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Welch wunderliches Erlebnis, zur Erbin des »grauen Alltags« ernannt zu sein! In unserer Familie ist seit Generationen ein Suchen nach Licht gewesen, ein Hunger nach Freuden und Sonntagen. Und ein Durst nach Arbeit, Pflichterfüllung und schöner Ruhe. Was fange ich mit dem grauen Alltag an? Zu lesen steht es in dem großen, gelben Aktenbogen, der sich auf meinem altmodischen Schreibtisch breitmacht. Das steife Papier rollt sich eigenmächtig auf und wieder zusammen. Dann gibt es einen knisternden Knack: »Ich bin hier,« sagt dieses Knistern, »du schaffst mich nicht aus der Welt, auch nicht wenn du den Kopf in den alten Sorgenstuhl einwühlst. Vogelstraußpolitik? Schäm' dich!« Und des Holzwurms Ticken und Bohren, der im Innern des Schreibtisches rumort, klingt wie Entrüstung. Der gelbe Aktenbogen sagt: »Laut Testament der Erblasserin ist Freiin Jesuliebe-Brigitte v. Lage in Erfurt (Thüringen) die Universalerbin des grauen Alltags.«
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Seitenzahl: 309
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Roman
von
Felicitas Rose
Welch wunderliches Erlebnis, zur Erbin des »grauen Alltags« ernannt zu sein! In unserer Familie ist seit Generationen ein Suchen nach Licht gewesen, ein Hunger nach Freuden und Sonntagen. Und ein Durst nach Arbeit, Pflichterfüllung und schöner Ruhe. Was fange ich mit dem grauen Alltag an? Zu lesen steht es in dem großen, gelben Aktenbogen, der sich auf meinem altmodischen Schreibtisch breitmacht. Das steife Papier rollt sich eigenmächtig auf und wieder zusammen. Dann gibt es einen knisternden Knack: »Ich bin hier,« sagt dieses Knistern, »du schaffst mich nicht aus der Welt, auch nicht wenn du den Kopf in den alten Sorgenstuhl einwühlst. Vogelstraußpolitik? Schäm’ dich!« Und des Holzwurms Ticken und Bohren, der im Innern des Schreibtisches rumort, klingt wie Entrüstung. Der gelbe Aktenbogen sagt:
»Laut Testament der Erblasserin ist Freiin Jesuliebe-Brigitte v. Lage in Erfurt (Thüringen) die Universalerbin des grauen Alltags.«
Die Erblasserin ist vor 25 Jahren meine Taufpatin gewesen. Sie war weitläufig mit uns verwandt, »von sieben Suppen eine Schnitte«, wie der Volksmund sagt. Aber gerade diese eine Schnitte hat trotz ihres wunderlichen Beigeschmackes meinen Eltern immer gemundet. – Trotzdem dachte niemand von uns Thüringer Lages an den grauen Alltag. Da kam Tante Jesuliebe einmal drunten von der holländischen Grenze zu uns nach Erfurt. Wie ein altes Bild. Als ob die Zeit stehengeblieben sei, oder als ob die Biedermeierkleidchen, die sie als Kind getragen, mit ihr zugleich gewachsen seien: Die Eltern schickten sich in großer Feierlichkeit an, Tante Jesuliebe in »Gückels Staatswagen« abzuholen, während ich mich dem Mitfahren geschickt entzog und lieber hinter einem Pfeiler an Silbers Hotel versteckt die Ankommende beobachten wollte. In diesen Vorbereitungen stöberte mich ein wunderliches Lebewesen auf, indem es mir einen riesengroßen, roten Regenschirm reichte, wie ihn die Bauern an Markttagen über sich spannen. Dazu schrie es mich an: »Was lungerst und kuckst du? Siehst du nicht, daß es regnet? Spann’ mir den Schirm auf, nimm mir einen Teil Sachen ab, und dann zeig’ mir das schöne, alte Erfurt.« Ihre durchdringenden, grauen Augen sahen mich so stolz und heischend an, daß ich, in altväterischem Gehorsam erzogen, keinen Widerspruch wagte, sondern das Schirmungetüm öffnete. – Darauf hing sie noch an meinen linken Arm ein Marktnetz, das mit einem Zeitungspapier ausgelegt war: »Nachrichten aus der Grafschaft Bentheim.« Bepackt war es mit Haar- und Kleiderbürsten, mit Kämmen, Zahnbürste, Seife und Schwämmen bis oben hin. Sie selbst trug eine große, mit roter Wolle gestickte Reisetasche, die den preußischen Adler in schwarzweißen Perlen zeigte. Auf der Rückseite war in gelber Seide riesengroß »Bon voyage« gestickt. So zogen wir durch Erfurt und hatten ein großes Gefolge hinter uns von Schuljugend und kopfschüttelnden und lachenden Müßiggängern. Ich kam aber gar nicht zum »Schenie«, wie der Erfurter sagt, denn meine Unbekannte erzählte so herrliche Geschichten von jedem alten Hause, von jeder lutherischen oder katholischen Kirche, daß ich ganz glückselig zuhörte und schließlich meinte, sie müsse ja wohl in Erfurt geboren sein, was denn auch der Wahrheit entsprach. »Vor 200 Jahren«, rief sie pfiffig. Und dann standen wir schließlich vor dem alten Kloster, darinnen mein Vater seine Amtswohnung hatte, und die alte Dame meinte, just dahinein wolle sie, und es schiene ihr beinahe, als sei ich ihr Patenkind Brigitte-Jesuliebe Lage. – Oben fanden wir Vater und Mutter und die alte Köchin recht mißmutig vor, da die Großtante nicht angekommen sei.
