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Rasante Action, coole Sprüche und eine Prise Exotik: »Der grillende Killer« ist ein Hard-boiled-Thriller aus Taiwan, der mit originellem Setting und schwarzem Humor punktet. Ausgerechnet wenige Tage vor der verdienten Pensionierung muss Kommissar Wu aus Taipeh sich mit dem angeblichen Suizid eines Marine-Offiziers herumschlagen. Wu ist sofort klar, dass der Mann ermordet wurde, doch das Militär beharrt auf Selbstmord – auch, als kurz darauf im fernen Rom weitere Würdenträger zu Tode kommen. Nach dem reibungslos erledigten Job in Rom freut sich der junge taiwanische Scharfschütze Alex darauf, zu seinem Asia-Imbiss zurückzukehren, der den besten gebratenen Reis in ganz Italien serviert. Stattdessen macht Alex beinahe tödliche Bekanntschaft mit seinen eigenen Kollegen. Eine halsbrecherische Flucht quer durch Osteuropa und zurück nach Taiwan beginnt, die den jungen Killer unaufhaltsam auf den alten Kommissar zutreibt … Für seinen rasanten Thriller hat sich Kuo-Li Chang vom größten Korruptionsfall der taiwanischen Geschichte inspirieren lassen. Herausgekommen ist ein actionreicher Spaß für alle Fans von harten Jungs mit weichem Herzen.
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Seitenzahl: 369
Chang Kuo-Li
Thriller
Übersetzt nach der englischsprachigen Ausgabe von Alice Jakubeit
Knaur eBooks
Ausgerechnet wenige Tage vor der verdienten Pensionierung muss Kommissar Wu aus Taipeh sich mit dem angeblichen Suizid eines Marineoffiziers herumschlagen. Wu ist sofort klar, dass der Mann ermordet wurde, doch das Militär beharrt auf Selbstmord – auch, als kurz darauf die Leiche eines Obersts des Heeres entdeckt wird und im fernen Rom ein Militärberater zu Tode kommt.
Nach dem reibungslos erledigten Job in Rom freut sich der junge taiwanische Scharfschütze Alex darauf, zu seinem Asia-Imbiss zurückzukehren, der den besten gebratenen Reis in ganz Italien serviert. Stattdessen macht Alex beinahe tödliche Bekanntschaft mit seinen eigenen Kollegen. Eine halsbrecherische Flucht quer durch Osteuropa und zurück nach Taiwan beginnt, die den jungen Killer unaufhaltsam auf den alten Kommissar zutreibt …
Für seinen rasanten Thriller hat sich Chang Kuo-Li vom größten Korruptionsfall der taiwanischen Geschichte inspirieren lassen. Herausgekommen ist ein actionreicher Spaß für alle Fans von harten Jungs mit weichem Herzen.
Widmung
Handelnde Personen
ERSTER TEIL
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
ZWEITER TEIL
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
DRITTER TEIL
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Danksagung
Mit Dank an Hou Er-ge, den schelmischen alten Mann am Meer: für die Inspiration und die Expertise
Alexander (Alex) Li: so versiert mit dem Wok wie mit der Waffe
Chen Li-chih, genannt »Fat«: Freund von Alex während der Scharfschützenausbildung
Kuo Wei-chung: Spezialist für U-Boot-Abwehr
Chiu Ching-chih: Oberst bei der Beschaffungsstelle des Heeres
Chou Hsieh-he: Militärberater der Regierung; Universitätsprofessor
Wu: Kommissar kurz vor der Pensionierung
Eierkopf: Wus Chef, Dezernatsleiter
Yang: Rechtsmediziner
Huang Hua-sheng, genannt »Eisenschädel«: Oberst, Scharfschützenausbilder
Luo Fen-ying, genannt »Baby Doll«: kennt Alex seit der Scharfschützenausbildung; arbeitet jetzt im Verteidigungsministerium
Paulie, Zar, Krawatte: Kameraden von Alex bei der Fremdenlegion
Hsiung Ping-cheng: Kapitän zur See, arbeitet im Verteidigungsministerium
Shen Kuan-chih alias Peter Shan: Waffenhändler, früher Stabsfeldwebel
Julie: Inhaberin eines Cafés
Julies Vater und seine drei Freunde, die Gangsterbosse Stich, Lucky und Kong
»Großvater«: steht der sog. Bande der Familie vor
Frau Kuo: die Witwe von Kuo Wei-chung
Wus Vater: der Kochwütige
»Es gibt drei Arten von Scharfschützen. Gefechtsscharfschützen arbeiten innerhalb eines Zugs oder einer Kompanie, um während eines Gefechts für Angst und Verwirrung zu sorgen, indem sie einzelne Soldaten, Offiziere und Fahrzeuge ausschalten. Taktische Scharfschützen werden militärischen Einheiten auf Brigade- oder Divisionsebene zugeordnet und eliminieren feindliche Scharfschützen, hohe Offiziere und andere wertvolle Ziele. Und dann …«
Er hielt kurz inne, und der Stummel seiner Zigarre zischte, als er ihn in eine Kaffeetasse fallen ließ, ehe er ihm die Finger versengen konnte.
»Und dann sind da die Scharfschützen, die nur selten einen Schuss abgeben. Scharfschützen, die hinter den feindlichen Linien eingebettet sind und auf den Befehl warten, ein bestimmtes Ziel zu liquidieren. Die nenne ich strategische Scharfschützen …«
Rom, Italien
5:12 Uhr, La Spezia, Italien. Er stieg in den Zug und machte, eingelullt vom Schaukeln des Waggons, ein Nickerchen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
6:22 Uhr, Pisa Centrale. Er würde nicht den Shuttlebus zur Piazza dei Miracoli nehmen. Würde sich nicht den Schiefen Turm ansehen und sich vorstellen, wie Galilei Kugeln herabfallen ließ, um sein Fallgesetz aufzustellen. Nicht seine Kreativität demonstrieren, indem er sich selbst dabei fotografierte, wie er den Turm stützte.
Ehe er ausstieg, ging er auf die Zugtoilette, stopfte sein leuchtend gelbes Kapuzensweatshirt in den Mülleimer und ersetzte es durch ein rotes Trainingsanzugoberteil. Dann wechselte er den Bahnsteig und bestieg den Zug um 6:29 Uhr nach Florenz. Er suchte sich einen Platz und schlief erneut ein.
Die ganz frühen Züge sind nur selten verspätet. Um 7:29 Uhr traf er in Firenze Santa Maria Novella ein. Unterwegs hatte der Zug sich gefüllt. Die meisten Ankömmlinge wandten sich beim Verlassen des Bahnhofs nach Südosten und steuerten die Kuppel an, die Brunelleschi für die Kathedrale Santa Maria del Fiore entworfen hatte. Dort würden sie die vierhunderteinundsechzig schmalen Stufen hinaufkeuchen und -schnaufen, um stolz auf die windgepeitschte alte Stadt unter ihnen hinabzublicken.
Sein Plan war, erneut den Bahnsteig zu wechseln und den Zug um 8:08 Uhr nach Rom zu nehmen. Er änderte den Plan, ging auf die Bahnhofstoilette und zog einen kurzen schwarzen Mantel an. Schon wollte er das Trainingsanzugoberteil in einem Zwischenraum über der Toilette verstecken, da fiel ihm der alte Mann ein, den er draußen in einer Ecke neben dem Eingang zum WC gesehen hatte, zusammengerollt, das Gesicht in den Armen vergraben. Behutsam drapierte er die rote Jacke um die Schultern des Mannes.
