Der gute Mensch von Assuan - Peter S. Kaspar - E-Book

Der gute Mensch von Assuan E-Book

Peter S. Kaspar

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Beschreibung

Berlin-Kreuzberg, Anfang 2015: Durch Zufall lernt der ägyptische Geschäftsmann und Milliardär Mansur Ghali den aus dem Senegal geflohenen Souliman Traoré kennen. Bald erfährt er, wie kurzsichtig man in Deutschland mit Flüchtlingen umgeht: Statt das Potential teilweise gut ausgebildeter Fachkräfte zu nutzen, werden die Neuankömmlinge mit einem Arbeitsverbot belegt und müssen in Flüchtlingsunterkünften ausharren. Mansur, der sein Geld mit dem Bau ganzer Städte verdient, beschließt, das Problem auf seine Art anzugehen: In einem heruntergekommenen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern beginnt er, Flüchtlinge anzusiedeln und für den deutschen Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Doch das ambitionierte Unterfangen ist alles andere als legal und ruft bald die Mitglieder einer ortsansässigen Kameradschaft auf den Plan, die ihre »national befreite Zone« gefährdet sehen. Auch in der Berliner Lokalpolitik bleibt das Projekt nicht unbemerkt, und bald droht seiner Komplizin, der Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, das Ende ihrer Karriere. Peter S. Kaspars Roman ist eine spannende Parabel auf die deutsche Flüchtlingspolitik und zugleich ein flammendes Plädoyer für mehr Menschlichkeit.

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Die Zitate an den Kapitelanfängen entstammen dem Parabelstück »Der gute Mensch von Sezuan« von Bertolt Brecht.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlag Berlin und der Bertolt-Brecht-Erben.

© 2017 Carpathia Verlag GmbH, Berlin

Umschlagillustration: Katja Bröskamp, www.katja.broeskamp.net

ISBN 978-3-943709-15-5 (Print)

ISBN 978-3-943709-16-2 (EPUB)

ISBN 978-3-943709-17-9 (MOBI)

ISBN 978-3-943709-18-6 (PDF)

www.carpathia-verlag.de

Für Ursula

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Nachwort

Prolog

Der Morgen dämmerte über der Bucht von Dakar. Sie lag mit schmerzenden Gliedern in einer kleinen Fischerhütte und starrte an die Decke. Im Nebenraum hörte sie das Schnarchen und Röcheln ihrer Peiniger. Es war leichtsinnig von ihnen, denn sie hätte sich an ihnen rächen können. Hätte sie? Wenn sie sich auf den einen gestürzt hätte, wäre der andere erwacht und sie hätten von vorne begonnen – oder sie vielleicht gleich umgebracht. Und selbst, wenn es ihr gelungen wäre, einen oder sogar beide zu töten, was dann? Was hätte Rashid dann getan? Rashid ging es nur ums Geld. Allen Schleppern ging es nur ums Geld. Sie kroch mühsam zur Tür und sah hinaus auf die Bucht, nach Süden zur ehemaligen Sklaveninsel Gorée. Sie kannte die Geschichte der Sklaveninsel, wie sie die ganze Geschichte Afrikas kannte. So konnte lesen, schreiben und rechnen, war eine ausgebildete Krankenschwester, und würde sie in Europa leben, würde sie jetzt an irgendeiner Universität Medizin studieren. Sie war so nahe drangewesen. Die Erinnerung an Schwester Martha stieg wieder hoch und ihre Augen füllten sich mit Wasser.

Sie war jetzt 22 und ihr halbes Leben hatte sie bei der beeindruckenden Nonne mit den grauen Haaren und dem strengen Dutt verbracht, in der kleinen Missionsstation, rund 20 Kilometer westlich von Garoua. Sie hatte nicht immer in Kamerun gelebt, doch von der Zeit davor wusste sie kaum noch etwas. Ihre Eltern hatten in den Coltan-Minen in Kivu gearbeitet, im Osten des Kongos, genau wie sie selbst und ihr kleiner Bruder Joseph, der damals noch Kambale hieß.

Doch dann waren ihre Eltern gestorben. Ihre Cousine und ihr Mann hatten die beiden Kinder mitgenommen auf ihrer Flucht vor der Miliz und sie schließlich in der Obhut von Schwester Martha gelassen. Schwester Martha hatte ihnen auch die neuen Namen gegeben. Nichts sollte sie mehr an früher erinnern.

Für sie tat sich damals eine völlig neue Welt auf. Sie durfte endlich lernen. Schwester Martha brachte ihr Lesen und Schreiben bei. Und kaum konnte sie lesen, begann sie Bücher förmlich zu verschlingen. Bald bestürmte sie die Nonne, ihr Bücher aus der Bibliothek von Garoua zu besorgen. Alles sog sie in sich auf. Schwester Martha kam aus Wien, und so lernte sie nicht nur Französisch, sondern auch Deutsch. Und auch in medizinischen Dingen bewies sie großes Talent. Nach wenigen Jahren war sie in der Missionsstation unentbehrlich geworden.

Doch dann zerbrach ihre Welt. Sie war in Garoua gewesen, um sich aus der Bibliothek neue Bücher zu besorgen. Als sie zurückkam, lag die Missionsstation in rauchenden Trümmern. Ihren Bruder fand sie unter anderen schrecklich zugerichteten Leichen. Schwester Martha war gefoltert worden, ehe die Terroristen sie umgebracht hatten.

Sie stand in dem zerstörten Büro. Alle Gefühle schienen wie abgestorben zu sein. Das Leben, das Lernen, die Medizin … alles hatte seinen Sinn verloren.

Sie beugte sich über die tote Nonne und nahm ihr wie mechanisch das blutverschmierte Brustkreuz ab. Irgendetwas sagte ihr, dass sie dieses Kreuz in das Mutterhaus von Schwester Martha bringen sollte. Das, so war sie überzeugt, war die letzte und einzige Aufgabe, die ihr das Leben noch zugedacht hatte. Doch wie sollte sie nach Wien kommen?

Das Schicksal hatte sie nach einigen Wochen bis nach Dakar im Senegal gespült und mit einem Schlepper namens Rashid zusammengebracht. Der brachte sie in einer Fischerhütte an der Bucht von Dakar unter. Einen Tag später kamen John und Stuart, zwei bullige junge Männer aus Ghana hinzu. Tags darauf sollte die große Reise beginnen, die bestenfalls erst in Europa zu Ende gehen sollte. Die Chancen, dieses Ziel zu erreichen, das wusste Iris, waren nicht besonders hoch.

Am Abend betranken sich die beiden. Sie hatten schon kurz nach ihrer Ankunft anzügliche Bemerkungen gemacht. Doch Iris hatte die Hoffnung, dass die beiden bald betrunken einschliefen. Stattdessen schlief sie ein.

Sie wurde derbe geweckt, als eine starke Hand sie herumriss und sich ein schwerer, nach billigem Fusel stinkender Körper auf sie warf. Es war Stuart. Sie wollte sich wehren, doch sein Kumpel John hielt ihre Arme fest. Stuart vergewaltigte sie brutal und immer und immer wieder. John hätte es wohl auch versucht, doch der schien dafür inzwischen viel zu betrunken. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ Stuart von ihr ab und die beiden verschwanden im Nebenraum.

Und nun lehnte sie am Türrahmen der Fischerhütte am Strand von Dakar, verletzt, beschmutzt, zerschlagen.

Und schlagartig wurde ihr klar, dass sie sich rächen würde, dass Stuart zahlen würde, und sie wusste auch genau, wie sie es anstellen würde.

1. Kapitel

Sie brauchen jemand.

Wie könnte man da nein sagen?

Die Stewardess tippte ihm leicht auf die Schulter. Mansur Ghali schreckte auf. Ein Teil seiner Unterlagen, die ihm beim Einnicken auf den Schoß geglitten waren, rutschte nun auf den Boden der Kabine. Er wollte sich danach bücken, doch die junge Frau war schneller. Sie raffte die Blätter zusammen und stieß sie auf dem Tischchen zurecht. »Entschuldigen Sie, Mister Ghali«, sagte sie, »aber wir landen in fünf Minuten in Berlin-Schönefeld. Würden Sie sich bitte anschnallen?«

Mansur brummte etwas, das mit gutem Willen als »Danke« durchgehen konnte und versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Er hatte gerade von daheim geträumt, von Ägypten und wie er auf einem weißen Pferd auf eine Oase zuritt. Dabei konnte er gar nicht reiten und hatte auch für Pferde nicht viel übrig, noch weniger für Kamele, es sei denn sie waren entsprechend zubereitet, etwa als Lendensteak mit Schokoladensoße. Er bekam Hunger. Nun bereute er, dass er den angebotenen Lunch ausgeschlagen hatte.

Mansur saß alleine in der Kabine seiner Gulfstream G650, einem Businessjet, der bis zu 8 Passagieren Platz bot und mit dem er nonstop um die halbe Welt fliegen konnte. Der Flieger war weniger Luxus als dringende Notwendigkeit. Mit ihm reiste er in seine Städte. Andere Unternehmer mochten Häuser, Fabriken oder Wohnviertel bauen. Mansur baute am liebsten Städte – schlüsselfertig. Das Konzept war denkbar einfach, aber ausgesprochen effektiv: Man baue ein paar Hotels in traumhafter Lage und dazu ein paar käuflich zu erwerbende Immobilien. Das Ganze garniere man mit der notwendigen Infrastruktur, etwa einem Krankenhaus und einer Schule. Warum eine Schule? Weil die Kinder der Angestellten, die natürlich auch alle in der Stadt lebten, eine vernünftige Ausbildung erhalten sollten.

