Der Geschichtenerzähler - Patricia Highsmith - E-Book

Der Geschichtenerzähler E-Book

Patricia Highsmith

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Schriftsteller Sydney und seine Frau Alicia führen eine schwierige Ehe. Manchmal stellt sich Sydney vor, wie es wäre, Alicia umzubringen. Dieser Gedanke regt seine Phantasie an, und Sydney beginnt eine Geschichte zu schreiben, in der er den Mord an Alicia minutiös schildert. Als Alicia aber tatsächlich verschwindet, ist Sydney plötzlich in Teufels Küche …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Patricia Highsmith

Der Geschichtenerzähler

Roman

Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Der Geschichtenerzähler

Für Betty, Margot, Ann

und die ganze alte Gang

1

Das Land um Sydney und Alicia Bartlebys kleines zweigeschossiges Haus war so flach wie der Großteil der Grafschaft Suffolk. Die Landstraße zwanzig Meter vor dem Haus war zweispurig und asphaltiert. Neben dem holperigen Plattenweg zum Haus sorgten fünf junge Ulmen für ein wenig Abgeschiedenheit; auf der anderen Seite stand eine hohe dichte Hecke, sie gab auf zehn Meter Breite einen besseren Sichtschutz. Deshalb hatte Sydney die Hecke auch nie getrimmt. Der Rasen vor dem Haus war genauso ungepflegt, das Gras wuchs meist nur in Büscheln, und wo es doch zu richtigem Rasen reichte, hatten sich Feenkreise in das Gras gefressen, und der lehmbraune Boden lag blank. Um den Garten hinter dem Haus kümmerten sich die Bartlebys besser; dort hatten sie neben Blumenrabatten und Gemüsebeeten einen Zierteich von gut eineinhalb Meter Durchmesser angelegt, in dessen Mitte Sydney ungewöhnliche Steine aufgehäuft und mit Zement befestigt hatte. Doch war es den beiden nie gelungen, in dem Teich Goldfische am Leben zu erhalten, und zwei Frösche, die sie eingesetzt hatten, mußten beschlossen haben auszuwandern.

Die Landstraße führte in der einen Richtung nach Ipswich und London, in der anderen nach Framlingham. Hinter dem Haus verlor sich das Grundstück allmählich ohne sichtbare Grenze; dahinter lag das Feld eines Bauern, dessen Haus nicht zu sehen war. Genaugenommen wohnten die Bartlebys in Blycom Heath, doch das eigentliche Dorf lag drei Kilometer weiter in Richtung Framlingham. Seit eineinhalb Jahren lebten sie hier, fast so lange, wie sie verheiratet waren; das Haus war im Grunde das Hochzeitsgeschenk von Alicias Eltern gewesen, obwohl Sydney und sie eintausend Pfund zum Kaufpreis von dreitausendfünfhundert beigesteuert hatten. Die Gegend mochte den wenigen, weit verstreuten Anwohnern einsam vorkommen, doch Sydney und Alicia gingen ihren eigenen Dingen nach (dem Schreiben und dem Malen) und waren durch die Gesellschaft des anderen niemals allein. Außerdem hatten sie ein paar neue Freunde gefunden, die weiter weg wohnten, sogar in Lowestoft.

Nur um Schuhe reparieren zu lassen oder ein Fäßchen Kalligraphie-Tinte zu besorgen, mußten sie allerdings knapp zehn Kilometer nach Framlingham fahren. Vermutlich war die Einsamkeit der Gegend auch der Grund dafür, daß das Haus nebenan leer stand. Das gedrungene zweigeschossige Gebäude mit der Schieferfassade und dem spitzen Erkerfenster war in besserem Zustand als ihr eigenes Haus, von außen jedenfalls. Aber sie hatten gehört, innen sei noch alles mögliche zu tun, da das Haus seit fünf Jahren leer stand und zuvor von einem alten Ehepaar bewohnt worden war, das nicht das Geld für die nötigen Instandsetzungen gehabt hatte. Das Haus stand zweihundert Meter von dem der Bartlebys entfernt, und Alicia schaute gern gelegentlich hinüber, schaute es sich nur an, auch wenn es leer stand. Manchmal fühlte sie sich schon einsam, oder eher isoliert, als ob Sydney und sie gottverlassen am Südpol lebten.

Von Elspeth Cragge, die in Woodbridge wohnte und einen Mr. Spark, den örtlichen Immobilienmakler, kannte, erfuhr Alicia, daß eine Mrs. Lilybanks das Haus nebenan gekauft hatte. Eine alte Dame aus London, sagte Elspeth und bedauerte, daß es nicht ein junges Ehepaar war (als Nachbarn sicher unterhaltsamer).

»Mrs. Lilybanks ist heute nachmittag eingezogen«, verkündete Alicia eines Abends fröhlich in der Küche.

»Hmm. Hast du sie schon gesehen?«

»Wieder nur flüchtig. Sie ist schon älter.«

Das wußte Sydney. Beide hatten die Frau vor einem Monat zum ersten Mal gesehen, als sie mit dem Makler vorbeigekommen war. Über einen Monat waren Handwerker und Bauarbeiter im Haus ein und aus gegangen, und nun war Mrs. Lilybanks eingezogen. Sie sah aus wie um die Siebzig und würde sich wahrscheinlich schriftlich bei ihnen beschweren, sollten sie diesen Sommer laute Gartenpartys hinter dem Haus feiern. Sydney mixte in aller Ruhe zwei Martinis in einem Glaskrug und goß die Drinks in die Gläser.

»Ich wäre ja rübergegangen, um sie zu begrüßen, doch da waren schon ein paar Leute zu Besuch, und ich dachte, die bleiben vielleicht über Nacht.«

»Hmm«, sagte Sydney. Er bereitete gerade den Salat zu, sein üblicher Beitrag zum Abendessen. Automatisch stützte er sich mit einer Hand ab, bevor er die Tür des Kühlschranks aufriß, die immer klemmte, und den Senf herausnahm. Dann richtete er sich gedankenverloren auf – und stieß sich wieder den Kopf an dem schrägen Dachbalken. »Verdammte Sch…!«

»Ach, Liebling«, sagte Alicia beiläufig, während sie im kleinen Backofen nachsah, wie weit ihre Fleischpastete war. Sie trug eine enge, hellblaue, jeansähnliche Hose mit V-förmig eingeschnittenen Hosenaufschlägen. Ihr Hemd war aus echtem Denim, eine amerikanische Freundin hatte es ihr geschickt. Das achtlos gekämmte strähnige blonde Haar war schulterlang, ihr Gesicht schmal, fein geschnitten und hübsch, die weit auseinanderliegenden Augen waren blaugrau. Sie hatte einen dunkelblauen Farbfleck auf der Hose, über dem linken Knie, der trotz häufigen Waschens nicht rausgegangen war. Alicia malte in einem Hinterzimmer im ersten Stock. »Morgen werd ich wohl rübergehen«, sagte Alicia, in Gedanken immer noch bei Mrs. Lilybanks.

Sydney war innerlich weit, weit weg, bei seinem Nachmittag mit Alex in London. Daß Alicia nun schon zum drittenmal von Mrs. Lilybanks sprach, paßte ihm gar nicht. Warum fragte Alicia nicht, wie sein Nachmittag gewesen sei, ob er gut gearbeitet habe, so wie das jede andere Ehefrau getan hätte? Manchmal ritt sie auf Themen herum, von denen sie genau wußte, daß sie ihn langweilten. Deshalb sagte Sydney nichts.

»Wie war London?« fragte Alicia endlich, als sie am Eßzimmertisch saßen.