Dann ging er zum Busbahnhof. Dort fuhr um 8:02 Uhr ein Bus nach Perugia. Er hielt in sämtlichen kleinen Städten, doch es blieb noch jede Menge Zeit. Ein Fehler jedoch: Er hätte das Kapuzensweatshirt behalten sollen. Der Mantel war zu förmlich für einen Touristen. Nichts mehr zu machen. Er holte einen Rucksack aus seinem Koffer und verstaute Letzteren dann hinter einem Zeitungskiosk.
Der Bus fuhr pünktlich ab. Bei einem Halt in Arezzo kaufte er sich einen Kaffee und ein Schokocroissant. Die Italiener liebten ihre Süßigkeiten. Sie waren wie Ameisen.
10:54 Uhr, Perugia. Er eilte zum Bahnhof, um den Zug um 11:05 Uhr nach Rom zu erreichen; keine Zeit, um in Erinnerungen an das hiesige geschmorte Kaninchen zu schwelgen. Kein Kleiderwechsel diesmal, nur eine Ergänzung, eine Yankees-Kappe. Drei weitere Stunden, um Schlaf nachzuholen.
Im Zug war es ruhig: vier Backpacker mit schottischem Akzent; drei Geschäftsreisende, die es kaum erwarten konnten, an ihre Laptops zu kommen; eine allein reisende Frau aus Taiwan, vielleicht auch Hongkong. Er wählte einen Sitz am Ende des Waggons und schlief ein. Das lag nicht nur daran, dass er in der Nacht zuvor nicht geschlafen hatte. Er wusste einfach nicht, wann er das nächste Mal Gelegenheit zum Schlafen haben würde.
Um 14:01 Uhr fuhr der Zug in Roma Termini ein, fünf Minuten verspätet. Er stieg aus und fand sich in einer quirligen Menschenmenge. Beim Verlassen des Bahnhofs wandte er sich nach Süden, fort von den Massen, die zur Piazza della Repubblica strebten, und steuerte auf eine Reihe Schließfächer neben einem Kaffeestand zu. Mit einem Schlüssel öffnete er eines der Fächer. Gut: wie erwartet zwei zugeklebte Plastiktüten. Er nahm sie an sich und ging gegenüber in eine Gasse, wo er einen algerischen Laden betrat. In einer dunkelbraunen Safarijacke mit Lederflicken an den Ellbogen und mit einem Rollkoffer im Schlepptau kam er wieder heraus.
Die Gassen in der Umgebung des Bahnhofs waren von Flüchtlingen und Immigranten bevölkert. Er schlug eine Adresse nach und kam bald zu einem hohen Gebäude, das der Smog mit einer gelbgrauen Schmutzschicht überzogen hatte. Mit dem Aufzug fuhr er in den vierten Stock. Die Glastür öffnete sich mit einem Summen.
Das Gebäude beherbergte drei Hotels: das Hotel Hong Kong, das Hotel Shanghai und im vierten Stock das Hotel Tokyo. Der mittelalte Mann mit dem Bierbauch im Hotel Tokyo stellte keine Fragen, sondern händigte ihm im Austausch für dreißig Euro einen Schlüssel aus.
Das Zimmer war schlicht. Ein Bett, ein Stuhl und ein so kleiner Fernseher, dass man sich die Nase am Bildschirm platt drücken musste, um etwas zu erkennen. Das Telefon – so alt, dass es vielleicht schon Vintage war – klingelte um exakt 14:40 Uhr. Er meldete sich.
Eine Frauenstimme, was ihn aus der Fassung brachte. War sie das? »Hotel Relais Fontana di Trevi«, sagte sie.
»Wo ist Eisenschädel?«
Seine Gesprächspartnerin senkte die Stimme und verriet keinerlei Gefühle. »Das Zimmer ist reserviert. Zweiter Pass.«
Ehe er nachhaken konnte, war die Leitung tot.
Er öffnete seinen neuen Koffer, in dem sich eine lange Reisetasche und weitere Kleidung befanden, zog die Safarijacke und die Jeans aus, warf sie in den Koffer und schob ihn unters Bett, zog eine schwarze Hose und eine schwarze Jacke an, setzte eine schwarze Wollmütze und Kopfhörer auf. Mit der Reisetasche über der Schulter verließ er das Zimmer.
An der Rezeption war niemand; der Mann mit dem Bierbauch sah nun im Hinterzimmer Fußball. Er verließ das Hotel und ging über die vollgestellte Treppe nach unten.
Wieder auf der Straße, zog er ein Allzweckwerkzeug aus dem Ärmel und knackte das Schloss an einem der zahlreichen Fahrräder, die am Geländer angeschlossen waren. Er schob das Rad einige Schritte weiter und schwang sich auf den Sattel.
Durch abgelegene Gassen fuhr er nach Westen bis zur Metrostation Barberini, wo er das Fahrrad stehen ließ und sich in Trab setzte, um sich einer Gruppe Japaner anzuschließen, die einem Fähnchen folgten. An der Fontana di Trevi löste er sich von den silberhaarigen Touristen und schlängelte sich durch die geschäftige Menge zu einem Hotel an der Südseite des Platzes.
Dort reichte er dem breit lächelnden Angestellten einen Pass, den dieser betrachtete und ihm mit einer Schlüsselkarte zurückgab. »Nur eine Nacht?«
Er lächelte und nickte.
»Aus Korea? Meine Freundin spricht ein bisschen Koreanisch.«
Er lächelte und nickte erneut. Der Mann im Hotel Tokyo hatte einen unscheinbaren Asiaten gesehen. Dieser Angestellte sah einen schüchternen Koreaner mit schlechten Englischkenntnissen.
Seelenruhig ging er zum Aufzug und gelangte unbehelligt in Zimmer 313. Einhundertfünfzig Euro für ein einfaches Zimmer mit einem Fenster, das den Lärm der Menschenmassen draußen nicht abschirmte.
Er riss die erste der beiden Plastiktüten aus dem Gepäckschließfach auf, und ein großer brauner Umschlag fiel heraus, der zwei Fotos enthielt: das eine eine Halbprofilaufnahme eines Asiaten in mittlerem Alter; das andere offenbar ein Tisch auf einer Caféterrasse, mit einem X markiert. In der zweiten Tüte ein ganz und gar nicht smartes Mobiltelefon, ein silbernes Candybar-Nokia 7610. Er steckte es in die Tasche.
Der Adidas-Reisetasche entnahm er ein Zielfernrohr, das in eine schützende Schicht Unterwäsche gebettet war. Er wickelte es aus und beobachtete durchs Fenster die Fontana di Trevi und den Platz davor. Trotz der jahreszeitlichen Kälte waren noch immer zu viele Menschen hier, undeutliche Gestalten, die kreuz und quer durch sein Blickfeld liefen. Hatten sie unbedingt das beliebteste Touristenziel der Welt für diesen Auftrag auswählen müssen? Jeden Tag wurden Münzen im Wert von dreitausend Euro in den Brunnen in der Mitte des Platzes geworfen, wurden zehntausend Fotos vom Meeresgott Oceanus mit grinsenden Touristen gepostet.