Vor 25 Jahren hatte er damit an der Küste des Roten Meeres begonnen. El Quays hieß die Stadt, in der nun 25 000 Menschen lebten, mehrere Universitäten einen Ableger errichtet hatten, ein Weingut alte, längst vergessene ägyptische Rebsorten neu züchtete, und deren Hotels zu den angenehmsten Anlagen des ganzen Landes gehörten. Häufig hatten die Touristen gar keine Ahnung, was sich alles in dieser Stadt verbarg, die doch scheinbar nur gebaut worden war, um es den Gästen so angenehm wie möglich zu machen. In gewisser Weise stimmte das auch, doch längst hatte die Stadt ein Eigenleben entwickelt. Mansur hatte in fünf Jahren einen Fußballclub aufgebaut, der inzwischen in der ersten Liga Ägyptens spielte, und dem Verein ein Stadion errichtet, das 15 000 Menschen Platz bot. Die »Quaysis«, die Einwohner von El Quays, liebten ihn dafür. Und das machte Mansur wiederum stolz. Die Leute identifizierten sich mit ihrer Stadt. Das war ihm wichtig, mochten auch andere über die »Kunststadt« oder das »ägyptische Disneyland« lästern – er hatte Tausenden von Menschen eine neue Heimat geschaffen. Und er verdiente viel Geld damit.

Mansur war bald auf den Geschmack gekommen. Nach dem Vorbild von El Quays hatte er solche Städte in den Arabischen Emiraten gebaut, in Marokko, in Costa Rica, in Indonesien, in Südafrika, auf den Kapverden, ja sogar in Europa, nahe des Goldstrandes in Bulgarien. Und selbst in der vornehmen Schweiz konnte er einen Ort mit 4 000 Einwohnern sein Eigen nennen.

Die Maschine setzte sanft auf und Mansur sann noch immer über sein Imperium nach, das er in den letzten 25 Jahren aufgebaut hatte. Alles hatte hier in Berlin begonnen. Hier hatte er an der Technischen Universität studiert und hier waren die ersten Ideen entstanden. Es war ein wenig wie nach Hause kommen. In Schönefeld erwartete ihn auch nicht einer seiner Fahrer mit einer Dienstlimousine oder ein Fahrdienst. Wenn alles gut ging, dann würde da draußen sein alter Freund Roland Hektor warten, ein ehemaliger Kommilitone, den er viel zu selten traf. Sie waren früher oft gemeinsam um die Häuser gezogen, hatten an vielen Abenden an manchen Kneipentischen die Welt gerettet und sich natürlich ewige Freundschaft geschworen. Nach dem Studium hatte ihn Roland das eine oder andere Mal in El Quays besucht, doch bald waren die Besuche seltener geworden und hatten schließlich ganz aufgehört. Doch Mansur hatte Kontakt gehalten, etwas, das ihm grundsätzlich nicht leichtfiel. Und so waren sie Freunde geblieben, Freunde, die sich allerdings nur alle paar Jahre sahen.

Roland hatte Karriere in der Senatsbauverwaltung gemacht, war verheiratet und hatte einen Sohn, der inzwischen seinerseits an der TU studierte. Mansur schüttelte den Kopf. Wie die Zeit vergeht, dachte er sich. Aber eigentlich war er mit Anfang 50 doch noch gar nicht so alt.

Die Stewardess hatte die kurze Gangway heruntergelassen und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, als er die Maschine verließ. Nein, er war entschieden noch nicht zu alt.

»Manni, Manni, hier!«, hörte Mansur rufen und begann, sich ein wenig fremdzuschämen. Er hatte es Roland nie ausreden können, ihn mit diesem Spitznamen zu rufen. Roland winkte aufgeregt, als Mansur vor den Flughafen trat und hilflos die Arme hob.

»Alter, Mann, ey … hab’ ich dir nicht schon vor 20 Jahren gesagt, dass ich nicht Manfred heiße? Ich heiße Mansur, verdammt. Das heißt ›Der Sieger‹ – ach scheißegal.« Sie umarmten sich und ließen sich sekundenlang nicht los.

»Hast du kein Gepäck?«, fragte Roland irritiert. Mansur deutete mit dem Kopf hinter sich. Dort stand frierend der Pilot der Gulfstream und zog einen großen und einen kleinen Hartschalenkoffer hinter sich her. Roland sah seinen Freund vorwurfsvoll an. »Das also ist aus der Weltrevolution geworden!«

Mansur drehte sich um und wollte seinem Piloten die beiden Rollkoffer entwinden. Doch der wehrte sich wortreich und fast schon panisch. Er zuckte mit den Schultern. »Was soll schon aus der Weltrevolution werden, wenn sich das unterdrückte Proletariat mit Gewalt dagegen wehrt?«

Wenig später standen sie vor Rolands Volvo, von dem Piloten misstrauisch beäugt. Der betrachtete den Wagen entschieden nicht als standesgemäßes Gefährt für seinen Herrn. Er lud die Koffer in den geräumigen Gepäckraum des Kombis und verabschiedete sich wortreich.

»Sind deine Untergebenen alle so servil?«, fragte Roland eher neugierig als vorwurfsvoll.

»Manchmal nervt es«, räumte Mansur ein, »aber das ist auch eine Frage der Mentalität. Der Raiis kommt eben knapp unterhalb von Allah.«

»Dann stell doch Kopten ein«, schlug Roland vor und dachte, er habe eine scherzhafte Bemerkung gemacht.

Doch Mansur antwortete ernst. »Meine Belegschaft in Ägypten besteht zu 80 Prozent aus Muslimen. Und was schreiben die Zeitungen? Ich würde nur Kopten einstellen. Da kannst du machen, was du willst.«

»Ist es immer noch so schlimm?«

»Was heißt schlimm? Es ist schon viel besser geworden. Aber weißt du, wir Kopten haben halt im Schnitt mehr Geld, vielleicht, weil wir fleißiger sind, vielleicht cleverer – aber vielleicht liegt es auch daran, dass wir seit 1 400 Jahren in unserem eigenen Heimatland in der Minderheit sind und uns eben immer behaupten müssen.«

»Irgendwie kommt einem das doch bekannt vor.«

Nun lachte Mansur. »Erzähl mir jetzt nichts von den Juden am Rhein. Darüber könnte ich inzwischen selbst Vorlesungen halten. Sag mir lieber, wie geht es eurem Flughafen?«

Roland stöhnte auf. »Das willst du jetzt nicht wirklich wissen, oder?«

Er war in der Senatsbauverwaltung zwar nicht direkt mit dem desaströsen Bau des neuen Hauptstadtflughafens beschäftigt. Aber jeder, der ihn kannte, ging wie selbstverständlich davon aus, dass er über alles genau Bescheid wusste.

»Wenn du dich nicht so sträuben würdest, hättest du den Job haben können«, erklärte Roland vorwurfsvoll.

Mansur lachte. »Soweit kommt’s noch. Ich habe mit meinem Gärtchen genügend zu tun. Aber im Land der Ingenieure und Erfinder sollte sich doch irgendjemand finden, der einen Flughafen bauen kann.«

»Ich weiß nicht, vielleicht geht’s uns Deutschen ja wie euch Ägyptern.«

»Wieso?«, fragte Mansur irritiert.

»Na, ihr habt die Pyramiden gebaut und dann auch erst mal für mal ein paar Jahrtausende Pause gemacht.«

Mansur lachte laut. »Das ist zwar historisch nicht ganz korrekt, trifft aber sicher den Kern der Sache.«

Mansur hatte standesgemäß eine Suite im Adlon am Brandenburger Tor gebucht. Doch als sie sich ihrem Ziel näherten, waren die Straßen von der Polizei abgesperrt.

Roland schlug sich vor der Stirn. »Verdammt, das hatte ich ganz vergessen. Heute ist ja Montag.«

»Und montags komme ich nicht zu meinem Hotel?«, fragte Mansur irritiert.

»Zurzeit eher nicht. Montags wird das Brandenburger Tor von Demonstranten und Gegendemonstranten belagert.«

»Und? Wer gegen wen?«, fragte Mansur leicht belustigt.

»Na ja, das ist mir jetzt ein wenig peinlich. Aber das sind diese Typen, die das Abendland vor einer Islamisierung retten wollen.«

»PEGIDA? Sollten wir da nicht mitmarschieren? Also bei den Gegnern, meine ich?«

Roland zuckte mit den Schultern. »Mir soll’s recht sein, ich war schon viel zu lange nicht mehr auf einer Demo. Aber ich dachte, dass du vielleicht erstmal etwas essen und trinken willst. So schnell wirst du nicht an die Hotelbar des Adlon kommen.«

Mansur dachte nach und bekam dann plötzlich glänzende Augen. »Weißt Du, wie lange es her ist, dass ich eine Currywurst gegessen habe?«

»Mansur Ghali, ein armer, aber ehrlicher Milliardär«, lachte Roland. »Dir kann geholfen werden.«

Dadurch, dass viele Straßen gesperrt waren, wurde es zu einer kleinen Irrfahrt. So fanden sie sich plötzlich in der Alexandrinenstraße wieder, jener Ecke, die zwar den geografischen Mittelpunkt Berlins bildete, aber auch zu den ödesten der Stadt gehörte. Keine Kneipen, keine Läden, nichts, nur ein paar Hochhäuser.