»Ach, so wie immer. Steht noch.« Sydney lächelte gequält. »Auch Alex ist genau wie immer. Das heißt, er hat keine neuen Ideen.«

»Ach ja? Ich dachte, ihr wolltet heute an einem neuen Einfall arbeiten?«

Sydney seufzte leicht verärgert, dabei war es doch das einzige gewesen, worüber er hatte sprechen wollen. »So war es auch geplant gewesen. Ich hatte eine Idee. Aber wir kamen einfach nicht weiter.« Er zuckte die Achseln. Die dritte Serie, die Alex und er zusammen geschrieben hatten – na ja, das meiste hatte er getan, Alex besorgte nur die fernsehgerechte Bearbeitung des Manuskripts –, war letzte Woche vom dritten und letzten Londoner Sender, dem letzten möglichen Käufer, abgelehnt worden. Drei, vier Wochen harte Arbeit, mindestens vier Treffen mit Alex in London – ein vollständiges, detailliertes Exposé und dazu das Drehbuch für eine erste Einstundenepisode hatten sie fertig getippt und ordentlich gebunden an die drei Sender verschickt. All das war nun für die Katz, und der heutige Tag noch dazu: siebzehn Shilling für die Rückfahrkahrte von Ipswich nach London sowie acht Stunden Zeit und einiges an Energie … Das alles sowie die Enttäuschung auf Alex’ großem Gesicht, das sich vor lauter Grübeln verfinsterte, dazu sein hartnäckiges Schweigen, gefolgt von einem »O nein, so geht das nicht«. Ergebnis: ein Tag zum Haareausraufen, an dem man seine Schreibmaschine nehmen, sie in den nächsten Teich schmeißen und hinterherspringen wollte.

»Wie geht’s Hittie?«

Hittie war Alex’ junge Frau, still und blond, die ganz in der Betreuung der drei kleinen Kinder aufging.

»Auch so wie immer«, sagte Sydney.

»Habt ihr deine neue Idee besprochen – das mit dem Mann auf dem Tanker?« fragte Alicia.

»Nein, Liebling. Die wurde doch gerade abgelehnt.« Wie konnte sie das nur vergessen?, fragte sich Sydney. Sie hatte doch das Exposé und auch das Drehbuch gelesen. »Ich weiß nicht, ob ich das schon erwähnt habe – bei meiner neuen Idee geht es um eine Tätowierung. Ein Mann läßt sich genauso tätowieren wie ein anderer, der angeblich schon tot ist.« Sydney war zu erschöpft, um die ganze verwickelte Geschichte zu erzählen: Alex und er hatten sich als Heldenfigur einen Detektiv ausgedacht, Nicky Campbell, einen jungen Burschen mit einem ganz »normalen« Beruf und einer Freundin. Nicky stieß immerzu auf neue Verbrechen und löste alle Rätsel jedes Falles und fing die Schurken und gewann jeden Kampf, ob mit Fäusten oder Pistolen – aber die Geschichten ließen sich einfach nicht verkaufen. Alex war jedoch sicher, daß sie es eines Tages schaffen würden, und dann wäre das für beide der Durchbruch. Vor zwei Jahren hatte Alex ein Drehbuch für ein Fernsehspiel verkauft, seither hatte er eine Handvoll weiterer Drehbücher geschrieben, die allesamt abgelehnt worden waren, doch das waren in sich abgeschlossene, einstündige Fernsehspiele gewesen, und Alex war sicher, daß das Fernsehen gerade jetzt eine gute Serie brauchte. Zu seinem Glück hatte er einen sicheren Arbeitsplatz in einem Verlag. Sydney hatte das nicht, und sein letzter Roman war überall abgelehnt worden, obwohl vor ein paar Jahren zwei Romane von ihm in den USA erschienen waren. Er verfügte über etwa einhundert Dollar im Monat an regelmäßigem Einkommen, Dividenden aus Aktien, die ihm ein Onkel in Amerika hinterlassen hatte. Alicia und er lebten davon und von ihren fünfzig Pfund im Monat, die mehr wert waren als seine hundert Dollar. Von dem Geld kauften sie Ölfarbe und Leinwand, Papier und Farbbänder und Kohlepapier für die Schreibmaschine – das Handwerkszeug ihrer Berufe, die ihnen finanziell so wenig einbrachten. Mit der Malerei hatte Alicia bis jetzt gerade einmal fünf Pfund verdient; allerdings nahm sie das Malen als Gelderwerb auch nicht so wichtig wie Sydney das Schreiben. Der einzige Luxus, den sie sich gönnten, waren Zigaretten und Alkohol, doch da diese Dinge in England besonders teuer waren, war es nicht nur Luxus, sondern der reine Wahnsinn, sie überhaupt zu kaufen: Zigaretten waren wie zusammengerollte Zehnpfundnoten, die sich in Rauch auflösten, und Whisky wie geschmolzenes Gold. Seit Monaten hatten sie sich keine neue Schallplatte mehr gekauft; ihr Fernseher war gemietet, von einem Laden in Framlingham. Die meisten Engländer mieteten ihre Apparate, weil neue Modelle so schnell herauskamen, daß ein Fernseher bald nach dem Kauf schon veraltet war. Sydney meinte allerdings, für seine Arbeit mit Alex brauche er einen.

»Willst du denn weiter mit Alex zusammenarbeiten?« fragte Alicia, während sie den letzten Bissen Pastete zum Mund führte.

»Was soll ich denn sonst tun? Ich hasse solche vergeudeten Tage in London, aber wenn wir es erst einmal geschafft haben …« Auf einmal packte ihn die Wut, er haßte Alicia und das Haus und wollte das Thema fallenlassen; er wünschte, er könnte alles zurücknehmen, was er an diesem Tag gesagt oder gedacht hatte, über Alex, über die verdammten Plots ihrer Drehbücher. Er zündete sich eine Zigarette an, gerade als Alicia ihm den Salat reichte, und nahm sich eine kleine Portion, ohne nachzudenken. Morgen würde er sich wieder an das Exposé setzen und versuchen, die schwachen Ideen einzubauen oder zu verbessern, die Alex am Nachmittag beigesteuert hatte. Schließlich war er es, nicht Alex, der sich die Geschichten ausdenken sollte, er war der eigentliche Kopf der beiden.

»Liebling, vergiß nicht, heute abend den Müll rauszustellen, ja?« sagte Alicia, so sanft, daß Sydney vielleicht gelacht hätte, wäre er besserer Laune gewesen. Oder in Gesellschaft.

Wahrscheinlich hatte Alicia ihm ein Lachen oder doch mindestens ein Lächeln entlocken wollen, doch er nickte nur ernst und geistesabwesend und richtete seine Gedanken ganz auf den Müll, als sei das ein großes, bedeutendes Problem. Die Müllabfuhr kam nur alle zwei Wochen, also war es schon ein ernstes Problem, wenn sie vergaßen, sämtlichen Müll hinauszubringen. Ihre einzige, viel zu kleine Mülltonne stand immer dort an der Straße, nur für Dosen und Flaschen bestimmt. Altpapier verbrannten sie, Obst- und Gemüseabfälle warfen sie auf den Komposthaufen, aber wegen der Dosen und Flaschen für Orangensaft, Tomaten und vieles andere quoll die Mülltonne nach den zwei Wochen stets über, und ein paar volle Pappkartons standen tagelang im Werkzeugschuppen herum, bevor die Mülleute kamen. Gewöhnlich regnete es am Abend vor der Müllabfuhr, so daß Sydney die Kartons durch den Matsch hinaustragen, neben der Tonne abstellen und darauf hoffen mußte, sie würden am nächsten Morgen noch nicht aufgeweicht sein.

