Der ganz normale Wahnsinn - Margit Stein - E-Book

Der ganz normale Wahnsinn E-Book

Margit Stein

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Beschreibung

Es stellte sichheraus, dass die Diebe aus Kindergärten entstammten, die nach demWaldkindergartenkonzept arbeiteten. Die Puppenstuben in den Läden warenprimär durch weibliche Kleinkinder geplündert worden, die, so diePsycholog*innen, 'geschlechtsneutral oder gendergerecht erzogen worden' wären und 'somit keinen legalen Zugriff auf Barbiepuppen und Schminkköpfegehabt' hätten. Männliche Kleinstkinder würden gerne 'auf Spielzeugwaffenzugreifen, wenn sie aus friedensbewegten Elternhäusern' kämen, wo sie 'einempädagogisch begründeten Waffenembargo' ausgesetzt seien. Für besondereSchlagzeilen sorgte auch der Fall eines Vierjährigen, der ohne Fernseheraufwachsen sollte und mit äußerster Brutalität einen Elektronikmarktüberfallen hatte. Dort erbeutete er neben einem riesigenFlachbildschirmfernseher auch eine Satellitenschüssel, mit der er alleKanäle weltweit empfangen wollte. Der Täter konnte noch auf dem Parkplatzüberwältigt werden, als er gerade versuchte, seine Beute mit rosafarbenemGeschenkband auf seinem Dreirad festzuzurren.

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Seitenzahl: 209

Veröffentlichungsjahr: 2024

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ORIGINALAUSGABE

© 2024 Hirnkost KG

Lahnstraße 25 12055 Berlin

[email protected]

http://www.hirnkost.de/

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage März 2024

VERTRIEB FÜR DEN BUCHHANDEL:

Runge Verlagsauslieferung [email protected]

PRIVATKUNDEN UND MAILORDER:

https://shop.hirnkost.de/

ILLUSTRATIONEN: Margit Stein

LEKTORAT: Klaus Farin

GESTALTUNG: Typografie/im/Kontext

ISBN:

PRINT: 978-3-948675-46-2

PDF: 978-3-948675-48-6

EPUB: 978-3-948675-47-9

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

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Alle im Buch aufgeführten Protagonist*innen sind fiktiv und Gemeinsamkeiten mit realen Personen rein zufällig.

MARGIT STEIN

DER GANZNORMALEWAHNSINN

Ein satirischer Gang durchs Leben und durch unsere Welt

Inhalt

Die Autorin und Illustratorin

Vorwort

Die erstaunliche Welt der Klippschliefer oder: Der Mensch ist unterausgestattet

Maus im Haus oder: Von Wanderratten und Wanderfalken

Lichtengel statt Erzengel oder: Meine Chakren erhalten einen Frühjahrsputz

Spielzeugladenüberfall! oder: Steigende Kleinkinderkriminalität

Mitternachtssuppe um halb zehn oder: Hochzeit, Heirat, Burnout

Die Anonymen Schokosüchtigen oder: Von Abhängigen und Co-Abhängigen

Macht Euch die Erde untertan oder: Von Laubbläsern und Laubsaugern

Eine Kaffeefahrt oder: Hundehalsbänder aus Amsterdam

Koppke oder: Wenn Kreativität berauscht …

Jahrmärkte und Schießbudenfiguren oder: Das Erntetalfest

Jenny Rasche gewidmet für ihren engagierten Einsatz als Sozialarbeiterin und evangelische Theologin für eine lebenswerte Zukunft und eine kindgerechte gewaltfreie Erziehung und Bildung für Kinder aus Roma-Familien, die in den Slumsiedlungen Rumäniens leben.

Das Autorinnenhonorar aus dem Verkauf dieses Buches geht komplett ohne Abzüge an den von Jenny Rasche und ihrem Mann gegründeten und geleiteten Verein „Kinderhilfe für Siebenbürgen“(https://www.roma-kinderhilfe.de/).

Die Autorin und Illustratorin

Margit Stein wurde 1975 in Niederbayern geboren. Ihre ersten Zeichenversuche reichen weit zurück und schon im Kindergarten war sie meist – so wird aus weitgehend verlässlichen Quellen berichtet – in der Mal- und Bastelecke anzutreffen. Erste kreative Schreibversuche folgten in der Grundschulzeit. Früh war sie an psychologischen und soziologischen Phänomenen und deren Zusammenwirken interessiert und daran, gesellschaftliche Entwicklungen und menschliches Zusammenleben positiv mitzugestalten.