»Du weißt aber schon noch, wo wir sind?«, fragte Mansur zweifelnd.

Roland drehte den Kopf zu ihm und sah ihn mitleidig an. Als er sich wieder der Fahrbahn zuwandte, sah er nur einen Schatten und trat im gleichen Moment mit aller Macht auf die Bremse.

Ein dumpfer Knall.

»Oh mein Gott«, rief Roland entsetzt. »Ich hab’ jemanden angefahren!«

Der Wagen kam zum Stehen. Roland und Mansur rissen die Türen auf. Wenige Meter hinter dem Volvo, halb auf dem Bürgersteig, halb auf der Fahrbahn und direkt unter einer Straßenlaterne lag eine Gestalt. Blut färbte das Pflaster langsam rot. Noch ehe sie das Unfallopfer erreicht hatten, schien es sich zu berappeln. Es war ein junger Schwarzer, der sich nun stöhnend auf seine Arme stützte.

Roland kniete sich neben ihn und fragte: »Alles okay?«

Mansur, der sich von der anderen Seite über den Verletzten beugte, schüttelte den Kopf und brummte: »Reichlich intelligente Frage. Komm, wir müssen Polizei und Krankenwagen rufen.«

Der junge Mann wurde beinahe panisch. »No police, no police, pas de police!«, schrie er in einem Mischmasch aus Englisch und Französisch.

Mansur blickte Roland vielsagend an. »Scheint etwas ausgefressen zu haben, das Früchtchen.«

Roland schien sich zu winden. »Na, wenn er partout keine Polizei haben will … und am Auto wird auch nicht mehr als eine Delle sein.«

Mansur brummte. »Verstehe, Senatsbauverwaltung.«

Roland zuckte schuldbewusst mit den Schultern.

»Trotzdem, ins Krankenhaus muss er. Schau dir die Stirnwunde an. Hat sicher eine Gehirnerschütterung. Vielleicht hat er sich auch noch was anderes eingefangen.« Er wandte sich dem Mann zu. »We will bring you to the next hospital.«

Die Augen des jungen Schwarzen wurden immer größer. Energisch schüttelte er den Kopf. »No hospital, no hospital. Trop cher, nix Geld.«

»Sprachbegabt ist er ja«, meinte Mansur trocken und wandte sich wieder dem Verletzten zu. »No problem. I will pay everything.«

Der Schwarze blieb misstrauisch. Er schien Schmerzen zu haben.

»Ich schätze mal, er kommt wohl irgendwo aus Westafrika«, vermutete Mansur.

»Dann ist er wahrscheinlich ein Flüchtling oder ein Dealer, wahrscheinlich beides.«

»Vous êtes un réfugié?«

Der Mann schaute Mansur ängstlich an. Doch Mansur schenkte ihm sein wärmstes Lächeln. Der andere schien Vertrauen zu fassen. »Pas de police. Seulement l'hôpital. Keine Polizei, nur das Krankenhaus.«

»Ich schau mal nach dem Verbandskasten«, kündigte Roland an.

Bis Roland wieder da war und ein Verbandspäckchen um die Kopfwunde gelegt hatte, hatte Mansur erfahren, dass der junge Mann Souliman hieß und aus dem Senegal stammte.

»Puh, dann wird er ja schlechte Karten haben«, sagte Roland.

»Wieso?«, wollte Mansur wissen.

»Na ja, der Senegal gilt jetzt vielleicht nicht als sicheres Herkunftsland, aber sicher auch als keines, für das besonders triftige Asylgründe vorliegen.«

Die beiden stützten Souliman links und rechts und führten ihn zum Auto. Er ließ alles mit sich geschehen. Roland schnallte ihn noch sorgsam an und fuhr los. Keine fünf Minuten später hatten sie das Urbankrankenhaus erreicht, jene große Klinik, die über dem früheren Hafen am Landwehrkanal errichtet worden war.

Roland bremste scharf vor der Notaufnahme. Sie holten ihren Patienten vorsichtig vom Beifahrersitz, als plötzlich ein Polizist neben ihnen auftauchte.

»Darf man fragen, was hier passiert ist?«, erkundigte er sich, ohne auch nur den Versuch zu machen, sein offenkundiges Misstrauen zu verbergen.

»Verflucht, ich habe schon geahnt, dass ich diese Geschichte heute noch erzählen muss«, fluchte Mansur und weckte damit erst recht die Neugier des Beamten. Roland erstarrte. Mansur lamentierte: »Es war alles meine Schuld. Es ist in unserem Bandkeller passiert. Sammy spielt das Cajón und dann und wann die Steeldrums. Eigentlich kommen wir ja vom Jazz. Na, wir sind ja auch nicht mehr die Jüngsten. Aber seit Sammy bei uns ist, ist das alles ganz anders. Er hat richtig Schwung in unseren Laden gebracht. Na ja, er fand, dass ich an meinem Kontrabass nicht nur einfach so rumstehen sollte, sondern mehr so interagieren.«

»Interagieren?«, fragte der Beamte ungläubig.

»Können wir jetzt, Manni?«, fragte Roland ungeduldig.

»Interagieren …«, wiederholte der Polizist.

»Na ja, er meinte … soll ich das wirklich erzählen? Es ist schon peinlich genug.«

»Was ist peinlich?«

»Sammy meinte, ich solle es mit Samba versuchen.«

»Mit Samba?«

»Na ja, ich solle mit meinem Kontrabass richtig Samba tanzen. Käme auf der Bühne sicher saugut.«

»Und dann?«

»Hab’ ich Sammy voll erwischt mit meinem Kontrabass. An der Stirn, hat geblutet wie Sau.«

»Und warum stehen Sie dann noch rum? Bringen Sie den Mann in die Notaufnahme!«

»Aye, aye, Sir«, erwiderte Mansur zackig.

Sie brachten Souliman in den Warteraum des Krankenhauses.

Roland war noch immer völlig perplex. »Eine dämlichere Ausrede ist dir nicht eingefallen?«

»Je mehr du dich selbst zum Affen machst, desto glaubwürdiger wird doch eine Ausrede. Der hat mir sicher jedes Wort geglaubt.«

»Du und Kontrabass.«

Die Schwester von der Aufnahme kam mit einem Klemmbrett herein. Ehe sie etwas sagen konnte, hatte sich Mansur bereits bei ihr untergehakt.

»Schwester, das ist ein heikler Fall. Der Mann ist ein Flüchtling und hat fürchterliche Angst, dass die Polizei ins Spiel kommen könnte. Er fürchtet, abgeschoben zu werden. Bitte lassen sie die Polizei außen vor. Ich komme für die Behandlung auf. Hier haben sie einen Vorschuss und hier meine Adresse.«

»Nun mal langsam. Wir kennen uns hier mit Flüchtlingen aus und wissen ziemlich genau, wie wir mit ihnen umge…« Sie stockte mitten im Satz, als sie sah, dass ihr Mansur eine Visitenkarte und zwei 500-Euro-Scheine entgegenstreckte.

»Ich denke, das wird die Unkosten für eine Sofortmaßnahme wohl decken?«, fragte er freundlich.

»Aber ja, äh, gewiss … aber sagten Sie nicht, er sei ein Flüchtling?«

Mansur atmete scharf ein, um seinen aufkommenden Ärger wieder herunterzuschlucken. Dann sagte er mit zuckersüßer Stimme: »Sagen wir so: Er ist ein Flüchtling, der heute viel Glück gehabt hat.«

Die Krankenschwester sparte sich nun weitere Fragen, nahm die Karte und das Geld.

»Nun gut. Sie sind offenbar für ihn verantwortlich. Dann …«

»Steht alles auf der Karte. Ohne, dass ich jetzt der Diagnose Ihres Arztes vorgreifen will: Ich vermute, dass ein dringender Verdacht auf eine leichte Gehirnerschütterung besteht. Deshalb schlage ich vor, dass Sie ihn über Nacht hierbehalten, und ich werde morgen wieder nach ihm sehen.«

Die Krankenschwester kniff die Lippen zusammen. Noch einmal wollte sie etwas sagen.

Doch Mansur hielt seinen Zeigefinger an die Lippen. Leise und betont freundlich sagte er: »Ich gehe davon aus, dass das alles tadellos klappt. Wenn nicht, dann kaufe ich dieses ganze Krankenhaus mit allem, was drin ist, und versetze Sie höchstpersönlich in die Spülküche.«

Die Krankenschwester holte Luft und wandte sich an Roland. »Der kann doch nicht …«

Weiter kam sie nicht, denn Roland bestätigte sehr trocken: »Doch, der kann. Das dürfen Sie mir glauben.«

2. Kapitel

Wo da Not ist, denkt er, gibt es keine Güte!