»Lieber Herr Vetter, ich fahre nicht gern im Wagen rasch nach Hause, sondern mache in jeder Stadt gern einen kleinen Umweg zu Fuß«, bedeutete ihm damals der unverhoffte Gast. Der »kleine« Umweg hatte zwei und eine halbe Stunde gedauert, und ich hatte den Krampf in beiden Armen. Aber lustig war’s gewesen, und die alte Marie kochte frischen Kaffee, und die Thüringer »Kräpfel, Wuchteln und Maulschellen«, das Erfurter Eigengebäck, bildeten gleich das Abendbrot.
Großtante Lage aß 15 Stück davon, nahm immer nach je dreien einen Löffel Bullrichsalz und ging dann gleich hochbefriedigt zu Bett. –
Der rote Regenschirm von der Großtante ist schuld, daß ich Erbin des grauen Alltags bin. Mit dem roten Regenschirm hat sie alljährlich der Reihe nach ihre Neffen und Nichten erprobt, die weit näher als wir mit ihr verwandt waren. In Bayern, in Schlesien, in Pommern, in Württemberg und in Holland war sie, aber überall hatte sich die Jugend geweigert, mit ihr und dem Schirm durch die Straßen zu ziehen. Viel Grobheit und Verlachen und eitel schnippische Antworten sind ihr zuteil geworden; weiß nicht, welch guter Engel gerade damals über mir wildem, unbotmäßigem Ding gewacht hat, daß ich meine spottlustige Zunge im Zaume hielt. – So wurde es für mich wahrhaft eine »bon voyage«. Herzlieber, guter, alter Regenschirm, hab’ Dank! Du ließest mich einen Menschen finden und gabst mir eine Heimat!
Heute erhielt ich einen Brief von einem der übergangenen Erben. Er lebt in Holland in überreichen Verhältnissen und scheint glücklich zu sein, den grauen Alltag nicht geerbt zu haben. Er redet mich »Verehrte Regenschirmbase!« an, ist also auf dem laufenden. – Von Herzen wünscht er mir Glück zu der Erbschaft, teilt mir mit, daß er nur noch von zwei alten Lages wüßte, einem Spitalweibchen Fernande Lage, die bei Minden wohne, und einem Matthias Lage aus Paderborn, beide in kümmerlichen Verhältnissen. Er, der Holländer, habe sie unterstützt, aber nie eine Antwort erhalten. Das Spitalweibchen sei eine störrische Lutheranerin, der Matthias Lage hingegen gläubiger Katholik. Von der damaligen Jugend vor ungefähr 25 Jahren sei merkwürdigerweise außer ihm alles verstorben, teils in Wochenbetten, teils in Duellen und sonstigen Raufhändeln, die Lages seien ja allesamt eine närrische Art von Homo sapiens Linné. Dies zur Vervollkommnung der Familiengeschichte. Es sei recht erfreulich, daß Muhme Jesuliebe mit echt Lagescher Spürnase noch etwas Junges aufgestöbert habe. Zum Schluß hofft er, daß der Clemens nicht im grauen Alltag spuke. Diese Bemerkung ist mir vollkommen unverständlich, aber ich werde schon noch dahinterkommen. –
Nun breche ich hier in Thüringen meine Zelte ab, es ist eigentlich nur ein kleinwinziges Zelt im Dörfchen Hochheim bei Erfurt, wohin ich mich verzog, als vier Augen sich schlossen und ich nun nichts weiter vorstellte, als ein »armes Mädchen höherer Stände«. Das ist etwas unglaublich Hartes und erschrecklich Weniges, und jeder glaubt sich berufen, gute oder minderwertige Ratschläge, hie und da auch einen kleinen Fußtritt zu geben. Oder auch mit feinfeinen Nadeln just in die Stelle zu stechen, da es am wehesten tut. So wollten »gute Freunde und getreue Nachbarn« mir durchaus meinen Urväterhausrat über den Kopf weg verkaufen, und meine Aufwärterin nennt mich »kumplett verrückt«, weil ich mir alles gerettet habe, da ich doch für Väterchens uraltes Zylinderbüro und Muttchens eingelegten Schreibtisch »Unsummen« bekommen hätte. – Diese Unsummen würden aber niemals die Summen der Glückesstunden aufwiegen, die ich an diesen beiden Möbelstücken erlebte, durchlitt und durchlachte. Märchenerzähler waren beide Eltern, und führte mich Vater Ernst durch selbsterdachte köstliche Geschichten, die ein unsagbar feiner, guter Humor durchsonnte, so gab mir Mutter Pauline den Reichtum von Andersens Märchen. – Nun steht »Speditör König« mit seinem Möbelwagen vor meiner Tür, und der Kutscher sagt: »Hü, alle meine Pferde« zu dem einzigen, das davorgespannt ist, genau wie es der kleine Klaus tut in Andersens Märchen. Ich habe soeben viele Hände, schwielige und weiche vornehme, gedrückt und ziehe nun mit meinem persönlichen Gepäck von dannen, als da sind: »Vaters Statur, des Lebens ernstes Führen und Mütterchens Frohnatur und Lust zum Fabulieren.«
Mit Gott! Ich bin in Haus Lage. Von weiter, roter Heide ist es dicht umgeben, von Birken und hohen Wacholdern, von Ginsterbüschen, die leuchtend gelb blühen. Hier soll das Thüringer Waldkind daheim sein und ist’s schon. Ist mit tausend feinen Fäden bereits gefesselt, schier jede rote Dolde hat sich eng mit dem Herzen verknüpft. Hinter der Heide, im Rücken von Haus Lage, liegt Wald, tiefer Tannen-, Eichen- und Buchenwald, ein köstlich Fleckchen Erde. Im Park steht eine Ruine, die Spanier haben im Dreißigjährigen Kriege das Schloß zerstört. Jetzt rankt sich Efeu dicht herum, von den Gemächern ist nur das – Gefängnis übriggeblieben, eine eisenbeschlagene, schwere Tür führt hinein. Das Licht konnte nur durch eine Falltür von oben eindringen, wenn sich nicht ein Sonnenstrahl just dann verirrte, wenn der Wärter das Essen durch die Klappe schob. – Mich fröstelte, als ich diese Unterkunft sah. Gefangen inmitten der weiten, weiten Heide …
Eine schneeweiße Bank habe ich hinsetzen lassen vor ein efeuumwuchertes Fenster im Erdgeschoß. In diesem Fenster mag oft in tiefer Nische, die von wohlerhaltener durchbrochener Steinornamentik umgrenzt ist, eine schöne Fraue von Lage gesessen, gestickt und geplaudert haben. Mit wem? Das werde ich wohl noch ergründen können, wenn ich erst einmal die Bücherei durchstöbert habe. Auf dies Tagewerk freue ich mich. Deshalb hat es noch gute Wege damit. Denn noch bin ich nicht zur Freude hier, sondern zur Arbeit.
