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Ein humorvoller und kluger Roman über die geheimnisvolle Welt der Psychotherapie
Er ist Psychologe, sein Spezialgebiet die Angst. Am Tag praktiziert er, am Abend erklärt er Studenten, was eine gute Therapie ausmacht. Als er wenig begeistert eine Nachtclubtänzerin mit Auftrittsphobie als Klientin annimmt, ahnt er nicht, wie sehr deren Probleme und Geheimnisse auf sein eigenes Leben abstrahlen werden.
Sie kommt freitags um vier, und für sie hat der Psychologe eine Ausnahme gemacht, denn eigentlich arbeitet er nur bis drei. Doch der Fall der Nachtclubtänzerin, die wegen Panikattacken auf der Bühne nicht mehr auftreten kann, interessiert ihn. Über ihren Fall kann er mit seiner Kollegin Nina sprechen. Das lässt Nina zu. Nicht aber, dass er über seine Liebe zu ihr redet. Obwohl es ein gemeinsames Kind gibt. Der Psychologe versucht, seine Gefühle im Zaum zu halten. Er predigt seinen Studenten, was ein guter Psychologe alles können muss. Was er auf keinen Fall tun darf. Und dann passiert es ihm doch: Die Grenze zwischen dem Persönlichen und dem Professionellen wird auf gefährliche Art verwischt.
Ein köstlicher und lehrreicher Roman über die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, über das Chaos im eigenen Gefühlshaushalt und über das Einzige, was wirklich zählt im Leben: die Liebe in all ihren Erscheinungsformen.
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Seitenzahl: 325
Für Mia Lewis
Look out child, it look like something be coming It be coming the long way around Coming the long way around
Chris Whitley, Long Way Around
Der Psychologe sitzt in seinem kleinen Sprechzimmer, stützt die Ellbogen auf den Schreibtisch, vergräbt das Gesicht in den Händen und wünscht sich, sein Vier-Uhr-Termin würde nicht erscheinen. Gewöhnlich nimmt er ab drei keine Termine mehr an. Doch in ihrem Fall hat er sich entschieden, von seiner üblichen Routine abzuweichen. Eine kleine Gefälligkeit, denn sie arbeitet bis spät in die Nacht und schläft lange und kann es nur am späten Nachmittag schaffen, das hat sie am Telefon gesagt. Ihre Stimme, freudlos und gehetzt wie ein überstürzt aufgegebenes Motelzimmer, weckte in ihm eine vage Neugier. Eine kleine Gefälligkeit, sagt er gern zu seinen Klienten, ist wie kleine Münze: Die meisten von uns werden sich letztlich damit begnügen müssen. Kleine Münze, das sind unsere täglichen Gewohnheiten und unsere Routine, unser Alltag, und die Summe unseres Lebens ergibt sich letztlich aus der Summe dieser Alltäglichkeiten.
Seine Alltagsroutine zum Beispiel ist einfach und unkompliziert. Jeden Morgen wacht er früh in seiner kleinen Wohnung auf, duscht und zieht sich an. Seine Wohnung ist bewusst dunkel gehalten. Hohe, mit Büchern beladene Holzregale säumen die Wohnzimmerwände. Früher, in seinen Lehr- und Wanderjahren, hat er sich in diesen Büchern vergraben. Er ist schon vor langer Zeit müde geworden, oder, wie er es ausdrücken würde, zur Ruhe gekommen. Aber noch immer findet er Trost in diesen Backsteinen aus Papier, die die Wände einfassen, als stützten sie das Dach.
Nach dem Anziehen geht er in die Küche, macht sich eine Tasse Tee und setzt sich hin, um die Zeitung zu lesen. Ausgewählte Gegenstände – Geschenke und Erinnerungsstücke, die er im Laufe der Jahre von seinen Klienten bekommen hat – sind über die ganze Küche verteilt. Über dem kleinen quadratischen Tisch hängt ein gerahmter Druck von Bonnards Gedeckter Tisch im Garten, ein Geschenk einer ehemaligen Klientin, einer Cellistin mit Borderlinesyndrom, die eines Nachts auf seinem Rasen auftauchte und ihr Haar in Brand steckte. Sie sind eine Kakerlake, schrie sie ihm damals zu, eine Kakerlake. Wenn ich Sie zertrete, werden Sie zerquetscht. Er betrachtet das Bild gerne: ein gedeckter Tisch unter Bäumen, ein Stuhl, eine Flasche Wein und gelbes Licht, das überraschend lebendig durch die Zweige fällt.
Der Zierteller aus Messing ist ein Geschenk von einer anderen Klientin, einer Reisebüroangestellten mit langen Zöpfen, der er geholfen hatte, über ihren ehemaligen Freund hinwegzukommen. Als er sie bat, eine Erinnerung zu schildern, die ihre Beziehung beschrieb, erzählte sie ihm, ihr Freund habe ihr beigebracht, sich beim Radiohören die Zähne zu putzen. Putz vom Anfang eines Songs bis zum Ende, sagte der Freund; dann weißt du, dass du drei Minuten geputzt hast, wie man es tun soll. Und dann weinte sie.