Benjamin Eichbaum knabberte gesalzene Erdnüsse. Es war der Abend des allmonatlichen Hintergrundgespräches mit der Bezirksbürgermeisterin. Seit Monaten drehten sich diese Termine nur noch um das Thema Flüchtlinge. Es war zwar nicht so, dass es keine Probleme mit zu knappem Wohnraum, leeren Haushaltskassen oder Drogen auf den Straßen und in den Parks gegeben hätte, aber es blieb eine unbestreitbare Tatsache, dass die Flüchtlingsfrage all diese Themen erheblich beeinflusste. Der Journalist seufzte laut, schnipste eine Erdnuss hoch und fing sie geschickt mit dem Mund auf.

»Du kannst ja Kunststückchen«, beschied ihm Silke Sperling grinsend. »Vielleicht sollten wir mit dir auf Tournee gehen, dann wäre unsere klamme Haushaltskasse schnell wieder voll.«

»Ja, und eine Woche später würdest du mir erzählen, dass sich der Finanzsenator mal wieder alles unter den Nagel gerissen hat.«

Wenn es nicht um Flüchtlinge ging in diesen Gesprächen, dann häufig darum, wie die Senatsverwaltung ein ums andere Mal die Bezirke aushebelte. Besonders auf den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hatte es das Rote Rathaus abgesehen. Seit Jahren war dieser Bezirk fest in der Hand der Grünen. In allen anderen Rathäusern regierten die Roten oder die Schwarzen – und die bildeten eine Koalition im Abgeordnetenhaus. Kein Wunder also, dass die Landesregierung alles daransetzte, die Bezirksverwaltung bei jeder Gelegenheit schlecht aussehen zu lassen. Gerade das Flüchtlingsthema bot dafür reichlich Gelegenheit.

Silkes Miene wurde grimmig. »Stell dir vor: Wir müssen jetzt in der Mariannenstraße eine Turnhalle räumen, um Platz für Flüchtlinge zu schaffen. Gleichzeitig wollen sie in Treptow jetzt zwei Häuser abreißen, in denen wir 90 Flüchtlinge unterbekämen.«

»Warum sollen die Häuser denn abgerissen werden?«, wollte Benny wissen.

»Für die A 100. Abgesehen davon, dass ich sie für so überflüssig wie einen Kropf halte: Dieser Bauabschnitt wird erst in fünf Jahren in Angriff genommen. Es gibt gar keine Veranlassung, die Häuser jetzt abzureißen. Und es kommt noch besser: Sozialsenator Bunzel erkundigt sich bei seinem Kollegen, Bausenator Rute, ob man die Häuser nicht als Übergangslösung für Flüchtlinge stehen lassen könne – und der Rute sagt nein.«

»Moment«, Benny war höchst irritiert. »Rute ist doch ein Sozi und Bunzel ein Migrantenfresser von der Union?«

Silke grinste breit. »So ist es.«

Bennys parteipolitisches Weltbild hatte gerade einen schweren Knacks bekommen. Aber inzwischen sollte man sich über gar nichts mehr wundern.

In der leicht verqualmten Kellerkneipe hatten sich mittlerweile ein paar Stammgäste eingefunden. Man grüßte sich mit einem kurzen Nicken. Wenn sich Benny und Silke an den kleinen runden Tisch in der Ecke zurückgezogen hatten, dann war den meisten klar, dass dort in gewisser Hinsicht gearbeitet wurde, und das wurde meist auch respektiert.

Dass um diese Zeit zwei wildfremde Menschen die Kneipe betraten, war zumindest so ungewöhnlich, dass Benny kurz den Kopf hob. Er stutzte. Ganz so wildfremd waren sie nicht. Zumindest den einen kannte er doch! Benny schüttelte sich kurz, als habe er eine Erscheinung gehabt, die sich nun schnell wieder verflüchtigen würde. Er sah noch einmal genauer hin. Er war es. Nein, das konnte nicht sein. Was hatte der in einer Kellerkneipe in Kreuzberg verloren?

»Ist was?«, fragte Silke. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Benny schüttelte langsam den Kopf. »Dachte ich auch, aber ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn da am Tresen nicht Mansur Ghali sitzen würde.«

»Kenn’ ich nicht.«

»Das ist einer der reichsten Männer Afrikas. Der baut schlüsselfertige Städte. Ich hab’ ihn vor drei Jahren einmal auf seiner Yacht interviewt.«

Jetzt drehte sich auch Silke um. »Du meinst den gutaussehenden, hochgewachsenen Mann, der ein wenig an Omar Sharif in jungen Jahren erinnert und neben Roland Hektor von der Senatsbauverwaltung sitzt?«

»Kenn’ ich nicht.«

»Aber gleich.«

»Gemütlicher Laden«, sagte Mansur und ließ seinen Blick schweifen.

»Ja, ich war viel zu lange nicht mehr hier.« Roland grinste so zufrieden, als gehöre ihm die Kneipe persönlich.

»Dass es so etwas noch gibt … Ich dachte schon, ganz Berlin würde nur noch aus Espresso-Bars und Cocktail-Lounges bestehen.«

»Ich weiß doch, was dir gefällt«, bemerkte Roland nicht ohne einen Anflug von Stolz.

Der junge Mann hinter dem Tresen servierte den beiden ein frisches, liebevoll gezapftes Bier. Sie stießen an. Da hielt Roland schlagartig mit dem Trinken inne. Über den Rand seines Glases hatte er Silke Sperling gesehen. Wenn es eine Person in dieser Stadt gab, der er heute am wenigsten begegnen wollte, dann war es diese Frau.

»Was ist denn los mit dir? Schmeckt das Bier nicht mehr?«, fragte Mansur besorgt.

»Wir müssen weg«, flüsterte Roland.

»Bis du verrückt? Wir haben gerade mal einen Schluck getrunken.«

Silke winkte grinsend und deutete auf ihren Tisch.

Roland lächelte schief. »Zu spät, sie hat mich entdeckt.«

»Wer hat dich entdeckt?«

»Mansur«, erklärte Roland mit einem tiefen Seufzen, »ich werde dich jetzt einer hochinteressanten Frau vorstellen. Sagt dir der Name Silke Sperling etwas?«

Roland und Mansur traten an den kleinen Tisch.

»Hallo Silke, schön dich zu sehen.«

»Lügner«, sagte sie augenzwinkernd. »Aber nett von dir, das zu sagen. Und dein Begleiter ist wohl Mansur Ghali, ein Mann, mit dessen Privatvermögen der Haushalt des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg für mindestens zwölf Jahre gedeckt wäre?«

Mansur lachte laut auf. »Und Sie müssen die Bezirksbürgermeisterin sein. Ich habe schon gehört, dass Sie kein Blatt vor dem Mund nehmen und dass Sie die Drogenprobleme ihres Bezirks mit Coffeeshops lösen wollen. Interessanter Gedanke übrigens. Ihren Begleiter habe ich auch schon einmal getroffen. Warten Sie … Benjamin Eichbaum. Vor drei Jahren auf meiner Yacht, stimmt’s?«

»Ich bin beeindruckt und geschmeichelt, Herr Ghali. Offen gestanden hätte ich nicht gedacht, dass Sie sich an mich erinnern.«

»In meiner Position tue ich gut daran, mich an möglichst viele Menschen zu erinnern, die einmal meinen Weg gekreuzt haben.«

Die vier einigten sich schnell darauf, einen größeren Tisch zu nehmen. Kaum hatten sie sich niedergelassen, fiel Silke regelrecht über Roland her – und lüftete damit das Geheimnis, warum sie die beiden Männer an den Tisch gebeten hatte.

»Sag mal, Roland, die Sache mit den Häusern in Treptow … Was ist denn in deinen Chef gefahren? Wir wissen nicht mehr, wo wir die armen Teufel noch unterbekommen sollen, räumen Turnhallen frei, bauen Traglufthallen auf und beschlagnahmen jeden halbwegs bewohnbaren Container, und dann wollt ihr zwei Häuser abreißen, in denen wir 90 Menschen unterbringen könnten? Ich glaube, bei euch hackt’s.«

Roland hob abwehrend die Hände. »Ich bin nicht Rute.«

»Aber du hast dich an ihn verkauft.«

»Ach Silke, fang nicht wieder mit den alten Geschichten an.«

»Apropos, wie geht es Deborah?«, fragte Silke zuckersüß und hinterlistig, weil sie genau wusste, dass Rolands Ehe so ziemlich am Ende war.

