinnehmen mussten. Aber Roland schätzte es immer noch, in seinem geliebten CENTRAL-Kino in andere Welten abtauchen zu können. Die Atmosphäre eines Kinos, wenn das Licht erlischt, wird einzigartig bleiben.
Corona hatte ihn erwischt, als er schon nicht mehr mit Doro zusammen war. Sie hatten sich unspektakulär getrennt. Hatten sich geeinigt, dass sie keinen Kontakt mehr zueinander haben würden. Doros Verhalten war im Verlauf der Pandemie immer seltsamer und versponnener geworden. Anfangs dachte sich Roland nichts dabei, als sie bei Spaziergängen im Steigerwald Bäume umarmte und für Minuten schweigend in einen Dialog mit den Holzgewächsen trat. Er machte auch bei ihrem Kunstprojekt Der steinerne Penis mit. Doro war spinnert, aber auch liebenswert. Als sie einen Gipsabdruck von seinem besten Teil nahm, erklärte sie mit der ihr eigenen Verve, dass sie etwas Lebensspendendem die Ehre erweisen und es vor der Vergänglichkeit schützen wolle. Rolands Abdruck schaffte es sogar in die Vitrine zu den anderen Exemplaren.
„Immerhin belege ich einen Mittelfeldplatz“, dachte er damals und hatte Spaß bei dieser kruden Humoraktion.
Mit der Zeit jedoch äußerte sich Doro nur noch negativ über die Corona-Politik der verantwortlichen Volksvertreter und Volksvertreterinnen. Aber während Roland Gelassenheit an den Tag legte und die Politik einfach mal machen ließ, weil er davon ausging, dass sie das Beste für die Menschen wollte, begann Dorothea, auf ihren sozialen Kanälen Inhalte zu posten, die eindeutig Verschwörungserzähler und Verschwörungserzählerinnen und Rechtspopulisten und Rechtspopulistinnen zuzuordnen waren. Argumente prallten an ihr ab. Roland fand keinen Zugang mehr zu ihr.
Als sie in Schweinfurt an einer Demo gegen die staatlich verordneten Coronamaßnahmen teilnahm, bei der auch Neo-Nazis mitliefen und ihre Parolen grölten, war es für Roland zu viel des Guten.
„Mit Nazis läuft man nicht und macht mit ihnen keine gemeinsame Sache! Das verbietet der Anstand!“, schimpfte er seine damalige Partnerin. Doro konterte, er sei als Polizist eben ein treudoofer Vasall der korrupten Politikerelite. Zudem sei er zu eingefahren und merke gar nicht, wie die Lügenpresse Wahrheiten verfälsche.
Als Roland merkte, dass Dorothea sich in ihrem Gedankenlabyrinth verfangen hatte, zog er die Reißleine. Er machte der Frau klar, dass er in der Fortführung ihrer Beziehung keinen Sinn mehr sah. Wer die Demokratie so mit Füßen trete, sei für ihn nicht mehr tragbar.
Doro gab ihm wortlos den für sie nachgemachten Wohnungsschlüssel. Dann drehte sie sich lächelnd um und verließ die Wohnung.
„Warum habe ich kein Glück mit den Frauen, Ingrid?“
Die Schreibkraft des Kommissariats sah mit hochgezogenen Augenbrauen über ihren Computerbildschirm zu ihrem Gegenüber. Sie schaute Roland mit durchdringendem Blick an.
„Weil du immer noch Rebecca liebst! Mach’s so wie ich: Bleib alleine und leg dir eine Katze zu.“
Roland wusste, dass sie log und ihr Wunsch nach menschlicher Zweisamkeit riesengroß war.
Also nickte er schweigend und schrieb weiter an seinem Aktenvermerk.
Carsten Beck hatte sich im Staatsschutzkommissariat etabliert und bildete mit Roland ein Team, das sich freundschaftlich verbunden war.