Aufgrund dieser Interessen studierte sie nach dem Abitur Psychologie und Pädagogik mit dem Nebenfach Soziologie, was sie 1999 und 2000 jeweils mit dem Diplom abschloss. Sie war in vielfältigen gesellschaftlichen und sozialen Bereichen tätig, etwa in einem Kinderdorf, in einer neurologischen Fachklinik und einer psychosozialen Beratungsstelle. Über die berufliche Entwicklung von jungen Menschen sowie über die Werteentwicklung von Kindern und Jugendlichen promovierte bzw. habilitierte sie. Seit 2009 ist sie als Professorin tätig, zunächst in der Sozialen Arbeit, danach im Bereich Erziehungswissenschaften an einer niedersächsischen Universität.

Neben vielfältigen Fachpublikationen nahm sie vor einigen Jahren auch ihre belletristischen Schreibversuche wieder auf. Satire ist das kritische peer-review zu gesellschaftlichen Entwicklungen. Alle Satiren wurden von der Autorin mit Kohle- und Bleistiftzeichnungen illustriert.

Kognitionsschutzkonzept für den Konsum des vorliegenden Satirebandes

Ziel des vorliegenden Kognitionsschutz- und Kognitionssicherheitskonzepts:

Ziel des Konzepts ist es, basierend auf das amtliche Lang- sowie Kurzpapier Nr. 17 der Kognitionsschutzkonferenz der Bundesrepublik Deutschland – kurz Kognitionsschutzverordnung KSV –, im Sinne einer Kognitionsschutz-Folgenabschätzung benutzerfreundlich darauf hinzuweisen, dass es möglicherweise in Zusammenhang mit dem Konsum vorliegender Satiren zu einer nachweislichen und dauerhaften Modifikation interner kognitiver Überzeugungen und motivationalvolitional gestützter Werteorientierungen kommen kann, welche die Sicherung des Grundrechts auf weltanschauliche Selbstbestimmung tangieren könnten. Während des Konsums vorliegenden Bandes werden möglicherweise nicht nur einfache kognitive Umstrukturierungen, sondern auch personenbezogene Kognitionsmodifikationen der besonderen Kategorien (gemäß Art. 9, Abs. 1 Kognitionsschutzverordnung KSV) vorgenommen.

Der Kognitionsschutz bzw. das Kognitionssicherheitskonzept zielt in diesem Zusammenhang basierend auf der Kognitionsschutzverordnung KSV auf den Schutz des/der Betroffenen vor unrechtmäßigen oder aber auch unwissentlich stattfindenden Modifikationen seiner/ihrer personenbezogenen Kognitionen und Werteorientierungen. Kognitionssicherheit stellt auf die Verfügbarkeit, Authentizität, Vertraulichkeit und Integrität kognitiver Überzeugungen und motivational-volitional gestützter Werteorientierungen ab. Die Kognitionen dürfen durch den Konsum von Lektüre nur auf der Grundlage informierter Einwilligung der Betroffenen modifiziert werden, sodass seit dem 19.12.2020 diese Kognitionsschutzverordnung KSV zur Unterschrift vorgelegt werden muss (Art. 6 Abs. 1 lit. a und Art. 9 Abs.2 lit. a Kognitionsschutzverordnung KSV).

Risikoszenarien

In die Überlegungen zur Bestimmung von möglichen Risikoszenarien für den Kognitionsschutz sind vor allem die in der Kognitionsschutzverordnung KSV beispielhaft aufgeführten Kategorien möglicher Ereignisse (III 1b) und Risikoquellen (III 1c) eingeflossen. Aus diesen wurden für den Konsum dieses Bandes besonders relevante Risikoszenarien identifiziert unter dem Titel „Kognitionsschutz-Folgenabschätzung: Identifikation und Beurteilung spezifischer Kognitionsschutzrisiken“, die unter Art. 3 Abs. 4a lit. b Kognitionsschutzverordnung KSV näher aufgeführt sind.

Informierte Einwilligungserklärung

Vor dem erstmaligen Konsum des vorliegenden Satirebandes wird eine informierte Einwilligungserklärung von den Betroffenen eingeholt nach Art. 23c Abs. 1a lit. c und Art. 29 Abs. 2 ć lit. ß Kognitionsschutzverordnung KSV. Die Einwilligungserklärung einer potenziell von einer Kognitionsmodifikation betroffenen Person erfolgt in papierschriftlicher oder digitaler Form; Betroffenen wird ein Exemplar der Einwilligungserklärung ausgehändigt. Ein Muster der verwendeten Einwilligungserklärung inkl. Informationsblatt ist diesem Kognitionsschutzkonzept angelegt.