»Das äh … ja, ich werde sie von dir grüßen.«

»Wirst du natürlich nicht, ist aber auch nicht so schlimm. Was ist nun mit den Häusern?«

»Das würde mich jetzt auch interessieren«, wandte Mansur ein. »Stimmt das, was Frau Sperling sagt? Das ist doch der reine Wahnsinn.«

»Ich kann euch sagen, was dahintersteckt. Rute fürchtet, dass man sie dann nicht mehr rausbekommt oder nur mit den härtesten Mitteln. Ich muss dich nicht an die Gerhart-Hauptmann-Schule erinnern. Davor hat Rute Schiss.«

Mansur schüttelte den Kopf. »Ich verstehe euch Deutsche manchmal nicht. Woher kommt die Angst vor ein paar Zehntausend Flüchtlingen? Ihr habt so viel Geld, dass ihr das Problem locker in den Griff bekommen könntet. Ihr könntet euch doch den ganzen Ärger mit Demonstrationen und Krawall einfach sparen.«

Silke schüttelte heftig den Kopf. »Gerade wir in den Kommunen und Bezirken haben eben gar kein Geld. Wissen Sie, woran man in Kreuzberg merkt, dass der Herbst kommt? Nicht an den gelben Blättern, sondern an der Haushaltssperre.«

»In dem Land steckt genug Geld, man muss nur einen finden, der es für etwas Sinnvolles ausgibt. Ich habe zum Beispiel in Assuan ein ganzes Stadtviertel für Obdachlose gebaut. Warum? Weil ich es kann, und weil ich es richtig finde. Sollte es in Ihrem Land nicht irgendjemanden geben, der so etwas Ähnliches auch macht? Zum Beispiel für Flüchtlinge?«

Benny lachte bitter auf. »Wer bei uns reich ist, verschleppt sein Geld lieber in die Schweiz oder bunkert es auf Grand Cayman. Sozialpflichtigkeit des Eigentums, dass ich nicht lache.«

Roland pflichtete ihm bei: »Soziale Marktwirtschaft, das war einmal. Finsterstes 20. Jahrhundert, Wirtschaftswunderzeit.«

»Es ist doch eigentlich komisch. Damals kamen 13 Millionen Flüchtlinge nach Westdeutschland. Und Westdeutschland war damals nicht reich, sondern völlig zerstört, außerdem lebten nicht 80, sondern nur 50 Millionen Menschen dort. Und trotzdem ist es irgendwie gelungen, sie zu integrieren«, dozierte Benny, so wie er es gerne tat.

Doch Roland fuhr ihm in die Parade. »Aber die Menschen haben damals genauso reagiert. Die wollten auch keine Flüchtlinge. Ich weiß das noch von meinen Großeltern. Die haben immer wie die Rohrspatzen auf die Flüchtlinge geschimpft. Denen sei alles hinten reingeschoben worden, und selbst hätten sie nichts gehabt. Noch Jahrzehnte später waren sie überzeugt, ihnen sei etwas genommen worden. Dabei haben sie wirklich alles gehabt. Großes Haus, dickes Auto, selbst im Alter noch Urlaubsreisen und eine Ferienwohnung in Spanien. Aber auf die Flüchtlinge waren sie Zeit ihres Lebens neidisch.«

Benny hob belehrend den Finger. »Es gab aber einen grundlegenden Unterschied. Die Regierung hat seinerzeit richtig viel Geld in der Hand genommen für das Lastenausgleichsgesetz und auf diese Weise die Flüchtlinge aus dem Osten ganz schnell integriert. Heute ist das anders.«

»Damals brauchte man die Flüchtlinge allerdings auch für den Wiederaufbau des Landes, wenn ich mich nicht irre«, wandte Mansur ein.

»Wir könnten sie jetzt auch wieder gut gebrauchen«, hakte Silke ein. »Es ist ja nicht so, dass das alles Idioten wären, die hier ankommen. Im Prinzip ist Europa ja eine Festung, in die keiner reinkommen soll, den wir nicht reinlassen wollen. Die, die es jetzt trotzdem schaffen, dieses ausgeklügelte und harte System zu überlisten, sind ja offenbar nicht ganz doof. Sie scheinen intelligent zu sein, zielstrebig und zäh. Das sind doch schon mal Softskills, die heutzutage jeder Arbeitgeber gerne sieht. Und dann ist es ja auch so, dass viele von denen, die hier ankommen, auch noch richtig gut ausgebildet sind.«

»Das ist dann doch aber einfach eine Verschwendung menschlicher Ressourcen, wenn ihr solche Leute wieder zurückschickt, oder?«, fragte Mansur ein wenig indigniert.

Silke lachte laut auf und streckte die Arme in einer abwehrenden Geste aus. »Sagen Sie das nie, wenn irgendwelche Parteifreunde von mir in der Nähe sind. Das Wort von den ›menschlichen Ressourcen‹ kommt da gleich hinter ›Sklaverei‹ und ›Leibeigenschaft‹.«

»Ich habe gehört, Flüchtlinge dürfen nicht arbeiten?«, erkundigte sich Mansur. »Dabei könnten sie dann doch für sich selbst sorgen, statt dem Staat zur Last zu fallen.«

»Sie könnten ja auf die Idee kommen zu bleiben«, erwiderte Silke mit galliger Ironie.

»Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien sind okay. Sie sollten nur keine Moslems sein und sich zeitnah wieder nach Syrien verkrümeln«, erklärte Roland und schlug in dieselbe Kerbe.

»Wenn’s richtig knallt und kracht, dann sind auch die PEGIDA-Leute bereit, Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen. Wenn Leute aus einer Region kommen, in der es nicht knallt, sind es automatisch Wirtschaftsflüchtlinge, die nur herkommen, um uns auszunehmen. Die Montagsdemonstranten in Dresden sagen das laut, und viele Politiker denken genau das leise, so sieht es aus«, erklärte die Bürgermeisterin überzeugt.

»Aber eines ist doch auch klar: Die meisten, die, sagen wir, aus Schwarzafrika übers Mittelmeer hierherkommen, haben nicht die geringste Chance, Asyl zu bekommen, weil sie einfach nicht politisch verfolgt werden«, wandte Roland ein.

»Und was spielt das für eine Rolle?«, fragte Silke scharf.

»Wenn ich einen politisch Verfolgten zurückschicke, drohen ihm vielleicht Folterung und Tod. Davor muss sich so ein – entschuldige bitte – Wirtschaftsflüchtling eher nicht fürchten«, wehrte sich Roland.

Silke begann laut zu lachen. Es war ein bitteres, hartes Lachen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Da täuschst du dich aber, mein Lieber. Viele von denen, die du Wirtschaftsflüchtlinge nennst, sind massiv vom Tod bedroht, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren. Und zwar sind es ihre eigenen Familien, die sie dann umbringen«, erwiderte sie ernst.

»Mach keine schlechten Witze mit mir«, gab Roland verunsichert zurück.

»Es ist so: Große Familien, beispielsweise in Ghana, sammeln innerhalb der Familie Geld. Mit diesem Geld soll der intelligenteste Sohn irgendwie nach Europa geschleust werden. Damit er dann möglichst viel Geld verdient, es nach Hause schickt und dann die ganze Familie ein besseres Leben hat. Wenn er nichts zurückschickt oder gar mit leeren Händen nach Hause zurückkommt, dann ist das nicht nur eine unfassbare Schande. Es wird auch davon ausgegangen, dass der Rückkehrer die Familie betrogen hat. Und das führt – der örtlichen Folklore entsprechend – zu ziemlich massiven Maßnahmen, die häufig einen letalen Ausgang nehmen.«

Alle schwiegen einen Moment betroffen.

»Schwarzafrika, sagen Sie?«, hakte Mansur nach.

»Warum fragen Sie?«, wollte Silke wissen.

»Ich habe da einen jungen Mann kennengelernt«, begann Mansur und sah in dem Moment, wie sich ein Anflug von Panik in Roland Hektors Gesicht widerspiegelte. »Der kam wohl aus dem Senegal …«

»Ein Flüchtling? Hier? Wo lernt denn jemand wie Sie hier einen Flüchtling kennen.«

»Das ist jetzt nicht so spannend«, warf Roland ein. »Eigentlich sollten wir jetzt auch langsam los.«

»Na, jetzt mal langsam, Roland. Was hast du denn? Jetzt, wo es gerade spannend wird. Hat dein Freund etwas zu verbergen?«, wollte Silke wissen.

»Nein, nein«, lachte Mansur. »Ich war heute Morgen noch in Paris. Und da hätte mein Fahrer auf dem Weg zum Flughafen um ein Haar einen jungen Mann aus dem Senegal überfahren. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert. Der war wohl auch ein Flüchtling und ich habe mich gefragt, ob er nicht ein ähnliches Schicksal hinter sich hat.«

Silke runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht so recht, wie das in Frankreich ist. Tatsächlich war das ja mal französische Kolonie. Ich denke, dass es für die Leute aus dem Senegal wahrscheinlich leichter ist, nach Frankreich zu kommen«, erwiderte sie.

»Und die Sprache«, fiel Roland ein. »Und die Sprache, nicht zu vergessen. Sie tun sich in Frankreich eben doch viel leichter.«

Benny Eichbaum war die merkwürdige Reaktion von Roland Hektor nicht entgangen. Er hatte ihn und Mansur Ghali scharf beobachtet. Der Ägypter hatte unfassbar schnell reagiert. Doch Benny war sich sicher, dass diese Geschichte mit Paris nicht stimmte. Aber vielleicht stimmte die Geschichte mit dem Unfall – und mit dem Opfer, einem Senegalesen. Benny witterte eine Story.

»Ich kenne ja Ihr soziales Engagement, Herr Ghali. Aber trotzdem: Woher stammt Ihr großes Interesse an der deutschen Flüchtlingsproblematik?«, wollte Benny wissen.