Der junge Polizist war gerade auf dem Heimweg von Haßfurt nach Würzburg. Die Besuche bei Laura Köpf, der Syrien-Rückkehrerin, die einmal geglaubt hatte, beim sogenannten Islamischen Staat ihre Bestimmung zu finden, hatte er, in Absprache mit dem LKA in München, reduziert. Die junge Frau hatte erhebliche Fortschritte in der Resozialisierung gemacht. Von einer Rückkehr in die salafistische Szene oder gar einer Glorifizierung des „IS“ war nichts mehr festzustellen. Selbst das ehemals angespannte Verhältnis zum Großvater hatte sich stark verbessert. Dem Vorschlag von Carsten, sich psychologische Hilfe zu holen, hatte sie schließlich zugestimmt und war dankbar, diesen Schritt unternommen zu haben.
Carstens Handy schrillte von der Mittelkonsole des Dienstautos.
„Ja! Beck am Apparat.“
„Hallo Herr Beck, hier ist Schwester Angelika von der Missionsärztlichen Klinik. Ihr Vater ist gerade eingeliefert worden. Er hatte offenbar einen Schwächeanfall und hat den Notfallknopf …“
„Geht es ihm gut?“, unterbrach Carsten die Anruferin. „Ich komme vorbei. Ich bin nur gerade noch auf der A 7, kurz vor Estenfeld. Ich …“ Carsten schwitzte, trotz minus 0,5 Grad draußen und 19 Grad im Auto.
„Beruhigen Sie sich, Herr Beck. Ihr Vater wird gerade durchgecheckt. Er ist in guten Händen. Machen Sie sich keine Sorgen und kommen Sie doch vorbei. Dann wissen wir sicher mehr.“
„Danke, ja, ich bin gleich da.“
Er riss sich die Sonnenbrille vom Gesicht und schleuderte sie auf den Beifahrersitz. Dann trat er das Gaspedal voll durch. Der Audi schoss auf die Überholspur an Pkws und Lkws vorbei. 210 km / h.
Die Motorhaube nickte, als Carsten das gepeinigte Fahrzeug in der Einfahrt des Krankenhauses abstellte. Die Polizeikelle auf dem Armaturenbrett signalisierte, dass ihm Parkvorschriften gerade völlig egal waren.
„Ihr Vater hat einen leichten Herzinfarkt erlitten. Wir konnten in stabilisieren. Keine Sorge, Herr Beck, wir haben alles im Griff und tun unser Möglichstes“, beschwichtigte ihn ein junger Arzt, hinter dessen Designerbrille schläfrige Augen blinzelten.
„Kann ich zu ihm?“ Carstens Handinnenflächen waren feucht vor Schweiß. Er rieb sie nervös an seinen Hosenbeinen trocken. Er konnte seine eigenen Körperausdünstungen riechen, die unangenehm unter den Achselhöhlen hervorkrochen.
„Ihr Vater schläft jetzt. Das ist das Beste für ihn. Wir wissen, wie wir Sie erreichen können. Sobald er aufgewacht ist, werden wir Sie anrufen. Dann sieht die Welt schon wieder freundlicher aus.“ Der Arzt bemühte sich, Carsten zu beruhigen, was ihm auch tatsächlich gelang.
„Danke für Ihre Mühe. Schönen Tag noch.“
Im Gehen nahm er den Geruch von Tod und Krankheiten wahr. Auch die sterile Fassade und die einfallslosen Bilder an den Wänden stießen ihn ab. Er war heilfroh, als er draußen endlich die feuchte Schneeluft einsaugen konnte.
„Mama ist jetzt fünf Jahre tot. Der alte Herr hat sich gut gehalten. War doch klar, dass auch ihn irgendwann gesundheitliche Probleme einholen würden. Scheiß drauf! Irgendwie wird es weitergehen. Hoffentlich wird er kein Pflegefall“, dachte der Polizist, als er nachdenklich in den Wagen stieg. Den missbilligenden Blick der Pförtnerin hatte er nicht bemerkt.
„Wie geht es deinem Vater?“, erkundigte sich Ingrid mit sorgenvoller Miene.