Datum

Unterschrift

Die erstaunliche Welt der Klippschliefer oder: Der Mensch ist unterausgestattet

Die Zeit der Superhelden war nur von kurzer Dauer und ist schon lange vorbei. Menschliche Superhelden gab es nur in einem früheren Zeitalter und auch nur in der Fiktion: Superman, Superwoman, Superboy, Batman, Spider-Man, Spider-Woman und so weiter und so fort.

Und Hand aufs Herz: So richtig viel konnten diese Superhelden auch nicht. Jeder verfügte über eine, maximal zwei besondere Eigenschaften, die sie von den Normalsterblichen unterschied, etwa die Fähigkeit zu fliegen, sich mit Saugnäpfen an Häuserwände zu heften, die Möglichkeit, Gedanken zu lesen et cetera, et cetera.

Kaum einer weiß, dass es eine ähnliche Entwicklung im Tierreich gab. Aber auch das Zeitalter der Superhelden im Tierreich war nur kurz, und viele sind bereits ausgestorben. Hierzu gehört etwa der Säbelzahntiger, der dem heutigen Tiger durch seine riesigen imposanten Reißzähne beim Fang von Beute bei Weitem überlegen war. Zu nennen wäre aber auch das Wollnashorn, das durch sein dichtes, wolliges, wasserabweisendes und wärmendes Fell den ersten Eiszeitjahren trotzte, bevor es ausstarb und Platz machte für das wesentlich schlechter ausgestattete Spitzmaulnashorn. Nicht sprechen kann ich an dieser Stelle über die breite Riege an Dinosauriern, die sowieso alle Rekorde im Tierreich zu brechen schienen, vom größten jemals lebenden Landsäugetier bis hin zum König aller gierigen Fleischfresser, der nicht umsonst Tyrannosaurus rex hieß.

Einer dieser tierischen Tausendsassa und eierlegenden Wollmilchsäue hat jedoch überlebt und sich an den Klimawandel und extremste Lebensbedingungen angepasst. Er lebt bescheiden, zurückgezogen und unerkannt unter uns: der Klippschliefer. Er ist der einzig wahre Superheld im Tierreich. Leider wird er bisher von den meisten Menschen verkannt, wenn sie überhaupt von seiner Existenz und seiner Genialität wissen. Ich war einer jener Ignoranten, bin jedoch mittlerweile eine Bekehrte, da ich dem Klippschliefer nicht weniger verdanke als mein Leben. Somit habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, aufzuklären und über ihn zu berichten.

Wo finde ich den Klippschliefer, wenn ich mir selbst ein Bild von ihm machen möchte?

Unerkannt, und von den meisten Zeitgenoss*innen verkannt, fristet er sein Dasein gleich im Gehege links neben dem Eingang des Dortmunder Zoos. Zudem sollen sich einige Exemplare auch in einem kleinen, schlecht einsehbaren Areal des Hagenbeck’schen Tierparks befinden. Die meisten Zoos jedoch haben ihn nicht einmal mehr im Angebot, so unspektakulär wirkt er auf den ersten Blick.

Horden von Eis essenden Kindern, liebenden Müttern und fürsorglichen Familienvätern wandern Tag für Tag durch die deutsche Tierparklandschaft. Sie eilen zielstrebig zu den riesigen Elefanten, hochgewachsenen Giraffen, gefährlichen Löwen und intelligenten Schimpansen. Oder sie steuern mit ihrem Nachwuchs die possierlichen Erdmännchen, durchs Wasser schießenden Pinguine und Seelöwen an. Die meisten von ihnen spazieren allerdings gleich schnurstracks in den Streichelzoo zu den Schafen, Ziegen und Meerschweinchen. Intellektuelle junge Pärchen beobachten auch schon einmal exotische Paradiesvögel oder den Galapagosleguan in seinem Terrarium. Und nach ihren Lieblingstieren gefragt, werden von den kleinsten Zoobesucher*innen stets die alten Bekannten genannt: Tiger, Affe, Zebra, Bär. Bei älteren Tierliebhaber*innen stehen auch schon mal Haie, Nashörner, Papageien und Totenkopfäffchen auf der Liste der Lieblingstiere. Und ein älterer Herr sagte einmal mit stolzgeschwellter Brust: »Axolotl«.