»Ich habe ja hier in Berlin studiert. Die Stadt ist heute noch ein Stück Heimat für mich. Und wenn Sie es niemand verraten: Ich habe sogar eine Zeitlang hinter dem Zapfhahn gestanden.«

»Nee …«, entfuhr es Benny, »das haben Sie nie erzählt.«

Mansur lachte laut auf. »Natürlich nicht, oder glauben Sie, ich hätte gerne die Geschichte vom kellnernden Millionär in Ihrem Blatt gelesen?«

»Aber der Bezirk hat sich hier schon sehr verändert – und ja, natürlich auch mit und durch die Flüchtlinge. Sie sollten Ihn sich mal ansehen. Was meinst du Silke, willst du nicht mal wieder die Stadtführerin machen?«

Sie klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Mensch, das ist mal eine Idee.«

»Dein Terminkalender ist ganz schön voll«, wandte Roland ein.

»Dann mach ich ihn mir morgen mal für den Vormittag ganz leer, würde ich sagen«, entgegnete Mansur. Er funkelte Silke herausfordernd an.

Sie hielt seinem Blick stand und lächelte spöttisch. »Dann werde ich meinen Terminkalender auch leeren. Stand eh nur ein zweistündiges Gespräch mit dem Innensenator auf den Plan. Ich bin froh, wenn ich den nicht sehen muss.«

Mansur nickt zufrieden, streckte ihr die Hand entgegen und sagte fröhlich: »Und lass das mal mit dem Herrn Ghali, ich bin Mansur.«

Silke kratzte sich am Hinterkopf und überlegte. »Okay, Mansur, ich bin Silke … aber eines noch: Komm nicht auf die Idee, mich morgen mit einer Stretchlimo abzuholen. Wir treffen uns um zehn am Oranienplatz – mit dem Fahrrad.«

Mansur riss die Augen auf. »Mit dem was?«

»Mit dem Fahrrad natürlich.«

»Aber da draußen ist es kalt, da ist Winter, da fährt kein Mensch mit dem Rad.«

»In Kreuzberg schon. Musst halt lange Unterhosen anziehen, wenn du so etwas hast.«

Mansur schüttelte den Kopf und schaute Roland hilfesuchend an. »Roland, die Frau ist verrückt, hilf mir.«

Doch Roland zuckte nur mit den Schultern. »Ihr kommst du nicht bei.«

»Meinetwegen, aber du kommst mit.«

3. Kapitel

Sie sind arm.

Sie sind ohne Obdach.

Sie sind ohne Freunde.

Es war einer jener nasskalten, grauen Tage, die den Winter in Berlin so unerträglich machten. Der Himmel, der nur eine Handbreit über den Dächern der Stadt hing, konnte sich nicht so recht entscheiden, ob er regnen sollte oder nicht. Also nieselte er ab und an. Es war kein Wetter zum Fahrradfahren.

Mansur und Roland waren natürlich mit dem Auto nach Kreuzberg gefahren. Mansur hatte in aller Frühe noch ein Mountainbike für 900 Euro gekauft. Er würde es nach dieser Tour vermutlich nie wieder benutzen, dachte er mit ein wenig Bedauern. Sie hatten die Räder in Rolands Volvo verstaut und waren bis zum Wassertorplatz gefahren. Dort stellte Roland den Wagen ab und beide schwangen sich aufs Rad.

Am südlichen Ende des Oranienplatzes warteten Silke und Benny vor einem mehreckigen Holzpavillon.

Nach einer kurzen Begrüßung kam die Bürgermeisterin zur Sache. »Das ist das Dokumentationszentrum, das den Refugees so wichtig war«, erklärte sie. Mansur fiel auf, dass sie nicht mehr von Flüchtlingen sprach. In dem Dokumentationszentrum spiegelte sich der zweijährige, verzweifelte Kampf von rund 100 Flüchtlingen wieder. Sie waren eines Tages im Herbst von München ausgezogen zu einem Protestmarsch nach Berlin. Alleine damit hatten sie sich schon strafbar gemacht, weil sie gegen die Residenzpflicht verstoßen hatten, jener Pflicht also, die es jedem Asylbewerber auferlegte, den Ort nicht zu verlassen, an dem er seinen Asylantrag gestellt hatte oder an den ihn die Ausländerbehörde befohlen hatte. Der Protestmarsch richtete sich gegen diese Regelung ebenso wie gegen das Arbeitsverbot, das es jedem Asylbewerber unmöglich machte, sich durch eigener Hände Arbeit zu ernähren.

In Berlin hatten sie zunächst am Brandenburger Tor demonstriert und schließlich hier auf dem Oranienplatz ein Zeltlager aufgeschlagen. Zwei Winter hatten sie hier verharrt und stets erklärt, sie würden erst wieder weichen, wenn diese Gesetze gefallen seien.

Silke hatte damals zwischen allen Stühlen gesessen, berichtete sie. Einerseits war sie immer davon überzeugt gewesen, dass die Flüchtlinge völlig recht damit hatten, diese Forderungen zu erheben, andererseits konnte sie als Lokalpolitikerin nichts, aber auch gar nichts dafür tun, diese Forderungen zu erfüllen. Im Gegenteil: Gerade, weil ihre Haltung sehr deutlich war, agierte der Innensenator bei jeder Gelegenheit gegen sie. Umgekehrt differenzierten die Flüchtlinge nicht besonders. Für sie war die Bürgermeisterin eine mächtige Frau, so mächtig, dass es ihr doch ein Leichtes sein musste, die Gesetze zu ändern. Warum tat sie es dann nicht?

Viele Flüchtlinge waren im ersten Winter in einer leerstehenden Schule untergebracht worden. Doch auf den Oranienplatz rückten andere nach. Die sanitären Verhältnisse wurden zum Problem, die Gewalt stieg deutlich an, und immer neue Flüchtlinge kamen nach Berlin. Mit den Sprechern der Flüchtlinge wurde verhandelt, um welchen Preis sie den Oranienplatz im Herzen Kreuzbergs verlassen würden. Die Forderungen blieben die Gleichen. Schließlich kam es zu Übereinkünften, die am Ende aber meist wieder platzten. Dann warfen sich beide Seiten gegenseitig Lügen vor, wo es doch offensichtlich um ein gegenseitiges Unverständnis ging.

Das alles erzählte Silke mit bewegenden Worten dem Mann aus Ägypten. »Ich weiß nicht, ob du das auch nur annähernd nachfühlen kannst.«

Mansur lächelte schwach. »Meine Eltern mussten aus Ägypten flüchten – vor Nasser. Ja, unsere Familie war damals schon reich, aber Nasser hat uns enteignet, und so konnten Vater und Mutter nur noch das nackte Leben retten und flohen nach Libyen. Dort hat mein Vater dann den Grundstein für das Familienvermögen gelegt.«

»Hier wäre ihm das wohl nicht so leicht gelungen«, sagte Silke. »Hier hätte er erst einmal nicht arbeiten dürfen.«

»Warum verbietet man Flüchtlingen zu arbeiten? Ich verstehe es nicht. Es ist doch besser, sie arbeiten, als dass der Staat sie versorgen muss.«

Benny mischte sich ein. »Sie könnten ja einem Deutschen den Arbeitsplatz wegnehmen. Vergiss nicht, bis vor kurzem gab es hier noch sehr viele Arbeitslose.«

Mansur schüttelte heftig den Kopf. »Wie kann man nur so einfältig sein?«, zischte er wütend.

Sie radelten die Oranienstraße hinunter, jene Straße, die wie kaum eine andere das multikulturelle Berlin widerspiegelte. Hier fand sich die typische chaotische Mischung, die Kreuzberg berühmt gemacht hatte: Künstler und Autonome, Türken und Araber, Inländer und Ausländer.

An der Mariannenstraße bogen sie ab. Wenige Meter weiter führte Silke sie in einen Hinterhof. Am Hauseingang trat ein Wachmann von einem Fuß auf den anderen. In dem Hinterhof stand eine kleine Turnhalle aus Backstein. Sie sprach kurz mit einem Mitarbeiter der Johanniter, der die Ankömmlinge schon misstrauisch beobachtet hatte. Dann führte er Silke und die drei Männer in die Turnhalle. Etwa ein Dutzend Frauen und Kinder verloren sich in der Halle, die auf den ersten Blick aussah, als bestünde sie nur aus grauen Doppelstockbetten. 40 waren es an der Zahl. Es war ein trostloser Anblick, der an Kasernen in amerikanischen Kriegsfilmen erinnerte – mitten im Frieden.

»Das ist auch so ein Problem. Wir müssen geschützte Räume für Frauen und Kinder schaffen. Durch die beengte Unterbringung, die Unsicherheit über den Ausgang des Verfahrens, das sich oft ewig hinzieht, und vor allem durch die Langeweile wächst in den Sammelunterkünften die Aggressivität. Zu spüren bekommen das dann oft die Kinder und die Frauen. Hier haben sie nichts zu befürchten. Sie haben – jetzt noch – mehr Platz, weil noch nicht einmal die Hälfte der Betten belegt ist. Aber ganz ehrlich. Schön ist auch was Anderes.«

Sie verließen die Turnhalle und fuhren die Reichenberger Straße hinunter. An der Ecke Ohlauer Straße bremste Silke wieder.