„Danke! Er ist stabil, aber sie behalten ihn zur Beobachtung noch ein paar Tage in der Klinik.“
Ihr Gespräch wurde unterbrochen vom autoritären Ruf von Klotz, ihrem Kommissariatsleiter.
„Roland! Carsten! Bitte kommt sofort in mein Büro!“, bellte er über den Flur.
„Konnte sich der Chef nicht mal dazu bequemen, sich aus seinem Schreibtischstuhl zu erheben und zu ihnen ins Büro zu kommen?“, dachte Ingrid und schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich brauche morgen zwei fähige Beamte, die eine Demo unterstützen. Ihr seid für die Aufklärung vorgesehen. Die Bereitschaftspolizei hat nicht genug Leute. Überall in dieser Republik sind Einsätze ohne Ende. Ihr wisst schon.“
Roland und Carsten blickten sich an und nickten.
„Okay! Um was geht es morgen?“
„Na, um was schon?! Klima, Rassismus, Ukrainekrieg und der ganze Scheiß. Seid ihr dabei?“
„Jawoll, Chef!“ Beide salutierten mit frechem Grinsen.
„Einsatzbesprechung um 10 Uhr bei der Inspektion Würzburg-Stadt. Demobeginn um 13 Uhr. Lasst nichts anbrennen bei all den Spinnern.“
„Na, na, Chef. Die demonstrieren doch für ’ne gute Sache. Da stehen wir doch drüber.“
„Das muss ich dir doch nicht sagen, Roland, dass da immer auch ein paar Idioten mitlaufen, auf die man ein Auge haben muss. Passt auf euch auf! Ihr beginnt euren Dienst morgen direkt in der Augustinerstraße.“
„Ab Oktober laufe ich da auch mit, Kalle“, sagte Roland mit einem herausfordernden Grinsen im Gesicht.
„Raus jetzt, ihr zwei Chaoten. Mann, Roland, du bist irgendwie …“
„Anders?“
„Kein …“
„Kein richtiger Polizist?“
„So meine ich das nicht. Anders halt.“
„Nicht so ein Erbsenzähler wie du? Ja, da hast du recht.“
„Verschwindet jetzt! Und macht mir keine Schande!“
Bevor sie am nächsten Tag in die Augustinerstraße gingen, trafen sich Roland und Carsten noch kurz in ihrer Dienststelle. Sie standen im Keller an den Waffenschränken.
„Hey Carsten, sorry, dass ich dich auf deinen Vater noch nicht angesprochen habe. Das tut mir leid mit ihm. Aber das wird schon, glaub mir. So eine Eiche, wie dein Vater eine ist, bringt so schnell nichts um.“
Carsten nickte nur. „Schon gut, danke“, murmelte er.
„Ich nehme nur meine Handschellen mit. Bei so vielen Menschen kannst du eh nicht rumballern. Egal, was passiert.“
„Deine Entscheidung, Roland. Ich nehme meine Knarre mit. Hab mir extra ein Schulterholster gekauft. Naja, so hundertprozentig passt das Ding da nicht rein. Aber immer noch besser als die Gürtelvariante. So ganz verstehe ich deine Entscheidung nicht. Du hast doch gesehen, wie wichtig es ist, bewaffnet zu sein, wenn wieder einer durchdreht so wie der Somalier mit seiner Messerattacke.“
„Carsten, die Heckler & Koch ist zwar super im Schießtrefferbild, aber echt scheiße in der Eigensicherung. Keine Sicherung! Ich verstehe das nicht. Mir ist das zu gefährlich!“
„Du bist einfach zu alt für das neue Spielzeug. Aber du hast es ja bald geschafft!“
„Lass gut sein. Hast du dir mal wieder ein neues Tattoo stechen lassen?“
Carsten grinste.
„Einen kleinen Schmetterling. Geil, oder?“
„An welcher Stelle flattert er?“
„Verrate ich dir nicht!“
„Ist ja eh nicht so mein Ding. Dir muss es gefallen. Und es gibt sicher genug Frauen, die auf sowas stehen.“
Carsten zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger.
