Der Fremde am Klavier - Lily Pulcino - E-Book

Der Fremde am Klavier E-Book

Lily Pulcino

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Beschreibung

Tony Williams will nur eines: Edward Colton dazu bringen, seinen Grund und Boden an die Beck's Luxury Hotel Coorporation zu überschreiben. Mit dem Bonus dieses Auftrags könnte Tony sich für ein paar Jahre in den Süden absetzen, Sonne, Strand und Cocktails genießen und sich seinen Traum vom Inselleben in der Karibik erfüllen. Edward Colton ist leider eine harte Nuss, an der sich Tonys Kollegen bisher allesamt die Zähne ausgebissen haben. Aber dann erfährt der ehrgeizige Williams etwas über Colton, das alle anderen übersehen haben. Gerade, als sein Traum zum Greifen nahe scheint, mischt sich jedoch Amor ein und bringt alles durcheinander ... Bearbeitete Neuauflage

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Epilog
Danksagung
Leseprobe »Und am Ende der Winter«

Der Fremde am Klavier

Von Lily Pulcino

Buchbeschreibung:

Tony Williams will nur eines: Edward Colton dazu bringen, seinen Grund und Boden an die Beck’s Luxury Hotel Coorporation zu überschreiben. Mit dem Bonus dieses Auftrags könnte Tony sich für ein paar Jahre in den Süden absetzen, Sonne, Strand und Cocktails genießen und sich seinen Traum vom Inselleben in der Karibik erfüllen.

Edward Colton ist leider eine harte Nuss, an der sich Tonys Kollegen bisher allesamt die Zähne ausgebissen haben. Aber dann erfährt der ehrgeizige Williams etwas über Colton, das alle anderen übersehen haben. Gerade, als sein Traum zum Greifen nahe scheint, mischt sich jedoch Amor ein und bringt alles durcheinander …

Über den Autor:

Lily Pulcino ist das Pseudonym einer jungen Schriftstellerin, die in Berlin geboren wurde, einen Großteil ihrer Kindheit in Baden-Württemberg verbrachte und nun seit mehreren Jahren mit ihrem Mann auf der kleinen Nordseeinsel Föhr lebt. Dort betreiben sie gemeinsam eine kleine Frühstückspension. Während ihr Ehemann seine Kreativität in der Töpferei und Keramik auslebt, schreibt Lily Pulcino Romane und Liedtexte. »Der Fremde am Klavier« ist ihre erste Veröffentlichung.

Der Fremde am Klavier

Von Lily Pulcino

Herstellung und Verlag

BoD – Books on Demand, Norderstedt

3., bearbeitete Auflage Mai 2020

© 2020 Lily Pulcino. Alle Rechte vorbehalten.

Herstellung und Verlag

BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN 9783752812657

1

Schwarzes, langes Haar, das ihr offen über die zierlichen Schultern fällt. Schlanke Hände, deren Finger scheinbar unbewusst mit einer dunklen Haarsträhne spielen. Blasse, beinahe weiße Haut, trotz der kühlen Brise nur von einem dünnen Sommerkleid mit Blumen bedeckt. Lange Beine, die in bloße Füße münden. Ein hübscher Anblick, findet Tony, insgesamt betrachtet.

Dennoch fehlt dieser jungen Frau die elegante Anmut, welche ihre rothaarige Vorgängerin ausstrahlte. Sie steht vor Edward Colton, dem bartlosen Seebären von Sallydove Shore, wirkt etwas unbeholfen, redet zögerlich auf ihn ein. Was sie sagt, kann Tony nicht hören, der Wind trägt ihre Worte auf das heute recht stürmische Meer hinaus und damit von ihm weg, zu weit, um Mäuschen zu spielen.

Colton scheint sich für das Gespräch nicht zu interessieren. Seine Hände gleiten geschickt über das neue Holzbrett, das er an der baufälligen Strandwärterstation anbringt, und sein Blick ist unbeirrt und konzentriert auf sein Werkzeug gerichtet. Schließlich schüttelt er den Kopf, ohne die holde Maid auch nur eines Blickes zu würdigen, was dazu führt, dass diese mit beschämt auf ihre Füße gerichtetem Blick von dannen zieht.

Tony fischt den kleinen Notizblock zwischen den Seiten seines Kreuzworträtselhefts hervor und notiert in fein säuberlicher Schrift: »Keinerlei Reaktion auf Typ Schneewittchen« und schnaubt dabei leise.

Als er diesen Auftrag erhielt, dachte er noch, es sei ein Kinderspiel. Und dann, gleich am ersten Tag am Strand, als er all die verschiedenen Frauen dabei beobachtete, wie sie sich an Colton heranschlichen und einen Versuch wagten, hat er sich schon den Bonus für den Vertragsabschluss einstreichen sehen. Er hatte geglaubt, er müsse nur abwarten, welche der Anwärterinnen bei Colton zum Zug kam, und sich dann einmal nett mit der betreffenden Dame unterhalten. Sicher fand sich etwas, das sie im Austausch für einen kleinen Gefallen haben wollte.

Ein Klacks. Einer der leichtesten Aufträge, die ihm sein Chef je übertragen hatte.

Tja. Wie hat seine Großmutter immer gesagt? Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

Selbst nach fast einer Woche hatte keine der Frauen Erfolg. Keinen einzigen Blick hat Colton ihnen geschenkt, nicht einmal einen genervten, geschweige denn ein Lächeln, das sich mit Sicherheit eine jede von ihnen so schrecklich zauberhaft und umwerfend ausmalt.