Die Tante Jesuliebe-Brigitte Lage scheint eine Arbeitswut gehabt zu haben. Überall begegnet man irgendeinem Sprichwort, das auf die Arbeit Bezug hat, oder auch einem kategorischen Imperativ. Als ich gestern hinter der Ruine den uralten Baum erkletterte, dessen verzweigte Wurzeln sich wie ein Wappenschild von der Mauer abheben, las ich eingeschnitten in den Stamm: »Arbeite!« Und war doch hingekommen, um mich zu verstecken, um zu rasten und zu träumen. Und so viel Macht hatte das herrische Wort, daß ich sofort wieder hinunterstieg und selbst mit Hand anlegte bei der Säuberung des inwendigen Hauses, auf daß mein Hausrat bald seine bleibende Statt fände. Wenn alles bis auf den letzten Nagel an Ort und Stelle ist, dann will ich in Tante Jesuliebes Gemächer gehen und die Erbschaft völlig antreten. Vielleicht finde ich auch dort irgendeine Weisung, einen Brief …
Davor fürchte ich mich. Es ist gewiß töricht von mir, aber ich möchte lieber allein einen, wenn auch schweren oder gefahrvollen, Weg gehen, als mich durch Bitten oder Befehle einer Toten bestimmen zu lassen.
Heute nacht ließ mich der Vollmond nicht schlafen. Er stand grellweiß, ein riesenhafter Scheinwerfer, am Himmel. Sein Licht lag gespenstisch auf der Ruine und dem weiten Rasen davor. Ich erhob mich von meinem Lager, hastig kleidete ich mich an und warf meinen dicken Flauschmantel über. Die schwere Tür öffnete ich (alle Türen sind hier groß und gewichtig) und schlich mich hinunter. Aber selbst unter meinem sachten Schritt ächzte die alte Treppe, und das Ächzen löste ein seltsames Echo in dem hallenden Gange aus. Dann stand ich auf dem Rasen vor der Ruine, und nun trank ich buchstäblich die Schönheit der Vollmondnacht in mich hinein. Haus Lage und das Trümmerschloß – eingebettet waren sie in Licht. Nichts vom grauen Alltag ringsumher … Und in meinem Innern ein grenzenloser Jubel, ein Glücksgefühl ohnegleichen. Ich nickte dem alten Hause zu: Du bist mein! Und der Ruine: Du bist mein! Der stille, mondbeschienene Park, die Sonnenuhr, ja der alte, schwarze Geräteschuppen, den das Mondlicht malerisch verklärte, jedes bekam den Gruß: Du bist mein! Die junge Brigitte Lage, die bisher nur gerechnet: was soll ich essen, was soll ich trinken, womit soll ich mich kleiden? Sie besaß plötzlich etwas; nicht etwas, – hundert Dinge. – Sie war eine Erbin. Ja, aber Erbin des grauen Alltags. Warum hatte man dies Fleckchen Erde so genannt? Warum bewußt einen Schatten darauf geworfen? Der sich doch ganz und gar verbergen mußte, da Gottes Licht den grauen Alltag in seine Arme nahm. Ich setzte mich auf die weiße Bank vor die Ruine, meine Gedanken waren unruhig und jagten sich. »Der häßliche Name müßte ganz verschwinden, er hat keine Berechtigung,« trumpfte ich laut – »schwarze und graue häßliche Dinge werden in Lage nicht mehr gelitten; dixi, ich habe gesprochen …!«
Da fuhr etwas Graues, unsagbar Häßliches aus der einen großen, leeren Augenhöhle der Ruine und strich klatschend über mein Haar hin. Laut schrie ich auf.
Gleich darauf kam ein Lachen. Voll und tief, seltsam melodisch. – Und eine gute Stimme sprach neben mir: »Heldenseele! – will Ewigkeitsnamen ohne Hammer und Meißel ausmerzen. Schier nur mit einem Gedanken … Und fürchtet sich vor einer Fledermaus. Kindskopf!!!«
Scheu sah ich mich um. Und da ich niemand entdeckte, so angestrengt ich auch spähte, kroch mir wahrhaftig fröstelnde Furcht über den Rücken. »Wer spricht da?« fragte ich bang. Und etwas beherzter: »Wer sind Sie?«
»Die Fledermaus«, tönte die Antwort irgendwoher.
Da gab ich Fersengeld, und das tiefe, musikalische Lachen hallte hinter mir drein. Die alte Kastellanin Eva empfing mich geruhig an der Haustür. »Nur zahm, nur zahm!« sagte sie und zog mich hinein. Ohne Staunen und weitere Worte, als sei es nichts Besonderes, daß ihre junge Herrin nachts zwischen 2 und 3 Uhr wie ein Wirbelwind daherjage. Erst als ich auf dem Rand meines Bettes saß und sie mir die feuchten Schuhe auszog, äußerte sie sich, – schier beifällig. »Eine echte Lage, ich habe nun den Beweis«, mümmelte sie, denn sie hat keinen Zahn mehr. »Da ist noch kein männlicher und kein weiblicher Lage gewesen, der hier nicht im Mondschein herumgegeistert hätte.«
»Eva! Wohnt noch irgend jemand außer uns im Haus Lage oder in der Ruine?« fragte ich mit Herzklopfen.