Nur sehr wenige Zeitgenoss*innen erkannten bisher die Genialität des Klippschliefers. Hierzu gehört mein Mitarbeiter Detlev, dem ich es verdanke, mich mit dem Klippschliefer erstmals vertraut gemacht zu haben. Er war der Erste, der geistig und moralisch in der Lage war, die einzigartigen Fähigkeiten des Klippschliefers nicht nur zu erkennen, sondern auch zu würdigen. Detlev hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass es mehr auf dieser tierreichen Welt gibt als Pferde, Katzen und Hunde. Er selbst erzählte im Kreise guter Freund*innen in einer kalten Winternacht, dass der Klippschliefer anders als wir frierenden Zeitgenoss*innen in der Lage wäre, seinen Körper zu temperieren und an die Witterung anzupassen. Angesichts meiner eiskalten Füße, die sich seit Stunden nicht erwärmen ließen, war ein erstes Interesse an den Kompetenzen des Klippschliefers von meiner Seite gelegt.

Wir waren auf den kleinen Klippschliefer neugierig geworden und lasen im Internet weiteres Wissenswertes über ihn nach. Freundlich strahlte mich von einem Photo ein kleines Tierchen an, das sich aus der großen Menge kleiner harmloser Tierchen nur durch die beiden Reißzähne abhob, die links und rechts aus seinem Munde ragten. Ich zuckte die Achseln:

»Sind die warmen Füße und diese lächerlichen Zähne das Einzige, mit dem er mich beeindrucken möchte?«, fragte ich ironisch.

»Jetzt hör doch erst einmal zu!«, sagte Detlev eifrig, dessen Liebe zum Klippschliefer scheinbar nicht so schnell zu trüben war.

Mit einer wahren Begeisterung las er vor:

»Der Klippschliefer gehört zur Gattung der Säugetiere. Er lebt primär in Küstennähe auch auf felsigem Untergrund. Er ist mit zwei äußerst scharfen Reißzähnen ausgestattet, die sogar Holz, Steine und Metall von einem Durchmesser durchbeißen können, der den Umfang des Klippschliefers selbst um das Dreifache übertrifft. Sein Fell ist dicht und wasserabweisend. Eine Drüse hinter dem linken Ohr sondert kontinuierlich ein äußerst wohlriechendes Sekret ab, das ihn auch vor den Stichen von Moskitos und Bienen schützt. Das Klippschliefersekret diente als Malariaprophylaxe, da sich die Ureinwohner des südlichen Afrikas damit gegen Moskitos schützten. Bis zum 20. Jahrhundert war das Sekret außerdem Bestandteil vieler Parfums, was den Klippschliefer an den Rand der Ausrottung brachte, insbesondere, nachdem man dem Parfum auf Klippschlieferbasis eine stark luststeigernde Wirkung auf Frauen nachgesagt hatte. Dank seiner enormen Sehfähigkeit kann der Klippschliefer auch Objekte in einer Entfernung bis dreihundert Kilometer klar erkennen.«

Detlev blickte beim Lesen immer wieder anerkennend von seinem Smartphone auf und hob, so als wäre er stets aufs Neue von den enormen Fähigkeiten seines tierischen Freundes überrascht, in entscheidenden Momenten eine Augenbraue. Bevor er weiterlas, schoss sein Zeigefinger in die Höhe:

»Dabei ist er auch auf extreme Bedingungen vorbereitet. Dank zweier Pupillen, die sich komplett verengen können, ist es ihm möglich, stundenlang in die pralle Sonne zu blicken.«

Meine Frage, wozu »man das denn brauchen könne«, offenbarte auf jeden Fall ein simples Gemüt. Diesen gänzlich unangebrachten Einwand konterte Detlev mit der Antwort:

»So was kann man doch immer brauchen. Also ich vermisse diese Fähigkeit täglich! Auf jeden Fall braucht man dann keine Sonnenbrille mehr.«

Der Klippschliefer ist von seinem Schöpfer mit einer unglaublichen Liebe zum Detail ausgestattet worden. Ein besonderes Augenmerk lag hierbei offenbar auf den Füßen:

»Der Klippschliefer besitzt einziehbare Fußsohlen, die es ihm erlauben, auch über glühende Kohlen und ätzende Flüssigkeiten zu laufen. Links und rechts sitzt jeweils eine ausfahrbare Kralle. Die Sohle ist mittig mit einem Huf ausgestattet, die ein schnelles Galoppieren auch auf glatten und morastigen Untergründen erlaubt. Dabei kann der Klippschliefer bis zu 100 Stundenkilometer realisieren und ist damit das in Bezug auf seine Größe am schnellsten laufende Säugetier der Welt.«

Auf den Photos des Klippschliefers sah ich, dass dieser mindestens fünf verschiedene Pelzvariationen trug.