»Ist doch ärgerlich, daß man sich in England draußen auf dem Land für seinen Müll schämen muß«, sagte Sydney. »Was soll denn an Müll nicht normal sein? Das würd ich gern mal wissen. Glauben die da oben, die Leute essen nichts?«

Alicia blieb gelassen und nahm ihr Land in Schutz: »Niemand muß sich wegen seines Mülls schämen. Wer sagt denn so was?«

»Vielleicht sagt das keiner so, aber man bekommt diesen Eindruck. Sie machen es einem so peinlich«, erwiderte Sydney genauso gelassen. »Sie leeren so selten, dadurch lenken sie die Aufmerksamkeit der Leute erst recht auf den Müll – sie stoßen einen geradezu mit der Nase darauf. Mit der Sperrstunde in den Pubs ist es das gleiche: Der Wirt schlägt dir die Tür vor der Nase zu, also willst du erst recht einen trinken und nimmst bei der nächsten Gelegenheit gleich zwei oder drei Drinks.«

Alicia verteidigte die Sperrstunde mit dem Hinweis, sie vermindere das Trinken, und die seltene Müllabfuhr mit der Begründung, häufigere Abfuhr führe zu höheren Kosten, und so ging diese Streiterei weiter, nicht zum ersten Mal, einige Minuten lang, und am Ende waren beide einigermaßen verärgert, weil keiner den anderen von seiner Sicht der Dinge hatte überzeugen können.

Alicia war nicht so verärgert wie Sydney, ja, eigentlich täuschte sie ihren Ärger nur vor: Das hier war ihr Land, das ihr lieb war, und sie hatte oft daran gedacht, Sydney zu sagen, wenn England ihm nicht gefalle, könne er ja gehen. Aber gesagt hatte sie ihm das noch nie. Sie zog Sydney gerne auf, sogar mit seinem Schreiben, einem heiklen Thema – ihr schien die Lösung seines Problems nämlich einfach zu sein: Sydney sollte sich entspannen, mehr er selber sein, glücklicher werden und nur noch das schreiben, was ihm gefiel – dann werde es gut werden und sich auch verkaufen lassen. Das hatte sie ihm wieder und wieder gesagt, und er hatte mit einer dieser komplizierten männlichen Darlegungen gekontert, in der er auf den Wert gründlichen Nachdenkens und marktorientierter Arbeit verwies. »Aber wir sind doch genau deshalb aufs Land gezogen, um uns zu entspannen«, hatte sie ein paarmal zu ihm gesagt, damit jedoch nur noch Öl ins Feuer gegossen, denn dann wurde Sydney erst recht wütend: Ob sie denn glaube, das Leben auf dem Lande mit den damit verbundenen zusätzlichen Arbeiten und Aufgaben sei der Entspannung förderlicher als eine Wohnung in London, egal wie klein? Na schön, in London waren die Mieten höher und stiegen weiter, und wenn Alicia ihn darauf festnagelte, wollte er eigentlich gar nicht in London leben, weil ihm das weite, offene Land besser gefiel und er lieber Cordhosen trug und Hemden ohne Schlips und alte Sportschuhe und weil er im Grunde ab und zu gern einen Zaun reparierte oder ein bißchen im Garten arbeitete. Was Sydney brauchte, lag auf der Hand: entweder einen Käufer für die Fernsehserie, die er mit Alex verfaßte, oder einen Verlag für seinen neuen Roman, Die Planer, an dem er noch immer feilte. Lange genug, fand Alicia und meinte, er solle ihn, wenn nötig, jedem einzelnen Verleger in London schicken. Sechs Londoner Verlagen hatte er ihn tatsächlich schon angeboten, darunter der Verge Press, wo Alex arbeitete, außerdem drei Verlagen in Amerika, und alle hatten sie abgelehnt. Doch es gab ja noch so viel mehr Verlage; Alicia hatte von Büchern gehört, die dreißigmal oder noch öfter abgelehnt worden waren, bevor ein Verlag sie schließlich gekauft hatte.

Beim Geschirrspülen warf sie manchmal einen kurzen Blick auf Sydney: Er wanderte unruhig umher, in seinen alten Sportschuhen, in die er geschlüpft war, sobald er nach Hause gekommen war. Er hatte die Müllkartons hinausgebracht und betrachtete nun den Garten in der Abenddämmerung, bückte sich hin und wieder und rupfte Unkraut aus. Der Kopfsalat war gekommen, sonst aber noch nichts.

Sydney sah immer wieder flüchtig zu dem einzigen erleuchteten Fenster an der hinteren oberen Ecke von Mrs. Lilybanks Haus hinauf: Sie ging wohl früh zu Bett, dachte er, oder sie wollte Strom sparen. Wahrscheinlich beides. Seltsam war das; ein anderer Mensch wohnte so nahe bei ihnen und konnte etwa in diesem Moment zum Fenster hinausschauen und ihn oder doch seinen Schatten ausmachen, wie er hinter dem Haus umherlief. Sydney gefiel das gar nicht. Dann wurde ihm klar, daß er nicht wegen Mrs. Lilybanks zu dem erleuchteten Fenster hinaufsah (die ihm völlig gleichgültig war), sondern um herauszufinden, ob sie ihn beobachtete. Aber er sah nichts in dem Fenster, gar nichts, nur zwei gelbe Gardinen. Sie waren bis auf einen schmalen Schlitz zugezogen und verbargen alles, was dahinter vorgehen mochte.

2

In diesem Moment, um 21:17 Uhr, dachte Mrs. Lilybanks noch gar nicht daran, ins Bett zu gehen, obwohl sie einen anstrengenden Tag hinter sich hatte. Sie rückte den Nachttisch neben ihrem Bett zurecht und überlegte, ob sie ihr Bild von Cannes (das sie vor fast fünfzig Jahren in den Flitterwochen gemalt hatte) über dem Kamin aufhängen sollte – oder ein Stilleben mit Äpfeln und Weinflasche, das ihre Freundin Elsie Howell, die vor zwölf Jahren gestorben war, eigens für Mrs. Lilybanks’ Londoner Wohnung gemalt hatte. Nach dem Tod ihres Mannes Clive war Mrs. Lilybanks dort eingezogen. Die alte Dame ging langsam umher, legte ihr Nähkörbchen in die oberste Schublade der Kommode und rückte die silberbeschlagene Bürste und den Kamm gerade. Sie war zu müde für weitere richtige Arbeit, aber sie war auch gerade besonders glücklich und zufrieden und wollte noch ein bißchen länger aufbleiben, um das Gefühl zu genießen. Seltsam war das, dachte sie, ein Haus neu einzurichten: Im Laufe ihres langen Lebens hatte sie das mindestens zwanzigmal getan, weil sie wegen des Berufs ihres Mannes oft hatten umziehen müssen. Das Haus hier war jedoch bestimmt das letzte, das sie einrichten mußte, denn aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie keine zwei Jahre mehr zu leben. Sie hatte ein schwaches Herz und schon zwei Herzinfarkte erlitten. Ein dritter würde sie umbringen, hatte ihr der Arzt ganz offen gesagt. Mrs. Lilybanks schätzte Offenheit, auch in solchen Fragen. Sie hatte ihr Leben genossen, ein ziemlich langes Leben, und war bereit für das Ende, wenn es kommen sollte.

Sie schlug das Bett auf, das Mrs. Hawkins am Nachmittag für sie bezogen hatte, ging ins Bad und nahm die beiden Tabletten (ihr Ritual vor der Nachtruhe), dann ging sie die Treppe hinunter und hielt sich dabei am Geländer fest. Sie fuhr mit der flachen Hand die noch nicht vertrauten Wände entlang, bis sie den Lichtschalter fand. Dann nahm sie die Taschenlampe und ging hinaus in den kleinen, über die Monate zugewachsenen Vorgarten, wo sie ein paar Stiefmütterchen pflückte. Sie stellte die Blumen in ein kleines Wasserglas, nahm das Glas mit nach oben und stellte es auf den Nachttisch. Dann putzte sie sich die Zähne – vorn waren es nach wie vor ihre eigenen, hinten dagegen hatten sechs Backenzähne gezogen werden müssen. Gebadet hatte sie früher am Tag, noch im Hotel in Ipswich.