Er zog einen Rollkragenpullover an, setzte seine Sonnenbrille wieder auf und hängte sich eine Kamera um den Hals. Wie Eisenschädel gesagt hatte: Wenn du die Umgebung nicht ändern kannst, werde ein Teil davon.
Unten auf dem Platz verschmolz er mit den Touristenströmen, stöberte in einigen Souvenirläden und nahm dann in einem Café Platz. In den Macchiato, den er dort bestellte, gab er wie die Italiener zwei kleine Löffel Zucker und biss – natürlich – in einen sizilianischen Cannolo.
Er blätterte in dem Donato-Carrisi-Roman, den er bei sich trug, und betrachtete das Foto, das im Buch lag. Der runde Tisch gleich vor dem Fenster war der mit X gekennzeichnete. Vom Hotelzimmer aus würde er gute Sicht auf den Tisch haben, die Entfernung betrug etwa hundertfünfundzwanzig Meter. Die Gebäude, die den Platz umgaben, würden den Wind größtenteils abschirmen, und nichts wäre im Weg. Außer Menschen.
Doch es gibt eine Lösung für jedes Problem. Im Durchschnitt dauert es vier Sekunden, bis jemand auf einen Schreck reagiert. Sagen wir sicherheitshalber drei Sekunden. Das bedeutete, ihm blieben drei Sekunden, nachdem er sich um einen etwaigen Passanten in der Schusslinie gekümmert hatte. Drei Sekunden, um seinen zweiten Schuss abzugeben, von dem Augenblick an, in dem besagter Passant zu Boden ging.
Das würde eine Kugel mehr bedeuten, aber das war kein Grund zur Sorge. Mit seinem Telefon schoss er ein Foto vom Brunnen, darauf bedacht, den Kellnern nicht prägnanter in Erinnerung zu bleiben denn als monochrome Mischung aus sämtlichen asiatischen Gesichtern, die sie täglich sahen.
Das Problem bei Cannoli sind die Krümel. Krümel, die Fettflecken auf den Seiten seines Romans hinterließen. Er hatte gerade vom Tod des Waisenjungen Billy gelesen, des Kindes, das einmal seelenruhig die Stricke, an denen die Leichen seiner Eltern baumelten, durchgeschnitten hatte, der fröhlichste von den sechzehn Schützlingen des Waisenhauses. Ein Junge mit einem unverwüstlichen Lächeln auf den Lippen. Dem Totenschein zufolge war Billy an Meningitis gestorben. Doch als die Polizei zwanzig Jahre später seine Leiche exhumierte, stellte man fest, dass jeder Knochen in Billys Leib gebrochen war. Er war totgeprügelt worden.
Hatte Billy auch noch gelächelt, als er starb? Widerstrebend steckte er den Roman ein. Auf der Rückreise würde er vielleicht Zeit haben, ihn zu Ende zu lesen. Er musste wissen, wer Billy getötet hatte. Die Frage beschäftigte ihn; sie steckte wie ein Schleimpfropf in seiner Kehle fest.
Und bis dahin keine Cannoli mehr.
Taipeh, Taiwan
Wu legte seine Essstäbchen ab und beglich die Rechnung. Er mochte noch nicht ins Büro zurückkehren, winkte ein Taxi heran und nahm die Autobahn durch Shenkeng zum Bahnhof Shiding, wo Chen Li-chang warten wollte.
Chen musste um die siebzig sein, und ihm fehlten mehrere Zähne. Am Ende seiner zehnminütigen Erklärung war Wu mit Speicheltröpfchen übersät. Wenn Wu ihn richtig verstanden hatte, wurde der Dorfbewohner Wang Lu-sheng vermisst. Jedes Mal, wenn Chen ihn besuchen wollte, sagten Wangs zwei Söhne, er sei im Krankenhaus. In welchem Krankenhaus? Familienangelegenheit, sagten sie, das brauche er nicht zu wissen. Daher hatte der alte Herr Chen im Veterans General Hospital und im Tri-Service General Hospital nachgefragt. Keine Spur von Wang Lu-sheng. Besorgt hatte Chen eine Vermisstenanzeige aufgegeben.
Vielleicht hatte Herr Wang das Gedächtnis verloren und fand nicht mehr nach Hause. Oder war von einem Auto angefahren worden und lag jetzt in irgendeiner namenlosen Gasse. Tja, keiner seiner Söhne wollte ihn als vermisst melden. Das blieb an Herrn Chen hängen.
Dann sehen wir uns das einmal an. Wu forderte bei der Zentrale einen Wagen an. Der kam mit einer Besatzung von zwei Grünschnäbeln frisch von der Polizeischule – ihre Abzeichen mit dem einen Streifen und den drei Sternen verrieten sie. Also ab nach Wutuku. Von der Provinzstraße bogen sie auf eine Landstraße, dann auf eine Dorfstraße und schließlich auf eine Zufahrt ab, die ihrerseits nach wenigen Kilometern im Sande verlief.
An einem Hang stand eine Blechhütte von zweifelhafter Legalität, ein Anbau an ein älteres Ziegelgebäude, das wie eine unterfinanzierte historische Ruine inmitten seiner herabgefallenen Ziegel und Fliesen stand. In geborstenen Mauerecken wuchsen junge Bäume langsam auf das Dach zu, das sie irgendwann durchstoßen würden. Keine Chance, Wind und Wasser draußen zu halten, außer vielleicht, man stellte drinnen ein Zelt auf. Es sah aus, als wären die Eigentümer zu dem Schluss gekommen, dass eine Instandsetzung zu teuer wäre, und hätten lieber an einer der Mauern besagte Blechhütte errichtet, wobei sie sich zugleich ein Stückchen vom umliegenden staatlichen Waldgebiet angeeignet hatten.
Der Wagen hielt am Ende des schlammigen Wegs, und drei schwarze Hunde stürmten bellend heran. Seine beiden Begleiter wirkten verunsichert, also stieg Wu aus und warf die Überreste eines Take-away-Essens, das irgendjemand auf dem Rücksitz hatte liegen lassen, in Richtung eines Hundenapfs an der Mauer. Nachdem die Hunde gefressen hatten, legten sie sich friedlich hin.
»Sind seine Söhne hier?«
»Vor zwei Tagen waren sie hier«, erwiderte Herr Chen besorgt.
»Wie heißen sie?«
»Der Ältere wird Taugenichts genannt, der Jüngere Hohlkopf.«
Wu nickte, ging zur Tür der Blechhütte und schnupperte. Penetranter Klebstoffgeruch. Er löste die Verriegelung an seinem Holster, streifte sich den Nieselregen vom grauen Flattop, krempelte die Ärmel seiner Jacke hoch und trat die Tür ein.
»Taugenichts! Hohlkopf! Kommt raus, ihr Arschlöcher!«
Drinnen klapperte etwas, doch niemand antwortete. Wu ging hinein und kam gleich darauf wieder heraus, an jeder Hand einen hageren Mann um die fünfzig. Er stieß die beiden gegen die Motorhaube des Wagens.
»Legt ihnen Handschellen an. Dadrin sind Drogen. Seht euch nach Paps um.«
Das Gelände grenzte an einen Steilhang und war ansonsten von Wald umgeben. Der nächste Nachbar lebte am Fuß des Hügels.