»Und das ist unsere berühmt-berüchtigte Gerhart-Hauptmann-Schule. Eigentlich sollten die Flüchtlinge nur den ersten Winter dort verbringen. Doch dann hat sich das Ganze verselbständigt. Und bald waren nicht nur Flüchtlinge in dem Haus, sondern auch Obdachlose, Punks, Autonome und, tja, auch Dealer. Es kam immer wieder zu Schlägereien, zu Übergriffen und allen möglichen Sexualstraftaten. Schließlich wurde auch ein Mann umgebracht. Am Ende wurde größtenteils geräumt. Drei Tage herrschte drei Blöcke um die Schule praktisch der Ausnahmezustand. Über tausend Polizisten waren hier im Einsatz.« Ihre Stimme war ganz monoton geworden. Doch plötzlich wurde sie wieder scharf und hatte einen fast verzweifelten Unterton. »Ist euch klar, wo die Leute herkommen, was sie erlebt haben, was sie auf ihrer Flucht an Not und Elend gesehen haben – und wir spielen hier mit ihnen Bürgerkrieg. Ist das zum Kotzen oder nicht?«

Mansur schwieg betroffen. Er sah Silke verunsichert an und wusste nicht genau, ob sie nun eine Reaktion erwartete. Als sie schließlich kam, war sie so unbeholfen wie falsch.

»Also, wenn ich etwas tun kann … ich habe viel Geld. Ich könnte dem Bezirk ein paar Millionen Euro überweisen, ohne dass mir das wehtäte.«

Zu seiner Überraschung winkte die Bürgermeisterin ab. »Bloß nicht. Der Senat würde sich das Geld schneller krallen, als du es überweisen kannst. Natürlich könntest du hier direkt humanitär irgendetwas tun, aber das löst doch die Probleme nicht. Kommt Jungs, ich zeig euch mal, wie manche unserer Refugees ihr Geld verdienen.«

Wieder schwang sie sich aufs Rad und trat wütend in die Pedale. Die drei kamen der durchtrainierten Politikerin kaum hinterher. Doch schon nach wenigen Hundert Metern verlangsamte sie ihren Tritt. Sie hatten die Wiener Straße erreicht, hinter der sich der Görlitzer Park erstreckte. An einem der Parkeingänge stiegen sie ab und schoben ihre Räder in den Park – durch ein Spalier von Schwarzafrikanern, die durch einige Zischlaute ganz unverfroren Rauschgift anboten. Plötzlich blieb Roland wie angewurzelt stehen und deutete auf den letzten Mann des Spaliers. Er hatte sich gerade abgewandt und erzählte laut und wild gestikulierend einem anderen irgendetwas und deutete dabei immer wieder auf ein dickes Pflaster auf der Stirn.

Mansur riss die Augen auf. »Wenn das nicht unser Freund Souliman ist!«, rief er verblüfft aus.

Benny hob die Augenbrauen und bedachte ihn mit einem vielsagenden Seitenblick.

Mansur tippte Silke an. »Und die verkaufen hier alle Drogen?«

»Jepp!«

Er reichte Roland den Lenker seines Rades. »Halt mal, ich muss da, glaube ich, etwas regeln.«

Zur sichtlichen Verblüffung von Silke ging Mansur auf einen der Dealer zu, der ihn zunächst nicht bemerkte, doch als Mansur ihn leicht an der Schulter berührte, fuhr er herum und zuckte im gleichen Moment zurück. Seine Augen rollten hin und her, als suche er einen Fluchtweg.

»Du bist doch Souliman? Eigentlich wollte ich dich im Krankenhaus besuchen«, sagte Mansur in einem sehr flüssigen Französisch.

Souliman stammelte irgendetwas Unverständliches.

Silke trat dazu, hob überrascht die Augenbrauen. »Du kennst ihn?«, fragte sie.

Mansur nickte und erzählte zum Entsetzen von Roland die Geschichte vom Vorabend. Er berichtete, wie sie eigentlich die Polizei rufen wollten, Souliman dann aber lieber direkt ins Krankenhaus gebracht hatten.

Silke quittierte die Erzählung mit einem leisen ironischen Lachen. »Schätze, dein Freund hat sich noch in der Nacht selber entlassen. Er hatte sicher viel zu viel Angst davor, dass ihn die Polizei hochnimmt und er abgeschoben wird.«

»Dann ist es aber nicht besonders klug, hier Drogen zu verkaufen.«

»Es ist die einzige Möglichkeit für ihn, an Geld zu kommen. Nicht alle, die hier rumstehen, sind Flüchtlinge, aber ganz, ganz viele. Und die, die keine sind, rekrutieren den Dealernachwuchs bei den Flüchtlingen.«

Mansur nickte leicht. Er überlegte einen Moment. »Mich würde seine Geschichte interessieren. Können wir hier irgendwo in ein Restaurant, einen Happen essen und dann erzählt uns Souliman alles?«

Silke zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Ich kenne einen netten Laden am Lausitzer Platz, keine fünf Minuten von hier.«

Mansur wandte sich an Souliman, der unbehaglich in die Runde schaute, die ihn umringte. Er fragte ihn auf Französisch: »Hättest du Lust auf ein Mittagessen? Aber nur, wenn du mir dann deine Geschichte erzählst.«

Diesmal fand Souliman die Sprache schnell wieder. »Oh ja, das wäre mir wirklich eine große Freude, Monsieur.«

»Sag Mansur zu mir.«

»Wer sind all die anderen?«, fragte Souliman misstrauisch und deutete auf Silke und Benny.

»Das sind Freunde von mir.«

4. Kapitel

Der Gewalttätige geht herum und wählt sein Opfer.

Silke führte sie am Lausitzer Platz in ein nordafrikanisches Restaurant. Souliman schien nicht so recht zu wissen, wie er mit der Situation umgehen sollte. Ganz offensichtlich drohte ihm keine Gefahr, aber so ganz geheuer war ihm die Situation anscheinend auch nicht.

Als sie sich an einen Tisch ganz am Ende des Restaurants gesetzt hatten, forderte ihn Mansur auf, seine Geschichte zu erzählen. Zur allgemeinen Überraschung erzählte er die in ganz passablem Deutsch.

Ich komme aus einem kleinen Fischerdorf aus der Region Thiès. Mein Vater, mein Großvater, alle Männer in unserer Familie waren Fischer. Eigentlich hatte ich nicht im Traum daran gedacht, dass ich eines Tages etwas anderes als Fischer werden sollte. Aber meine Mutter konnte sich das sehr gut vorstellen. Ich hatte Glück, denn in unserem Dorf gab es eine Schule. Ein Drittel der Kinder im Senegal gehen nicht zur Schule – weil es keine gibt. Mir machte die Schule Spaß. Ich war ein guter Schüler. Meine Mutter war sehr stolz auf mich. Mein Vater machte dagegen immer ein missmutiges Gesicht, wenn ihm meine Mutter von meinen Erfolgen in der Schule erzählte. Er hat damals wohl schon geahnt, dass sie einen Plan mit mir hatte.

Spätestens nach der Grundschule hätte ich mit Vater und seinen Brüdern hinaus zum Fischen fahren sollen. Der Fisch wurde dann von meiner Mutter und ihren Schwägerinnen auf den Märkten bei uns oder in den Nachbardörfern verkauft. Was übrig blieb, wurde geräuchert und ebenfalls zum Kauf angeboten. Der Fischfang hat unsere Familie nicht reich gemacht, aber uns ging es nicht schlecht. Wir hatten ein geräumiges Haus, jeden Tag genug zu essen. Und wir hatten genug Geld, damit ich auf die weiterführende Schule nach Dakar gehen konnte. Es war eine lange und oft lautstarke Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern. Schließlich setzte sich meine Mutter durch.

Dakar war für mich eine aufregende und spannende Stadt. Vieles war für mich neu und verlockend. Doch trotz allem: Ich ließ mich nicht ablenken, sondern versuchte, einen möglichst guten Abschluss zu machen. Es war klar, ich sollte auf die Universität. Meine Mutter hatte meinen Vater am Ende mit einem Argument überzeugt: ›Wenn Souliman auf die Universität geht, wird er danach einen guten Job finden und nicht nur dich und mich, sondern unsere ganze Familie ernähren können.‹ Dann diskutierten sie darüber, was ich denn studieren solle. Meine Mutter wollte, dass ich Arzt werde. Mein Vater wollte, dass ich Ingenieur werde. Diesmal setzte sich mein Vater durch. Sein Argument: ›Wenn Souliman Ingenieur wird, dann kann er auch jederzeit den Motor von unserem Fischerboot reparieren. Das spart viel Geld und wir können viel schneller wieder auf Fischfang gehen.‹ Mir war das recht, denn ich habe schon früher immer gerne Dinge repariert und zusammengebaut. Medizin hätte ich nicht so gerne studiert.

