Der heimliche Sohn des Scheichs - Olivia Gates - E-Book

Der heimliche Sohn des Scheichs E-Book

Olivia Gates

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Beschreibung

Scheich Ghaleb ist fassungslos: Vor ihm steht Viv LaSalle - die Frau, die er einmal abgöttisch geliebt und die sein Herz gebrochen hat! Warum ist die schöne Ärztin nach Omraania gekommen? Und wer ist der kleine Junge an ihrer Seite, der ihn so hoffnungsvoll anschaut?

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IMPRESSUM

Der heimliche Sohn des Scheichs erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2008 by Olivia Gates Originaltitel: „The Desert Surgeon’s Secret Son“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBENBand 37 - 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Claudia Weinmann

Umschlagsmotive: GettyImages_proud_natalia, Irina Devaeva

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733717186

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Scheich Ghaleb Ben Abbas Al Omraan kämpfte verbissen gegen die Welle von Frustration an, die ihn zu überwältigen drohte. Er musste es sich endlich eingestehen, dass er nicht länger für alles allein zuständig sein konnte.

Schon viel zu lange hatte er sich überwiegend um seine Arbeit als Chirurg und um die Erneuerung des Gesundheitssystems in Omraania gekümmert – und darüber seine Pflichten als Thronfolger des kleinen Königreichs sträflich vernachlässigt. Selbst sein sonst so gutmütiger Vater hatte ihn bereits ermahnt, sich intensiver um die Staatsgeschäfte zu kümmern. Ghaleb fühlte sich zerrissen zwischen seiner Arbeit als Chefarzt des Jobail Advanced Medical Center und den Erwartungen, die an ihn als künftigen Herrscher des Landes gestellt wurden.

Es hatte ihm von Anfang an widerstrebt, die Klinikleitung mit jemandem zu teilen, denn die Medizin war seine große Leidenschaft. Erst als ihm völlig übermüdet während eines Routine-Eingriffs ein grober Fehler unterlaufen war, hatte er eingesehen, dass er Hilfe brauchte. Sein Assistent Adnan hatte diese Gelegenheit sofort genutzt, um vorzuschlagen, vorübergehend einen stellvertretenden medizinischen Leiter zu engagieren. So hätte Ghaleb Zeit, seine Angelegenheiten zu ordnen, und könnte sich dann in Ruhe entscheiden, ob er die Leitung ganz abgeben oder sie mit der anderen Person teilen würde.

Adnan hatte die Position in allen wichtigen Fachzeitschriften weltweit ausgeschrieben, und entsprechend zahlreich waren die Bewerbungen gewesen. Wegen der hohen Anforderungen, die Ghaleb zur Bedingung gemacht hatte, schieden fast alle Bewerber von vornherein aus. Am Ende war Adnan in die USA geflogen, um mit den wenigen verbleibenden Kandidaten Auswahlgespräche zu führen. Und das Ergebnis dieses Auswahlverfahrens würde heute eintreffen. In wenigen Minuten, um genau zu sein.

Ghaleb machte sich auf den Weg zu Adnans Büro und trat ohne anzuklopfen ein.

Erschrocken fuhr sein Assistent auf. „Ich werde gleich Ihre neue Stellvertreterin empfangen, Prinz Ghaleb, und ihr alles zeigen. Möchten Sie, dass ich sie zu Ihrem Büro bringe, nachdem Sie mit dem OP-Programm für heute fertig sind?“

Sie? Ghaleb hatte nicht gewusst, dass sein Stellvertreter eine Frau sein würde.

„Machen Sie sich keine Mühe, Adnan“, erklärte Ghaleb, während er sich bereits umdrehte und den OP-Trakt ansteuerte. Adnan musste rennen, um mit seinem Chef mithalten zu können. „Ich werde meine Stellvertreterin im OP kennenlernen. Sie muss mich weder mit ihrem Aussehen noch mit ihrer Persönlichkeit beeindrucken. Mich interessiert ausschließlich ihre fachliche Kompetenz.“

„Ich bin mir sicher, dass sie Sie nicht enttäuschen wird“, bemerkte Adnan. „Sie war die einzige Kandidatin, die alle Ihre Anforderungen erfüllte. Ihre Qualifikationen sind wirklich bemerkenswert.“

„Wenn sie wirklich jede einzelne meiner Bedingungen erfüllt hat, ist ihr Lebenslauf zu gut, um wahr zu sein.“

„Ich glaube nicht, dass sie gemogelt hat. Doch für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie die hohen Erwartungen nicht erfüllt …“

„Werde ich Sie dafür verantwortlich machen.“

Adnan blickte ihn so betreten an, dass Ghaleb augenblicklich seine harschen Worte bereute. Adnan war nicht nur seine rechte Hand und sein Berater, er war auch sein Freund. Vielleicht der Einzige, den er hatte. Seine Position als Thronfolger machte es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, engere Kontakte zu knüpfen.