Der bunte Keramikbecher, den er in der Hand hält, war das Geschenk einer Klientin, deren Namen er vergessen hat, einer Künstlerin, die sagte: Sie haben mir sehr geholfen, und ihn fragte, ob sie ihm ein kleines Geschenk machen dürfe, beim Hinausgehen im Türrahmen einen Augenblick stehen blieb und flüsterte, mein Mann schlägt mich, ging und niemals wiederkam.
Das blaue Handtuch, mit dem er sich die Hände abtrocknet, hat ihm eine obsessiv-zwanghafte Klientin geschenkt, die jeden einzelnen Körperteil mit einem eigens dafür bestimmten Handtuch abzutrocknen pflegte, sechzehn Handtücher für einmal Duschen. Dann musste sie jedes Handtuch einzeln sechsmal waschen und danach am Waschbecken sechsmal die Hände. Der Anblick einer aufsteigenden Luftblase in der Flasche mit Handseife zwang sie, die Flasche in eine braune Papiertüte zu packen und in den Müll zu werfen und in den Laden zu gehen, um eine neue zu kaufen.
In einem Küchenschrank steht eine halb leere Flasche Brandy, die er vor Jahren von einem Klienten geschenkt bekommen hat, der sich später auf folgende Weise umbrachte: Er setzte sich in die leere Badewanne und schnitt sich mit einem Metzgermesser das linke Handgelenk auf. Dann versuchte er, auch das rechte Handgelenk aufzuschneiden, was allerdings misslang. Er gab nicht auf. Er klemmte sich das Messer zwischen die Knie und sägte so an seinem rechten Handgelenk herum, auf und ab. Auf eine zerdrückte Pizzaschachtel im Wohnzimmer hatte er seinen Letzten Willen gekritzelt: Bitte verbrennt meine Leiche. Schüttet meine Asche in die Mülltonne. Danke.
Inzwischen, glaubt der Psychologe, hat er die meisten Probleme des Alltags gelöst. Er wohnt in einer ruhigen, schattigen Straße. Seine Nachbarn sind mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Seine Wohnung ist angenehm. Der Kühlschrank ist voll und summt zufrieden. Der Psychologe erledigt seine Arbeit in der Praxis zwischen zehn Uhr morgens und drei Uhr nachmittags gewissenhaft und gleicht das fehlende Einkommen aus, indem er jedes Semester am örtlichen College einen Abendkurs gibt.
Noch hat der Psychologe das Problem mit dem Sex nicht gelöst. Natürlich gibt es im Kabelfernsehen verschwiemelte Spätsendungen. Es gibt auch Internetseiten voller Gestöhne. In der Kommode verbirgt sich eine alte, abgegriffene DVD aus der Serie Better Sex, die er vor Jahren in seinem Kurs »Menschliche Sexualität« benutzt hat. Die Studenten kicherten beim Anblick mehrerer armer Paare (normale Menschen, keine Schauspieler, hieß es in der beigelegten Broschüre), die sich bemühten, vor der Kamera nonchalant und natürlich zu wirken. Doch der Psychologe findet rasch Erleichterung und eine gewisse Befriedigung beim Anblick einer der Teilnehmerinnen, einer melancholisch dreinblickenden, dunkelhaarigen, spitznasigen Frau, die mit ihrem schnauzbärtigen Partner in dem Kapitel Wechselseitige Masturbationstechniken auftritt.
Darüber hinaus gibt es Nina, oder zumindest die Erinnerung an Nina, die Hoffnung auf sie.
Jeden Tag fährt er in die Praxis für Angsterkrankungen – zwei kleine Räume im Erdgeschoss eines Gebäudes, das früher einmal ein billiges Motel beherbergt hat, das dann aufgegeben wurde. Im Laufe der Zeit ließen sich diverse Unternehmen dort nieder: eine Versicherungsgesellschaft, ein Investmentbüro, ein Reisebüro, ein Fotogeschäft. Auf der anderen Straßenseite, am Ufer des trüben Flusses, der durch die Stadt fließt, wird gerade ein neues Einkaufszentrum errichtet. Die lärmende Kakophonie der Lastwagen, Kräne und Zugmaschinen dringt durch die Wände seines Büros wie das Tohuwabohu von einem Kinderspielplatz. Jenseits des schmalen Parkplatzes fahren pausenlos Autos in die kürzlich eröffnete Waschanlage. Hin und wieder starrt er aus seinem Bürofenster auf diese tagtägliche Parade, und beim Anblick des hingebungsvollen Putzens und Wienerns, der Sorgfalt, mit der weiche Tücher und zärtliche Blicke die Motorhauben, Radkappen und Stoßstangen streicheln, steigt Sehnsucht wie eine traurige, süße Melodie in ihm auf.