Sie fanden keine Spur des alten Mannes. Aber auf den Plastiktüten und Nadeln in der Hütte Spuren von Heroin. Kategorie A, bis zu drei Jahre, doch wegen ihrer Vorstrafen und der zwei abgebrochenen Entzüge würde es mehr geben. Auf einem Tisch stand außerdem ein großer Behälter mit Klebstoff, zu zwei Dritteln leer, daneben lagen haufenweise vergilbende Plastiktüten. Kein Geld für Heroin, da hatten sie sich auf Klebstoff verlegt. Junkie-Schicksal.
Aber scheiß auf die Drogen. Wo war der Vater?
Großer Bruder Taugenichts wirkte verwirrt, die Schmutzränder um die Augen gut gereift. Sabbernd hockte er neben dem Auto. Der Jüngere, Hohlkopf, konnte immerhin stehen; ein Fuß war nackt und schlammverkrustet, der andere steckte – ebenso schlammverkrustet – in einer billigen Plastiksandale.
»Hier kannst du dich nicht rauswinden, indem du in den Entzug gehst, Hohlkopf. Diesmal geht es in den Knast, und du wirst sechzig sein, wenn du wieder rauskommst. Also sag mir, wo ist euer Vater?«
Hohlkopf starrte auf den Schlamm an seinen Füßen.
»Euer Vater«, fuhr Wu fort und konsultierte die Notizen in seinem Telefon. »Wang Lu-sheng, siebenundachtzig, Unteroffizier des Heeres a. D. Klingelt da was?«
Immer noch keine Antwort.
»Zum letzten Mal.« Wus Blick war finster, seine Stimme dröhnte jetzt. »Wo habt ihr zwei Mistkerle euren Vater vergraben?«
Er packte Hohlkopf am Kragen. »Wie lange ist er schon tot? Seit wie vielen Jahren streicht ihr seine Pension ein?«
Dies erschien Wu nach allem, was Herr Chen berichtet hatte, am wahrscheinlichsten. Und es wäre gar nicht so ungewöhnlich. Die beiden Männer hatten schon als Jugendliche Drogen genommen und gestohlen – keine schweren Verbrechen, aber sämtliche Kleindelikte. Keiner von beiden hatte jemals eine richtige Arbeit gehabt, und die gesamte Familie hing von Wang Lu-shengs staatlicher Rente und seiner Soldatenpension ab. Doch es hatte ihn seit Jahren niemand mehr gesehen. Wu vermutete, dass er tot war und seine Söhne ihn still und heimlich vergraben hatten, damit das Geld weiter floss.
Von der Zentrale der Kriminalpolizei Criminal Investigation Bureau (CIB) und der Außenstelle in Xindian traf Verstärkung ein.
Wu bearbeitete die beiden Junkies noch eine Weile, dann stieß er den schluchzenden und schniefenden Hohlkopf vor sich her in den Wald. »Er hat sich euer ganzes Leben lang um euch zwei Versager gekümmert, und jetzt, wo er tot ist, gibt es nur ein flaches Grab im Wald? Schämt ihr euch nicht? Tiere tun mehr für ihre Toten. Wo ist er?«
Hohlkopf brach im Schlamm zusammen. Sein Bruder führte sie, von beiden Seiten gestützt, tiefer zwischen die Bäume und deutete auf einen Steinhaufen auf einer Lichtung. »Wir … wir … wir sind zum Totenfest immer hergekommen und haben das Grab in Ordnung gebracht.« Das Gejaule eines trauernden Sohnes.
»Ach, scheiß auf euch.« Das Knurren eines zornigen Cops. Wu konnte sich nicht mehr beherrschen und verpasste dem Mann einen Haken, der ihn zu seinem jüngeren Bruder in den Schlamm schickte.
Alle setzten Masken auf. Schon nach kurzem Graben stießen sie auf die Überreste einer menschlichen Leiche. Es war eine regenreiche Gegend, und die Leiche war direkt in die Erde gelegt worden, ohne Sarg oder auch nur eine Matte. Wangs Lohn dafür, dass er sich so lange um seine pflichtvergessenen Söhne gekümmert hatte.
Er war vier oder fünf Jahre zuvor an einer Krankheit gestorben – wobei seine Söhne sich beide nicht mehr erinnern konnten, wann genau. Sie waren sich nicht einmal sicher, woran er gestorben war. Eines Tages war Hohlkopf nach Hause gekommen und hatte seinen Vater reglos im Bett gefunden. Wie lange hatte er da auf dieser speckigen Matratze gelegen? Auch das wussten sie nicht. Taugenichts behauptete, er habe in Yilan auf dem Bau gearbeitet, und Hohlkopf wollte auf den Fischerbooten gewesen sein. Sie waren monatelang nicht hier gewesen.
Ihr Vater war einsam in einer Hütte auf einem entlegenen Hügel gestorben. Hohlkopf rief weder Polizei noch Krankenwagen. Zwei Wochen lang schlief er mit der Leiche in einem Raum und wartete auf Taugenichts’ Heimkehr. Gemeinsam beschlossen sie, die Leiche verschwinden zu lassen und mit dem Siegel und dem Sparbuch ihres Vaters weiter seine Pension abzuheben.
Wenn Herr Chen sich nicht für den Mann interessiert hätte, hätte Wang Lu-sheng auf dem Papier hundert Jahre alt werden können. Unsterblich sogar, dachte Wu.
Er beobachtete, wie der Staatsanwalt mit zugehaltener Nase aus dem Wald floh und davonfuhr, nachdem er Haftbefehle für die beiden Männer unterzeichnet hatte. Das CIB-Team weigerte sich, die zwei mitzunehmen, weil sie Angst hatten, die ungewaschenen Kerle könnten ihnen den Wagen vollstänkern. Dann war jemand aus Xindian so schlau, einen Schlauch zu suchen, und so bekamen die beiden eine Dusche verabreicht. Zwei Straftäter bei diesem Wetter mit eisigem Wasser abzuspritzen … War das Folter? Ein Verstoß gegen die Menschenrechte? Möglich. Ging Wu aber nichts an.
Er lief noch einige Male um und durch die Hütte. Draußen verrostete eine Gasflasche. Der Strom war abgestellt. Ein als Schrank dienender Kühlschrank war leer. Wu fand keine Spur von etwas Essbarem, abgesehen von einer leeren Instantnudelverpackung, in der es von Kakerlaken wimmelte. Wie kam es, dass sie nicht verhungert waren? Er fand einen Stapel Stromrechnungen. Die beiden hatten vor fünfzehn Monaten aufgehört zu bezahlen, und seit einem halben Jahr war der Strom abgestellt.
Da stand ein altes Fass, das sie zum Kochen benutzt hatten; über der Asche hing ein Topf. Am Topfboden waren Überreste dessen, was sie zuletzt zubereitet hatten, überzogen von einer grünen Schimmelschicht. Die beiden waren am Ende, ausgezehrt von ihrer Schnüffelsucht. Da konnte man kaum erwarten, dass sie noch auf eine gesunde Ernährung achteten.
Wu erkundete den Wald und folgte dabei einem schmalen Pfad, der so überwuchert war, dass er die Nase ins Gras stecken musste, um ihn zu erkennen. Ein widerlicher Gestank machte ihn auf eine weitere, kleinere Hütte aufmerksam, die aus drei Eisenblechen und einer klapprigen Tür konstruiert war. Dem Aussehen nach eine Toilette. Es bestand keine Notwendigkeit, die Tür zu öffnen. Zwei Füße – weiblich, noch in Sandalen – schauten darunter hervor.