»Irgend jemand? Da sind eine Menge! Da ist mein Neffe Josua, da ist die Köchin Rahel, da ist der Gärtner Michael und sein Gehilfe Benjamin und wohl zwanzig Parkarbeiter, die in der Ökonomie schlafen …«
»Nein, nein, die meine ich nicht«, wehrte ich ab. Diese alttestamentliche Garde, die sie mir da aufzählte, lag mir nicht im Sinne. Sie war alt, uralt, wie Eva auch. Und das Lachen hatte jung geklungen – und fein gebildet. Also konnte die »Fledermaus« auch kein Methusalem sein.
»Eva, wie alt bist du eigentlich?« fragte ich wieder.
»Das kann ich dem gnädigen Fräulein wohl auch morgen vormittag sagen, nicht um 3 Uhr nachts«, lautete die Antwort; und wie ein Spuk war Eva draußen. Sie ist unglaublich rasch, die Alte. Wäre der zahnlose Mund nicht, das eisgraue Haar und die hundert Runzeln, man könnte ihr 50 Jahre weniger geben. Sie hört wie ein Fuchs und sieht wie ein Luchs und läuft wie ein Wiesel. Aber sie spricht von Friedrich Wilhelm dem Dritten, der einmal in Lage gewesen sein soll, – und von Goethe – als sei sie mit beiden groß geworden. – Doch von ihrem Alter mag sie nicht reden hören – die echte Eva. – Man wählt hier in Lage die Namen der Dörfler alle nach der Bibel. Der Hausvater sticht an der Wiege des Neugeborenen mit spitzer langer Nadel in das Bibelbuch, und welcher Name dem Stiche am nächsten ist, der wird für das Kind gewählt. »Josua, der Neffe« gilt bei seiner Tante als Springinsfeld und Übermut, immerhin schätze ich ihn auf Mitte der Fünfzig. Sie hat bei ihrem eigenen hohen Alter den Maßstab für ihre Umgebung verloren. Ich weiß, daß sie mich hinter meinem Rücken »das Kleine« nennt, aber es klingt unendlich gut und mütterlich. Trotzdem bleibe ich für sie »das gnädige Fräulein Lage«.
Diese Sachen überdachte ich, während ich mich wieder wohlig im warmen Bette ausstreckte. Wollte den »Fledermausgedanken« entfliehen …
Wir leben jetzt im Wonnemonat Mai. Aber das weiß ich nur vom Hörensagen und aus Thüringer Briefen, die freilich spärlich genug für mich abgegeben werden. Das arme Freifräulein Lage war auch arm an Freunden geworden, und die Erbin – will nun nicht. »Eine Mauer um uns baue«, möcht’ ich beten, wie das fromme Mütterlein im Gedicht von Clemens Brentano. Das feste Mäuerlein um Haus Lage haben die Spanier niedergerissen im Dreißigjährigen Kriege. Hätten auch etwas Gescheiteres tun können. Nun ist’s freilich leicht, auf meinem Grund und Boden herumzustöbern – für nächtliches Gesindel – Fledermäuse und dergleichen …
Also wir merken hier nichts vom Wonnemonat. Es regnet und stürmt und ist eisig kalt. Nur im Hause drin prasseln die Holzscheite in zwei großen Kaminen und vier mächtigen Kachelöfen. Man könnte auf Weihnachten raten, so gemütlich ist’s. Ich möchte erst einmal die eisige Luft aus allen Zimmern bringen, sie ließ einem schier das Herz erstarren, als ich herkam. »Davon weiß ich nichts«, meinte die alte Eva geruhig, als ich sie darum befragte. »Das gnädige Fräulein Jesuliebe hat wohl manchmal ein Feuerlein brennen lassen, aber der Herr Vater selig und die Frau Mutter selig, und was sonst so von den Herrschaften hier wohnte, die waren alle nicht für Wärme …«
Ich schaute die Eva scharf an, aber ich sah, die gute Alte hatte es streng wörtlich gemeint.
Ich aber »bin für Wärme«. Herrgott, ja. Seit gestern friere ich in Haus Lage. Ich schone den mächtigen Holzvorrat nicht. Josua hat mich schon vorwurfsvoll angesehen. Aber ich weiß aus den Büchern, daß der graue Alltag von 14000 Morgen Wald umgeben ist. Mit dem Förster habe ich auch schon gesprochen, er ist alt, wie beinahe alles hier, und lebt als Witwer bei seinem Sohn und der Schwiegertochter. Es ist eine Erbförsterei. Die ganze Stube hängt bei ihnen voll »Förster«, und darunter prangt immer derselbe Mann noch einmal als »reitender Feldjäger«. Schmuck sehen sie alle aus, die »Förster Nordstamm«. Vater und Sohn haben schon einen langen Gang mit mir durch »meinen« Wald gemacht. Ich sage meinen Wald, weil er mir gehört, und um mich scherzend zu behaupten gegen den alten und den jungen Förster, die auch beide von »ihrem« Walde sprechen. Die junge Frau Rika blieb daheim, sie erwartet ihr erstes Kind und ist nicht sehr kräftig, aber fröhlich und guter Dinge. – Als der Wald am dichtesten und tiefsten wurde, schier wie ein Urwald, da spürte ich trotz des stundenweiten Weges neue Kräfte. Welche Wonne, in diese tiefe, lockende Stille hineinzudringen, vor jedem dieser seltsam geformten Ungeheuer staunend stehenzubleiben. Sie begrenzten die schmale Spur, die kaum den Anspruch auf die Bezeichnung »Weg« erheben konnte. Und die ihn oft genug drohend verlegten, wie ich weithin mit meinen scharfen Augen sah.