»Ist er nicht eigentlich braun?«, fragte ich, nun neugierig geworden.

»Der Klippschliefer«, fuhr Detlev daraufhin wie auf Kommando fort, »hat einen Pelz, der sich farblich ähnlich wie bei einem Chamäleon an den Untergrund anpasst. So gelingt es dem Klippschliefer, bei Gefahr völlig mit dem Untergrund zu verschmelzen. Der Klippschliefer ist das Wahrzeichen und Wappentier des Landes Südafrika.«

Auf einem Bild war der Klippschliefer in schreiend bunten Regenbogenfarben auf einem Regenbogenposter sitzend abgebildet – darunter der Schriftzug »South Africa – Rainbow Nation«.

Zudem erfuhr ich, dass sich die Tiere mit einem Pfeifsystem auch über Länder und Kontinente hinweg austauschen:

»Der Klippschliefer kann dabei eine so hohe Lautstärke entwickeln, dass auch Tiere zwischen Südafrika und der Südspitze Argentiniens miteinander in Kontakt treten können. Die Laute sind in einer Frequenz, die für den Menschen nicht hörbar ist.«

Dass das Klippschlieferweibchen bei dieser schieren Fülle an Funktionen und Details eine Tragezeit von mehr als 36 Monaten hat, verwundert natürlich nicht. Der neugeborene Klippschliefer verbringt die ersten zwanzig Lebensjahre bei der Mutter, bis er erstmalig allein gelernt hat, mit seinen Fußsohlen umzugehen. Drei weitere Jahre werden gebraucht, um alle Funktionen der Ohrendrüse zu beherrschen. In nur sechs Monaten werden allerdings die Pupillenverengung sowie die farbliche Anpassung des Fells erlernt. Bis das Pfeifsystem in all seinen Varianten erlernt ist, vergehen Jahre, und erst der ausgewachsene Klippschliefer beherrscht alle 40.000 Zwischentöne sicher.

Der Klippschliefer scheint auch ein äußerst sozialer Zeitgenosse zu sein. Detlev las vor:

»Durch stundenlange intensive soziale Fellpflege versichert sich der Klippschliefer des Zusammenhalts der Gruppe. Dabei wird insbesondere das Fell der Jung- und der Alttiere gleichermaßen intensiv bearbeitet. Durch seine zwei Krallen ist der Klippschliefer auch in der Lage, den Pinzettengriff auszuführen, der ansonsten nur vom Menschen oder hoch entwickelten Menschenaffen vollzogen werden kann. Hör zu«, rief Detlev aufgeregt, »durch den Pinzettengriff können bei der Fellpflege auch Objekte im Sinne von Pflegeutensilien eingesetzt werden. Es ist überliefert, dass sich ein Klippschliefer im Zoo von Hamburg sogar einmal aus drei Holzstückchen eine Art Massagerolle bastelte, mit der er die anderen Tiere der Gruppe verwöhnte.«

Ich seufzte und blickte auf meinen Hund Berry, der zusammengerollt unter dem Tisch lag und laut schnarchte. Ich konnte mich nicht entsinnen, ihn jemals bei der sozialen Fellpflege oder einer vergleichbar hochentwickelten sozialen Aktivität gesehen zu haben – ausgenommen das stundenlange Schnüffeln an Laternenpfählen und Zäunen, um Duftnoten anderer Hunde aufzunehmen. Ob mein Hund überhaupt wusste, was eine Massagerolle ist? Ob ich mir einen Klippschliefer statt eines Hundes hätte zulegen sollen?

»Das Klippschliefermännchen wirbt ausdauernd um seine Angebetete mit dem klippschliefertypischen Paarungstanz, bei dem er sich von seiner besten Seite präsentieren möchte. Der geübte Tänzer beherrscht dabei dreißig verschiedene Schrittfolgen und fünfzig Tanzvariationen«, riss mich Detlev aus meinen Gedanken. »Zuvor schon hat das Klippschliefermännchen einen kunstvollen sogenannten Wurfbau errichtet, den er mit Haaren und weichem Moos für das Weibchen auspolstert.«

Von meinem Hund blickte ich nun auf meinen Freund, der mit gelangweilten halbgeschlossenen Augen die Ausführungen über sich ergehen ließ. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er jemals so intensiv um mich geworben hatte. Er konnte nicht tanzen, und auch mit dem Wunsch nach einem gemütlichen Nest konnte man ihn nur jagen. Auch hier wäre ich als Klippschlieferweibchen womöglich besser bedient.