Entschuldigend drückte er Adnans Arm. „Natürlich vertraue ich Ihrem Urteil, Adnan. Oft genug sogar mehr als meinem eigenen. Wenn es wirklich nicht klappt mit dieser Frau, dann ist es auch nicht so schlimm. Sie müssten die Stelle dann eben noch einmal ausschreiben. Auf ein paar Monate mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.“

„Genau das beunruhigt mich, Prinz Ghaleb. Es würde mich nicht stören, einen neuen Arzt zu suchen, doch ich möchte nicht noch länger mit ansehen, wie Sie sich zwischen Klinik und Palast aufreiben.“

„Wir werden nicht schon wieder darüber diskutieren, Adnan. Ich bin grundsätzlich bereit, die Klinikleitung mit jemandem zu teilen, doch diese Person muss perfekt sein. Bevor ich mich mit Mittelmaß zufriedengebe, mache ich lieber weiterhin alles allein.“

Besorgt sah Adnan ihn an, sagte jedoch nichts. Ghaleb atmete erleichtert auf. Die leidige Diskussion war zu Ende. Mit Schwung wandte er sich zur Tür, doch mitten in der Bewegung hielt er inne. Und auch seine Gedanken schienen ins Stocken zu geraten. Wie gelähmt starrte er auf die Gruppe von Menschen, die ihm aus der Eingangshalle entgegenkam.

Vier von Adnans Gehilfen umringten eine Frau von klassischer Schönheit und geleiteten sie wie einen hochrangigen Ehrengast zu Adnans Büro.

Alles an dieser Frau versetzte Ghaleb einen Stich.

Ihr tadelloses, sowohl dem Klima als auch den kulturellen Gepflogenheiten angemessenes Kostüm, das ihre atemberaubenden Kurven und ihre Anmut perfekt zur Geltung brachte. Der strenge Haarknoten, der nicht verbergen konnte, dass sie volles, seidig glänzendes Haar hatte. Die klaren Augen, die so viel Selbstbeherrschung widerspiegelten. Sie bewegte sich mit der Gelassenheit einer Frau, die sich ihres Wertes und ihrer Wirkung voll bewusst war.

Ghaleb war so gebannt, dass er kaum Atem holen konnte.

Diese Ärztin dort hatte nur noch sehr wenig gemeinsam mit der feingliedrigen, braun gebrannten Frau, die seit sieben Jahren seine Gedanken beherrschte.

Und dennoch gab es nicht den geringsten Zweifel.

Sie war es.

Viv.

Die Frau, die ihm gezeigt hatte, was Liebe bedeutete. Die ihn gelehrt hatte, seinen Gefühlen und Bedürfnissen nachzugeben. Die Frau, ohne die er sich sein Leben nicht mehr hatte vorstellen können. Zu der er geeilt war, um sie zu bitten, mit ihm nach Omraania zu kommen und für immer bei ihm zu bleiben. Für die er alles aufzugeben bereit gewesen war. Doch noch ehe es dazu gekommen war, hatte er mit anhören müssen, dass er ihr nicht das Geringste bedeutete.

Viv. Die Frau, die er seit jenem verhängnisvollen Tag aus seinen Gedanken zu verbannen versucht hatte. Vergeblich. Und nun war sie hier. Stolzierte durch sein Krankenhaus, als gehörte es ihr, und sah aus wie eine Prinzessin. Sie schien die prüfenden Blicke seiner Mitarbeiter zu ignorieren und hatte ihn noch nicht bemerkt.

Was zum Teufel tat sie hier?

„Ah, da ist sie ja. Dr. Vivienne LaSalle. Pünktlich auf die Minute.“

Adnans freundliche Begrüßung riss Ghaleb aus seinen Gedanken.