Er hatte hier kein Signal, daher ging er zurück zu den Autos und brüllte einem der Jungs aus Xindian zu: »Hier drüben! Da ist eine Frauenleiche!«
Mit einem der in die Wagen eingebauten Computer machten sie eine Datenbankabfrage. Hohlkopf war zweimal geschieden, beide Male von derselben Frau, einer Reinigungskraft in einem Thermalkurort. Anscheinend waren sie ein letztes Mal wieder zusammengekommen.
Noch bevor der Wagen des CIB auch nur den Hügel verlassen hatte, wurde er zum Tatort zurückbeordert.
Die Frau war totgeprügelt worden; die Hämatome waren inmitten der Verwesung noch zu erkennen. Ganz in der Nähe fanden sie einen Baseballschläger aus Aluminium im Gras, ramponiert und blutig. Im Blut waren deutliche Hand- und Fingerabdrücke zu erkennen. Wu konnte Hohlkopfs Gestank daran förmlich riechen.
Ein paar Telefonate förderten zutage, dass Hohlkopf und seine ehemalige Frau einen Sohn hatten, der zurzeit wegen Telekommunikationsbetrugs eine zehnjährige Haftstrafe in einem Gefängnis in Guangdong absaß. Wenigstens gingen Kost und Logis für ihn zulasten der Steuerzahler auf dem Festland.
Wang Lu-sheng hatte sich der nationalistischen Armee in Shandong angeschlossen, noch ehe er ganz erwachsen gewesen war. Man hatte ihn überall eingesetzt, zuerst gegen die Japaner, dann gegen die Kommunisten. Er war beim Artillerie-Bombardement auf Kinmen gewesen und hatte für seine Tapferkeit Orden erhalten. Schließlich hatte ihn sein Weg zurück auf die Hauptinsel geführt, und er hatte sich dort niedergelassen, nur damit die drei Generationen seiner Familie ein so schändliches Ende nahmen.
Wu schnappte sich den Schlauch und richtete ihn erneut auf Hohlkopf. Der Mann hüpfte nackt im Schlamm von einem Fuß auf den anderen und bedeckte mit den Händen seine Genitalien. »Wenn euer Vater Hunde aufgezogen hätte, wäre er besser dran gewesen!«, brüllte Wu ihn an.
Wus Chef, Eierkopf, bewahrte Hohlkopf vor einer Lungenentzündung, indem er sich genau diesen Augenblick für seinen Anruf aussuchte. Er schien guter Laune zu sein, allerdings waren seine Worte kryptisch. »Wu, was halten Sie davon, nach Keelung zu fahren und eins dieser köstlichen Sandwiches zu besorgen, die es da auf dem Nachtmarkt gibt?«
»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen sage, wie lange es noch bis zu meiner Pensionierung dauert?«
»Zwölf Tage; das steht auf meiner Tafel. Ich ziehe jeden Morgen einen Tag für Sie ab.«
»Und anstatt mir ein bisschen Frieden zu gönnen, schicken Sie mich nach Keelung?«
»Zum Jahresende ist immer viel zu tun, und dann ist da der neue Chef, Sie wissen ja, wie er ist. Jedenfalls, es ist ein einfacher Selbstmord. Sehen Sie sich da mal um, werfen Sie einen Blick auf Leiche und Waffe, schreiben Sie einen Bericht und überlassen Sie den Rest dem Rechtsmediziner.«
»Ah, also haben Sie doch ein Gewissen. Sie haben mit Bedacht den langweiligsten Auftrag ausgewählt, den Sie finden konnten, damit diese letzten Tage sich auch so richtig in die Länge ziehen.«
Eierkopfs Erwürgtes-Huhn-Lachen. »Und bringen Sie mir zwei von diesen Sandwiches mit – mit Ketchup, nicht mit Mayo. Sieht wieder nicht so aus, als wäre ich zum Essen zu Hause.«
Wu winkte einen der Wagen aus Xindian herbei, als dieser gerade davonfahren wollte. »Wir fahren nach Keelung.«
Der Uniformierte am Steuer wagte eine Rückfrage: »Keelung, Herr Kommissar?«
»Ja.« Wu setzte sich auf den Rücksitz. »Und seien Sie froh, Sie bekommen ein Mittagessen auf Kosten des Dezernats für Organisierte Kriminalität.«
Begeisterungsstürme waren keine zu hören, als der Wagen im Regen davonfuhr. Die Temperatur war auf acht Grad gesunken, der kälteste Tag des Winters bisher, und der Regen fiel unaufhörlich.
Keelung, Taiwan
Unaufhörlicher Regen, und jetzt noch stärker. Keelung war eine Hafenstadt, aber Wu glaubte allmählich, die Luft enthalte genauso viel Wasser wie das Hafenbecken.
Er trank gerade den Rest des großen Kaffees aus, den er sich in einem 7-Eleven besorgt hatte, um seine Lebensgeister zu wecken, da hielt der Wagen vor dem Laurel Hotel an der Südseite des Hafens. Im gläsernen Aufzug nach oben hatte er einen guten Blick auf den Hafen und zwei Fregatten der Cheng-Kung-Klasse, die im Marinestützpunkt ankerten.
Als Wu aus dem Aufzug trat, erblickte er an der Tür zu Zimmer 917 mehrere Uniformierte. Während er auf sie zuging, setzte sich ein süßlicher Gestank hinten in seinem Rachen fest, und er blieb stehen, um sich eine Gesichtsmaske zu leihen.
Also: Kuo Wei-chung, Bootsmann auf einem Zerstörer der Kee-Lung-Klasse, hatte sich an diesem Morgen erschossen. Das Hotel hatte die örtliche Polizei gerufen, die zum Tatort geeilt war und dann das CIB informiert hatte.
Der Verstorbene war adrett in eine blaugraue Uniform gekleidet und saß da mit Blick aufs Meer. Er hatte sich in die rechte Schläfe geschossen. An der linken Schädelseite war die Kugel wieder ausgetreten, begleitet von Blutstropfen, Gehirnstückchen und Knochenfragmenten, die daraufhin auf das zuvor makellos weiße und immer noch faltenfreie Bettzeug gespritzt waren. Die Waffe war eine halb automatische T75-Pistole, eine Version der Beretta M92F, hergestellt in der militärischen Waffenfabrik 205. Neun Millimeter, effektive Reichweite fünfzig Meter, Fünfzehnpatronenmagazin. Hauptsächlich dafür bekannt, dass sie veraltet und ungenau war. Doch es war schwer, nicht zu treffen, wenn man sich mit der rechten Hand selbst in die rechte Schläfe schoss.
Die örtliche Polizei hatte die gesamte Etage abgesperrt und vor einer halben Stunde die Marine informiert. Diese hatte sieben uniformierte Matrosen geschickt, die nun an der Zimmertür strammstanden. Doch noch war es Wus Tatort; die Marine konnte warten.
Wu überflog die verfügbaren Informationen: Kuo Wei-chung, achtunddreißig, lang gedienter Bootsmann, verheiratet, zwei Söhne, lebte in Taipeh. Kuos Frau war in einem freundlicherweise von der Marine zur Verfügung gestellten Wagen unterwegs, um die Leiche zu identifizieren.
Auf ein lautes »Achtung!« hin drehte Wu sich um und sah drei Marineoffiziere hereinkommen. Der Mann ganz vorn, ein Kapitän zur See, rümpfte angewidert die Nase, während er den Tatort betrachtete.