Heute Morgen hatte sich der Verkehr auf seinem Weg zur Arbeit zu einem Kriechen verlangsamt. Keine Antwort, verkündete der Aufkleber auf dem Auto, das sich plötzlich vor ihn drängte. Idiot, fluchte er auf den Fahrer, einen mageren, glatzköpfigen Typen, dessen Ellbogen wie eine gerötete Nase aus dem Autofenster ragte, und unmittelbar danach lächelte er vor sich hin und verzieh. Hier haben wir ein weiteres Beispiel einer fundamental falschen Zuordnung, wird er später vor den Studenten sagen: Sie warten an einer Ampel, haben es vielleicht eilig, irgendwohin zu kommen; die Ampel springt auf Grün, und der Fahrer vor Ihnen rührt sich nicht von der Stelle. Sie nennen den Fahrer sofort einen Idioten und unterstellen ihm sämtliche Spielarten hoffnungsloser Dummheit und Verderbtheit des Charakters. Am nächsten Tag stehen Sie an der Ampel, an erster Stelle diesmal, doch heute sind Sie nicht in Eile, summen die Melodie aus dem Radio mit und sind tief in Gedanken versunken. Die Ampel springt um, und der Fahrer hinter Ihnen drückt auf die Hupe. Sie drehen sich um und nennen diesen Fahrer – einen Idioten! Nun? Gewöhnlich zeigt sich, dass weder Sie noch er Idioten sind. Sie sind beide nette, anständige Leute. Der Kontext, die Situation bestimmt unser Handeln. Wer menschliches Verhalten entschlüsseln will, sollte zunächst die Umstände untersuchen, bevor er die Persönlichkeit seziert – eine riskante Operation, die gewöhnlich schiefgeht und den Patienten das Leben kostet, falls es einen Patienten gibt, falls ein solches Sezieren der Persönlichkeit nicht an sich schon eine Krankheit ist.
Keine Antwort. Dieser Fahrer, ein Idiot oder einfach in Gedanken, ist bereits im Verkehr verschwunden, doch die Aussage seines Aufklebers bleibt dem Psychologen in Erinnerung. Er nimmt Anstoß an den vielen Aufklebern auf den Stoßstangen, dem Schmuck und den bedruckten T-Shirts, den Tattoos mit chinesischen Buchstaben von obskurer Bedeutung. Offenbar wurzeln all diese Gesten der Markenbildung in dem Versuch, die eigene Identität und Individualität zu betonen, um einer gewissen destruktiven Anonymität zu entkommen. Doch er empfindet den ganzen Versuch als kindisch und anstrengend, im Grunde genommen ängstlich und letzten Endes vergeblich. Das Alltägliche wird häufig als Strafe aufgefasst, als Schikane, gegen die man zu rebellieren und sich aufzulehnen hat, die man mit Zeremonien und Festen durchbrechen und überwinden soll, mit Reden und Ausrufungszeichen und Partys und Lärm verdrängen, hinter dicken Make-up-Schichten, Wort-schwallen, lauter Musik und Bergen von Essen verschleiern. Der Psychologe selbst findet Trost im gleichmütigen, alltäglichen Rauschen der Stadt, im gedämpften Gemurmel von Unterhaltungen, die man versteht, ohne zuzuhören. Der Psychologe zieht diese Art ruhiger, grauer Anonymität vor, die die Stadt ihren Einwohnern freundlicherweise so freigebig bietet. All diese Fluchtversuche, der Umstand, aufwendige Menüs zu planen und sich herauszuputzen, das zwanghafte Begehen diverser besonderer Anlässe, all dies ist in seinen Augen verdächtig. Schließlich sind es gerade diese ganz besonderen Momente, in denen das Alltägliche, flüchtig wie Rauch, hartnäckig sein Haupt erhebt, ins Bewusstsein dringt und sich dort festsetzt. In jedem Zimmer, das vom Duft einer jungen Liebe erfüllt ist, summt irgendwo eine hässliche Fliege. Beim Sonnenuntergang am Strand dringt klebriger, böswilliger Sand zwischen die Schenkel der Liebenden. Der Essenswagen quietscht sein dissonantes Lied im Zimmer des Patienten, unterbricht die Worte des Arztes irgendwo zwischen tut mir leid und Krebs. Und da sind die schwindende Toilettenpapierrolle, der verlegte Schlüsselbund, ein Saucenfleck, der unbemerkt am Kinn klebt, das schmutzige Geschirr in der Spüle, Dreck an den Absätzen. Der Psychologe hat schon vor langer Zeit vor dem Alltäglichen kapituliert. Er vergleicht es mit einem breiten, rasch dahinströmenden Fluss, schweigend und stark, sowohl Stillstand als auch Bewegung. Vielleicht, denkt er, erlaubt einem die vollkommene Akzeptanz dieses fortwährenden prosaischen Moments, ihn wahrhaft zu transzendieren und an das zu gelangen, was möglicherweise dahinterliegt.
Und trotzdem nagt die Sache mit dem Aufkleber weiter an ihm. Gewiss gibt es irgendwo Antworten. Und darüber hinaus kann Schmuck abgenommen, T-Shirts können gewechselt und Tattoos bedeckt werden. Aber ein Aufkleber auf einem Auto ist wie ein erstarrter Gesichtsausdruck, eine nicht abnehmbare Maske, für immer dort fixiert. Und hier, denkt er, liegt das Paradox: Der Glatzkopf mit dem spitzen Ellbogen hat den Aufkleber gewiss als eine Geste der Vitalität, der Mutwilligkeit auf seiner Stoßstange angebracht oder als eine Art Schutz gegen Herabsetzung, gegen die Unsichtbarkeit; ein Bemühen, sich selbst in der Welt schärfere Konturen zu verleihen. Doch das Fehlen einer Reaktion auf sich verändernde Umstände ist ein Merkmal des Todes. Deshalb handelt es sich bei dem Aufkleber – das erstarrte Lächeln einer Leiche, die jetzt den Asphaltfluss hinuntertreibt – per Definition um ein Emblem des Todes, eine Grabinschrift.