„Los jetzt! Wir müssen nicht immer die Letzten sein.“
Der Polizist ohne Waffe schlenderte über den Bahnhofsplatz. Einige Punks vertrieben sich die Zeit mit Rauchen und schlechten Witzen. Die Fassade des Bahnhofs wirkte wie aus der Zeit gefallen. Eine matt-gelbe Riesenuhr hing an der dunklen Glasfassade wie ein eitriger Pickel. Menschen, manche trugen noch Maske, hetzten zu ihren Zügen. Andere, die dem hässlichen Bau entronnen waren, versuchten, die Trambahn zu erwischen. Sie fluchten, als diese ohne sie losfuhr, obwohl sie den Haltewunsch-Knopf noch drücken konnten. Straßenbahnfahrer und Straßenbahnfahrerinnen besaßen eine eigene Art von Humor.
Mit Blick in die Kaiserstraße hielt der heilige Kilian schützend seine Hand über die Stadt. Doch zur Sicherheit, dass die Bürger nicht vom Glauben abfallen, zeigte er warnend ein Kreuz. Auf weißem, carrarischem Marmor stand er stolz und doch filigran. In Irland geboren war der Wanderprediger mit zwei Gefährten, Kolonat und Totnan, nach Würzburg gekommen, wo man sie 689 nach Christus hatte umbringen lassen.
Der Brunnen war ein Geschenk des Prinzregenten Luitpold an die Stadt Würzburg.
In Treue fest / ist mein Wahlspruch / fest baue ich auf / die Liebe und Treue / meiner lieben Franken / Luitpold / Prinzregent von Bayern
Während der Naziherrschaft hatten die Schergen den Heiligen vom Sockel geholt, um ihn für Waffen einschmelzen zu lassen. Doch irgendetwas musste damals schiefgelaufen sein. Im Jahr 1948 entdeckte man die Statue eher zufällig auf einem Schrottplatz und brachte sie an ihren angestammten Platz zurück. 2008/2009 verpasste man dem Brunnen eine Frischzellenkur. Endlich konnte Kilian wieder in altem Glanze erhaben über die Würzburger wachen.
Rolands Blick streifte zwei achtlos stehengelassene Bierflaschen am Brunnenrand und wanderte hinüber zum maroden Quellenbach-Parkhaus, das seinem Ende entgegensah. Der Bau glich einer rostigen Schraube, die sich mit ihren Windungen tief in die Erde bohrte, um von der Pleichach sanft umspült zu werden.
Der Polizist hatte noch etwas Zeit, da sich nur langsam die ersten Demonstranten versammelten. Also ging er durch die stilisierten Gepäckstücke, die als Mahnmal für die deportierten Juden installiert worden waren. Auf eindrückliche Weise wurde an die dunkelsten Stunden der Stadt erinnert. Und obwohl Würzburg am 16. März 1945 bitter für die Verbrechen büßen musste, verteidigten jene, die bis zu ihrem Tod an das Tausendjährige Reich glaubten, ihre Heimat und missachteten die zur Mahnung zerbombten Gerippe ihrer Häuser. Roland schüttelte den Kopf, dachte an Höcke und Gauland von der AfD, die mit grob populistischen Äußerungen die Geschichte perfide verächtlich machten.
Mittlerweile hatte sich eine größere Gruppe an Demonstranten zusammengefunden. Die Stimmung war locker und gelöst. Man scherzte und diskutierte. Auf den selbstgemalten Schildern stand: Würzburg ist bunt / Klimagerechtigkeit / Keine Toleranz fürKlimaignoranz oder Alles fürs Klima. Auch die Antifa war vertreten, die keine Gelegenheit ausließ, mit antifaschistischen Aktionen auf sich aufmerksam zu machen. Bereitschaftspolizisten und Bereitschaftspolizistinnen hatten sich ihre Helme lose um die Gürtel gebunden und unterhielten sich mit einigen Kundgebungsteilnehmer und Kundgebungsteilnehmerinnen. Das Deeskalationsteam stand in ständigem Austausch mit dem Veranstalter.