»Wer hat hier die Leitung?«, fragte er.
Wu war nicht erfreut. Wer hatte die an seinen Tatort gelassen? »Der Name ist Wu, Kriminalpolizei.«
»Suchen wir uns ein Fleckchen, wo wir reden können«, erwiderte der Kapitän.
Sie stellten sich an ein Fenster neben den Aufzügen. Wu war eins achtzig, groß für einen Polizisten, doch dieser Kapitän war noch einen Kopf größer. Muskulös obendrein, vielleicht ein ehemaliger Bodybuilder.
»Wir sind erschüttert über diesen Vorfall. Ein Krankenwagen vom Tri-Service General ist unterwegs, um die Leiche zurück nach Taipeh zu bringen.«
Tri-Service General? Wu nahm die Maske ab. »Wir sind mit der Untersuchung des Tatorts noch nicht fertig, und wir warten auf den Rechtsmediziner.«
»War es kein Selbstmord?«
Von wegen, dachte Wu. Was er sagte, war: »Möglicherweise nicht.«
»Wenn es kein Selbstmord war, was dann?«
Mord, dachte Wu. Doch er sagte: »Wir müssen einfach noch ein paar Punkte abklären.«
Der Kapitän machte ein finsteres Gesicht. »Was für Punkte?«
Wu unterdrückte seinen Ärger und zwang sich, zu erklären: »Der Griff der Tasse auf dem Tisch vor dem Verstorbenen weist nach links. Da sind zwei Schachteln mit Take-away-Essen und zwei Paar Essstäbchen. Ein Sixpack Bier, eine Dose geöffnet und halb ausgetrunken …«
»Und?«
»Er muss mit jemandem verabredet gewesen sein und …«
»Fahren Sie fort«, sagte der Kapitän und funkelte ihn wütend an.
»Die Ausrichtung der Tasse: mit dem Griff nach links. Er war Linkshänder.«
»Na schön, war er also Linkshänder. Was noch?«
Wus Geduld hatte Grenzen. »Also sitzt er da allein, trinkt Bier, isst ein, zwei Happen von seinem Take-away-Essen. Sein Freund taucht nicht auf, oder er taucht auf, isst aber nichts, und in einem Anfall von Wahnsinn beschließt Kuo, sich mit der rechten Hand zu erschießen, nur um zu sehen, ob er mit rechts ein genauso guter Schütze ist wie mit links?«
»Ihr Name, Kommissar?«
»Zum zweiten Mal: Wu. Das schreibt sich W … U …«
»Ein bisschen mehr Respekt.«
Ohne die versuchte Provokation zu beachten, fuhr Wu fort: »Die Essstäbchen: Die des Verstorbenen lagen auf der linken Seite, auf einem Teller, und waren benutzt. Das andere Paar war noch eingepackt und lag auf der gegenüberliegenden Tischseite. Er hat auf einen Freund gewartet.«
»Auf einen Freund?« Der Kapitän runzelte die Stirn.
»Die Imbissverpackung im Mülleimer stammt von einer Filiale von Nanjing Salted Duck auf der Xinyi Road in Taipeh. Er hat also in Taipeh Essen besorgt, den Zug oder Bus nach Keelung genommen, auf dem Weg zum Hotel Bier gekauft, dann den Tisch gedeckt: Essen, Bier, Essstäbchen, Hoteltassen … er wartet auf jemanden. Aber er ist aus Taipeh, warum macht er das alles also so weit weg hier drüben in Keelung und bezahlt für ein Hotelzimmer? Wenn es wegen einer Geliebten wäre und er Sorgen hätte, dass seine Frau davon erfährt, warum trägt er noch die Uniform? Ein Handtuch hätte genügt.«
»Also denken Sie, es ist Mord?«
»Verdacht auf Mord, um genau zu sein.«
Die Aufzugtür öffnete sich, und Yang, der Rechtsmediziner, kam in seinem weißen Kittel heraus, gefolgt von zwei Assistenten. Er nickte Wu zu und ging zu Zimmer 917.
»Machen Sie eine Obduktion? Er gehört zur Marine, ob tot oder lebendig, das fällt eigentlich in unsere Zuständigkeit.«
»Da müssen Sie mit meinen Vorgesetzten sprechen. Ich bin bloß ein einfacher Kriminalpolizist und muss mich an die Vorschriften halten. Ob es eine Obduktion gibt oder nicht, hängt vom Rechtsmediziner ab.«
Ohne ihm zum Abschied auch nur zuzunicken, winkte der Kapitän die anderen beiden Offiziere zu sich und betrat wieder den Aufzug. Wu gesellte sich zu ihnen und erntete eine erhobene Augenbraue. »Will nur schnell unten eine rauchen.« Die Augenbraue des Kapitäns blieb oben. Kein Raucher vielleicht.
Wu stand vor dem Hotel, zündete sich eine Zigarette an und sah dem militärgrünen Toyota-Jeep hinterher.
Sein Mobiltelefon klingelte. Wieder Eierkopf, der nun nicht mehr lachte. »Das Verteidigungsministerium war am Telefon, sie sagen, der Verstorbene sei ein Bootsmann gewesen, der sich umgebracht hat, und Sie beharren darauf, es sei Mord …«
»Verdacht auf Mord.«
»Okay, Verdacht auf Mord. Der Chef will einen Bericht, bevor Sie Feierabend machen.«
»Soll ich nicht warten, bis Yangs Leute fertig sind?«
»Kommen Sie jetzt zurück.«
»Dann werde ich keine Zeit haben, Ihnen dieses köstliche Sandwich zu besorgen.«
»Besorgen Sie, was Sie kriegen können. Von mir aus ein nicht sehr köstliches Sandwich, ein überhaupt nicht bemerkenswertes Sandwich. Okay?«
Normalerweise mussten in einem Fall wie diesem sowohl der Bericht der ermittelnden Kriminalbeamten als auch der der Rechtsmedizin vorliegen, ehe der Chef entschied, ob eine Besprechung weiterer Schritte erforderlich war. Und jeder wusste, dass der Chef ein viel beschäftigter Mann war, dessen Tage mit Händeschütteln und Rückenklopfen ausgefüllt waren. Doch heute war es anders. Wurde die Marine besser behandelt als die Bevölkerung? Wie viele Sterne zierten die Schulterklappen des Generals, der diesen Anruf getätigt hatte, und welche bürokratischen Strippen waren gezogen worden?
Wu gefiel das gar nicht.
Wie sein Sohn, wenn der die Essstäbchen hinknallte und sein Abendessen halb gegessen stehen ließ.
Wie sein Sohn, wenn er zu spät zur Universität loskam und ein Schuhchaos hinterließ.
Wie seine Frau, wenn sie von einer frühen Wanderung zurückkam und ihm vorwarf, er gammele im Bett herum, dabei versuchte er bloß, sich von einer durchgearbeiteten Nacht zu erholen.
Wie der Kripochef, wenn er während einer Besprechung ans Telefon ging.
Wie eine Fahrt mit einem überfüllten Flughafenbus, wo man beim Aussteigen feststellte, dass die Brieftasche weg war.
Wie die Entdeckung jetzt, nach dem Verlassen des Hotels, dass der Polizeiwagen kein Benzin mehr hatte.