»Du landest immer beim Tod«, wird Nina spötteln, wenn er ihr später an diesem Abend telefonisch von seinem Tag berichten wird.
»Nicht nur ich, wir alle.«
»Ja«, wird sie sagen, »wir alle, aber nicht hier. Nicht jetzt. Bist du es nicht, der seinen Klienten gerne erzählt, wie wichtig es ist, im Hier und Jetzt zu leben? Sagst du nicht immer, dass alle Ängste daher kommen, dass wir in die Vergangenheit projizieren – was habe ich getan? Oder in die Zukunft – was werde ich tun? Das sagst du doch immer.«
»Du bist nicht meine Klientin.«
»Was bin ich denn für dich?«
»Das wird gerade untersucht. Wir gehen der Sache nach.«
Die meisten Klienten in der Praxis für Angsterkrankungen haben einen ganz bestimmten Ausdruck, eine gleichermaßen ausgelöschte wie vor Nervosität bebende Präsenz. Ihr Atem geht schwer, mühsam und ungleichmäßig. Ihre Augen überfliegen irgendwelche zufällig ausgewählten Zeitschriften, behalten nichts. Ihre Hände umklammern die Armlehnen ihrer Stühle, als wäre ein Countdown angezählt, an dessen Ende sie von einem grauenvollen Schub ins All katapultiert würden. Der Psychologe ist die gequälten Blicke, das Zerknäueln von Papiertaschentüchern, die unruhigen Finger und das erschrockene Gähnen in seinem Wartezimmer gewohnt. Dennoch war er bestürzt, als er vor einer Woche um Punkt vier das Wartezimmer betrat und sein Blick auf sie fiel. Sie war bleich und schmächtig wie ein Flüchtling. Ein Gesicht in voller Kriegsbemalung – schwarze Wimperntusche, roter Lippenstift. Sie stand auf, um ihn zu begrüßen, schwankte auf hohen, schmalen Absätzen auf ihn zu. Sie sah ihm nicht in die Augen, sondern hängte ihm ihren Blick um den Hals wie eine kindliche Umarmung. Er stellte sich vor und führte sie ins Sprechzimmer. Sie setzte sich auf das Sofa, wühlte geräuschvoll in ihrer Handtasche, nahm eine Zigarette heraus und fingerte daran herum. Ein scharfer Parfümgeruch hing in der Luft. Er nahm vor ihr Platz und blätterte die Fragebogen durch; ihre Handschrift, krakelig und stockend, verriet Trauer und Vernachlässigung.
»Was führt Sie heute hierher?« So beginnt er stets seine erste Therapiestunde. Anhänger des launischen Wieners behaupten, dass man still dasitzen und dem Klienten die Führung überlassen solle. Doch darin irren sie sich, sind zumindest übereifrig, an dieser Stelle ebenso wie in einer Reihe anderer Punkte. In seinem Abendkurs lehrt er Einführung in die Prinzipien der Therapie; er hadert mit seinen Studenten, vielleicht auch mit dem therapeutischen Unterfangen an sich.
Sie ließ sich Zeit: »Jemand hat etwas in meinen Drink getan.«
»Jemand hat Drogen in Ihren Drink getan?«
Sie nickte. »Ich habe mich im Club mit einem Freund auf einen Drink hingesetzt. Dann bin ich aufgestanden, um zu tanzen. Plötzlich drehte sich alles in meinem Kopf. Mir war schlecht. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich fing an zu schwitzen. Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Ich bekam keine Luft. Ich dachte, ich sterbe. Ich bin nach draußen gerannt. Eines der Mädchen, eine Freundin von mir, hat mich nach Hause gebracht. Seitdem kann ich nicht mehr tanzen.«
»Na und?«, fragte er und wies sich sofort zurecht; zu früh, um die Klientin derart zu provozieren. Es ist üblich und sinnvoll abzuwarten, eine Beziehung aufzubauen. Doch in letzter Zeit schwindet seine Geduld, und Menschen, die unter Angststörungen leiden, sind ohnehin der Überzeugung, ihnen stehe irgendein Unheil ins Haus. Genau diese Überzeugung ist natürlich ihr wahrer Fluch, der sie peinigt und ihr Leben zerstört.
Sie blinzelte: »Na und?«
Er nickte. »Jemand hat etwas in Ihren Drink getan, und Sie können im Club nicht mehr tanzen. Na und?«
»Ich muss tanzen.«
»Sie tanzen gerne in Clubs.«
»Ich muss tanzen. Um Geld zu verdienen. Ich bin Tänzerin in einem Nachtclub.«
»Stripperin.«
»Tänzerin.«
Er sah sie erneut an. Tiefschwarze Augen, weit aufgerissen, eine sommersprossige Stupsnase. Alte Aknenarben bildeten Flecken auf ihrem blassen Gesicht. Sie sah ihn an. Das ist der entscheidende Moment, dachte er. Sie testet, ob ich sie verurteile oder von oben herab behandle. Er wusste, dass er diesen Test bestehen würde. Er urteilt nicht über seine Klienten, rivalisiert nicht mit ihnen und übernimmt nicht ihre Last. Diese Position ist für seinen therapeutischen Ansatz von elementarer Bedeutung. Er ist sehr stolz darauf.