»Nun wird es sehr unwirtsam«, bemerkte der alte Förster nach einer Weile, und der junge stimmte ihm eifrig bei. »In diese Wildnis sind die Damen Lage nie eingedrungen, da ist oft nicht Weg noch Steg. Aber der Herr Baron wollte eben seinen Urwald haben …«
Ich warf noch einen bewundernden und schmerzlich verlangenden Blick auf die schmale Spur, die zwischen Stechpalmen und Farnen dahin führte. Und dann nickte ich lachend einem wunderlichen Baume zu, der wahrhaftig wie ein Waldweibchen aussah mit krummer Nase und zahnlosem Mund: »Gute Nacht, Eichenmuhme, ich komme bald wieder und besuche dich.« Denn »der Urwald ist jetzt mein«, wandte ich mich an meine Begleiter, »und was mein ist, will ich kennenlernen von Ur to Enn.«
Vater und Sohn Nordstamm tauschten Blicke. »’s ist eben eine Lage«, hießen diese Blicke, das war mir ganz klar, ohne daß sie mit ihrem Finger auf die Stirn deuteten. Wir kehrten nun um, und ich prägte meinem Gedächtnis den Weg ein, versäumte auch nicht, wie weiland Hänsel und Gretel unauffällig rote Ilexbeeren zu streuen; sie reichten gerade bis zur Grenze des Parkes, und von dort aus fand ich meine Heimat ohne Führer. Ja, es ist meine Heimat. Nirgends sonst seit meiner sonnigen Kinderzeit war ich so mit dem Herzen in irgendeiner Landschaft, nirgend sonst seit Vaters Tode tönte so stark und süß die uralte ewige Heimatmelodie aus Baum und Strauch, aus Fluß und Wiese, aus Hecken und Ackerscholle. Lage, sei gesegnet!
Der Mond stand noch immer köstlich voll am Himmel. Ich ahnte eine zweite unruhige Nacht, nahm mir aber fest vor, die Ruine und die Fledermäuse heute unbeachtet zu lassen. Aber abkürzen wollte ich die Nacht, indem ich mir aus Tante Jesuliebes Zimmer irgend etwas Lesenswertes holte, mit dem ich mich in meinen roten Ledersessel einkuschelte bei grünbeschirmter Lampe und prasselndem Kaminfeuer. Schon dieser Vorsatz allein schuf Behaglichkeit. – Die alte Eva setzte mir die Lampe und einen kleinen Imbiß, köstliche Buttermilch und selbstgebackenes Schwarzbrot hin, dazu duftende Gravensteiner Äpfel. Und nach der langen Wanderung vertilgte ich alles mit Stumpf und Stiel. –
Es war unsagbar gemütlich. Mit einer brennenden Kerze auf hohem silbernen Leuchter stieg ich dann ins Dachgeschoß, das Tante Jesuliebes Zimmer in sich barg. Zwei große, seltsame, getäfelte Stuben, hoch und geräumig. Der Wohnraum ist fast saalartig. Eine stattliche Reihe »Lages« hängt an den Wänden, stattlich war auch bei den Mannsen der Wuchs, doch die Frauen zeigten sich mit wenigen Ausnahmen klein und zierlich. Ach! und hochmütig, – hochmütig schienen sie alle gewesen zu sein. – So waren wir Thüringer Lages wohl aus der Art geschlagen. Bei uns war der Hochmut als Dummheit gebrandmarkt worden, und so fehlte dieser Zug auch auf Vaters Bild, der im Schmucke der ordenbesäten Staatsuniform die Reihen schloß. Nicht hochmütig, – hochgemut sah er aus, der einzige. In sein Anschauen vertieft, hätte ich schier mein Vorhaben vergessen. Aber es klopfte an der Tür, und ich schrak zusammen. Auch ohne mein »Herein!« abzuwarten, stand Eva dann vor mir, und mit altmodischem Knicks teilte sie mir mit, daß man in Zimmern Verstorbener nie länger als 7 Minuten weilen dürfte, wenn man es zum erstenmal beträte, beim zweitenmal dann 14 Minuten, beim dritten 21, das sei nun »mal so«.
»Meine gute, alte Eva,« rief ich und gab ihr einen Kuß auf die runzlige Wange, »gewöhne dich daran, daß bei mir nichts, aber auch gar nichts ›mal so‹ ist. Wir wollen unsern Tag recht sonnenhell beginnen und ebenso klar schließen. Allem Aberglauben sagen wir ab, bei jeglichem Spuk gehen wir der Ursache nach, und wo es uns nicht gelingt, da sind’s halt Fledermäuse gewesen; hörst du, Eva?«
»Haben gnädig Fräulein Fledermäuse gesehen?« fragte sie ungerührt. »Das wäre schade. Denn das bedeutet, daß gnädig Fräulein ihr Lebtag in Lage bleibt, also sozusagen unvermählt. Schade, schade!« Und sie schüttelte ihren alten Kopf anhaltend.
»O du unverbesserliche Eva!« Ich lachte herzlich. Dann ergriff ich ein zierliches Buch, das in leuchtendes und duftendes Juchten gebunden war und preislich auf Tante Jesuliebes altmodischem Schreibtisch lag. Und einen schweren Folianten, der silberbeschlagen auf einem Bord ruhte, hieß ich gleichfalls mitfolgen, so würde der Abend beim behaglichen Lesen im Fluge vergehen, und der Mond sollte mich nicht wecken, noch necken. –
Beide Bücher sind leer. –
Fast leer.