Kein Wunder also, dass Tonys durchweg erfahrenen Kolleginnen den Griesgram nicht zur Vertragsunterschrift hatten überreden können, egal, mit welchen Tricks sie es auch versuchten. Vermutlich hat er sie alle ebenso ignoriert wie den ganzen Rest der Frauenwelt, weshalb eine jede von ihnen äußerst frustriert, zornig oder traurig, definitiv aber unerledigter Dinge zum Firmensitz zurückgekehrt ist.

Dabei könnte alles ganz einfach sein: Colton unterschreibt einen Vertrag und überschreibt damit der Firma den Landbesitz und die Fischereirechte, auf dass die Geschäftsführung endlich das neue Hotel bauen kann, das seit Jahren geplant wird; dafür erhält der Griesgram eine unerhört hohe Summe und muss nicht nur nicht mehr drei Jobs erledigen, um sich finanziell über Wasser zu halten, sondern nie wieder auch nur einen Finger krümmen.

Die Bewohner von Sallydove Shore profitieren vom florierenden Tourismus, der über sie hereinbrechen wird. Und Tony erhält für den Abschluss eine ansehnliche Provision und kauft sich irgendwo ein nettes Haus am Strand. Alle sind zufrieden.

Keine Verlierer, ausschließlich Gewinner.

Nur, dass der elende Griesgram Edward Colton das nicht einsehen will.

Eine weitere Frau tritt an Colton heran. Während die anderen Frauen in dem großgewachsenen Mann wohl eine Art Alpha-Männchen gesehen haben, einen Silberrücken, der sie gegen alle Gefahren verteidigt, sucht diese Frau eher nach einem ebenbürtigen Sparringspartner. Mit ihrem langen, blonden Haar, und dem kantigen, fast schon männlichen Gesicht mit den wachsamen, funkelnden Augen, der beeindruckenden Oberweite und dem forschen Auftreten einer Soldatin erinnert Tony die neue Kandidatin an eine Walküre. Fehlen nur noch Brustpanzer und Schild.

Hm. Das ist etwas Neues. Vielleicht steht Colton ja nicht auf den zierlichen, niedlichen Typ Frau, sondern sehnt sich nach etwas Handfestem. Obwohl Tony sich mehr als andere wünscht, dass endlich eine der Frauen bei dem Sturkopf Erfolg hat und ihn abschleppt, ist er sich nicht ganz sicher, ob er mit diesem imposanten Exemplar der Frauenwelt tatsächlich über einen Deal sprechen möchte. Sollte sie Tonys Angebot für nicht interessant oder gar unehrenhaft halten, rammt sie ihn vermutlich ungespitzt in den Boden.

Tony beißt sich nervös auf die Unterlippe und beobachtet, wie sich die Walküre breitbeinig hinter Colton aufstellt und kurz mit ihm redet.

Wieder schüttelt Edward Colton den Kopf, doch anstatt zu gehen, packt die Walküre ihn an der Schulter, reißt ihn zu sich herum und drückt ihm einen gewaltigen Kuss auf.

Tony wäre vor Überraschung fast aus seinem Strandkorb gehüpft. Und Colton? Der wehrt sich eindeutig, braucht jedoch einen Moment, um sich aus dem Griff der Dame zu befreien. Er brüllt die Walküre an, tritt dann mit dem Fuß gegen das kleine Holzhaus, wodurch mehrere Latten splitternd zerbersten, und stapft dann laut und ungehalten fluchend davon.

Die Walküre schiebt den Unterkiefer kampflustig zur Seite und scheint kurz zu überlegen, ob sie ihm hinterher marschieren soll, dreht dann aber auf dem Absatz und marschiert in die andere Richtung los.

Wütend schnaubt Tony und lässt sich wieder in seinen Strandkorb zurückfallen. Damit ist der heutige Tag gelaufen. Vermutlich versteckt sich Colton in dem Hotel, in dem er als Koch arbeitet, irgendwo in einem Vorratskeller, weit weg von all den Frauen, die ihm ans Leder wollen.

Nicht hilfreich.

Ganz und gar nicht.

Tonys Chef ruft mittlerweile mehrmals täglich bei ihm an und schreibt immer wieder ungeduldige, nörgelnde Nachrichten. Das ist Tony nun wirklich nicht gewöhnt. Normalerweise dauert es keine zwei Tage, bis er die Zielperson zur Vertragsunterzeichnung bringt. Eine Erfolgsquote, durch die er in der Firma weit aufgestiegen ist und zum offiziellen Liebling seines Chefs wurde.

Dieser grobe Eigenbrötler jedoch trampelt nun auf Tonys wunderschöner Statistik herum und verpasst seinem guten Ruf eine gehörige Delle. Scheiße aber auch.

Frustriert schiebt Tony sein Notizbuch in die Hosentasche, erhebt sich aus seinem Strandkorb und kramt seine sieben Sachen zusammen. Er braucht einen Drink oder zwei. Vielleicht auch drei. Vielleicht trinkt er aber auch die gesamte Minibar leer. Besäuft sich auf seinem Zimmer, in der Badewanne, mit sehr viel Schaum und lauter Musik. Oder er haut sich aufs Sofa und klickt sich durch den Pornokanal mit einem Bierchen und einer Flasche Whiskey. Eines steht jedenfalls fest, er wird unter keinen Umständen ...