Wie ein Polizeiwagen mit leerem Tank, der sich in eine lange Schlange an der Tankstelle einreihte.
Wie zwei Müllwagen an der Tankstelle, aus deren offenen Heckklappen ein beißender Gestank drang, und man selbst dazwischen.
Wie das Plakat an der Tankstelle, das eine Preissteigerung von fünfzig Cent verkündete.
Wie der Chef, der ausgerechnet so hereinkam, dass man nur das »Flach…« aussprechen konnte, das harte, unverdauliche »…wichser« aber herunterschlucken musste.
Und genau so fühlte es sich an, zwölf Tage vor dem Ruhestand einen Mordfall auf den Tisch zu bekommen, der sich niemals so schnell würde aufklären lassen.
Rom, Italien
Aufstehen um 6:30 Uhr, Kampfsportübungen, einhundert Liegestütze. Runter ins Café für ein Panino mit Schinken und Salat und einen Latte, während der Blick über den Brunnen und dessen Umgebung schweifte. Ein frostiger, feuchter Tag. Laut Wettervorhersage stand ein langer, heißer Sommer bevor, daher der kalte Winter. Schnee wäre gut. Schnee würde die Touristen nach drinnen treiben und ihm einen saubereren Schuss ermöglichen.
Doch es schneit nie in Rom. War das ein Lied? Nein. It never rains in Southern California, das war es.
Wieder suchte er den Platz ab, überprüfte seinen Fluchtweg. Weniger Touristen bedeuteten weniger Deckung, aber auch weniger Risiko: Mit Kameras und Telefonen wurden Tausende und Abertausende von Fotos geschossen. Man brauchte nur einen Crack, der das Programmieren übernahm, und dann war es bloß noch eine Frage der richtigen Suchkriterien: männlich, allein, Reisetasche, verdecktes Gesicht, in Eile, versteckt sich in der Menge, Asiate. Und im Nu hätten sie ihn, von vorn, im Profil und von hinten.
Tarnung. Eisenschädel, die Fremdenlegion, alle hatten sie ihm das eingeschärft. Die erste Aufgabe eines Scharfschützen ist nicht, zu schießen, sondern zu verschwinden. Keinerlei Auffälligkeiten. Er betrachtete sein unrasiertes Spiegelbild auf der Fensterscheibe. Seine herausragenden Merkmale? Asiate, männlich.
Nach dem Frühstück geht er zurück nach oben, um sich zu verwandeln. Westlich, immer noch männlich. Von einer Internetseite hat er das Bild eines männlichen Amerikaners heruntergeladen, an dem er sich orientieren will. Nennen wir ihn Tom.
Tom hat einen Bauch: Taillenumfang einhundertzwanzig. Trotz der Temperaturen um den Gefrierpunkt trägt er Shorts und Sandalen, die nackten Waden und die Gänsehaut ein sicheres Anzeichen für einen Urlauber. Eine Sony SLR hängt ihm um den Hals, ein ausgebeulter Rucksack auf dem Rücken. Darunter ist ein Schlafsack festgezurrt – der könnte noch nützlich sein, selbst wenn er in Hotels übernachtet – und darunter ein Paar Wanderstiefel. Dazu eine Baseballmütze der Yankees, Redskins oder Dodgers – die der Yankees kommt ihm jetzt gelegen –, unter der krauses rotes Haar hervorschaut. Und um der Sache den letzten Schliff zu geben: ein Klebetattoo an der Wade, das chinesische Zeichen für »Zen«. Ein ins Auge springendes, aber schnell abgelegtes Merkmal ist eine gute Tarnung.
In einem Café auf dem Platz trinkt Tom einen Macchiato – die Milch macht das Getränk für seinen gerade erst erwachten Magen bekömmlicher – und isst zwei Brötchen mit Honig. Zufrieden wischt er sich den Mund ab, macht seinen Gürtel ein Loch weiter, zieht seine voluminöse Jacke an und geht zurück zum Brunnen.
Schreie. Tom ist ebenso fassungslos wie alle anderen und sieht sich nach der Ursache des Tumults um. Als er jemanden »Waffe!« schreien hört, duckt er sich und brüllt zusammen mit dem mittelalten Schweizer, den jungen Japanerinnen und den mit Kameras hantierenden Koreanern. Und nach dem Schrei »Er ist tot!« flieht Tom neben dem Schweizer rückwärts, stößt die Japanerinnen zu Boden, schlägt den Koreanern die Kameras von den Riemen. Tom rennt um sein Leben, verliert eine Sandale. Macht aber nichts; er trägt wie alle amerikanischen Männer Socken in den Sandalen.
Einige Minuten später drängelt Tom sich in die Metrostation an der Spanischen Treppe, wo er zwei Minuten auf einen Zug wartet. Am Hauptbahnhof steigt er aus und entledigt sich auf der Bahnhofstoilette der Shorts, der Sandalen, der Perücke, der Baseballmütze, seiner voluminösen Jacke und des Kissens, das er sich unters Hemd geschoben hatte. Er zieht einen Boss-Mantel und eine Hose aus seinem Rucksack an, dazu Wanderschuhe, deckt den Rucksack mit einem leuchtend grünen Regenschutz ab, setzt eine Wollmütze auf und schlendert aus der Toilette, den Rucksack über einer Schulter. Ehe er in den Zug nach Florenz steigt, stattet er noch dem Kaffeestand auf dem Bahnsteig einen Besuch ab.
Wenn die italienische Polizei die Überwachungsbilder der Kameras in der Umgebung des Tatorts prüft und Tom als Verdächtigen identifiziert, wird der Schütze bereits in einer Gasse abseits des zentralen Platzes in Florenz sitzen und ein Panino mit heißem lampredotto – einer Innerei, dem Labmagen der Kuh – genießen.
Doch jetzt hatte er gerade erst ein Croissant gegessen, und das Panino würde warten müssen. Er kehrte ins Hotel zurück, um sich die Waffe anzusehen.
Dieses Modell wurde im Allgemeinen Springfield M21 genannt. Es gab auch verbesserte Versionen, MK15 und M25. Er nannte es bei sich das M14. Als er Soldat geworden war, hatten sie ein Sturmgewehr aus taiwanischer Herstellung verwendet, das T65, nach dem Modell des US-amerikanischen M16. Während der Scharfschützenausbildung hatte er dann ein bejahrtes M14 bekommen.
Die U.S. Army hatte den Wechsel vom M1 zum M141969 vollzogen und die Scharfschützenwaffe M21 entwickelt, indem man das neue M14 mit einem neunfach vergrößernden Zielfernrohr versehen hatte. Doch es war immer noch eine halb automatische Waffe; dreieinhalb Sterne für Reichweite und Genauigkeit. Im Jahr 1988 wurde es durch das Repetiergewehr M24 ersetzt, das in beiden Kategorien einen zusätzlichen Stern bekam.
Großpapa hatte zu seiner Zeit das M14 benutzt und liebevoll und in aller Ausführlichkeit darüber gesprochen. Einfacher zu reinigen als das alte M1, leichter, genauer. Doch wir werden alle irgendwann alt: Verglichen mit einem M16 aus der Vietnamzeit war das M14 eine plumpe Waffe und konnte mit dem besser zu tragenden SRS oder dem futuristischen schweren Scharfschützengewehr Barrett M107 auch nicht annähernd mithalten.