Aber sie schlief nicht gleich ein. Sie dachte an ihre Tochter Martha in Australien, an ihre Enkelin Prissie, die nun in London wohnte – vermutlich sagte sie gerade zu ihren vielen jungen Freunden, die in ihrer Wohnung auf dem Boden saßen und Rotwein tranken: »Tja, heute hab ich Oma aufs Land gebracht, in ihr neues Haus. Oje! Findet ihr nicht, sie hat ihren Verstand verloren, so lieb sie auch immer ist? So eine alte Frau, ganz allein da draußen auf dem Land!« Insgeheim allerdings begrüßte Prissie die Entscheidung ihrer Großmutter und wollte, daß auch ihre Freunde sie guthießen – vielleicht wollte sie die alte Dame aber auch nur verteidigen, für den Fall, daß die anderen ihren Entschluß mißbilligen sollten. »Mrs. Hawkins kommt jeden Nachmittag vorbei, Prissie, sogar am Sonntag, auf eine Tasse Tee. Und wenn ich nicht mehr bin, bekommst du das Häuschen«, hatte Mrs. Lilybanks eines Nachmittags gesagt. Sie lächelte in der Dunkelheit. Die Einsamkeit machte ihr nichts aus. Freundliche Menschen waren niemals einsam, dachte sie; nach ihren vielen Auslandsaufenthalten war sie davon fest überzeugt. Mrs. Hawkins wollte sie einigen ihrer früheren Arbeitgeber in der Gegend vorstellen; Mrs. Lilybanks fand das reizend. Nebenan wohnte ein junges Paar, hatte Mr. Spark ihr erzählt, noch nicht sehr lange. Sie würde die beiden in ein paar Tagen zum Tee einladen. Diese Woche mußte sie in Framlingham noch das eine oder andere einkaufen, Topflappen etwa und Gardinenstangen. Das hieß, mit dem Taxi nach Blycom Heath zu fahren und dort den Bus zu nehmen. Frannegan oder nur Fran, so hatten die Leute in Suffolk Framlingham früher genannt, und vielleicht nannten die Bauern die Kleinstadt immer noch so …

 

Tags darauf um elf Uhr morgens hatte Mrs. Lilybanks ihre Teepause beendet und sich anschließend auf dem Sofa im Wohnzimmer kurz hingelegt; nun stand sie in der Küche und räumte das Geschirr weg, als Alicia Bartleby vorbeikam. Sie hielt einen Teller in den Händen, auf dem unter einer Papierserviette ein Viertel eines orangerot glasierten Kuchens lag.

Alicia stellte sich vor und sagte: »Ich würde ja zu gern behaupten, den Kuchen hätte ich selber gebacken, doch das wäre gelogen. Aber er stammt aus einer guten Bäckerei in Ipswich.«

Mrs. Lilybanks bat sie, Platz zu nehmen: Sie freue sich wirklich sehr, ihre neue Nachbarin so bald schon kennenzulernen; sie habe sich schon gefragt, wann es dazu kommen würde.

Alicia blieb lieber stehen. »Ich würde so gern Ihr Haus sehen – wenn es Ihnen nichts ausmacht, es mir zu zeigen, bevor Sie fertig eingezogen sind. Ich war noch nie in diesem Haus.«

»Ach, nein? Natürlich macht es mir nichts aus.« Mrs. Lilybanks ging zur Treppe. »Ich war davon ausgegangen, Sie hätten sich das hier auch angeschaut, als Sie Ihr Haus kauften.«

Alicia lächelte breit. »Man sagte uns, hier gäbe es noch einiges zu tun – Abflüsse, Heizungsrohre und solche Sachen –, deshalb wollten wir lieber ein Haus haben, das nicht gleich so teuer wird. Mein Mann und ich müssen mit unserem Geld haushalten. Wir drehen jeden Penny zweimal um.«

Drei Zimmer unten, drei Zimmer oben, dazu ein neues zweites Bad im ersten Stock. Die Einrichtung hatte Mrs. Lilybanks aus ihrer Londoner Wohnung mitgebracht, sagte sie, und die Möbel, ihre sichtbare Gediegenheit, ihre schiere Menge, brachten Alicia zu dem Schluß, daß es Mrs. Lilybanks finanziell nicht gerade schlechtgehen dürfte.

»Werden Sie hier alleine wohnen?« fragte Alicia.

»O ja. Alleinsein macht mir nichts aus. Ehrlich gesagt, mag ich das sogar«, gab Mrs. Lilybanks gut gelaunt zurück. »Fünfzehn Jahre ist das jetzt her, seit ich zuletzt ein Haus auf dem Lande hatte, damals in Surrey, mit meinem Mann. Und so dachte ich, das hätte ich jetzt gerne wieder.«

»Haben Sie ein Auto?« Alicia hatte keines gesehen.

»Nein, doch ich denke, mit dem Bus wird’s schon gehen. Und dann gibt es ja noch die Läden auf Rädern vom Fleischer und vom Obst- und Gemüsehändler, hat man mir gesagt.«

Sie standen in Mrs. Lilybanks’ Schlafzimmer. Im Licht der Morgensonne waren die vielen runzeligen Fältchen unter den Augen der alten Dame überdeutlich sichtbar; irgendwie faszinierten sie Alicia. Wie war es möglich, so alt zu werden, daß die Haut so faltig wurde, und trotzdem so strahlende junge Augen zu haben? Die Hände der alten Frau waren eher klein, aber flink und beweglich, nicht knorrig und verknöchert wie die manch anderer alter Leute. Ihre Fingernägel waren blaßrosa lackiert, an der linken Hand trug sie den Ehering sowie den Verlobungsring, wie die meisten verheirateten Frauen, und an der rechten einen Weißgoldring mit eingefaßtem Smaragd.

Mrs. Lilybanks musterte Alicia gleichzeitig, vermied es jedoch, sie anzustarren. Was sie sah, gefiel ihr: eine natürlich wirkende junge Frau, Mitte Zwanzig vermutlich, mit unverhohlener Neugier in den Augen, wie ein Kind – oder eine Malerin vielleicht, denn die alte Dame hatte auch den dunkelblauen Farbfleck auf der hellblauen Hose bemerkt.

Alicia fuhr herum, rastlos, wie sie war, und sah das Gemälde über dem Kaminsims. »Interessantes Landschaftsbild. Wo ist das?«

»Cannes«, sagte alte Dame. »Das habe ich eben erst aufgehängt. Einer meiner frühen Versuche.«

»Ach, Sie malen?« Fasziniert riß Alicia die Augen weit auf. »Ich auch. Ein bißchen. Nicht so strukturiert wie Sie. Meine Bilder sind eher ein Tohuwabohu.«

»Meine werden immer schlechter«, sagte Mrs. Lilybanks bestimmt, wenn auch mit einem Augenzwinkern. »Aber ich habe meine Malutensilien mitgebracht und hoffe, die neue Umgebung wird mich beflügeln. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

Sie gingen wieder nach unten, doch Alicia wollte keinen Tee.

»Falls wir Sie mal mitnehmen sollen, in unserem Wagen, dann rufen Sie einfach an, ja?« sagte Alicia. »Die Nummer ist vier-sechs-sechs. Ich bin fast immer zu Hause, mein Mann meistens auch.«

»Sehr freundlich von Ihnen. Ihr Mann ist auch Maler?«

»Nein, Schriftsteller. Er schreibt Geschichten. Gerade arbeitet er an einem Roman. Aber in letzter Zeit fährt er ungefähr einmal die Woche nach London zu einer Besprechung mit einem anderen Autor. Kein echter Schriftsteller, der Mann ist ein Freund von ihm, der eher nebenbei schreibt. Sie versuchen gerade, eine Serie ans Fernsehen zu verkaufen. Bislang ohne Glück.« Alicia lächelte so breit, als verkünde sie eine Sensation: »Mein Mann ist Amerikaner.«

»Ach, wie interessant! Wie gefällt es ihm in England?«

Alicia lachte. »Zumeist wohl ganz gut. Er lebt seit zwei Jahren hier. Nein, nicht ganz. Sein Name ist Sydney. Sydney Smith Bartleby, ist das nicht komisch? Sein Vater hatte aus irgendeinem Grund einen Narren an dem Namen Sydney Smith gefressen. Ich sage immer zu Syd, das einzig Englische an ihm wäre sein Name.«