Ein Handy klingelt, kaum drei Meter entfernt. Ein sehr aufdringlicher, lauter Klingelton, der Tony in seinem Frust stört. Der junge Mann, der auf der einzigen Liege weit und breit ruht, von Kopf bis Fuß zentimeterdick mit Sonnencreme eingeschmiert, kramt ewig in seiner Hosentasche herum und zieht schließlich umständlich das noch immer klingelnde Handy heraus. »Ja? Joey, hey, wo bleibst du denn? Ich dachte, du kommst heute schon.«

Der junge Mann legt sich das Handy auf die Brust, aktiviert den Lautsprecher und fährt mit erhobener Stimme fort. »Nein, du verpasst nichts. Der gleiche Scheiß wie immer: Wetter stürmisch, Wind eiskalt, Aussicht mäßig und alle hübschen Touristinnen laufen scharenweise Colton hinterher, der alten Schwuchtel. Wenn die wüssten, dass der seinen Schwanz lieber in Männerärsche rammt, dann würden die sicher nicht ...«

Tony hebt den Kopf, während er beim Packen innehält.

»... scharenweise bei ihm anstehen. Versteh eh nicht, was die alle an dem Kerl finden.«

Hat er da gerade richtig gehört?

Schwul?

Edward Colton?

»Ja, schon, sportlich ist er. Aber alt. Der ist doch mindestens über dreißig. Und macht dauernd ein Gesicht, als wäre er über 100 Jahre alt und hätte das Leben satt. Soll er halt von der nächsten Brücke springen, statt allen anderen die Laune zu versauen.«

Das muss doch falsch sein. In Coltons Akte stand überhaupt nicht, dass er ... aber das würde natürlich erklären, warum er ... und warum seine Kolleginnen ...

Tony schüttelt langsam den Kopf, während ein breites, zufriedenes Grinsen auf seine Lippen tritt und sich dort schnell ausbreitete. Falls das die Wahrheit ist, ist Tony plötzlich einen ganzen Schritt weiter. Vielleicht sogar zwei. Er grinst und setzt sich in Bewegung. Was für eine glückliche Wendung. Jetzt war das Herumsitzen und Warten am Strand doch nicht vollkommen für die Katz. Genial! Das wird er sofort auf seinem Zimmer mit einem kühlen Bier feiern und dann setzt er sich auf seinen Hintern und schmiedet einen neuen Plan.

Zufrieden stapft Tony an dem Kerl auf der Liege vorbei, sehr viel näher, als eigentlich notwendig, und donnert ihm dann scheinbar unabsichtlich seinen Rucksack gegen den Schädel. Tja. In einem Strandkorb wäre das nicht passiert.

»Au! Verdammte Scheiße, was?!«

»Oh, Pardon, verzeihen Sie bitte, wie ungeschickt von mir. Heute geht schon den ganzen Tag alles schief«, entschuldigt Tony sich und zieht ein peinlich berührtes Gesicht. Er öffnet seinen Rucksack, kramt nach einem Schokoriegel und bietet ihn dem anderen Mann an. »Kleine Wiedergutmachung?«

»Keine Kohlenhydrate, kein Zucker, kein Fett«, knurrt der junge Mann und wendet sich wieder nach vorne. Er schaltet den Lautsprecher seines Handys aus und drückt das Handy ans Ohr. »Nein, bloß so ein Vollidiot, der mir seinen bescheuerten Rucksack gegen den Kopf geknallt hat. Wo waren wir? Kommst du dann morgen endlich zurück? Z Hause Urlaub machen ist echt so was von ätzend.«

Tony entpackt den Schokoriegel, schiebt ihn sich in den Mund und kaut zufrieden darauf herum. Er hängt sich den Rucksack wieder über die Schulter und leckt sich Schokolade von den Lippen, während er sich in Bewegung setzt. Morgen wird er definitiv ein schwereres Buch in seinen Rucksack packen. Und vielleicht noch ein, zwei Dosen Cola. Sicherheitshalber. Aber jetzt braucht er wirklich Alkohol. Und vielleicht ein paar gesalzene Erdnüsse. Oder Chips. Oder auch zuerst Erdnüsse und danach die Chips. Oh - oder Nachos!

Keine Kohlenhydrate, kein Fett? Wovon ernährt sich der Kerl? Wasser und Brokkoli? Tony schüttelt den Kopf, während er das ramponierte Strandwärterhäuschen passiert. Was für eine Verschwendung an Lebenszeit und Jugend. Vielleicht sollte er dem Kerl einmal erklären, dass dieses Leben früher oder später sowieso endet, egal, an wie vielen Tagen davon er Kohlenhydrate, Fett oder Zucker zu sich genommen hat. Der einzige Unterschied ist, dass

– BOING.

»Verdammt.« Ted lässt den Balken in den Sand fallen, kniet sich neben den Touristen, der bewusstlos am Boden liegt und fischt sein Handy aus der Hosentasche. »Anderson? Colton hier, ich brauche einen Krankenwagen am Strand, direkt bei der Strandwärterstation D4. Bewusstloser Mann Mitte dreißig, eventuell Gehirnerschütterung.«

Ted klemmt sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und fühlt den Puls, während er den Kopf des Fremden mustert. Keine Platzwunde, nur eine kleine Schürfwunde und eine rötliche Stelle, die ziemlich schnell dunkler wird und zu einer ansehnlichen Beule anschwillt. »Nein, er ist nicht vom Schuppen gesprungen, er ist mit voller Wucht gegen ein Brett gerannt. Kein Surfbrett. Nein, es ist ... Anderson, es war ein stinknormales Holzbrett. Ja, eine Latte. Genau. Ja, ich repariere gerade die ... Anderson, schick einfach einen Wagen. Danke.«

Ted seufzt, steckt das Handy ein, flucht und dreht den Mann vorsichtig in die stabile Seitenlage. Heute ist definitiv nicht sein Tag. Zuerst flirtet in der Küche dauernd die neue Köchin mit ihm, spricht ohne Punkt und Komma und brennt dabei die Spiegeleier an. Als Ted sie dann angebrüllt hat, sie soll verdammt nochmal ihre Arbeit machen und kochen, ist sie heulend zur Tür hinausgerannt und nicht mehr zurückgekommen, bis seine Frühstücksschicht zu Ende war.