Und ich sitze seit Stunden und grüble. – Das feine Juchtenbuch und der gewichtige Foliant, sie tragen beide auf der ersten Seite den Vermerk: »Mit Gott!«
Darunter steht mit Tante Jesuliebes feinkritzliger Handschrift, die so in hellem Widerspruch steht zu ihrem derb zupackenden Wesen: »Zünd an, Brigitte! Zünd an!« Den Tag und die Stunde, da sie es schrieb, hat sie dabei vermerkt: »1. September 18…«
Ja, Tante Jesuliebe-Brigitte hat es selbst geschrieben. Aber sie hat sich nie Brigitte genannt. Nur ich in der ganzen Familie Lage trug und trage diesen Namen. – Die Mahnung gilt also mir …
Wer löst mir das Rätsel? Durch die Nacht hindurch hat es mich verfolgt, und wenn mein Weg so fortläuft, wie er in Lage begonnen hat, da werde ich mir das Schlafen abgewöhnen und gleichfalls herumgeistern. Aber nicht in der Ruine, sondern im Märchenwald. Der hat mir’s angetan. Doch Vater und Sohn Nordstamm dürfen mich nicht auf meinen weiteren Forschungsfahrten begleiten, sie sind zu nüchtern und bodenständig. Und wo ich ein Wurzelweib sehe mit drohend erhobenem Arm, das mir den Weg verwehren will, da sehen sie einen überständigen Baum, der gefällt werden muß. –
Zünd an, Brigitte, zünd an!
Solch ein Wort, das man nicht verstehen und nicht meistern kann, ist wie ein Stachel.
Ich habe mich an die alte Eva herangepirscht und so vorsichtige und so tolpatschige Fragen getan, daß sie mich endlich besorgt anblickte und nach meinem Puls faßte. »Gnädig Frölen sollten sich ins Bett legen ein paar Tage«, war ihre Meinung. »Das Lager Wasser macht dem Neuling leicht Fieber, und die Lager Luft verwirrt Kopf und Herz.«
»Was nicht noch alles, Eva?« fragte ich, »woher hast du die Weisheit?«
»Ei nun, das Lager Fieber kenn’ ich seit siebenzig Jahren, und das von der Luft steht sogar aufgeschrieben.«
»Wo denn, Eva? Wo steht’s geschrieben? Oh, ich fiebere wirklich vor Erwartung, die ganze Lager Luft liegt voller Geheimnisse.«
»Ein Geheimnis ist es just niet« (Evas Sprache hat einen holländischen Anklang), »aber graulich ist’s freilich anzusehen«, orakelte sie.
»Drunten in der Gruft liegt’s in einem offnen Sarg. Da sollte der Herr Joochen Lage, † 1642, drinnen liegen, aber nur das Pergament fand man anstatt seiner.«
Mit solchen Enthüllungen soll man nun zufrieden und ruhig sein. Natürlich nahm ich mir vor, sofort, gleich in der nächsten Minute in die Lager Gruft hinabzusteigen, die sich unter der nahen Kirche befindet. Besonders da Eva mich angstvoll beschwor, dies erst am 7. Tage zu tun, da sonst Gefahr bestünde, daß ich selbst noch im selben Jahr in die gleiche Gruft überführt würde. ’s ist ein hartgesottner Aberglaube hier rundherum, möcht’ ich ihn doch verjagen können mit frisch-fröhlichem Gottesglauben …
Eva hätte mich auch nicht von der Gruftbesichtigung zurückhalten können, so tat es ein Brief.
Der holländische »Enterbte«, wie er sich nennt, scheint großen Anteil zu nehmen an meiner Anwesenheit im neuen Besitz. Es sind zwar nur wenige Zeilen, aber warum schreibt er überhaupt? Mehr als einmal? Mehr als nötig? Wir kennen uns nicht. Und fast möcht’ ich sagen, seine Worte verwirren mich …
»Ich schätze, die verehrte Regenschirmbase ist mit dem Vertilgen von Staub, Spinneweben und ›Fledermäusen‹ zu Ende gekommen. – Ich sehe aus der Ferne Haus Lage schimmern und leuchten im Glanze des Mondes. Denn wir haben doch jetzt Mondschein in Lage? Wenn auch abnehmend. Und ich kalkuliere, in solch einer Mondscheinnacht wird man jetzt der alten Eva zum Trotz (meine Empfehlung an sie, sie kennt mich als ›Ritter Lage‹) in die Gruft der Väter hinabsteigen und – hu! – den Deckel von des Urahnen Joochen Sarg zurückschlagen und schaudernd lesen: ›Lager Luft verwirret Kopf und Herz.‹ – – – Es kommt darauf an, Regenschirmbase; manchmal schafft diese Verwirrung die einzig richtigen Begriffe.«
Unterzeichnet sind diese närrischen Büttenpapierberichte mit »Vetter Lage, der Enterbte.«
Als ob ich ihn enterbt hätte. Und eine Anschrift ist nie dabei. Holland ist groß. Wohin soll ich ein Gegenzeichen schicken? Ihm scheint auch gar nichts an einem solchen zu liegen. Aber da er mit dem Ahnungsvermögen eines indischen Fakirs meinen Gedanken und Vorsätzen nachspürt, so will ich wirklich erst am 7. Tage in die Gruft der Lages steigen und mich durch nichts ins Bockshorn jagen lassen. Ganz gelassen fragte ich heute die alte Eva nach dem »Ritter Lage«. »Jesus! Der Clemens!« schrie sie auf. »Ob ich ihn kenne? Da könnt’ gnädig Frölen ebensogut fragen, ob ich die Lager Kirche kenne, in der ich doch jeden Sonntag bete. Gott verzeih mir die Sünde, daß ich den Schlingel und die Kirche in einem Atem nenne, obgleich, – er war der Beste von allen Lages, von allen«, murmelte sie.
»Bitte, nimm doch immer meinen Vater aus; ja, Eva?« betonte ich kriegerisch; »er war unter allen Umständen der Beste.«
»Hab’ die deutschen Herren Lage nie gekannt,« entschuldigte sie sich mit dem ihr eigenen tiefen, altmodischen Knicks, »nur die von Holländer Seite.« –
»Steckt ein Geheimnis hinter dem ›Ritter Lage‹, oder kannst du mir von ihm erzählen?« fragte ich.