Sie war die Ärztin, die er als seine Stellvertreterin eingestellt hatte?

Ghaleb taumelte einen Schritt zurück. Sein Herz klopfte so laut, dass er glaubte, alle Anwesenden müssten es hören.

Alarmiert sah Adnan ihn an. „Ist alles in Ordnung?“

Nein, gar nichts war in Ordnung. In seinem ganzen Leben war Ghaleb nicht so schockiert gewesen. Nach all den Jahren, in denen er sicher gewesen war, sie würde nur noch eine bittere Erinnerung sein, stand sie nun plötzlich vor ihm. Mitten in seinem Königreich, in seinem Leben.

Wie hatte das passieren können? Weshalb hatte sie sich um die Stelle bei ihm beworben? Und warum um alles in der Welt hatte Adnan gerade sie ausgesucht?

Es konnte dafür nur eine Erklärung geben: Sie hatte es irgendwie geschafft, ihn zu täuschen. Genau wie sie ihn, Ghaleb, damals getäuscht hatte, als sie unbedingt seine Forschungsassistentin werden wollte. Es war nicht ihre Qualifikation gewesen, die ihn dazu bewogen hatte, ihr die Stelle zu geben. Nur ein einziger Blick hatte genügt, und Ghaleb hatte gewusst, dass er sie haben musste. Ihre Sinnlichkeit und ihre überschäumende Energie hatten ihn in dem Moment gefangen genommen, als er sie zum ersten Mal sah. Er war ihr augenblicklich verfallen.

Trotzdem hatte er zunächst versucht, ihr zu widerstehen. Er konnte sich noch gut an diese qualvollen Tage erinnern. Nur zu genau hatte er gewusst, dass in seinem Leben kein Platz für Viv war. Doch sie ließ sein Nein nicht gelten, und innerhalb weniger Tage hatte er kapituliert. Er hatte sich auf sie eingelassen und war mit Leib und Seele buchstäblich von ihr verzehrt worden.

Diesmal hatte er sich auf Adnan verlassen, doch es hatte nichts genützt. Sie hatte auch ihn getäuscht.

Wut, Bitterkeit und Entsetzen mischten sich mit einem längst vergessen geglaubten Verlangen. Doch mitten in dem Durcheinander, das in seinem Kopf und in seinem Herzen tobte, meldete sich Ghalebs Vernunft. Er musste dafür sorgen, dass sie Omraania wieder verließ. Sofort.

Sonst könnte er für nichts garantieren.

Warum war sie überhaupt hier? Vermutlich aus dem gleichen Grund, der sie damals in seine Arme getrieben hatte. Sie wollte als seine Geliebte ein Leben in Luxus und Wohlstand führen. Sollte er darauf eingehen? Sie war ja gerade dabei, sich ihm quasi auf dem Silbertablett anzubieten. Warum also nicht?

Doch Ghaleb war bewusst, dass er im Grunde etwas anderes wollte.

Dies war seine Chance, ihr wahres Gesicht zu erkennen und endlich das völlig verklärte Bild von ihr abzuschütteln, das sich ihm ins Gedächtnis gebrannt hatte.

Endlich würde alles ein Ende haben, und er wäre frei von der Wehmut, die ihn seit Jahren beherrschte.

Und er wusste auch, wie er es anstellen musste.

Entschlossen wandte er sich an Adnan. „Suchen Sie mir bitte umgehend einen neuen Stellvertreter.“

Erschrocken über die Heftigkeit von Ghalebs Worten, versuchte Adnan, ihn zu beschwichtigen. „Prinz Ghaleb, ich weiß genau, was Sie denken. Als ich diese Frau das erste Mal sah, konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass sie für die Stelle geeignet wäre. Aber …“

„Aber sie hat Sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln überzeugt?“, fragte Ghaleb sarkastisch. „Nun, mal sehen, ob sie auch mich überzeugen kann. Sagen Sie ihr, dass ich sie im OP erwarte.“

Verständnislos sah Adnan ihn an. „Dann wollen Sie also doch ein Einstellungsgespräch mit ihr führen?“

„Im Gegenteil. Ich will einfach nur den OP-Plan für heute abarbeiten.“ Ghaleb wandte sich um und ging zu seiner Bürotür. „Und Sie fangen bitte mit der Suche an.“

Vivienne sah sich aufmerksam in der Klinik um, die als eine der modernsten auf der Welt galt. Ihre vier Begleiter benahmen sich, als sei sie ein Staatsoberhaupt, das bewacht werden musste.