»Was für Geschichten schreibt er denn?«

»Ach – keine mit richtiger Handlung. Wenigstens zur Zeit nicht. Seine ersten beiden Romane hatten noch mehr Handlung, aber nicht der, an dem er jetzt arbeitet. Die Planer heißt er, es geht um eine Gruppe von Leuten, die vorausplanen wollen, welche Erfahrungen sie machen, was sie auf der Welt erleben wollen, und dementsprechend ihr Leben führen. Klingt nach einem Roman mit einiger Handlung, aber er hat keine.« Alicia lächelte. »Und er konnte ihn bislang auch nicht verkaufen, obwohl der Text schon seit einem Jahr steht. Seine Drehbücher fürs Fernsehen haben natürlich Handlung, die sind gerammelt voll damit, doch bislang hatte er mit ihnen kein Glück.«

»Na ja, wahre Kunst braucht eben ihre Zeit. Er soll nicht den Mut verlieren.«

Alicia ging, nicht ohne zu versprechen, Mrs. Lilybanks sehr bald anzurufen (ihr Telefon war schon angeschlossen, die Nummer zwei-sieben-fünf) und zum Essen einzuladen.

Dann schlenderte sie beschwingt nach Hause, blieb unterwegs nur einmal stehen und bückte sich, pflückte am Straßenrand ein Gänseblümchen und zog den Stengel durch ein Knopfloch ihrer Bluse, betrat dann das Haus, lief die Treppe hinauf und berichtete Sydney von ihrer neuen Nachbarin.

Sydney stand am Fenster seines Arbeitszimmers und rauchte eine Zigarette. Die Tür stand einen Spalt offen, darum klopfte sie nicht an wie sonst.

»Also, sie ist sehr nett. Gar nicht steif und altmodisch, sie hat sogar Humor, glaub ich. Und sie malt. Das eine Bild war gar nicht schlecht. Aber ich habe auch nur eines gesehen. Sie lebt tatsächlich ganz allein. Hat mich ziemlich überrascht.« Alicia war eigentlich nicht sonderlich überrascht, weil beide nichts von einem zweiten Bewohner im Haus der alten Dame gehört hatten, aber ihr Bericht von dem Besuch fand offenbar wenig Interesse bei Sydney, dessen Gleichgültigkeit und Verärgerung darüber, beim Nachdenken gestört worden zu sein, offenkundig war. »Ich mochte sie wirklich richtig gern.«

»Gut«, sagte Sydney. »So, so, sie malt …« Er warf den Bleistift auf seinen überquellenden, tintenbeklecksten Arbeitstisch, auf dem eine Schreibmaschine stand: In ihr steckte ein leeres, weißes, erwartungsvoll schimmerndes Blatt Papier. »Hmm. Wohl nur das Steckenpferd einer alten Dame. Sieht so aus, als hätte sie jede Menge Geld.«

Am Nachmittag fuhr Alicia nach Framlingham zum Einkaufen; sie kam erst um fünf zurück, weil sie bei Carley & Webb (dem Lebensmittelladen, wo die Bartlebys oft ellenlange Rechnungen auflaufen ließen, die dort geflissentlich ignoriert wurden) Elspeth Cragge über den Weg gelaufen war: Die beiden hatten mehr als eine Stunde in einem Café gesessen und geredet. Elspeth war Australierin, mit einem Engländer verheiratet und erwartete in drei Monaten ihr erstes Kind. Ihr sich rundender Bauch weckte in Alicia wieder die unbestimmte Sehnsucht nach einem eigenen Kind, aber ihre finanzielle Lage ließ das zur Zeit nicht zu – und, was wichtiger war, sie war sich nicht sicher, ob Sydney ein guter Vater sein könnte, ja nicht einmal, ob ihre Ehe von Dauer sein würde. Alicia wollte ein Kind, doch ab und zu kam ihr ein furchtbarer Gedanke: Ich will ein Kind, aber will ich es wirklich mit Sydney? Merkwürdig, etwas so Schlimmes zu denken und gleichzeitig ziemlich verliebt in ihn zu sein und gerne mit ihm zu schlafen. Und verliebt zu sein bedeutete, keine Frage, daß seine Fehler ihr nicht viel ausmachten – oder ausmachen sollten. Das alles ging in ihr ziemlich durcheinander, weshalb sie auch nur selten darüber nachdachte. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte sie, also wartete sie auf eine Veränderung, zum Besseren oder zum Schlechteren.

Sydney kam die Treppe herunter, als Alicia gerade die letzten Lebensmittel wegräumte. »Ich schicke Alex den Kram mit der Post morgen früh und bitte ihn, Samstag herzukommen, wenn du nichts dagegen hast. Das heißt natürlich: er plus sie plus eine Übernachtung, aber ich will verdammt sein, wenn ich wegen dieser Geschichte noch einmal nach London pendeln muß.«

»Natürlich hab ich nichts dagegen, Syd.« Dabei dachte sie schon an das Problem mit der Bettwäsche und daran, daß sie den Freitag dann mit Putzen verbringen mußte – Hittie war nicht gerade pedantisch, doch die Wohnung der Polk-Faradays war immer ordentlicher als ihr Haus. Und an das üppige Dinner mit Fleisch, das sie würde kochen müssen, weil Alex und Hittie so gute Esser waren.

»Wenn wir dieses Ding am Wochenende nicht fertigkriegen, dann zum Teufel damit. Und ich werde mir anschließend wohl was Neues ausdenken müssen.« Er warf den gelben Stift in Richtung Ablauf der Spüle, als sei sie sein Schreibtisch – und als wolle er nie wieder einen Bleistift zur Hand nehmen.

Alicia kannte diese Geste, das ruckartige Drehen des Handgelenks, den mehrfachen Salto des Bleistifts, der anschließend still und ruhig dalag. Sie hatte nie bewußt wahrgenommen, wie er einen Stift zur Hand nahm, und doch hatte er anscheinend immer einen, den er wegwerfen konnte. »Natürlich freue ich mich auf die beiden«, sagte Alicia und lächelte flüchtig.

3

Alicia nutzte die Gelegenheit und lud Mrs. Lilybanks für den Samstag zum Dinner gleich mit ein: Wenn sie schon so viel kochen mußte, machte ein Gast mehr auch nichts aus; außerdem dachte sie, die alte Dame werde sich freuen, nach fast einer Woche Alleinsein neue Gesichter zu sehen.

Die Polk-Faradays trafen am Samstag um drei ein, eine Stunde später als angekündigt, allerdings hatten sie unterwegs noch zu Mittag gegessen und einige Mühen gehabt, die Kinder in die Obhut ihrer Babysitterin zu geben. Lucy arbeitete sonst nur halbtags für sie.

»Sie hat zu Hause kein Telefon«, sagte Alex, »deshalb mußten wir etliche Leute anrufen, die sie schließlich benachrichtigt haben – und dann mußte Lucy noch packen und zu uns kommen.«

»Gestern war sie nämlich nicht gekommen«, ergänzte Hittie erklärend. »Ein Krankheitsfall in der Familie oder so.« Hittie war eine junge Frau mit einem runden Gesicht und glattem blondem, schulterlangem Haar. Mit ihrer Ponyfrisur sah sie aus wie eine blonde Chinesin.