Ein Lächeln huschte über ihr altes Gesicht, das es seltsam verschönte. Ganz jung sah die alte Eva aus. – »Da reicht wohl mein altes Leben nicht mehr hin, wollt’ ich vom Junker Clemens alles erzählen«, sagte sie, und ihre Stimme hatte einen liebkosenden Klang. »Ich war die junge Frau des Hausmeisters, als er geboren wurde. Seine Mutter starb im Wochenbett, und da ich selbst mein drittes Kind nährte, so gab man mir das Neugeborene mit an die Brust. Bis der düstere Vater ihn mit sich nach Holland nahm. Schier gestorben wär’ der Kleine beim raschen Nahrungswechsel; aber das kümmerte den Herrn Baron nicht. Bis der Herr dann selbst starb und der Junker zurückkehrte und von gnädig Frölen Jesuliebe erzogen wurde im Hause seiner Väter.« Eva lachte unhörbar vor sich hin. »Von da ab hat es rumort und gespukt im alten Häuschen, im Park, am See, im Busch, am Reihersteig und in der Gruft seiner Ahnen. Überhand trieb er Hallodria, und konnt’ doch auch so ernsthaft dasitzen und meine Geschichten, die ich ihm so ›zwischen Lichten‹ erzählte, mit Augen und Herz verschlingen. Nur irgendwelcher ›Aberglaube‹ konnt’ ihn wild machen, und da zankten wir uns oft drum. Denn er hielt vieles für Aberglauben, was doch heilig …«
Ich klopfte ihr die runzlige Wange. »Laß nur gut sein, Eva, – viel Heiliges ist da sicher nicht dabei.«
»Was weiß so ein Junges«, murmelte sie. »Man muß in alten Schlössern hausen, da nimmt man vieles wahr, was sonst kein Mensch weiß.«
»Das haben schon Größere vor dir behauptet, meine gute, alte Eva, und seit der Zeit redet sich mancher darauf hinaus.«
»Gnädig Frölen wollten vom Junker Clemens wissen …«
»Wenigstens vom ›Ritter Lage‹.«
»Nun freilich. Da hatte der Junker einmal etwas ganz Unerhörtes ausgefressen – um Vergebung –, so sagt man hier in Lage. Er hatte als ›weiße Frau‹ gespukt, und die gnädige Großtante war drüber krank geworden. Freilich wurde sie bald wieder gesund, und der Schelmenjunker hat ihr während der ganzen Zeit vorgelesen, trotzdem er mit der Lager Jugend auf Erntedankfest tanzen sollte, – er war damals so siebzehnjährig. Da sitzt man ungern bei einer Großtante. Es wurde aber Familienrat gehalten, da kamen alle seine Streiche zutage, – Jesus, es war eine Liste wie vom Steueramt. Unten saßen sie in der großen Halle, und der gestrenge Ohm aus Holland, von dem er dann der Erbe war, geruhte, auch zugegen zu sein. Da wurden dann Strafen festgesetzt, daß einem die Haut schaudern konnte, und die eine Tante selig vom Junker Clemens hätte ihn am liebsten in das Gefängnis von der Ruine getan, das immer noch ganz wohl erhalten ist. Mit einemmal – ich brachte gerade ein großes silbernes Brett mit den feinsten Porzellantassen und -kannen herein, um den Tee zu reichen –, also mit einemmal schlägt der große schwarze Ritter unten in der Halle sein Visier zurück und spricht mit tiefer, hohler Stimme: ›Es sei ihm alles verziehen! Er hat die wunderliche Milch der Mutter Eva getrunken … Vergebung dem Sünder!‹ Ich hör’s heute noch und seh’s noch, wie sie erst alle erstarrt saßen, die ganze hohe Sippe, und wie sie dann kreischten und die Stühle umwarfen, und wie der Saal leer wurde in großer Hast. Und ich hielt das Tablett in meinen zitternden Händen, damit die feinen Tassen meiner gnädigen Herrschaft heil blieben. Aber ich dachte, nun kommt dein letztes Stündlein. Da hob sich noch einmal das Visier, und der schwarze Ritter sagte: ›Gib mir ’ne Tasse Tee, Eva, und hilf mir aus dem Dingsda ’raus.‹ Jesus, da war’s der Junker, und nun wurde ich auch böse, aber dann kriegt’ ich’s mit dem Lachen, ich gottlose Person, und half dem Schelm. Er hat auch keine Strafe gekriegt, denn die hohe Sippe ist’s nie gewahr worden, wer aus dem Ritter sprach. – Ich hab’ es aber immer gesagt: dem Junker Clemens ist alles heilig und nichts.« –
»Eva,« sagte ich, »jetzt muß ich nur noch fragen, was ist aus ihm geworden? Denn ein ›reicher Mann‹ ist mir zuwenig für diesen Ausbund. Was ist er sonst noch?«
»Da fragen mich gnädig Frölen zuviel. Junker Clemens hatte große Pfunde bekommen, aber wie er damit gewuchert hat, ist mir verborgen. Für mich wird er allezeit der ›Junker‹ bleiben mit dem Übermut und dem Unverstand und dem goldenen Herzen. Wenn er auch längst in den Vierzigen sein muß und nie mehr herkommt und sein Unglück in Holland verschließt.«
»Sein Unglück, Eva?«
»Ach, so geht es nun, man wird geschwätzig. Gnädig Frölen können da kein Anteil nehmen, dazu ist die Verwandtschaft zu weit.« Überhebend zuckte sie die Achseln. Als gehöre ihr der Ritter Lage mit Haut und Haar. –
»Du nimmst doch auch Anteil an ihm, Eva, und bist gar nicht mit ihm verwandt.«
Sie sah mich an, lange schweigend an. – »An meiner Brust hat er getrunken …«, sagte sie dann ruhig.