Beflissene Therapeuten, die zugewandten Gutmenschen, die vor gutem Willen und Mitgefühl triefen, machen falsche Versprechungen, und der Kontakt mit ihnen ist verletzend, wird er später in seinem Kurs sagen. Ein Therapeut, der zu Hilfe eilt, vergisst zuzuhören und kann deshalb weder verstehen noch erkennen. Der beflissene Therapeut, der entschlossen ist, Rettung anzubieten, wird in die Sache verwickelt und versucht sich selbst zu retten. Ein guter Psychologe hält Distanz und lässt sich nicht in die Ergebnisse seiner Arbeit verstricken. Die richtige Distanz erlaubt einen genauen und klaren Blick. Ein guter Psychologe überlässt die Sache mit der Nähe Familienangehörigen und geliebten Haustieren, und die Sache mit der Rettung überlässt er religiösen Bürokraten und Exzentrikern an Straßenecken.
Sich nicht verstricken zu lassen ist keine intuitive Haltung, wird er seinen Studenten sagen, und sie ist nicht einfach durchzuhalten. Sogar der launische Wiener, der so viel darüber nachdachte und davon sprach, versagte in dieser Verhaltensprüfung, in diesem ultimativen Test, denn er ließ sich von seiner Neugier und seinem Temperament eines Eroberers hinreißen. Doch das therapeutische Unterfangen an sich läuft unserer ursprünglichen Intuition zuwider und bleibt unverständlich, wenn nicht das Fremde wertgeschätzt wird. Warum sollte jemand einem Wildfremden seine intimsten Geheimnisse ausplaudern, wenn dieser Fremdheit nicht etwas Heilsames zugrunde läge? Sie mögen jetzt sagen: Die Menschen suchen bei einem Psychologen dessen Wissen, nicht die Fremdheit. Doch diejenigen unter Ihnen, die mit einem Psychologen als Familienmitglied geschlagen sind, werden bestätigen, dass es vergeblich ist, ihn oder sie mit Ihren Problemen zu behelligen. Zu einem Therapiegespräch wird es nicht kommen. Es wird keine Erleichterung geben. Ihre Verwandten und Freunde sind in Ihr Leben eingebunden. Die Verwicklung mit Ihnen ist teilweise eine Verwicklung mit sich selbst, und ihr Blick auf Sie ist daher verzerrt, was zu Verwirrung und Reibung führt – ein Funkenregen, aber weder Licht noch Aufklärung.
Ein guter Psychologe ist nicht von der Menschheit besessen, wird er später hinzufügen. Bitte, all die Menschenfreunde mögen ans Krankenbett eilen, all die mit dem blutenden Herzen und die Altruisten, die zerbrechlichen Egos unter Ihnen, die im Lichte der Dankbarkeit eines anderen nach tiefer Sonnenbräune trachten, die Händler von Geheimnissen, bitte treten Sie näher – an dieser Stelle wedelt er dramatisch mit den Händen (Pädagogik ist Theater, erzählt er Nina gerne, und nicht nur in dem Sinne, dass es sich um eine Täuschung handelt). Ein guter Psychologe, wird er fortfahren, ist Menschen gegenüber ambivalent, denn er kennt ihre verräterische Natur, ihr Potenzial zu Zerstörung, Selbsttäuschung und Betrug. Ein guter Psychologe strebt nach vollkommener Präsenz und danach, sich im Raum des Inneren korrekt zu bewegen. Seine Vernarrtheiten behält er besser für sich.
»Tänzerin. Sie sind heute hierhergekommen, damit ich Ihnen helfe, auf die Bühne zurückzukehren?«
»Ja. Ich versuche an den meisten Abenden, in den Club zu gehen. Ich bin an der Bar. Ich helfe da und dort. Aber ich kann nicht tanzen.«
»Und dies ist das erste Mal, dass Ihnen so etwas zustößt?«
»Was meinen Sie mit ›so etwas‹?«
»Ein Gefühl von Angst und Schrecken – Übelkeit und Verwirrung, die Sie aus heiterem Himmel überfallen, schlagartig. «
Sie kratzte sich im Gesicht, und ihre Blicke zuckten durch den Raum, ziellos und verängstigt wie ein in die Falle geratener Vogel. »Ja … mmmh, ja.«
»Wer, glauben Sie, hat Ihnen etwas in den Drink getan?«
»Wissen Sie, wem dieser Stripclub in der Stadt gehört?«
»Nein.«
»Dem russischen Mob.«
»Der russische Mob hat Ihnen etwas in den Drink getan?«
Sie schwieg.
»Gibt es dort jemanden, der Ihnen Böses will?«
Plötzlich weinte sie. Ihre Augen röteten sich. Ihre Schultern bebten. Er wartete ab. Schließlich beugte er sich zu ihr und reichte ihr ein Taschentuch. Er merkte sich diesen Moment. Tränen sind die Blutspur, die zur Leiche im Gebüsch führt.