Am Strand haben ihn dann noch mehr Frauen angesprochen und bei der Arbeit gestört. Fast so, als wäre in der Nähe ein Nest unverheirateter Frauen, die alle ihre biologische Uhr ticken hören und den nächstbesten Kerl bespringen wollen, um sich fortzupflanzen.

Und jetzt, wo er mit Material und dem nagelneuen Schild: »Den Handwerker nicht einmal im Notfall ansprechen« zurückkehrt, läuft ihm dieser Vollidiot mit Karacho gegen das Brett und fällt um wie ein Sack Kartoffeln.

Kann denn heutzutage keiner mehr schauen, wo er hinläuft?

Ted steht auf, sperrt die Tür zur Strandwärterstation auf und entnimmt dem rostigen Kühlschrank einen Kühlbeutel und eine Dose Bier. Zurück bei dem Fremden legt er ihm den Beutel auf die mittlerweile feuerrote Stelle an der Stirn, aus der ein Horn von Daumeslänge gewachsen ist, und setzt sich dann neben ihn in den Sand, um in Ruhe sein Bier zu trinken.

Die Dose klackt und zischt, als Ted den Deckel eindrückt. Zwei Geräusche, auf die er sich heute schon den ganzen Tag gefreut hat. Der Feierabend ist allerdings noch weit entfernt, Ted ist für die Abendschicht in der Küche eingeteilt. Aber vielleicht ruft er nachher auch einfach bei Bill an und sagt ihm, er soll sich für heute jemand anderen suchen. Vielleicht hustet er ein wenig ins Telefon und hält sich die Nase beim Sprechen zu und macht morgen gleich auch noch blau. Ted braucht dringend eine Auszeit, sonst fängt er noch an, Leuten absichtlich Holzbretter vor die Stirn zu knallen.

Während er sein Bier in langsamen, langen Zügen genießt, beobachtet er den Brustkorb des Fremden, der sich in ruhigen Atemzügen hebt und senkt. Mit jedem Schluck, den er trinkt, den Wind im Nacken und das Rauschen der Wellen in den Ohren, kommt Ted ein Stück mehr zur Ruhe.

Er muss sich wieder mehr Zeit nehmen, um den Strand und das Meer zu genießen. Einfach dasitzen, lauschen, die Augen geschlossen, nichts tun, nichts müssen, nichts wollen. Die letzten Monate sind viel zu chaotisch, viel zu hektisch gewesen. Falls die neue Heulsusen-Köchin sich doch wieder dazu entscheiden sollte, zurückzukommen, könnte er eine Woche Urlaub nehmen. Oder zwei.

Ted seufzt.

Aber jetzt muss er erst einmal den Kerl hier loswerden.

Wenigstens hat er keine der Frauen niedergeschlagen, die ihn den ganzen Nachmittag genervt haben, das wäre richtig unangenehm für ihn geworden. Da wäre ihm sicher unterstellt worden, er hätte es absichtlich gemacht. Die Leute hier warten nur darauf, dass Ted ihnen die Chance gibt, ihm etwas anzuhängen und ihn loszuwerden.

Der Bewusstlose gehört zum Glück zu den ruhigeren Touristen. Ist schon seit ein paar Tagen oft hier am Strand, im immer gleichen Strandkorb, liest in einer Zeitschrift, löst Kreuzworträtsel oder notiert sich etwas auf seinem kleinen Notizblock.

Vielleicht Gedichte.

Oder Philosophisches.

Vielleicht aber auch nur seine Einkaufsliste.

Ted hat ihn jedenfalls bemerkt, gerade, weil der Kerl einfach nur in seinem Strandkorb liegt und weder permanent auf sein Handy starrt und sich beschwert, wie beschissen der Empfang am Strand ist, noch einen Laptop auf dem Schoß hat, auf dem er gewichtig herumtippt. Mittlerweile gehören Touristen wie dieser zu einer vom Aussterben bedrohten Art.Vermutlich sollte Ted sich bei ihm für die Sache mit dem Brett entschuldigen. Andererseits ist es nun wirklich nicht Teds Schuld gewesen, dass der Kerl nicht aufpasst, wohin er läuft.

Die Sirenen des Krankenwagens zerreißen die angenehme Stille, zuerst nur leise und entfernt, dann immer schneller und lauter und näher. Ted erhebt sich, nimmt im Vorbeigehen das Schild mit und bringt es samt der leeren Bierdose in das Strandwärterhäuschen. Dann sperrt er die Tür hinter sich ab und öffnet seinen Werkzeugkoffer.

Oben am Gehweg parkt der Krankenwagen. Kaum, dass die Reifen zum Stillstand gekommen sind, werden bereits die Türen aufgerissen und Louise und Greg springen heraus. Na wunderbar, ausgerechnet Greg muss heute Dienst haben. Ted beißt die Zähne zusammen und wappnet sich für die Seitenhiebe und bissigen Kommentare, die ihn in den nächsten Minuten unweigerlich und gnadenlos überrollen werden wie Wellen bei einem Herbststurm. Er hätte definitiv schneller und mehr Bier trinken sollen ...

Louise läuft mit dem roten Rucksack über der Schulter sofort zu ihnen herunter, während Greg den Wagen umrundet und die Hintertür öffnet. Geschickt klemmt er sich die Trage unter den Arm und marschiert dann ebenfalls los in Richtung der zu rettenden Person.

»Puls, Atmung?«, fragt Louise harsch, ohne Ted zu grüßen. Ihre Augen sind ein wenig gerötet und sie ist deutlich stärker geschminkt als üblich. Hastig kniet Louise sich neben den Verletzten und dreht ihn dann behutsam und vorsichtig auf den Rücken zurück.