»Das ausgedehnte Liebesspiel des Klippschliefers dauert bis zu zwei Stunden. Die Klippschliefer beiderlei Geschlechts können dabei bis zu drei Orgasmen erleben«, fuhr Detlev ungerührt fort und bestätigte mich damit in meinen Überlegungen.

Ein anderer Gast – Stephan, ein Theologe – erzählte, dass er den Klippschliefer bereits in der freien Natur hätte erleben können:

»Während meiner Zeit in Israel habe ich eine Gottesdienstreihe initiiert zum Thema ›Tiere der Bibel‹. Die war gut besucht, und ich hatte lange mit den anderen Theologen diskutiert, mit welchem Thema wir die Menschen am meisten ansprechen könnten. Vom jugendlichen Vegetarier bis zur alten Dame mit Schoßhund konnten wir die ganze Breite an Altersgruppen erreichen. Zu den Gottesdiensten waren auch Tiere zugelassen, und ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn diese nicht immer freudig reagierten, wenn ihr Name fiel!«

Stephan erzählte und erzählte.

»Stopp, Stephan«, sagte Detlev schließlich. »Konzentriere dich – was hat das jetzt mit dem Klippschliefer zu tun?«

»Okay, anders als bei den bei Weitem gängigeren Tieren wie Pavianen und Krokodilen kommt der Klippschliefer bereits in der Bibel vor. Dort taucht er in den Psalmen unter dem schönen Namen Klippdachs auf. Mein theologisches Konzept zur Reihe ›Tiere der Bibel‹ sah auch drei Gottesdienste vor, die sich rund um das Thema »Klippschliefer« oder »Klippdachs« rankten. Wir feierten diesen Gottesdienst am See Genezareth, und ich war unglaublich erstaunt, dass sich zur Messe mehrere Dutzend Klippschliefer einfanden.«

Die Klippschliefer hätten auch in musikalischer Hinsicht den Gottesdienst bereichert. In das vielstimmige »Großer Gott, wir loben dich« hätten sich auch die Pfeiftöne aus den Kehlen unzähliger Klippschliefer gemischt, die mit größter Inbrunst Gott zum Lobe gesungen hatten. Stephan hätte in starkem Maße Bezug auf Franz von Assisi genommen, der sogar den Tieren gepredigt hätte und den Wolf von Gubbio zu besänftigen wusste. Wäre er jemals in eine Region gekommen, in der der Klippschliefer heimisch gewesen wäre, so hätte er auch bestimmt dieses Tier anzusprechen gewusst. Stephan schwieg, und auch wir waren gerührt von dem tiefen Glauben der Klippschliefer. Vor meinem geistigen Auge tauchte ein Klippschliefer auf, der vor dem Tabernakel versunken kniete und in tiefster Andacht betete.

Der Klippschliefer hatte also anscheinend sehr viel im Köcher, mit dem er mich zu beeindrucken suchte. Und während ich noch das Bild dieses seltsamen Tieres im Internet betrachtete, ahnte ich nicht, dass ich selbst all diese Vorzüge des Klippschliefers einmal in lebensbedrohlicher Situation würde brauchen können …

Es war an einem Februartag letzten Jahres. Auf Drängen meines Freundes machten wir diesmal in unserem Jahresurlaub eine Fernreise. Wir waren unterwegs an der Steilküste Südafrikas, der Rainbow Nation, und machten eine Klippenwanderung, die laut dem Prospekt des Hotels »unbezahlbare Ausblicke auf den Ozean« freigeben sollte. Wir hatten extra den Februar gewählt, da wir in Südafrika auf der anderen Erdhalbkugel dann auf einen milden und noch sehr warmen Herbst mit nur – wie es im Reiseführer hieß – »einer geringen Regenwahrscheinlichkeit von fünf Prozent« treffen würden. Es sollte anders kommen … In strömendem Regen und bei eisigen Temperaturen stapften wir mit gesenkten Köpfen, die Blicke starr auf den glitschigen Felsen gerichtet, seit Stunden an der Steilkante entlang. Hinter uns trottete unser Hund, der von der Situation genauso überfordert schien wie wir und Ohren und Rute hängen ließ. Der Regen war so dicht, dass wir von den »unbezahlbaren Ausblicken« nur träumen konnten. Nicht einmal einen Regenbogen bekamen wir im Land des Regenbogens zu Gesicht, denn dazu hätte auch einmal der ein oder andere Sonnenstrahl seinen Weg zu uns finden müssen. Und während wir so vor uns hinliefen, passierte es …