»Ist es möglich, dass wir gar nicht von Drogen sprechen? Die Erfahrung einer Panikattacke ist sehr verstörend und abrupt, ohne erkennbaren Grund. Es gibt eine natürliche Neigung, einen äußeren Grund für diese Gefühle zu suchen.«
»Sie glauben, ich sei verrückt?«
»Ich weiß nicht, was das ist.«
»Sie sind Psychologe und wissen nicht, was verrückt ist?«
»Verrückt bedeutet geisteskrank. Geisteskrankheit ist ein Rechtsbegriff. Wir gebrauchen ihn nicht.«
»Ich bin nicht verrückt.«
»Wir sind hier nicht vor Gericht.«
Er sah sie prüfend an, ob seine Schonungslosigkeit sie beleidigt habe, doch sie redete weiter: »Ich werde als wichtigste Tänzerin herausgestellt. Ich habe vor einem Jahr angefangen und bin bereits die Hauptattraktion. Mein Boss sagt, ich sei die Beste. Ich mache jeden Abend Hunderte von Dollars. Aber ich schlafe lange. Wir müssen uns nachmittags treffen.«
»Gewöhnlich höre ich um drei Uhr auf.«
»Ich schaffe es frühestens um vier.«
Er nickte. »Dann können wir uns um vier sehen.«
»Sie würden meinetwegen länger bleiben?« Ihre Stimme zitterte an den Rändern.
»Ich bin flexibel. Vier Uhr ist immer noch im Rahmen.«
»Danke«, sagte sie.
»Die Art und Weise, wie ich bei meiner Behandlung vorgehe, ist anspruchsvoll und intensiv. Sie werden üben müssen, lesen und zu Hause arbeiten. Wir liegen nicht auf der Couch und diskutieren über Bettnässen und Träume.«
»Ich kann arbeiten. Ich bin dazu bereit.«
»In Ordnung.«
»Warum ist mir das passiert, diese Panik?«
»Alle bedeutsamen Ereignisse haben viele Gründe, niemals nur einen. Aber das ist jetzt nicht so wichtig.«
»Nicht so wichtig?«
»Sie müssen nicht wissen, was einen Platten verursacht hat. Sie müssen nur das Loch finden und flicken. Sie können einen Einbrecher aus dem Haus jagen, ohne zuerst herauszufinden, wie und warum er eingebrochen ist.«
Sie sah ihn mit misstrauisch gerunzelten Brauen an. Sie nickte langsam. Sie standen auf, und er öffnete die Tür. Auf dem Weg hinaus drehte sie sich um und stand vor ihm. Zu nah, dachte er. Ihre Brüste wölbten sich unter der Bluse.
»Sie können mir wirklich helfen?«
»Nein«, sagte er, »aber ich kann Sie bei einem Prozess unterstützen, in dem Sie lernen, sich selbst zu helfen.«
Er streckte die Hand aus. Sie ergriff sie. Ihre Handfläche war trocken und weich.
»Nächsten Freitag, vier Uhr«, sagte er, und sie ging.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und rief Nina an.
»Dr. Michaels«, meldete sie sich.
»Dr. Michaels«, erwiderte er in leise spöttischem Ton.
»Ah, du bist es.« Ihre Stimme hellte sich auf.
»Dr. Michaels, ich brauche Ihre Hilfe.«
»Bete«, sagte sie.
»Zu wem? Gott? Nun ja, tatsächlich hatte ich vor Jahren etwas mit ihr. Wir waren beide betrunken. Zumindest war ich es. Wie auch immer, wir verbrachten die Nacht zusammen. Am nächsten Morgen verschwand sie und rief nie wieder an. Hinterließ nicht einmal eine Nummer, und ich habe sie seither nicht mehr gesehen. In Wahrheit hege ich immer noch einen Groll, aber ich habe gelernt zu vergessen, loszulassen …«
»Ich kann nicht glauben, dass man dir die Zulassung erteilt hat«, lachte sie. »Wenn deine Klienten wüssten, mit wem sie es zu tun haben …«
»Mit wem haben sie es denn zu tun?«
»Mit jemandem, der das Wort Gott hört und es mit Sex in Verbindung bringt. Es ist beängstigend.«
»Dich bringe ich auch mit Sex in Verbindung. Ist das nicht beängstigend?«
»Wir waren nicht betrunken, und ich bin nicht verschwunden. «
»Du bist verschwunden.«
»Ich bin nicht verschwunden. Ich bin weggegangen.«
»Objektiv betrachtet, ja, doch auf der Ebene subjektiver Betrachtung …«
Sie schwieg.
»Ich war verliebt.« Seine Stimme krächzte.
Ein kurzes Schweigen. Ihre Stimme wurde weicher: »In gewisser Weise werde ich immer dein sein. Das weißt du.«
»In gewisser Weise. Ja. Ja.«
Eine lange Pause.
Ihre Stimme wurde noch weicher: »Hey, du, es ist gut, deine Stimme zu hören. Wie geht es dir?«
»Ganz gut. Ein geschäftiger Tag. Eine geschäftige Woche.«
»Du nimmst zu viel an. Eine hypomanische Episode?«
»Klar. Du durchschaust mich einfach. Du wirst es in dieser Branche noch weit bringen.«
»Dann macht das wenigstens einer von uns.«
»Ich habe einen neuen Fall, eine Stripperin mit Bühnenangst. «
»Mach keine Witze.«
»Ich meine es ernst. Fünfundzwanzig Jahre alt, ein bisschen Borderline, aber nicht ganz, neurotisch, nicht psychotisch, weint leicht, Rehblick, aber nicht leer, steht zu dicht vor einem, verängstigt. Kindheitstrauma, wenn ich raten müsste.«
»Drogen?«
»In den Fragebogen bestreitet sie es, ist aber wahrscheinlich. Ich werde später darauf zurückkommen.«
»IQ?«
»Normal, wie es scheint. Hat die Highschool abgeschlossen, nicht dass das etwas zu bedeuten hätte; kampflustig, aber ungeschliffen. «
»Auftreten?«
»Extrovertiert. Nicht ungepflegt. Dick geschminkt. Und frag nicht nach den Absätzen.«
»Blickkontakt?