»Alles bestens«, erwidert Ted, während er energisch an einem der morschen Bretter zerrt. »Hat ein Holzbrett vor die Birne bekommen.«

Louise misst geübt den Puls und kontrolliert die Atmung, bevor sie mit einem Lämpchen in die Augen des Fremden leuchtet.

Greg erreicht den Unfallort, legt die Trage neben den Patienten und kniet sich dann ebenfalls in den Sand. Er durchsucht zuerst den Rucksack, dann die Hosentaschen des Mannes und zieht schließlich einen alten Ledergeldbeutel aus der linken Hosentasche. »Führerschein, Perso und Kreditkarte. Alles auf den Namen Anthony T. Williams. Chicago. Und ein Schlüssel zu einem Zimmer bei Ivy.«

Verdammt.

Ted schnaubt und unterdrückt ein paar wüste Flüche, die ihm auf der Zunge jucken. Kann der Kerl nicht in einem anderen Hotel wohnen? Muss es denn unbedingt bei Ivy sein? Sicher erlässt sie diesem Touristen die Miete für das Zimmer und zieht sie stattdessen von Teds nächstem Lohn ab. Und dann besteht sie sicher auch noch darauf, dass er sich bei dem Kerl entschuldigt. Und es ernst meint. Dieser Tag ist eine Zumutung.

»War es Absicht?«, hakt Louise nach. Sie testet ein paar Reflexe, routiniert, aber dennoch konzentriert.

Ted zuckt die Achseln und entfernt ein paar Reste des morschen Brettes mit einem Zimmermannshammer. »Woher soll ich wissen, ob er mir mit Absicht gegen das Brett gelaufen ist? Wäre ziemlich bescheuert, aber das heißt ja nichts. Vielleicht hat er keinen Bock, am Montag wieder zur Arbeit zu gehen.«

»Idiot. Ob du ihm mit Absicht das Brett gegen den Latz geknallt hast, will ich wissen. Wenn es Absicht war, muss ich es Joe melden.« Louise klingt sehr viel gereizter, als es sonst der Fall ist. Vielleicht stimmen die Gerüchte ja doch, dass sie sich endlich von ihrem Mann scheiden lässt. Der war schon immer ein richtiges Arschloch und bis auf Louise ist es auch allen anderen klar gewesen. Die meisten Leute brauchen bloß einen Blick auf Billybob zu werfen, um zu dem Schluss zu kommen, dass er ein Mistkerl ist. Ein schleimiger, hinterhältiger, intriganter kleiner Drecksack. Aber außer Ted hat ihr das niemand direkt gesagt, ihr gegenüber nicht einmal angedeutet, und seit es vor drei Wochen aus Ted herausgeplatzt ist, weil ihm die Heuchelei der anderen so schrecklich auf den Sack gegangen ist, ist Louise nicht mehr allzu gut auf ihn zu sprechen.

»Also?«

»Also was?«

»Hast du ihn absichtlich geschlagen?«

Ted seufzt. »Nein«, sagt er und fügt sicherheitshalber hinzu: »Ich habe ihn weder absichtlich, noch habe ich ihn überhaupt geschlagen. Ich kam von da um die Ecke, das Brett über der Schulter, und der Kerl kommt angestapft und knallt volle Kanne gegen das Holz.«

Nun - genau genommen hat Ted sich, weil er dachte, jemand hätte nach ihm gerufen, mit dem Brett auf der Schulter umgedreht, und dabei den Touristen umgemäht. Aber das muss Louise ja nicht wissen. Und Ivy schon gleich gar nicht. Das gibt nur böses Blut.

»Hast du dafür einen Zeugen?«, mischt sich Greg ein.

»Zeugen?« Ted schnaubt. »Habe ich etwas verpasst? Ist er denn abgekratzt, während ich hier das Brett ausgetauscht habe?« Langsam verstaut er sein Werkzeug im Koffer und bemüht sich, ruhig zu bleiben. Er weiß, das Greg noch immer sauer auf ihn ist. Sein Ex ist nachtragender als ein Elefant. Ihre Trennung ist schon beinahe ein Jahr her - zehn Monate, oder elf? - und trotzdem nutzt Greg jede sich ihm bietende Gelegenheit, Ted eins reinzuwürgen. Das ist nicht nur verdammt anstrengend, sondern auch lästig.

»Für dich ist immer alles nur ein Witz, oder? Immer nur Sarkasmus, immer nur Ironie und Zynismus. Zu einem normalen Gespräch bist du überhaupt nicht in der Lage!«, keift Greg, während er mit Louise den Patienten auf die Trage hebt. »Ist dir eigentlich auch nur ansatzweise klar, dass das hier kein ...«

»Lass gut sein«, unterbricht ihn Louise unerwartet sanft und hängt sich ihren Rucksack über die Schulter. »Schönen Tag noch, Ted.« Sie umschließt mit den Händen die Griffe der Trage, wartet, bis Greg ebenfalls bereit ist und stemmt dann die Trage samt Patient in die Höhe. Gemeinsam hieven sie die schwere Last Richtung Gehweg und schieben ihn dann in den Krankenwagen.

Ted wartet, bis der Krankenwagen davon fährt, dieses Mal jedoch ohne Sirene. Er hebt den schweren Koffer hoch und marschiert zielstrebig los. Er muss nach Hause, und zwar schnell. Sobald Ivy davon erfährt, wird sie ihn mit einer persönlichen Entschuldigung nerven, vermutlich samt Blumenstrauß. Darauf hat Ted absolut keine Lust. Also wird er sich zu Hause verkriechen, sich krank melden und den Abend vor dem Fernseher verbringen. Und dann wird dieser beschissene Tag enden und ein neuer beginnen, einer, an dem hoffentlich nicht alles schief läuft.