Am ersten Ausbildungstag hatte Eisenschädel schweigend am Pult gestanden, ein M14 zusammengebaut und sachte über den hölzernen Kolben zwischen Verschluss und Schaftkappe gestrichen, bevor er das Wort ergriffen hatte.
»Von heute an ist eure Geliebte nicht mehr euer Mädchen oder eure Frau oder der Schwanz in eurer Hose. Sondern diese Waffe. Sie ist hässlich. Hässlicher sogar als euer Mädchen. Sie hat ein Zehnpatronenmagazin und wiegt leer viereinhalb Kilogramm. Klingt zu leicht? Angst, ein Windstoß lässt euch verziehen? Dann packen wir mal was drauf.«
Eisenschädel schob ein rechteckiges Magazin in den Schaft und befestigte ein taktisches ART-Zielfernrohr auf der Montage. »Jetzt wiegt sie 5,6 Kilogramm. Seht ihr langsam, wie tödlich sie ist?«
Niemand traute sich, das zu bestreiten.
»Leider mussten wir uns die hier von der Marineinfanterie leihen, aber es ist das Beste, was wir tun konnten. So, Indoktrinierungsquatsch werdet ihr auf unseren Stundenplänen keinen finden. Morgens werdet ihr um sechs Uhr aufstehen – mindestens eine halbe Stunde später als in der Rekrutenausbildung. Ihr macht euch startklar, geht in aller Ruhe pinkeln, und um Viertel nach sechs stellt ihr euch mit dieser Schönheit hier auf. Und dann macht ihr mit ihr einen Fünfkilometerlauf. Wenn ihr ihn morgens nicht zu Ende bringt, lauft ihr mittags noch mal. Wenn ihr ihn mittags nicht schafft, lauft ihr ihn abends noch einmal. Es ist mir egal, ob ich euch Wichser die ganze Nacht wach halte, aber ihr bringt diesen Lauf zu Ende.«
Die Gruppe wurde unruhig. Fünf Kilometer waren nicht viel, aber mit dieser alten Waffe? Da fielen einem die Arme ab.
»Ach, ihr schafft das schon. Ihr werdet jeden Tag mit ihr laufen, bei Wind und Wetter, und ihr werdet sie so zärtlich halten wie euer Mädchen. Dann werdet ihr sie reinigen, bis der Lauf von innen makellos sauber und der Schaft so glatt und weich wie der Popo eures Mädchens ist. Kapiert?«
Alle: »Jawohl, Herr Oberst!«
»Von wegen. Lauft die fünf Kilometer, und dann sagt mir, dass ihr es kapiert habt.«
Während Eisenschädel über das M14 strich, fuhr er fort: »Nach eurem Lauf ist es Zeit fürs Frühstück. So, damit ihr wieder ein bisschen Auftrieb bekommt, hier die Speisekarte: gedämpfte Teigtaschen, so weich wie die Titten eures Mädchens, Sojamilch, so schaumig wie ihr Speichel … dazu Marmelade, Butter, Fleisch, sauer eingelegtes Gemüse, gekochte Eier. Jemand Lust auf Burger? Ich sage der Küche, sie sollen sie auf chinesische Art machen, gebratenes Hähnchen in einer gedämpften Teigtasche.«
Auf dem Ausbildungsgelände händigte Eisenschädel jedem der Scharfschützenanwärter ein Gewehr aus. »Die hier wurden in Korea und Vietnam eingesetzt; es wurden eins Komma drei acht Millionen davon hergestellt. Viel weniger als vom AK-47. Von dem wurden rund hundert Millionen hergestellt. Das hier ist eine verbesserte Version des M14, das M21, und sogar noch seltener, also geht sorgsam damit um. Mit beiden Händen: linke Hand hinter die vordere Riemenhalterung, rechte Hand an den Kolbenhals – das ist der schmale Teil des Kolbens. Auf mein Kommando … Lauft!«
Und von da an hieß es fünf Kilometer täglich mit einem M21-Gewehr. Selbst an freien Tagen musste der Lauf absolviert werden, ehe man den Stützpunkt verließ. Drei Monate und einen Tag mit dieser Routine, und das Gewehr wurde zu einem Teil des eigenen Körpers. Egal in welcher Haltung man schoss, mit der Zeit wurden die Arme zu einem stählernen Rahmen, einer soliden Stütze für die Waffe.
Und beim Combatschießen fand er Gefallen an dem Gefühl des hölzernen Schafts an seiner Wange. Seither hatte er sämtliche Typen von Scharfschützenwaffen verwendet, allesamt besser als das M21, aber mit keiner fühlte er sich so im Einklang.
Er saß im Hotelzimmer an der Fontana di Trevi, nahm das M21 auseinander und wischte die einzelnen Teile mit einem Öltuch ab. Ebenso sanft, wie Eisenschädel vor all den Jahren die Rundungen des Kolbens gestreichelt hatte.
Genauigkeit benötigt eine solide Grundlage. Mit drei Auflagepunkten kann jeder ein Scharfschütze sein. Damals in der Ausbildung hatte man ihm beigebracht, auf diese drei Punkte zu achten: Der Kolben des Gewehrs, fest in die Kuhle an der Schulter gedrückt, war der erste; die rechte Hand um den Kolbenhals – nur halten, nicht zu fest –, ein Finger am Abzug, das war der zweite; die linke Handfläche als Stütze unter dem Lauf – das war der dritte.
»Ganz sachte, als würdet ihr eure Eier halten, nicht wie beim Wichsen. Wenn ihr sie zu fest haltet, kann die Waffe nicht atmen.«
Eingeölt und wieder zusammengesetzt, hatte sein M21 eine Reichweite von achthundert Metern. Einer aus seiner Gruppe hatte einmal versucht, ein Ziel in einem Kilometer Entfernung zu treffen – mit Erfolg. Aber Eisenschädel hatte sich daran gestört.
»Was willst du denn auf diese Entfernung abschießen? Flugzeuge? Bist du eine Luftabwehrbatterie? Dafür haben wir Raketen. Es hat keinen Sinn, mit dem alten Ding zum Himmel zu fuchteln. Bleib bei zwei- bis vierhundert Metern. Wie weit du schießen kannst, ist mir egal; du sollst dafür sorgen, dass jede Scheißkugel zählt – das ist mir wichtig.«
Der Regen prasselte so heftig auf den Boden, dass der Schlamm seine Hosenbeine bespritzte. In dreihundert Metern Entfernung hing ein Pappkamerad.
»Eine Kugel, ein Leben. Wer wird’s sein, dein Ziel oder du? Mach deinen Kopf frei, konzentrier dich, erledige deinen Auftrag!«
Eisenschädel stand vor einer Reihe von Gewehren, die sich mit dem ruhigen Atem der Anwärter hoben und senkten. »Ihr seid dafür da, eure Befehle auszuführen. Wessen Befehle?«
Zehn Stimmen, unisono: »Ihre, Herr Oberst!«
»Ihr seid Soldaten. Ihr habt kein Leben; ihr habt keine Gefühle. Ihr habt Befehle.«
Eisenschädel ging vor zur Hundert-Meter-Marke; der Regen prallte vom Grün seiner Uniform und vom Schwarz seiner Stiefel ab. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, sah er in Richtung der Zielscheiben und brüllte: »Feuer!« Dann lief er zwischen den Schützen und ihren Zielen hindurch und verstellte ihnen so zeitweise die Sicht.