»Kommt und geht.«
»Attraktiv? Flirtet sie?«
»Kindlich. Vorsichtig.«
»Beziehung?«
»Alleinstehend. Genaueres muss ich noch herausfinden.«
»Du wirst meine Hilfe brauchen.«
»Ich werde deine Hilfe brauchen.«
»Wie wirst du mich für meine Dienste bezahlen?«
»Du bekommst Anerkennung. Du tust damit Gutes in der Welt. So etwas ist dir wichtig, wenn ich mich recht erinnere.« »Ja. Ja, aber ich benötige auch eine konkrete Vergütung. Ich werde darüber nachdenken.«
»Was immer du willst.«
»Ich muss los und Billie vom Hort abholen. Wir sprechen uns später.«
»Du hättest mich heiraten sollen.«
»Du lässt nicht locker.«
»Wir diskutieren hier über dich. Wechsle nicht das Thema.«
»Ich muss los. Ich habe dir ein Bild von Billie gemailt.«
»Tolles Kind; ähnelt seiner Mutter.«
»Mach, dass du nach Hause kommst, du.«
»Nach Hause, ja. Wiedersehen.«
Sie hatten sich vor fünf Jahren in dem Krankenhaus kennengelernt, in dem er gearbeitet hatte, bis er der endlosen, stets in einer Sackgasse mündenden Konferenzen und Korridore müde geworden war und im Herzen der Stadt unter dem großen Namen seine eigene kleine Praxis eröffnet hatte. Sie war im Zuge eines Postdoktorandenstipendiums in die Abteilung zur Behandlung von Angsterkrankungen an das Krankenhaus gekommen. Eines Tages hatte er an ihre Tür geklopft, um herauszufinden, ob er sich nicht ein Buch ausleihen könnte. Sie war mitten in einem Telefonat gewesen und hatte ihm mit der Hand den Weg gewiesen. Während er die Regale absuchte, hörte er sie lachen und schnauben; er blickte auf und sah, wie sie zurückgelehnt auf ihrem Stuhl saß, mit übereinandergeschlagenen Beinen, ein großer Kopf auf einem langen, dünnen Hals, kurzes schwarzes Haar, ein üppiger Mund, ein schiefes Lächeln. Ihre Füße, gebräunt, großzügig, zogen aus irgendeinem Grund seine Aufmerksamkeit auf sich. An ihrem rechten Fußknöchel bemerkte er eine tätowierte kleine Rose. Im Laufe der Zeit wird er sie dort liebkosen und daran knabbern, und sie wird sagen: »Willst du daran riechen oder sie pflücken?«
»Sind Sie neu?«
»Sehe ich neu aus?« Ihr Blick – neugierig, mutwillig.
Er betrachtete sie prüfend mit theatralisch gefurchten Brauen. »Gebraucht. Guter Zustand«, sagte er ohne zu überlegen, denn irgendetwas um sie herum sang, und ihr schräg gelegter Kopf ließ den Hals sehen, ein Stück glatter, weicher Haut.
Sie lachte. »Wenn Sie mich zum Mittagessen einladen, vergesse ich vielleicht, beleidigt zu sein.«
»Gut, das Mittagessen geht auf mich.«
Mehrere Wochen später, beim Mittagessen in der Cafeteria im Kellergeschoss, sagte er: »Da ist etwas zwischen uns.«
»Ich bin verheiratet.«
»Na und?«
Sie lachte: »Ich liebe meinen Mann.«
»Natürlich, warum sollten Sie sonst heiraten? Erzählen Sie mir von ihm.«
»Er ist von Beruf Zimmermann. Hat aber zurzeit keine Aufträge. Er ist krank. Irgendeine verfluchte Autoimmunkrankheit, die niemand wirklich behandeln oder erklären kann. Es ist kompliziert.«
»Ihr Mann ist behindert. Was für eine Chance habe ich gegen einen behinderten Mann?«
»Sie haben keine Chance.«
Einige Tage später, in einem überfüllten Café in der Stadtmitte, fragte er: »Wo ist deine empfindlichste Stelle?«
»In den Kniekehlen. Dort ist die geheime Stelle.«
Er griff unter den Tisch und berührte sie dort. Ihr Gesicht lief rot an.
»Mach weiter«, sagte sie. »Dir ist klar, dass wir nicht miteinander ins Bett gehen werden.«
»Ich nehme es damit nicht so genau«, sagte er. »Wir könnten in den Park gehen, auf den Rasen …«
Sie lächelte: »Mach weiter.«
»Wenn ich kühn wäre oder romantisch veranlagt, würde ich dich auf der Stelle küssen.«
»Mach weiter«, sagte sie.
Er tat es. Und sie auch. Sie machten zusammen weiter. Sie stiegen an wie ein Fluss in der Regenzeit. Und als er ihr in die Augen sah, war es ein Gefühl, als liefe der Urknall rückwärts ab und fiele wieder in sich zusammen, als hätten das gesamte Universum, ein allumfassendes Bewusstsein, jede Materie und Elektrizität sich auf einen Schlag zu einem dunklen, massiven Kern verdichtet.