2

Tony erwacht mit dröhnendem Schädel, einem bitteren Geschmack im Mund, Übelkeit und Schwindel. Im ersten Moment glaubt er, es seien die Folgen einer durchsoffenen Nacht, ein Kater der fiesesten Sorte. Aber die Geräusche und Gerüche, die auf ihn einströmen, wollen rein gar nicht zu seinem kleinen Hotelzimmer passen. Widerwillig öffnet er die verklebten Augenlider und blinzelt in das grelle Halogenlicht einer langen, hässlichen Lampe.

»Nein, Bridget, wenn ich es dir doch sage. Die haben mir einen jungen Kerl ins Zimmer gelegt. Jetzt war ich schon paar dutzend Mal zur Überwachung hier, aber so junges Gemüse hatte ich noch nie direkt im Nachbarbett. Der ist noch grün hinter den Ohren«, hört er eine ältere, weibliche Stimme flüstern. »Wenn du mir nicht glaubst, dann beweise ich es dir eben. Warte, ich mache ein Bild und schicke es dir. Ja, dann such du schon mal deine Brille. Herrgott, ich weiß nicht, warum du die überhaupt noch von der Nase nimmst, du Blindfisch.«

Irritiert hebt Tony beiden Augenbrauen. Als er den Kopf langsam zur Seite dreht, sitzt eine zierliche, faltige Frau in einem karierten Flanellpyjama auf der Kante eines Krankenhausbettes und zielt mit einem iPhone auf ihn. Tony ist derart perplex, dass er nicht weiß, was er sagen soll.

»Oh. Hoppla«, sagt die Dame, als ihr bewusst wird, dass ihr neuer Bettnachbar nicht mehr schläft. »Na so was. Guten Morgen.« Sie senkt das Handy, legt es jedoch nicht beiseite. »Soll ich eine Schwester rufen?«

Als Tony versucht, sich aufzusetzen, wird ihm schwarz vor Augen. Er lässt sich zurück ins Bett fallen, schließt die Augen und wartet darauf, dass in seinem Kopf und seinem Magen wieder ein wenig mehr Ruhe einkehrt.

»Ich habe den Knopf gedrückt. Kommt bestimmt gleich jemand. Die sind bei mir immer ziemlich schnell. Wäre keine gute Werbung, wenn ich hier wegen Vernachlässigung umfalle und mir etwas breche. Oder sterbe und es bekommt keiner mit.« Die alte Frau klingt amüsiert. »Mein Name ist übrigens Hope. Hope Collins.«

Tony konzentriert sich aufs Atmen. Ihm ist speiübel, aber er will jetzt ganz bestimmt nicht aufstehen und er will sich noch viel weniger in die nächstbeste Kloschüssel übergeben. Wenn er nur daran denkt, schießen ihm schon neue Kopfschmerzen zwischen die Schläfen.

Er überlegt, ob er es unter Umständen schaffen könnte, ihr seinen Namen zu nennen. Aber wenn er seinen Mund öffnet, muss er sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit übergeben und schafft es nicht einmal mehr bis ins Bad. Also entscheidet Tony sich dagegen, rührt sich keinen Millimeter und schweigt beharrlich.

»Während wir hier warten, wäre es in Ordnung, wenn ich ein Bild von Ihnen mache? Bridget glaubt mir nicht, dass ich knackiges Junggemüse bei mir am Zimmer habe und ich – oh, Bridget! Verflixt!« Bettdecken rascheln, das Handy klackt am Nachttisch. »Hallo Bridget, tut mir leid, der junge Mann ist aufgewacht und ich habe vergessen, dass du … nein, ich bin nicht so vergesslich wie du blind bist, ganz bestimmt nicht. Ich kann mich an die Namen meiner vierzehn Ehemänner und all ihre Geburtstage erinnern, du findest ohne Brille nicht einmal deine Zähne, meine Liebe. Ja, ich mache nachher ein Bild. Gerade sieht er eh nicht sonderlich gut aus, ist ziemlich grün um die Nase.«

Die Dame schnaubt deutlich hörbar. »Woher soll ich denn jetzt eine Cola und Salzstangen für ihn herbekommen? Bin ich Jesus? Wächst mir Gras auf dem Knie? Nein, dafür komme ich sicher nicht in die Hölle. Glaub mir, der liebe Gott ist mit anderen Kalibern beschäftigt. Ja, da bin ich mir sicher, dass ...«

Eine Türklinke klickt und Turnschuhe quietschen leise auf dem Fußboden. »Wer hat geklingelt?« Eine deutlich jüngere Stimme, männlich, gut gelaunt.

»Ich muss aufhören, Bridget. Der Pfleger ist da.«

Hat Tony dermaßen gesoffen, dass er im Krankenhaus gelandet ist? Alkoholvergiftung mit Ohnmacht? Hat ihn das Zimmermädchen gefunden, als sie ihn zum Frühstück wecken wollte? Oder ist etwas anderes passiert? Ist er angetrunken eine Treppe hinuntergefallen, weil der verdammte Aufzug nicht funktioniert? Aber müssten dann nicht noch weit mehr Gliedmaßen Schmerzsignale aussenden, als nur Kopf, Nacken und Schultern?

»Mrs. Collins, wie kann ich Ihnen helfen?«

Dermaßen viel zu viel getrunken hat Tony das letzte Mal vor drei Jahren, als Jesse mit ihm Schluss gemacht hat, das verdammte Arschloch. Ohne Vorwarnung, ohne jedes Mitgefühl, Sachen gepackt, als Tony auf Arbeit war, Zettel dagelassen, er habe jemand anders kennengelernt und ziehe nun mit seinem neuen Freund zusammen. Keine Entschuldigung, kein schlechtes Gewissen. Nichts. Dieser Mistkerl von einem Hurensohn hat sich nicht einmal ...