»Na, jetzt seid ihr ja da«, sagte Alicia. »Einen Drink? Kaffee, Tee?«

»Ach nein, nichts, meine Liebe.« Alex breitete die Arme aus und legte den rechten Arm um sie, nur kurz allerdings. Er war groß, hatte dunkles Haar, große braune Augen, blasse Haut und leichtes Übergewicht. »Ist so wunderbar, auf dem Lande zu sein und die frische Luft zu atmen! ›Ach, im April wohl in England zu sein …‹ Nur daß wir schon Mai haben. Was dagegen, wenn ich mein Jackett ablege?«

Sydney kam die Treppe herunter, nachdem er die Reisetasche der beiden ins Gästezimmer gebracht hatte. »Was soll denn das? Keine Drinks?« fragte er aufgeräumt. »Seid ihr jetzt etwa bei den Anonymen Alkoholikern?«

»Nein, es ist nur, weil …« – Alex zwinkerte Alicia zu – »… wir heute nachmittag unseren rasiermesserscharfen Verstand anstrengen müssen, um diese Geschichte noch vor Sonnenuntergang in die richtige Form zu bringen.«

»Oder uns bei Sonnenaufgang zu erschießen«, sagte Sydney.

»Ja. Ich dich und du mich, gleichzeitig.«

Um fünf waren Sydney und Alex noch nicht weit gekommen, obwohl Sydney spürte (was niemals ausblieb, wenn er mit Alex an einer Idee arbeitete), daß die Geschichte etwas Greifbares und Wichtiges hinzugewonnen hatte, schlicht und einfach, weil sich ein zweiter Kopf mit ihr beschäftigte. Er wußte aber auch, daß dieses Gefühl unbegründet war.

Eine fette Amsel pickte im Gras vor ihm herum. Irgendwo versuchte ein anderer Vogel, der »Blow the Man Down« hatte zwitschern wollen, sein Glück noch einmal. Sydney fragte sich, was das für ein Vogel sei. Vielleicht eine Lachmöwe, ha ha. Ihn fröstelte unter dem Pullover, als die Sonne hinter einer Wolke verschwand. Und er langweilte sich zu Tode, hätte auf der Stelle einschlafen können: Sie brauchten ein Wunder, mindestens, nur dann würden sie weiterkommen, eine zündende Plot-Idee finden, die einem in Sekundenschnelle durch den Kopf schießen, aber der lebenspendende Funke für die ganze Story sein konnte. Daran dachte er und lauschte dabei Alex’ näselndem Oberschichtakzent. (»Mo-ment mal, ja? Nicky weiß doch nicht, daß das Mädchen den Juwelier kennt, oder? Warum sollten wir, warum sollte er davon ausgehen, daß sie ihn wiedererkennen würde?«) Und während Sydney noch antwortete, wurde er rot vor Scham über den eigenen Lapsus als Schriftsteller, war ihm doch eine abgedroschene Phrase wie »lebensspendender Funke« in den Sinn gekommen. Außerdem hatte er Angst, nie wieder solch eine Idee zu haben, weswegen der Ausdruck vermessen schien – nur ein Autor, dem solche zündenden Ideen gelegentlich noch kamen, durfte solche Worte denken. Er hatte die Schnauze gestrichen voll von Nicky Campbell, und er fragte sich, woher Alex die Begeisterung für noch einen und immer noch einen Anlauf nahm. Tja, Alex hatte eben einen festen Arbeitsplatz und schlug sich nicht die Hälfte seiner Zeit mit solchem Kram herum, nur ein Zehntel etwa. Außerdem war Alex scharf darauf, zusätzlich Geld zu verdienen. Von seinen wohlhabenden Eltern bekam er nichts, weil sie aus irgendeinem Grund, den Sydney vergessen hatte, sowohl seine Ehe als auch seine schriftstellerischen Versuche mißbilligten. Die Eltern hatten eine Firma in Cornwall, der sich Alex, wäre es nach ihnen gegangen, mit Leib und Seele verschrieben hätte. Zugleich trieben sie Alex an, mehr Geld zu verdienen, wenn er denn eine große Familie gründen wolle. Alex hatte Sydney von seinen Eltern erzählt, lachend zwar, doch sichtlich erschüttert von ihren Worten. Sydney setzte den ruhigen Austausch mit Alex über ihre Geschichte fort, träumte dabei aber in der Sonne vor sich hin, bis er weder bei Alex noch in seinem Tagtraum war, sondern irgendwo dazwischen, an einem Ort oder in einem Zustand der Leere, des Nichts.

Er dachte an seinen Vater, an den er sich kaum noch erinnerte, weil der Mann gestorben war, als Sydney neun war. Sydney schüttelte kurz den Kopf, als ob er erschaudern müsse. Seine Mutter hatte den Vater verlassen, als Sydney sechs war; danach hatte er den Mann nur noch ein halbes dutzendmal gesehen, wußte aber, daß sich sein Vater als Bühnenautor versucht hatte, nebenbei, während er den ganzen Tag als Geschäftsführer mehrerer Theater in Chicago arbeitete. Geld hatte er mit seiner Arbeit an den Theatern nie verdient und nur ein einziges Stück geschrieben, Der Schneemann, das tatsächlich gedruckt worden war – und das auf eigene Kosten. Oft mußte Sydney denken, daß er zu der Mittelmäßigkeit seines Vaters verdammt war, zum Versagen verurteilt und doch auch geschlagen mit dessen Drang, etwas zu schreiben, das die Welt lieben und in Ehren halten, etwas, das ihn unvergeßlich machen würde, mindestens für die nächsten hundert Jahre und hoffentlich für immer. Wenn Sydney so dachte, waren das sinnlose Augenblicke der Kälte und Leere, die ihm angst machten. Dann kam ihm alles unwirklich vor – sein jetziges Leben hier in England; seine Ehe mit einem englischen Mädchen, das Sorgen nicht zu kennen schien, selbst wenn es nicht gut lief; ja sogar das Haus, in dem sie wohnten, mit den tückischen Wasserhähnen und Spülungen, den nur allzu wirklichen schrägen und wunderhübschen Holzbalken, an denen er sich beinah jeden Tag den Kopf stieß; die englische Erde unter seinen Fingernägeln, wenn er im Garten arbeitete; selbst Alicias Schnarchen, das seinen Schlaf etwa einmal in der Woche störte – unwirklich wie ein Bühnenstück, das er sich ausgedacht hatte. Kein sehr gutes Stück. Vor allem aber fragte er sich, was er hier verloren, warum er nicht irgendein anderes Mädchen geheiratet hatte (obwohl er Alicia zu lieben glaubte und halbwegs verliebt in sie war) – oder ob er überhaupt eine Frau in seinem Leben brauchte. Sydney spürte, daß er hinter seinen Möglichkeiten zurückblieb, hatte aber oft nicht die geringste Ahnung, wie er mehr aus sich machen könnte. Und darum blieb er bei der vertrauten Methode: schlicht und einfach harte Arbeit.

Ich mag das nicht, dieses Grübeln im Freien, dachte Sydney auf einmal. Ärger stieg in ihm auf und riß ihn aus seiner Trance. Fast hätte er den Satz laut zu Alex gesagt.

»Gehen wir das Ganze noch einmal durch«, sagte Sydney. »Folge für Folge.«

Manchmal half das, der Sache Schwung und die richtige Richtung zu geben, aber als Sydney dann die sechste Episode mit Hilfe seiner Notizen nacherzählte, war er einfach nur noch erschöpft, auch wenn Alex meinte, das sehe alles schon besser aus.

»Viel besser, auf jeden Fall«, wiederholte Alex.

Inzwischen waren sie reif für einen Scotch mit Soda.

Kurz vor sieben zog Sydney sich um (sogar mit Krawatte), denn Alicia würde das freuen, wegen Mrs. Lilybanks. Alex trug zum Dinner natürlich stets eine Krawatte, man konnte sich ihn beim Essen gar nicht ohne vorstellen, es sei denn, er läge todkrank darnieder – dann allerdings würde er nichts essen. Sydney erinnerte sich, daß Alex an einem heißen Tag im letzten Sommer bei einem Picknick eine Krawatte getragen hatte.

»Soll ich hinübergehen und Mrs. Lilybanks holen?« fragte Sydney seine Frau, als alle vier zufällig zusammen in der Küche standen.