Mein Freund rutschte auf dem glatten Untergrund ab und stürzte, auf die Situation nicht vorbereitet, den Felsabhang hinab. Unter seinen Füßen stob ein kleines Tierchen mit einem grauen nassen Pelz hinweg. Er musste über einen Klippschliefer gestolpert sein, der gedrungen auf dem Felsen gehockt und mit seinem steingrauen Pelz komplett optisch eins mit dem felsigen Untergrund geworden war. Mühsam hatte mein Freund noch versucht, sich mit seinen Fingern an einen kleinen Felsvorsprung zu klammern, aber mit nur mäßigem Erfolg. Unaufhaltsam rutschte er in die Tiefe, taumelte, konnte das Gleichgewicht nicht mehr halten und blieb schließlich auf einem kleinen Vorsprung liegen. Zum Glück war er nicht gleich in die tosende Gischt des Ozeans gestürzt. Ich schrie auf, als ich ihn fallen hörte. Nach bangen Sekunden, als ich ihn aus der Tiefe rufen hörte, beruhigte ich mich mühsam und lugte über die Felsenkante zu ihm hinab. Berry saß winselnd neben mir und schien durch die Jämmerlichkeit seines Tonfalls schon den Verlust des Herrchens zu beklagen. Mein Freund und ich blickten uns in die Augen – keiner von uns wusste, was zu tun war. Der Felsen war zu steil und glatt, als dass er wieder zu mir hätte hochsteigen können. Zudem klagte er über Schmerzen im linken Bein. Ich sah, dass er unseren Rucksack beim Sturz verloren hatte, der wohl noch eine Etage tiefer gelandet war.

»Halte durch!«, rief ich ihm zu. »Ich versuche Hilfe zu rufen. Hast du dir etwas gebrochen?«

»Weiß nicht …«, war die wenig aussagekräftige Antwort. Sein bisher immerhin schon sechssemestriges Medizinstudium reichte scheinbar nicht aus für die Selbstdiagnose.

Als ich das Handy herauszog, sah ich, dass es in der Tasche so stark durchnässt worden war, dass es sich nicht einmal mehr anschalten ließ.

»Mist!«, rief ich aus.

»Was ist los?«, fragte mein Freund, und ich erklärte ihm, dass wir wohl verloren waren und uns auf den Tod vorbereiten müssten, weit draußen in den Weiten Südafrikas, bei strömendem und kaltem Regen. Als schwachen Trost stellte ich in Aussicht, dass ich bis zum Lebensende bei ihm bleiben würde – ein absehbares Risiko …

»Aber wer wird denn schon vom Sterben sprechen. Sie sind doch noch so jung. Haben Menschen denn nicht eine Lebenserwartung von über siebzig Jahren?«, tönte es plötzlich hinter mir.

Ich schnellte erstaunt und erschrocken zugleich herum – hoffnungsfroh, dass sich außer uns noch ein weiterer einsamer Wanderer in dieser Gegend aufhielt, der uns helfen könnte. Ich blickte um mich, sah aber niemanden.

»Huh huh, hier bin ich«, tönte es erneut.

Da sah ich eine kleine graue Gestalt, die zu meinen Füßen im Regen saß – ein Klippschliefer.

»Was ist passiert?«, fragte er. »Kann ich irgendwie helfen?«

Unter Tränen vertraute ich mich dem Fremden an und schilderte stockend, dass mein Freund abgerutscht sei und wir nun gemeinsam auf den Tod warten würden.

»Wie viele hundert Meter ist dein Freund in die Tiefe gefallen?«

Der Klippschliefer sah mich vertrauensvoll an.

»Vielleicht vier Meter …«

»Was, bloß vier Meter? Aber das dürfte doch überhaupt kein Problem sein für deinen Freund, wieder hochzuklettern. Dein Freund kann doch bestimmt gut klettern?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Eher nicht …«

»Wie ist dein Freund denn ausgerüstet?«, fragte der Klippschliefer nach und wollte scheinbar in die Details unserer Wanderausrüstung eingeweiht werden.

»Wir haben leider weder Seile noch Haken oder Ösen dabei«, erklärte ich.

»Aber so meinte ich das gar nicht. Ich wollte wissen, ob er irgendwie mit Saugnäpfen, Krallen oder vielleicht Flügeln ausgerüstet ist. Irgendwie muss das Problem doch zu lösen sein. Entschuldige bitte die dumme Nachfrage, aber ich habe bis dato noch keinen Menschen zu Gesicht bekommen.«

Ich dachte erst, er wolle sich über mich lustig machen, aber als ich in seine freundlichen braunen Äuglein blickte, wusste ich, dass es dem Klippschliefer mit seiner Frage ernst gewesen war.