Sie konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen und Gelassenheit auszustrahlen, ohne zu sehr auf die neugierigen Blicke zu achten, die ihr von allen Seiten zugeworfen wurden. Übelkeit und Unsicherheit hatten sie befallen, noch bevor sie die Klinik betreten hatte. Und völlige Erschöpfung.

Sie hatte bis kurz vor ihrem Abflug im OP gestanden, war dann nach Hause gefahren, um Sam und Anna abzuholen, und hatte während des dreizehnstündigen Flugs nicht geschlafen. Nachdem sie dann vor zwei Stunden in Omraania gelandet waren, hatte sie Sam und Anna in dem großzügigen Haus abgesetzt, das ihr zur Verfügung gestellt worden war, und war sofort zu ihrem neuen Arbeitsplatz gefahren.

Als sie bemerkte, dass sie von allen wie ein Mitglied der königlichen Familie behandelt wurde, war sie sprachlos vor Erstaunen gewesen. Doch Adnan El Khalil hatte ihr erklärt, dass dies eben das übliche Gebaren gegenüber hochgestellten Persönlichkeiten war. Und als stellvertretende Leiterin des größten medizinischen Zentrums des Landes stellte sie eine solche Persönlichkeit dar. Prinz Ghaleb hätte jedem anderen, der diese Position innehatte, die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt.

Genau da lag ein weiteres Problem. Vivienne konnte es noch immer nicht fassen, dass er tatsächlich ihr diese Stelle gegeben hatte – auch wenn sie natürlich seinen Anforderungen zu hundert Prozent entsprach.

Als sie sich beworben hatte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie tatsächlich eine Chance haben könnte. Doch man hatte sich für sie entschieden, und Vivienne hatte mehr als einmal überlegt, ob Ghaleb sie vielleicht ganz einfach vergessen hatte. Oder betrachtete er ihre gemeinsame Vergangenheit als so unbedeutend, dass er sich deshalb nicht davon abhalten lassen wollte, die beste Bewerberin einzustellen?

Wie auch immer – nun war sie hier. In seinem Königreich. Und es würde sich nicht vermeiden lassen, dass sie sich begegneten.

Vivienne war sich nicht mehr sicher, ob sie das wollte. Wie sollte sie dem Mann gegenübertreten, den sie einst so maßlos geliebt hatte, dass nicht einmal ein winziger Rest von Selbsterhaltungstrieb übrig war? Zumal dieser Mann, nachdem sie sich ihm hingegeben hatte, einfach ohne ein Wort des Abschieds aus ihrem Leben verschwunden war?

Doch die Verzweiflung darüber, ihn verloren zu haben, trat schon bald genauso in den Hintergrund wie die Trauer und die Wut darüber, dass er sie so rücksichtslos und grausam abserviert hatte. Eine Schwangerschaft verändert die Prioritäten im Leben einer jeden Frau. Und ihr Kind hatte sie verändert. Für immer.

Obwohl sein Verrat sie schrecklich verletzt hatte, zwang Vivienne sich, nicht aufzugeben. Schließlich trug sie die Verantwortung für ihr Kind. Aus ihr war eine selbstbewusste Frau geworden. Und eine Ärztin, die hart für ihren Erfolg gekämpft hatte, um ihrem Sohn das Leben zu ermöglichen, das er verdiente. Er war ihr ein und alles.

Lange hatte sie sich mit der Frage gequält, ob sie Ghaleb von seinem Sohn erzählen sollte. Doch sie hatte sich dagegen entschieden. Das Risiko war einfach zu hoch gewesen.

Als Thronfolger eines äußerst konservativen Königreichs war in Ghalebs Leben nun einmal kein Platz für sie. Die wenigen Monate in den USA waren lediglich eine kurze, gestohlene Zeitspanne gewesen. Da Vivienne nicht hatte abschätzen können, wie er auf die Neuigkeit reagieren würde, hatte sie geschwiegen. Zu groß war ihre Angst gewesen, dass er Mittel und Wege finden würde, um ihr den Sohn wegzunehmen.