Schon während meiner Schulzeit begann es, dass die Fänge immer kleiner wurden. Vor der Küste des Senegals kreuzten große Fangschiffe aus Südkorea und Japan. Die hatten es vor allem auf Goldmakrelen abgesehen. Nach ein paar Jahren konnten wir nur noch wenig Räucherfisch verkaufen, weil der frische Fang kaum für den Marktverkauf ausreichte. Zunächst machten sich Vater und seine Brüder nur wenig Gedanken darüber. Es war schon immer so gewesen, dass es Tage mit einem guten und Tage mit einem schlechten Fang gab. Genauso hatte es gute oder schlechte Jahre gegeben – so wie es auch auf dem Land gute oder schlechte Ernten gibt. Doch auf ein schlechtes Jahr folgte ein noch schlechteres und dann ein noch schlechteres. Dann wurde es wieder ein wenig besser, und die Fischer im Dorf begannen schon wieder zu hoffen, dass der Fisch zurückkommt. Doch es ging weiter bergab.

Ich selbst habe davon gar nichts mitbekommen, weil ich voll mit meinem Studium des Maschinenbaus beschäftigt war. Eines Tages jedoch bekam ich einen Anruf, dass ich sofort in mein Dorf kommen solle. Ich befürchtete schon Schlimmes, glaubte, mein Vater habe Schiffbruch erlitten oder meine Mutter sei sehr krank.

Als ich ankam, wartete schon die ganze Familie in der großen Küche auf mich. Und wenn ich sage, die ganze, dann meine ich auch die ganze – nicht so, wie bei euch Europäern, die Eltern und zwei Kinder, nein. Da warteten alle meine neun Onkels und deren Frauen, außerdem noch meine sechs kleineren Geschwister. Was hatte das nur zu bedeuten?

Mein Vater sah mich ernst an und sagte dann: ›Souliman, du kannst nicht mehr in Dakar weiterstudieren. Wir haben bald kein Geld mehr. Die großen Schiffe da draußen fischen das Meer leer. Wir haben kaum noch etwas, was wir verkaufen können, und wenn wir nichts verkaufen, dann haben wir kein Geld mehr, um dein Studium zu finanzieren. Deswegen haben wir lange beraten, was wir tun können. Du bist auf der Universität, das heißt, du bist der Klügste. Deshalb haben wir unser letztes Geld gesammelt. Damit sollst du nach Europa reisen. Ich habe gehört, dass man in Deutschland sogar Geld dafür bekommt, wenn man zur Universität geht. Zumindest hat mir das ein Mann erzählt, der vor einigen Wochen in unser Dorf kam. Er hat versprochen, uns zu helfen. Du musst also nach Deutschland gehen und versuchen, dein Studium dort fortzusetzen, damit du unsere Familie ernähren kannst. Von dir hängt jetzt alles ab. Wenn es dir nicht gelingt, weiß ich nicht, wie wir in Zukunft noch leben können.‹

Ich konnte mich dem nicht widersetzen. Es war mir klar, dass meine Familie mich brauchte. Außerdem war ich sicher, dass ich erfolgreich sein würde. Schließlich war ich ein guter Schüler gewesen und nun ein guter Student. Wenn sie in Deutschland den Studenten sogar Geld für das Studium zahlen würden, dann könnte ich sicher bald viel, viel Geld nach Hause schicken. Es schien mir völlig logisch, dass gute Studenten auch viel Geld bekommen würden. Aber dann kam alles ganz anders.

Tags darauf lernte ich den Mann kennen, der meinem Vater versprochen hatte, uns zu helfen. Wir trafen uns in einem kleinen Café in der Nähe des Strandes. Ich war überrascht. Der Mann war ein Pakistani. Das machte mich misstrauisch. Woher sollte ein Mann aus Pakistan wissen, dass man für ein Studium in Deutschland Geld bekam? Aber Geld wollte vor allem er. Er stellte sich als Rashid vor und begann sofort, in den höchsten Tönen von Deutschland zu schwärmen. Ich unterbrach ihn und fragte, ob es nicht sinnvoller wäre, nach Frankreich zu gehen. Schließlich würde ich ja die Sprache sprechen. Ich könne kein einziges Wort Deutsch und in Frankreich gäbe es schließlich auch Universitäten. Er verzog angewidert sein Gesicht. Frankreich sei das Allerletzte und die Franzosen seien sowieso Rassisten. Deutschland sei großartig und da käme der Staat für alles auf. Außerdem, so meinte er, habe er einen Cousin in Hamburg, der sich um mich kümmern werde, und ich solle mir keine Sorgen machen. Dann ging es ums Geld. 8 000 US-Dollar wollte er haben. Mir verschlug es die Sprache. Doch mein Vater ließ sich gar nichts anmerken. Rashid rechnete vor, dass diese 8 000 Dollar gerade mal seine Unkosten ersetzten. ›Die Fahrt nach Dakar ist das wenigste, dann mit dem Buschtaxi an die Grenze nach Mali, das kostet dann schon ein wenig mehr. Der Zug kostet Geld, die Reise in den Niger und dann der Weg durch die Sahara. Alleine dafür will der Fahrer 2 000 Dollar. Dann für die Überfahrt nach Italien mindestens noch mal so viel. Und die Tickets erst in Europa. Dann muss ich ja auch meine Mittelsleute und die Bestechungsgelder bezahlen. Und glaubt ihr denn, in Deutschland bekommt man den Stempel für das Studiengeld umsonst und einfach so? Nein, nein, auch da muss man die Rädchen schön schmieren.‹

Das leuchtete mir ein, denn wie sollte ein Land ohne Bestechung funktionieren? Da würde doch alles zusammenbrechen. So wie er sprach, kam mir das alles ganz logisch vor. Trotzdem blieb ein Rest Misstrauen.

Mein Vater hatte mit stoischem Blick zugehört. Mit einer großen Geste griff er in die Innentasche seiner Jacke und zog ein dickes Bündel Dollarscheine heraus. Ruhig zählte er die Scheine herunter. Als er bei 4 000 Dollar war, fiel ihm Rashid in den Arm. ›Halt! Du gibst mir 4 000, den Rest bekommt dein Sohn. Er soll mir die anderen 4 000 erst in Bamako geben. Bis dahin kann ich ihn begleiten und bis dahin wird er auch bemerkt haben, dass ich es ehrlich mit ihm meine.‹

Das schien mir ein fairer Handel zu sein und so langsam begann ich, Vertrauen zu ihm zu fassen. Er mochte zwar ein Pakistani sein, aber er schien vertrauenswürdig.

Rashid riet mir, nicht allzu viel Gepäck mitzunehmen, aber dafür jeden Dollar, den ich auftreiben konnte. Allerdings schärfte er mir ein, mein Geld sorgsam zu verstecken. Die Reise, so sagte er ernst, sei gefährlich, und Verbrecher, Diebe und Halsabschneider lauerten an jeder Ecke. Doch bis Bamako solle ich mir keine Sorgen machen. Bis dahin könne er mich beschützen, und auch danach seien stets Freunde von ihm da, die auf mich achtgeben würden.

Dann der Schock: Ich solle mich jetzt vorbereiten, am nächsten Morgen um sechs würden wir nach Dakar aufbrechen.

Der Weg nach Dakar war mir ja gut bekannt. Wir fuhren mit dem Minibus in die Hauptstadt. Dort erwartete mich die nächste Überraschung: Rashid sammelte dort noch drei andere auf. Zwei junge Männer aus Ghana und Iris, eine Christin aus Kamerun. Wir stellten uns einander vor. Die beiden Ghanaer betrachteten mich voller Misstrauen, Iris dagegen wirkte zwar ein wenig scheu, aber dafür freundlich. Viel Zeit blieb nicht. Rashid trieb uns zu unserem Buschtaxi, das uns bis an die Grenze zu Mali bringen sollte. Ein echtes Buschtaxi ist einem Europäer nur schwer zu beschreiben. Klar ist es auch so ein Minibus. Aber meistens ist es völlig überladen, verrostet und auf dem Dach türmt sich meterhoch das Gepäck.

Die Straße bis an die Grenze war fürchterlich, und wir waren froh, als wir in endlich in Kayes ankamen, wo wir in den Zug nach Bamako steigen konnten. Doch die Reise mit dem Zug war noch schlimmer als die Fahrt mit dem Buschtaxi. Der Wagon stank und schien jeden Moment auseinanderzufallen. Er war völlig überfüllt, aber irgendwie hatte es Rashid noch geschafft, für uns vier ein Plätzchen im Inneren zu ergattern. Es war eng, es war stickig und es war heiß. Schon im Buschtaxi hatte ich bemerkt, dass Iris stets versuchte, Rashid oder mich zwischen sich und die Ghanaer zu bekommen. Und bald war mir klar, dass beide, wann immer sich die Gelegenheit ergab, versuchten, sie zu betatschen. Nun gut, Iris war offensichtlich Christin und da musste sie in der Öffentlichkeit mit so etwas rechnen. Aber das war doch noch lange kein Grund für die Ghanaer, sich so schlecht zu benehmen. Ich hatte einmal versucht, Rashid darauf aufmerksam zu machen, doch der bislang so freundliche Rashid hatte mich nur angeherrscht: ›Ich geb’ dir einen Rat. Solange du unterwegs bist, solltest du dich um deinen Kram kümmern. Alles andere kann lebensgefährlich für dich werden.‹