»Mir gar nicht. Aber der junge Mann da drüben bekommt entweder schnell etwas gegen seine Übelkeit verabreicht, oder das Bettzeug muss komplett gewechselt werden.«

Schluss jetzt.

Tony hat sich geschworen, keinen Gedanken mehr an den Mistkerl zu verschwenden. Vorbei ist vorbei. Und Jesse kann mit Sicherheit nichts dafür, dass Tony gestern zu viel getrunken hat. Oder heute? Verdammt, er weiß noch nicht einmal, welcher Tag gerade ist. Bestimmt hat er schon tausend neue Nachrichten von seinem Chef auf dem Handy, der wissen will, warum verdammt nochmal Tony sich bei ihm meldet.

Tonys Herz schlägt ihm bis an den Hals, pocht schnell und fest, will sich einfach nicht beruhigen, ebenso wenig wie sein Magen und sein Kopf. Sein ganzer verdammter Körper hat sich gegen ihn verschworen und die Gedanken an seinen sicherlich äußerst unzufriedenen Chef setzen ihm zusätzlich zu.

»Mr. Williams? Ich bin Ivan. Können Sie die Augen aufmachen und mich ansehen?«

Tony schluckt gegen die unnachgiebige Übelkeit an, die ihn dazu zwingt, möglichst oberflächlich zu atmen, und öffnet langsam die Augen.

Das Licht brennt und sticht auch dieses Mal, aber es ist auszuhalten. Vor ihm steht ein tätowierter Mann in dunkelblauem Gewand, kurzes T-Shirt und lange Hose. Seine Tattoos bedecken einen Großteil seines Gesichtes und seiner Arme und lassen vermuten, dass dort, wo die Kleidung beginnt, mit der Körperbemalung noch nicht Schluss ist. Seine Nase ist schief, eine dicke Narbe liegt wie ein fetter Regenwurm quer über seinem Nasenrücken, doch Augen und Mund lächeln freundlich.

»Guten Morgen. Sie haben unsere Ärzte ganz schön auf Trab gehalten. Ist Ihnen übel? Sie brauchen nur ein Mal zu blinzeln für ja. Sie müssen nichts sagen.«

Tony blinzelt.

»Gut, ich gebe Ihnen etwas gegen die Übelkeit, direkt in Ihren Infusionsbeutel, dann wirkt es schneller. In ein paar Minuten wird es Ihnen besser gehen. Ich bin gleich wieder da.« Ivan entfernt sich mit großen, energischen Schritten. Der Pfleger verschwindet zur Tür hinaus und kommt tatsächlich binnen einer Minute zurück. Er zieht eine kurze, breite Spritze auf und gibt das Medikament über einen Zugang in den Infusionsbeutel.

Tony schließt die Augen, atmet, so ruhig er kann. Eine Hand legt sich schwer, aber beruhigend auf seine linke Schulter. »Wird gleich besser. Ich habe der Ärztin Bescheid gegeben, sie sieht gleich nach Ihnen, dann können wir auch Ihre Schmerzmittel anpassen. Wenn ich Ihnen sonst noch etwas bringen kann, einfach klingeln.« Etwas klirrt und scheppert am Kopfende des Bettes, dann spürt Tony den kalten Gummiknopf der Klingel neben seiner Hand. »Wird schon wieder. Keine Bange. Ich schaue nachher wieder herein.«

»Bringen Sie ihm Salzstangen mit, Ivan, seien Sie so gut«, sagt Mrs. Collins, als sich die Schritte des Pflegers Richtung Tür entfernen.

»Salzstangen?«, fragt Ivan fröhlich. »Hat mir meine Mama auch immer gegeben, wenn mir schlecht war. Und Cola. Na, schaden kann es nicht.« Dann schließt er die Tür hinter sich und lässt sie wieder alleine im Krankenzimmer.

Zu seiner Erleichterung bemerkt Tony, dass die Übelkeit bereits ein wenig nachlässt. Die Aussicht auf eine weitere Dröhnung Schmerzmittel ist ebenfalls äußerst verlockend. Und vielleicht kann ihm dann auch endlich jemand sagen, was passiert ist. Ob er sich nun peinlicher Weise mit dem Alkohol übernommen hat, ob er gestürzt ist oder … ja, oder was?

Woran kann er sich erinnern?

An den Strand.

An die Frauen.

An Coltons Flucht.

Tony wollte zurück zum Hotel. Zu Fuß. Hat ihn vielleicht jemand angefahren? Ein Fahrradfahrer, der auf sein Handy statt nach vorne gesehen hat?

Wieder klackt die Tür, wieder ertönen Schritte. »Guten Tag Mrs. Collins, Mr. Williams.«

»Doctor Hill, wie schön, gut sehen Sie aus. Wie war der Urlaub?«, fragt Mrs. Collins, als träfe sie die andere Frau in der Stadt beim Einkaufen.

»Vielen Dank. Oh, es war wundervoll. Abgesehen davon, dass ich mich beim Skifahren wie der erste Mensch angestellt habe.« Die Ärztin kichert. »Aber ich hatte einen überaus geduldigen Lehrer und am Ende habe ich sogar eine ganze Abfahrt geschafft, ohne auf meinem Hintern zu landen.«

Sie klingt nett, findet Tony. Und sie kommt auf sein Bett zu, es wäre daher höflich, sie zu begrüßen. Seine Übelkeit ist mittlerweile nur noch ein unterschwelliges Unwohlsein, das er gut ignorieren kann. Aber an dem grellen Licht hat sich bestimmt nichts geändert und Tony hat wenig Lust auf das erneute Brennen und Stechen in den Augen. Daher zögert er, wartet, lauscht.