»Das wäre nett, Liebling. Jetzt gleich, es ist Zeit.«

Sydney stellte seinen Drink ab, ging hinaus und marschierte, noch in Tennisschuhen, hinüber zum anderen Haus. Mrs. Lilybanks’ Pforte quietschte. Er zögerte, ging dann nicht seitlich herum zur Küchentür, sondern zur Haustür vorn – sie wurde sicher öfter benutzt, dort würde die alte Dame ihm eher aufmachen. Er pochte mit dem Türklopfer, einem schweren Messingring. Der Ring war frisch poliert.

Mrs. Lilybanks öffnete die Tür.

»Guten Abend. Sydney Bartleby.« Er lächelte. »Ich dachte, ich hole Sie ab.«

»Ach, wie nett von Ihnen! Kommen Sie doch herein!«

Mrs. Lilybanks war offenbar ausgehfertig: Sie trug einen breitkrempigen Hut und einen dunkelblauen Fransenschal, den sie auffällig über die Schultern und einen Arm drapiert hatte. Sydney sagte, wenn sie schon fertig sei, könne er vor dem Haus warten, also kam die alte Dame heraus und zog die Tür hinter sich zu. Sie schloß nicht ab.

Sydney öffnete die quietschende Pforte für sie.

»Muß die mal ölen«, murmelte Mrs. Lilybanks. »Das ist so schlimm, das verschreckt ja die Vögel. Mögen Sie Vögel?«

»Ja. Ich weiß nur nicht viel über sie.«

»Sie sind Schriftsteller? Ihre Frau hat mir das erzählt.«

»Ja. Und Sie malen.«

»Ich bin eine Sonntagsmalerin. Eine meiner kleinen Freuden«, sagte sie. Das klang, als habe sie viele.

Im Wohnzimmer stellte Alicia der alten Dame Alex und Hittie vor, dann mixte Sydney für Mrs. Lilybanks einen schwachen Scotch mit Soda. Sie hatte sich für den Whisky entschieden, als sie zwischen Gin, Scotch und Sherry wählen sollte – zu Alicias Erleichterung, denn der Sherry, den sie gerade im Haus hatten, war eine ekelhafte Billigmarke, und sie hatte befürchtet, Mrs. Lilybanks würde den nehmen.

»Wo in London wohnen Sie?« fragte die alte Dame Hittie. Sie sagte es ihr, und die Unterhaltung plätscherte mühelos dahin; erst redeten sie über Kensington, Mrs. Lilybanks’ ehemaliges Wohnviertel, dann über Hitties Kinder.

Alicia ging nach dem Braten und dem Yorkshire-Pudding sehen; Sydney machte den Salat, öffnete den Wein und löffelte Senf in das Senftöpfchen mit dem Silberdeckel, einen der wenigen Gegenstände von Wert unter ihren Küchenutensilien. Sydney war jetzt bester Stimmung, er sang mit ganz passabler Stimme, allerdings nicht zu laut, eine seiner Parodien beliebter Lieder.

»Sch-sch!« mahnte ihn Alicia stirnrunzelnd und wies in Richtung Wohnzimmer und Mrs. Lilybanks, denn ein paar der Wörter, die er dazugedichtet hatte, waren alles andere als stubenrein.

»Dann eben ›Die Pflaume‹, ja?« fragte er.

Ich pflückte eine Pflaume im morgenfrischen – Tau!

Ich pflückte eine Pflaume wohl in der Wiesen – Au!

»Syd, sie wird glauben, du hast den Verstand verloren! Sie kennt das Lied doch sicher!« Leiser sang Sydney weiter, Alicia nicht aus den Augen lassend:

Ich pflückte eine Pflaume, ich pflückte sie im Nu,

Ich pflückte eine Pflaume, und diese warst dann du-huu-huuu!

»Schade um mein herrliches Tremolo.« Sydney zuckte die Achseln. »Mit meinem Text wäre dieser Song zigmal so bekannt geworden und stünde in der Operette dort, wo er hingehört – neben den besseren Arien von Gilbert & Sullivan. Natürlich nur, um sie dann von ihrem Platz zu verdrängen.«

Alicia lächelte nachsichtig. Sie wünschte, er möge um zehn Uhr morgens auch so viel Selbstvertrauen zeigen.

Sydney mußte gerade denken, daß hinter Alicias biederer Wohlanständigkeit nicht gerade ein großer Geist steckte: Es gab Themen, die er sonst mit ihr gerne besprochen hätte, wichtige Themen, über die er schreiben wollte – doch das ging nicht, weil sie nicht an ihnen interessiert war. Als er sie kennenlernte, hatte er gedacht, nur weil sie Engländerin sei und mit Oberschichtakzent spreche …

»Ich mache mir Sorgen, daß das Fleisch nicht durchgebraten ist«, flüsterte Alicia. »Habe vergessen, wann ich den Braten hineingeschoben habe. War das um sieben oder um Viertel nach?«

Sydney lehnte in der Tür zum Eßzimmer und fragte: »Pardon, Mrs. Lilybanks, aber wie mögen Sie Ihr Roastbeef? Blutig?«

Mrs. Lilybanks sah auf und lächelte: »Ja, sehr gern.«

»Gut. Dann wird es auch so sein.« Darauf, zu Alicia: »Maschinen stopp, bitte. Wir alle mögen es blutig … Mrs. Lilybanks, darf ich Ihnen nachschenken?« Er trat vor und streckte die Hand nach ihrem Glas aus, doch die alte Dame zog es zurück.

»Ach nein, danke vielmals. Einer reicht mir.«

Sie versammelten sich um den Tisch, die Polk-Faradays hielten sich an ihren immer noch halbvollen Gläsern fest. Sydney tranchierte das Fleisch, während Alicia wie gewöhnlich, nachdem sie sich gesetzt hatte, einen prüfenden Blick auf den Tisch warf und feststellte, daß zwei Dinge fehlten: ein Buttermesser und ein fünfter Brotteller (den sie unter einer Topfpflanze auf dem Fensterbrett in der Küche hervorholen und abwaschen mußte). Sie mußte zweimal gehen. Aber die Teller waren heiß genug und blieben warm; alle nahmen sich nach, und die Polk-Faradays meinten, beim Salat habe sich Sydney selbst übertroffen.

»Der Rosmarin kommt, ehrlich gesagt, frisch aus einer Packung«, sagte Sydney bescheiden, dabei stammte er aus dem Garten.

Alex und Hittie fragten Mrs. Lilybanks nach ihrem neuen Haus und warum sie beschlossen habe, aufs Land zu ziehen. Sie antwortete: »Nur zum Vergnügen und zur Abwechslung«, und fuhr fort, sie habe eine Tochter in Australien, Martha, und eine Enkeltochter, Prissie, die Schauspielerin werden wolle und in London lebe, mit fünf anderen jungen Leuten in einer großen Wohnung in Chelsea. Mrs. Lilybanks hatte ein paar lustige Geschichten über den unkonventionellen Lebensstil ihrer Enkelin zu erzählen – einmal hatten Prissie und ihre Freunde einen jungen Mann mit einem Seil vom Bürgersteig bis zu einem Fenster seiner Wohnung im ersten Stock hochgezogen (er hatte sich ausgesperrt), und nach dieser Erzählung lächelten alle entspannt und fanden, für ihr Alter sei Mrs. Lilybanks noch ungewöhnlich »gut dabei«.

Sydney spürte bei dem Gedanken eher Neid als Freude. Er war neunundzwanzig, und neben vielem anderen, fand er, hatte er auch seine Jugend verpaßt. Er hätte viel, viel mehr von der Welt sehen können als bloß Archangelsk mit einem Handelsschiff und die Städte Europas, die jeder besuchte. Und nun, da er verheiratet war, konnte er das nicht mehr nachholen. In der Ehe wurde man anscheinend automatisch arm, selbst wenn man ein durchaus wohlhabendes Mädchen geheiratet hatte. Als Alleinstehender war es nebensächlich, wenn man kein Geld hatte; man konnte trotzdem manches unternehmen. Aber ein verheirateter Mann war ein bankrotter Mann, ruiniert, was Geist und Geld anging.