Im Winter desselben Jahres saßen sie am Stadtrand auf einem dunklen Feldweg im geparkten Wagen und lauschten auf die Stille draußen.
»Ich möchte dich unfairerweise um einen großen Gefallen bitten. Es ist mir wichtig, dass wir das beide verstehen.«
»Unfairness ist etwas, das ich intuitiv erfasse«, sagte er.
»Ich möchte ein Kind. Mein Mann und ich versuchen es seit Jahren, aber aufgrund seiner Krankheit und wegen der Behandlungen ist es kompliziert. Die Chancen stehen nicht gut, und die Zeit …«
»Du möchtest ein Baby mit mir.«
»Ich werde ihn nie verlassen.«
»Ich weiß.«
»Nicht weil er krank ist. Weil ich ihn liebe.«
»Ich weiß.«
Sie wandte sich ihm zu und sah ihn an. »Schwöre mir, dass du es für dich behalten kannst, dass es für dich in Ordnung ist.«
»Ich schwöre es.«
»Ich könnte mich niemals revanchieren. Ich werde es nicht versuchen.«
»Du musst dich nicht revanchieren; du bist auf der Welt und bist glücklich; selbst wenn es nicht mit mir ist, ist das genug.«
»Wir kennen einander erst seit einem Jahr, vielleicht kürzer, und trotzdem habe ich das Gefühl, als wärst du schon immer … ich vertraue dir. Das basiert nicht auf Daten, es ist ein Bauchgefühl. Und wir beide wissen, dass man Bauchgefühlen nicht trauen sollte, und dennoch …«
»Ich werde dein Vertrauen nicht enttäuschen.«
»Hältst du mich für verrückt?«
»Wir sind Psychologen.«
»Nun, das erklärt eine Menge.«
»Nicht alles bedarf einer Erklärung.«
Daraufhin zog sie die Knie an den Körper, schlüpfte mit einer raschen Bewegung aus ihrem Slip, wandte sich ihm zu und setzte sich rittlings auf ihn. Sie führte ihn mit ruhiger Hand in sich ein. Ihr Kopf schlug gegen das Wagendach, und sie lachte. Sie knöpfte ihre Bluse auf und lehnte sich an ihn. Die Wärme ihrer Haut beruhigte ihn. Er umarmte sie. Er schloss die Augen und spürte sie auf sich, warm und entschlossen. Er zog sie an sich und kam wortlos. Sie blieben lange so, hielten einander in den Armen. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände. Sie sah ihn an und küsste ihn auf die Stirn. Sie sagte: »Ich liebe dich.« Zwei Wochen später packte sie ihre Habseligkeiten und ihre Bücher und ihre Finger, die auf seiner Haut einen Zauber auslösten, und ihren Mann mit seinem Stock und ging. Neun Monate später kam ein Brief mit einem Bild; danach eine E-Mail. Und kurze Zeit später begannen die Telefonate.
Der Psychologe steht von seinem Stuhl auf und tritt ans Fenster, streckt sich und ächzt. An diesem Tag wie an allen anderen Tagen ist eine Karawane von Klienten durch sein Büro gezogen und hat ein Gemisch von Gerüchen hinterlassen und das unbeteiligte Summen des Deckenventilators. Um zehn Uhr war ein neuer Klient gekommen, ein Lkw-Fahrer mit einer fleckigen Windjacke und Baseballmütze. Er hatte mit der selbstverständlichen Schwerfälligkeit eines Landmenschen Platz genommen und dabei einen starken Geruch nach Tabak und Schweiß verströmt. Einen Monat zuvor war er wie gewöhnlich im Wald hinter seinem Haus auf Rotwildjagd gegangen. Als er bewegungslos im Gebüsch gehockt und gewartet hatte, das Gewehr im Anschlag, hatte sich plötzlich eine Wolke aus Angst über ihn gesenkt, ihn eingeschlossen und ihn aus dem Wald gejagt. Seitdem, erzählte er, könne er nicht mehr richtig schlafen. Seine Frau ist gereizt und wirft ihm wütende Blicke zu. Jetzt sitzt er das ganze Wochenende über auf der Veranda. Er putzt sein Gewehr, ölt und poliert es, nimmt es auseinander und setzt es wieder zusammen, legt es an und zielt in den Himmel, nimmt einen beliebigen Vogel aufs Korn, aber er kann keinen Fuß mehr in den Wald setzen. Seit Kurzem hat sich eine nagende Furcht in seine langen Pirschgänge eingeschlichen. Seine Eingeweide krampfen sich zusammen, und das Atmen fällt ihm schwer, sobald er von der Schnellstraße abfährt und in eine der schmalen, gewundenen, verlassen daliegenden Landstraßen einbiegt.
Die amerikanische Ausgabe erschien 2010 unter dem Titel »The Good Psychologist« bei Henry Holt & Company, New York.
»Long Way Around« von Chris Whitley © 1991 WB Music Corp. (ASCAP) All Rights Reserved. Used by Permission.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2010 by Noam Shpancer
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Gesetzt aus der Fournier von Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eISBN 978-3-641-06544-7
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