Sie hatte es geschafft, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie auch ohne Ghaleb leben konnte. Und sie war entschlossen gewesen, dafür zu sorgen, dass auch Sam nicht den Vater vermisste. Als dann noch ihre Tante Anna zu ihnen zog, war für Vivienne die kleine Familie perfekt.

Doch je älter Sam wurde, desto hartnäckiger fragte er nach seinem Vater. In der letzten Zeit waren seine Fragen immer drängender und verzweifelter geworden.

Nur schwer hatte sie der Versuchung widerstanden, ihm einfach zu sagen, dass sein Vater gestorben sei. Letztlich hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihn derart zu belügen. Stattdessen hatte sie monatelang darüber nachgegrübelt, was sie tun sollte. War es ihre Pflicht, Vater und Sohn zusammenzubringen? Würde es Sam guttun, wenn Ghaleb eine Rolle in seinem Leben spielte? Sollte sie es wagen, ihn zu kontaktieren?

Es war ihr wie ein Wink des Schicksals erschienen, als genau zu dieser Zeit Ghalebs Stellenangebot in der internationalen medizinischen Presse erschien. Dieser fachlich und finanziell äußerst attraktive Job stellte die einmalige Gelegenheit dar, völlig unverbindlich für eine Weile in Omraania zu leben. Die Chance, die Antwort auf ihre Fragen zu finden.

Und nun war Vivienne hier. Sie hatte Ghaleb – wenn auch nur von Weitem – bereits gesehen, und sicher würde sich bald die Gelegenheit zu einem Gespräch ergeben.

Doch was würde geschehen, wenn er sie genauso verächtlich behandelte, wie er es damals getan hatte? Könnte sie eine weitere Demütigung ertragen? War es denkbar, dass er Sam entführte und sie aus seinem Land auswies?

Hatte sie einen schrecklichen Fehler gemacht?

Sollte sie so schnell wie möglich mit Anna und Sam wieder abreisen?

Schluss jetzt! Atme tief durch. Das alles hast du schon tausendmal in Gedanken durchgespielt.

Ihre Entscheidung war richtig gewesen. Vivienne war es Sam schuldig, sich mit Ghaleb auseinanderzusetzen.

Entschlossen löste sie ihre verkrampften Finger und atmete tief ein. Sie würde es schaffen. Und danach würde alles besser sein …

„Dr. LaSalle? Würden Sie mir bitte folgen?“

Sie zuckte zusammen. Wie hatte sie nur so mit ihren Gedanken abschweifen können? Verlegen räusperte sie sich und sah Adnan an, der direkt vor ihr stand. „Wie bitte?“

„Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass das heutige OP-Programm ansteht.“

„OP-Programm?“, fragte sie verblüfft. „Ich dachte, wir machen heute nur einen Rundgang durch die Klinik …“

„Das muss leider warten“, erklärte Adnan, der sich sichtlich unbehaglich fühlte. „Es gab eine kleine Programmänderung.“

Was hatte das zu bedeuten? Zweifellos steckte Ghaleb dahinter. Aber was bezweckte er damit?

„Gab es einen Notfall?“, fragte sie bemüht ruhig.

„Nein, Dr. LaSalle“, erwiderte Adnan einsilbig und führte sie zum OP-Trakt. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Ghaleb blickte auf seine Hände, die das Waschbecken umklammert hielten. Sein Griff war so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Gleich war es so weit.

Er würde Vivienne zeigen, dass es ihr diesmal nicht gelungen war, ihn zu täuschen.

Es war vollkommen legitim, ihre Qualifikation zu überprüfen. Am OP-Tisch würde er ihr die Möglichkeit geben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Oder aber ihre Defizite.

Ghaleb zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie versagen würde.

In den USA hatten sie nie zusammen im OP gestanden. Es hieß zwar, sie sei eine exzellente Chirurgin. Doch er hatte immer angenommen, ihr vermeintlicher Erfolg beruhe auf der Tatsache, dass ihr Vater der kaufmännische Leiter der Klinik gewesen war.

Und nun hatte sie sich schon zum zweiten Mal eine Stelle bei ihm erschlichen. Es würde ein Leichtes sein, ihr ihre Unzulänglichkeit zu demonstrieren.

Danach würde er sie fortschicken. Und niemand würde ihm vorwerfen können, er hätte sie aus persönlichen Gründen abgelehnt. Einzig und allein ihre mangelhaften Fähigkeiten wären daran schuld. Und dann wäre es endlich vorbei. Er würde das unselige Kapitel Vivienne endgültig schließen können.