Alicia versuchte gerade, zuviel Geschirr auf einmal abzuräumen – ein Weinglas rutschte vom Tellerstapel und zersprang auf dem Terrakottaboden der Küche. Wütend fuhr Sydney am Herd herum, wo er die Kaffeekanne gefüllt hatte, und funkelte seine Frau zornig an.

»Herrgott, das Wievielte war das jetzt? Das fünfte? Oder schon das zehnte?« Ein Bild stand ihm schmerzhaft vor Augen: bloße Füße, die in scharfkantige Glasscherben traten; dabei waren weder Alicia noch er jemals auf den Steinen barfuß gelaufen, und der Staubsauger würde noch den kleinsten Splitter entfernen.

Alicia unterdrückte ein kurzes Kichern – sie mußte immer kichern, wenn ihr ein Fehler oder ein Mißgeschick unterlaufen war. »Tut mir leid, Liebling, wenn ich dich erschreckt habe. Zwei Gläser kosten einen Shilling und Sixpence beim Gemischtwarenhändler in Fram. Nicht gerade Antiquitäten.«

Sydney warf einen Blick ins Eßzimmer: Mrs. Lilybanks, die gerade mit den Polk-Faradays vom Tisch aufstand, hatte alles mitbekommen. Die alte Dame schenkte ihm ein dünnes Lächeln. Sydney nahm sich zusammen und gab sich den Rest des Abends über gesellig und gut gelaunt. Auf Mrs. Lilybanks’ Fragen nach seiner Arbeit antwortete er mit einer Zusammenfassung der Serie, mit der Alex und er sich gerade herumschlugen – ein Kurzvortrag, der ihm selber mehr brachte als die Zweieinhalbstundensitzung mit Alex am Nachmittag.

»Vielleicht fehlt Ihnen ein Überraschungsmoment«, sagte Mrs. Lilybanks, nachdem Sydney bemerkt hatte, er sei noch keineswegs zufrieden damit. »Zum Beispiel, daß die erste Tätowierung nicht echt ist. Die des Toten. Eine falsche Tätowierung, nur Ölfarbe auf seiner Haut. Natürlich weiß ich nicht, wie es dann weitergehen soll.«

»Sie haben recht, wir brauchen etwas Unerwartetes. Ich denke darüber nach … Eine unechte Tätowierung, nur Ölfarbe …«

Alicia hatte Sinatra aufgelegt, die Polk-Faradays tanzten. »Ich hoffe, die laute Musik macht Ihnen nichts aus, Mrs. Lilybanks.« Alicia beugte sich besorgt über sie. »Wir wollten ja nach draußen gehen, auf den Rasen – wir haben ein Verlängerungskabel. Aber es hat gerade angefangen zu regnen.«

Mrs. Lilybanks sagte, das mache gar nichts.

»Möchten Sie vielleicht tanzen, Mrs. Lilybanks?« Sydney sprang auf und stand neben ihrem Sessel. »Das ist ein schönes Lied.« Ein langsames, sentimentales Liebeslied.

»Nein, danke. Mein schwaches Herz, leider …«, erwiderte die alte Dame. »Deshalb krieche ich ja auch so langsam wie eine Schnecke. Auf diese Weise werde ich wahrscheinlich alle meine Bekannten überleben.« Sie war sicher, daß die laute Musik die Hälfte ihrer Worte übertönt hatte.

Sydney nahm Alicia in die Arme, und sie begannen zu tanzen, glitten langsam über das blanke Holz des Fußbodens. Alicia hatte den Teppich zurückgerollt. Ein stark abgenutzter Perser, bemerkte Mrs. Lilybanks: Wahrscheinlich hatte das Paar ihn nur deshalb gekauft, weil er in das quadratisch geschnittene Wohnzimmer paßte. Unauffällig musterte sie die vier jungen Leute; keinen sah sie länger an als wenige Sekunden, und dabei rauchte sie die letzte von vier Zigaretten, die sie sich täglich gestattete. Sydney war der nervöse Typ, womöglich läge ihm die Schauspielerei mehr als das Schreiben. Sein Gesicht konnte das ganze Auf und Ab seiner Gefühle ausdrücken, und wenn er lachte, dann richtig – ein Lachen, das tief aus dem Bauch kam. Schwarzes Haar und blaue Augen, wie bei manchen Iren. Aber glücklich war er nicht, das sah sie. Geldsorgen vielleicht. Alicia war viel unbeschwerter, sie hatte etwas von einem verwöhnten Kind, doch wahrscheinlich war sie letzten Endes genau die Frau, die er brauchte. Die Polk-Faradays allerdings paßten noch besser zusammen, sie schienen sich geradezu anzubeten und schauten einander gerade tief in die Augen, als hätten sie sich eben erst kennengelernt und wären noch frisch verliebt. Und dabei zogen sie drei kleine Kinder groß – Kinder, die Kinder großziehen, dachte Mrs. Lilybanks. Allerdings waren Clive und sie bei der Geburt ihrer beiden auch nicht älter gewesen …

Unbemerkt stand sie auf und ging die Treppe hoch, auf der Suche nach einem WC. Unterwegs kam sie an Sydneys Arbeitszimmer vorbei, einem düsteren Raum ohne Bilder mit einem selbstgeschreinerten Bücherregal an der einen Wand und einer Arbeitsplatte auf Böcken als Schreibtisch – darauf eine grüne Schreibmaschine, ein Wörterbuch, Bleistifte, ein Stapel Papier, dahinter ein Fenster ohne Gardinen. Ein zusammengeknülltes Blatt war neben dem Papierkorb auf den Boden gefallen. Das Schlafzimmer wirkte heiterer, und da die Tür offenstand, blieb Mrs. Lilybanks kurz stehen und warf einen Blick hinein: ein durchgelegenes Doppelbett mit blauer Tagesdecke, an der Wand darüber, schräg aufgehängt, ein Banjo oder eine Mandoline, die Tapete gestreift mit violettem Beerenmuster, abstrakte Gemälde von Alicia, eine Kommode, ein Stuhl, darauf eine Hose, achtlos hingeworfen. Auf der Kommode ein großer Plüschhase, wie auch Prissie aus Kindertagen noch einen hatte, und ein hochwertiger Spiegel mit Silberrahmen. Mrs. Lilybanks ging ins Bad, das zwischen Sydneys Arbeitszimmer und dem Schlafzimmer lag. Dort zogen die purpurroten Handtücher mit einer einzigen großen, gelben Blume darauf ihren Blick an, der dann weiterwanderte zu dem Zeitungsfoto an der Wand (von der Titelseite des Observer, meinte sie sich zu erinnern, etwa ein Jahr alt): Das Foto zeigte eine Gruppe von Schülern einer vornehmen Privatschule mit diesen steifen Strohhüten auf dem Kopf und Regenschirmen in der Hand. Einer sagte etwas, in einer eingezeichneten Sprechblase, und als Mrs. Lilybanks die Worte las, fuhr sie zusammen, wurde rot und mußte dann lächeln. Ziemlich witzig, zugegeben. Sie wusch sich über dem Waschbecken die Hände, während ihr Blick das Durcheinander aus Fläschchen und Dosen auf dem Glasregal unter dem Arzneischränkchen streifte: Parfüm, Aspirin, Jodtinktur, Deodorant, Nagellack, ein Rasierpinsel, Puder, Shampoo, Nelkenöl gegen Zahnschmerzen, Tabletten gegen Durchfall – wie ein Modell Manhattans mit seinen Wolkenkratzern, dachte sie. Und bestimmt war das nur der Rest, der nicht mehr in das durchaus geräumige Schränkchen darüber gepaßt hatte. Mrs. Lilybanks ging wieder nach unten; man hatte sie vermißt und drängte sie nun, einen Likör oder noch eine Tasse Kaffee zu trinken, doch sie lehnte ab.

»Ich bleibe noch zehn Minuten, länger nicht, dann muß ich gehen, danke«, sagte sie.