»Wir Menschen sind leider völlig unterausgestattet«, schluchzte ich. »Ich weiß nicht weiter.«

»Hallo? Mit wem sprichst du denn da?«, rief mein Freund von unten herauf. »Ist denn ein anderer Wanderer gekommen?«

»Nein, ein Klippschliefer will uns helfen«, schrie ich hinunter. »Sei unbesorgt, nun wird alles gut«, setzte ich hinzu und dachte daran, was Detlev alles Positives über den Klippschliefer zu berichten gewusst hatte.

»Gerade habe ich Kontakt zu zwei Artgenossen in Dortmund aufgenommen«, unterbrach der Klippschliefer unser Gespräch. »Diese kennen Menschen aus nächster Nähe. Sie haben bestätigt, dass ihr kaum in der Lage seid, euch selbst zu erhalten. Das wird ein hartes Stück Arbeit, aber wir schaffen das! Dein Freund wird gerettet werden. Ich hole zunächst einmal ein paar Freunde zu Hilfe.«

Mit seinen Adleraugen – oder sollte ich eher von Klippschlieferaugen sprechen – hatte er ausgemacht, dass sich im Umkreis von dreihundert Kilometern mindestens weitere 125 Klippschliefer aufhielten. Etwa zwanzig von ihnen eilten auf seinen Pfeifton hin herbei. Schon von Weitem hörte ich trotz des starken Windes ihre donnernden Hufe über die weite Ebene auf uns zu galoppieren. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

»Ich bin so froh, dass du da warst«, sagte ich dankbar mit Blick auf den Klippschliefer.

»Na ja, ich bin doch verpflichtet, euch zu helfen«, sagte der Klippschliefer bescheiden. »Schließlich ist dein Freund ja über mich gestolpert. Ich werde mal zu ihm hinabsteigen und nachsehen, was ihm genau fehlt.«

Mittlerweile war die Sonne hinter den Regenwolken hervorgetreten und der Klippschliefer blickte mit seinen verengten Pupillen abschätzend minutenlang in den sonnigen blauen Himmel, um zu prüfen, ob sich das Wetter nun wieder wandeln würde. Schließlich entschied er sich, die Fußsohlen besser einzuziehen, da der Felsen immer noch glitschig und nass war. Er fuhr seine zwei Krallen aus und klappte den Huf in der Mitte beiseite. Dann ließ er sich geschickt an einer der Krallen am Felsen in die Tiefe hinab. Ich hörte, wie er behände mit den Krallen in die kleinen Löcher fuhr, die im Felsen waren, und sich Stück für Stück zu meinem Freund hinunterarbeitete.

Ich lugte von oben über die Kante und sah, dass der Klippschliefer behutsam die Beine meines Freundes abtastete.

»Es scheint nichts gebrochen zu sein!«

Seine pure Anwesenheit und das Wissen, dass hier ein Fachmann am Werke war, beruhigte uns ungemein.

»Ich warte auf meine Freunde, und dann werden wir deinen Freund abtransportieren. Per Pfeifton habe ich einen Klippschliefer in Kapstadt gebeten, mit dem dortigen Krankenhaus Kontakt aufzunehmen und unser Eintreffen anzukündigen. Wir tragen ihn bis oben zur Straße. Dort müsste dann schon der Krankenwagen warten.«

Binnen der nächsten Minuten trudelten peu à peu Klippschliefer aus allen Richtungen ein. Zwei führten ein dickes Tau mit sich, das einer von ihnen mit einem geübten Biss in der passenden Länge durchtrennte. Sie ließen es hinunter, und nach einer Viertelstunde sah ich, dass sie meinen Freund nach oben zogen. Zehn besonders große Klippschliefermännchen fassten ihn von unten und trugen ihn in unglaublicher Geschwindigkeit den nassen Fußweg entlang. Mein Hund stolperte tollpatschig und regennass hinterher und musste immer wieder geduldig vom Klippschliefer instruiert werden. Alles in allem – keine große Hilfe. Nicht einmal eine kleine.

»Normalerweise sind Hunde mehr auf Zack«, sagte der Klippschliefer mit nachsichtigem Tonfall. »Aber dieser scheint sich bereits an das Unvermögen seiner Besitzer angepasst zu haben.«