Da faßte ich die alte Dienerin rundum und küßte sie. »Du hast recht, Eva, und ich habe geredet wie ein dummes Kind. Aber du weißt, ich bin einsam …«
Sie streichelte mich ungeschickt. »Hab’s nicht bedacht. Einsame Menschen haben oft Liebe zu aller Kreatur … Aber man verschließt es in sich … Ach, ich bin eine Schwätzerin …«
»Du bist meine liebe, gute Eva. Nun möcht’ ich dich nur noch fragen: Kann man dem ›Junker Clemens‹ nicht helfen? Wenn ein Lage im Unglück ist, so haut ihn die Sippe doch heraus …«
»Als ob ich den Junker selbst reden hörte. – Nein, gnädig Frölen, – dem kann keine Sippe helfen.« Sie sprach hastig und leise in mein Ohr. »Er hat rasch und unbedacht gefreit, – nun hat er ein irres Weib. Seit 20 Jahren! Das ist wohl Unglück. Und einen Knaben hatte er auch, – ein armes, unglückliches Kind, vielleicht ist’s lang gestorben, und – Gott walt’s. – Aber das ist mein Leid, daß der Junker nicht alles hat der alten Eva zu tragen gegeben. Hab’ mir den Kopf zergrübelt, weshalb er’s nicht tat. Bin drüber alt geworden, und man wird mich betten, ohne daß ich meinen Junker Clemens wiedersah.«
Sie schlurfte hinaus und war mit einemmal gebückt und kümmerlich. Und ich weiß jetzt, warum der Ritter Lage sich den »Enterbten« nennt.
Viel Seltsames erlebe ich in Haus Lage …
Es scheint mir unfaßlich, daß ich 25 Jahre in Thüringen lebte, und daß während dieser Zeit dies alte Haus tot für mich war. Denn überlebendig zeigt es sich jetzt und eng mit mir verwachsen, als ob es nur gewartet hätte, bis ich kam, um mich fest und unzerreißbar in seinen Bann zu ziehen.
Heute fand ich wieder ein seltsam Gelaß. Ein Ring war mir vom Finger gefallen, der blaue, leuchtende Saphir mit dem Kranz von alten, in Platin gefaßten Diamanten, der unter Tante Jesuliebes Schmucksachen für ihr Patenkind sich fand. Ich begab mich sofort auf die Suche, und als ich ihn in einer Ecke entdeckte, sah ich auch ein Türchen, fast am Erdboden klebend, und seltsame Zeichen trug es durcheinander verschnörkelt. Aber mit Hilfe eines brennenden Wachsstockes entzifferte ich mühelos die schlichte Mahnung: »Ora et labora.«
Das labora tritt einem hier ja überall entgegen, das ora et labora lehrten mich Vater und Mutter durch ihr Beispiel. Ich strich liebkosend über den Spruch, da sprang das Türlein auf. Und in seiner kleinen, dunklen Höhlung lag wieder ein Buch, danach ich gierig griff.
»Mit Gott, Brigitte Lage, zünd an! Zünd an!«
Du, der du allwissend bist und mich an deiner starken Hand hältst, hilf mir, daß ich den Weg finde …, den rechten Weg. –
’s ist tiefe Nacht. Aber ich will mich nicht zur Ruhe legen, ehe ich meine Gedanken und das, was ich bis zum Abend erlebte, klar gesondert habe. Bis jetzt, seit meiner Rückkehr aus dem Lager Forst saß ich mit gefalteten Händen und sann, – und sann. Draußen hat Eva um die Abendbrotzeit an meiner verschlossenen Tür gerüttelt und nicht eher Ruhe gegeben, bis ich ihr zurief, daß mir nicht gut sei und ich keiner Speise und keines Trankes bedürfe. Das Alleinsein würde die beste Arzenei sein. Da ist sie gegangen, laut vor sich hinmurmelnd. Vielleicht übertreffe ich an Narretei die ganze Sippe Lage, die ihr durch die Finger lief.
Ich war mit raschen Schritten am heutigen Frühnachmittage ausgezogen. Jetzt dünkt’s mich wie ein Märchen von der Prinzessin »Weißnichts« aus dem Hause »Ohnearg«, die »alle Möglichkeiten verschlafen hatte und ausging, das Glück zu suchen«.
Wie auf verbotenen Wegen schlich ich mich ums Forsthaus herum, um ja nicht die Herren Nordstamm aufzustöbern. Am Arm den kleinen Binsenkorb, der die handfeste Atzung für Vesper und zugleich Abendbrot barg. Bis an die Grenze schritt ich, da wo das Waldweibchen drohend und zugleich lockend seine knorrigen Arme reckt, – dann blieb ich tief atmend einige Minuten stehen, auf daß ich voll Andacht in den Märchenwald eingehen könne.
Wie still er schien, und wie lebendig er war!
Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, ich könnte ihn nicht schildern, aber ich habe die Liebe, und deshalb vermag ich es:
Ich wandelte durch Dome, in denen tiefe Glocken läuteten, ich ging durch Waldhüttchen hindurch, drinnen Zwerge kauerten und kicherten und meine Kleider neckend streiften. An Riesenharfen schritt ich vorbei, deren Kiefernsaiten von Harz troffen und einen Duft ausströmten, der wohl Schwersiechen den heiligen Trost zurufen konnte: »Auf, nimm dein Bett und wandle!«
Es grüßten mich Riesen und schauten wildgnädig auf das Menschlein, das unter ihnen ging, es nickten mir spottend Alräunchen zu und schabten ihre Fingerlein: O du Prinzessin Ohnearg und Weißnichts! Und waren doch alle nur Bäume und Bäumchen.
Dann wieder taten sich Kirchen auf aus silberstämmigen Buchen, an denen nicht Tadel noch Fehl war. Ihre Wipfel reichten bis zum Himmel und klopften beim Herrgott an, daß er sie segne. –
Und dann kam der tief-tiefe Tannenwald. Edeltannen, bodenständig, mit silbernem Schein, die mich ernst willkommen hießen, zarte Douglastannen, die