Plötzlich spürte er, wie seine Haut prickelte. Sie war da. Ohne sich umzudrehen, wusste er, dass sie den Raum betreten hatte. Selbst nach all diesen Jahren reagierte sein Körper noch auf sie.

Er wandte sich um, und ein Gefühl von Déjà-vu überwältigte ihn. Genau so hatte sie damals im OP-Vorraum vor ihm gestanden, als sie ihn überredet hatte, sie zu seiner Forschungsassistentin zu machen. Und genau wie damals setzte sein Verstand aus. Nur mit Mühe konnte Ghaleb sich zurückhalten, sie an sich zu ziehen, ihren wundervollen Körper zu berühren und sie zu küssen. Es war, als seien die letzten sieben Jahre mit einem Schlag ausgelöscht.

In ihrer Miene spiegelten sich seine Empfindungen wider. Auch sie schien aus der Fassung zu sein.

Was hatte das alles zu bedeuten?

Ghaleb zwang sich, tief durchzuatmen. Er war fest entschlossen, ihren Verführungskünsten diesmal zu widerstehen.

Doch was war das für ein Gefühl, das sich mit aller Kraft seinen Weg bahnte? Verlangen? Wünschte er sich wirklich, in ihren Augen ein eindeutiges Angebot zu lesen?

Mit der Zungenspitze fuhr er über seine ausgetrockneten Lippen und blickte Vivienne erwartungsvoll an. Wie lange würde es dauern, bis ihr kühler und distanzierter Blick verschwinden und der glühenden Leidenschaft von damals Platz machen würde?

„So trifft man sich also wieder, Dr. Al Omraan. Oder muss ich dich jetzt mit ‚Eure königliche Hoheit Kronprinz Ghaleb’ ansprechen?“

2. KAPITEL

Ghaleb starrte die Frau verständnislos an, die abgesehen von ihrem Äußeren keinerlei Gemeinsamkeiten mit der Vivienne von früher zu haben schien.

Der schockierte Ausdruck auf ihrem Gesicht, den er vorhin zu sehen geglaubt hatte, war einer grimmigen Entschlossenheit gewichen. „Ich vermute, du warst es, der mich in den OP bestellt hat?“

B’hag dschahim – was zur Hölle …?

Ihre Stimme war noch die gleiche – sinnlich und voll. Doch er hatte nicht geahnt, dass sie so kalt klingen konnte.

„Natürlich warst du es“, beantwortete sie ihre eigene Frage. „Ich bin erst seit zwei Stunden hier und habe schon gelernt, dass man in diesem Land ohne deine Erlaubnis noch nicht einmal atmen darf. Von eigenständigem Denken, Sprechen und Handeln mal ganz zu schweigen.“ Sie musterte ihn abschätzig und wandte dann den Blick ab. „Ich vermute, du möchtest, dass ich mich einwasche?“

Ich möchte, dass du mir sagst, wo die alte Viv geblieben ist, wäre ihm beinahe laut herausgerutscht.

Wo war die Frau geblieben, die ständig wie ein Schmetterling um ihn herumgeflattert war? Die nie genug von ihm bekommen konnte und wie gebannt an seinen Lippen gehangen hatte? Auch wenn sie ihm nur etwas vorgemacht hatte, fragte er sich, warum sie ihre Charade aufgegeben hatte.

Aus Erfahrung wusste er bereits, dass Frauen sehr fantasievoll sein konnten, wenn es darum ging, wohlhabende Männer zu erobern. Und als einer der reichsten Männer der Welt – noch dazu als angehender Herrscher und berühmter Chirurg – war er eine der begehrtesten Partien, die man sich vorstellen konnte.

War dies also ihre Taktik? Glaubte sie, durch ihr abweisendes Verhalten sein Interesse anzustacheln?

Falls ja, zeigte dieser Plan bereits erste Erfolge.

Nun, warum eigentlich nicht? Er würde auf ihr Spiel eingehen und ihre wahren Absichten aus ihr herauskitzeln. Und wenn sie sich dann am Ziel glaubte, würde er sie aus Omraania ausweisen. Aus seinem Land und aus seinem Leben. Und diesmal würde es für immer sein.