»Guten Tag, Mr. Williams. Ich habe gehört Ihnen ist übel. Haben die Medikamente geholfen?«

Tony beißt die Zähne zusammen, öffnet nun doch die Augen und blinzelt gequält.

»Zu grell, ja? Einen Augenblick.« Dr. Hill streckt ihre Hand Richtung Wand und dreht dort an einem Knopf. Sofort lässt die Intensität des Lichtscheins nach, der Raum wird ein wenig dunkler. »Besser so?«

»Danke«, murmelt Tony und schließt noch einmal kurz die Augen. Er atmet durch, genießt die ungestörte Dunkelheit hinter seinen Lidern und öffnet sie dann wieder. Dr. Hill sieht anders aus, als sie klingt. Vor seinem inneren Auge hatte Tony eine große, schlanke Frau mit blondem Pferdeschwanz gesehen, aber vor ihm steht eine kleine, rundliche Frau mit wilden, kurzen, rotblonden Locken, Sommersprossen auf den Wangen und einem Ausdruck in den Augen, als sei sie Huckleberry Finns Zwillingsschwester.

»Also gut. Dann stelle ich Ihnen jetzt ein paar Fragen. Falls Sie eine Antwort nicht wissen, ist das kein Problem. Bitte nicht raten, sondern ehrlich sagen. In Ordnung?«

Tony nickt, auch, wenn seine Kopfschmerzen ihn nicht gerade zu einer fröhlichen Frage-Antwort-Runde motivieren. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass Mrs. Collins zwar wieder in ihrem Bett sitzt, die Füße brav unter der Decke und eine Zeitschrift auf dem Schoß, aber zu ihnen herüber lugt. Was will sie bloß von ihm? Will sie wirklich ein Bild von ihm machen, um es einer Freundin zu schicken?

»Also dann.« Dr. Hill räuspert sich, hebt eine dicke, braune Mappe vor die Brust und klackt mit dem Kugelschreiber. »Ihren vollständigen Namen bitte.«

»Anthony Tiberius Williams.«

»Tiberius?«, wiederholt die alte Dame, halb amüsiert, halb fragend.

»Das ist der Vorname eines Fernseh-Captains, den mein Vater geliebt hat. Raumschiff Enterprise, vielleicht ...«, setzt Tony zu einer Erklärung an, wird jedoch von Mrs. Collins unterbrochen. Dieses Mal ist ihr Tonfall eindeutig empört. »Ich weiß sehr wohl, wer Kirk ist, Kleiner. Für wie alt hältst du mich?«

»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht ...«

»Mrs. Collins, bitte. Das hier ist wichtig«, ermahnt die Ärztin ihre Patientin und wendet sich dann wieder Tony zu. »Ihr Geburtsdatum?«

»01.01.1985.« Damit hat er seinem Vater eine wichtige Silvesterfeier versaut, auf der er sich mit einem großen Kunden auf irgendetwas hatte einigen wollen. Die erste von vielen Enttäuschungen, die Tony seinem Vater bereitet hat. Tony ballt seine Hände kurz zu Fäusten, bevor er sie wieder lockert und versucht, sich zu entspannen. Es nutzt nichts, sich von solch alten Geschichten ärgern oder gar aus dem Konzept bringen zu lassen. Kopfschmerzen hat er aktuell auch so schon ausreichend.

»Welches Jahr haben wir gerade?«, fragt Dr. Hill weiter, ohne aufzusehen.

»2018.«

»Also sind Sie wie alt?«

»33.«

»Unser aktueller Präsident ist … ?«

»Ein Arschloch.«

Mrs. Collins kichert, sagt jedoch nichts.

»Hm, nun gut, das muss ich wohl gelten lassen.« Dr. Hills Kugelschreiber kratzt über das Papier, dann blickt sie auf und sieht Tony direkt ins Gesicht. »Jetzt wird es schwieriger. Können Sie sich daran erinnern, was Sie zuletzt gefrühstückt haben?«

»Nichts. Ich frühstücke nicht.« Wenn er nach dem Aufstehen gleich etwas isst, wird Tony immer übel. Sein Magen verträgt das nicht, egal, was es auch ist – Joghurt, Brei, Müsli, Butterbrot, Gemüse, Porridge – Tony hat alles schon gekotzt. Und dann hat er irgendwann aufgegeben, weil es kein allzu schöner Start in den Morgen ist, mit dem Kopf über der Kloschüssel zu hängen. Aber das behält er lieber für sich, wer kann schon wissen, was eine Ärztin in so etwas hinein interpretiert.

»Welcher Wochentag ist der letzte, an den Sie sich erinnern können?«, bohrt Dr. Hill indes weiter nach, klickt mehrmals mit dem Kugelschreiber, schüttelt ihn wild und steckt ihn dann in ihre Brusttasche, um ihn gegen einen anderen einzutauschen.

Tony überlegt kurz. »Mittwoch«, sagt er schließlich.

»Wann haben Sie am Mittwoch etwas gegessen und was war es?«

»Mittags, im Hotelrestaurant. Das Gericht des Tages, irgendetwas mit Hühnchen und Reis.«

»Und was ist das Letzte, an das Sie sich an diesem Mittwoch erinnern können?«

»Ich ... ich war am Strand. Ich wollte zurück auf mein Zimmer. Und dann ... ich weiß nicht. Ich habe meine Sachen gepackt, in den Rucksack.«

»Und sonst nichts?«