Der Himmel über Glendrochatt - Mary Sheepshanks - E-Book
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Der Himmel über Glendrochatt E-Book

Mary Sheepshanks

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Beschreibung

Familiengeheimnisse in den Highlands: Der berührende Schottland-Roman »Der Himmel über Glendrochatt« von Mary Sheepshanks als eBook bei dotbooks. Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten … Während Lorna wild und rebellisch ihren Träumen nachjagte, verlief Isobels Leben stets nach Vorschrift: Mit Giles Grant hat sie den perfekten Mann geheiratet, Zwilling großgezogen, dem alten Anwesen Glendrochatt zu neuem Glanz verholfen. Nun soll dort sogar eine Kunstgalerie eröffnet werden, kein Wölkchen scheint den weiten blauen Himmel zu trüben … bis plötzlich Lorna vor der Tür steht und alles durcheinanderwirbelt. Schließlich war sie damals Giles’ erste große Liebe – und hatte schon immer ein Gespür dafür, Geheimnisse ans Tagelicht zu bringen. Mit einem Mal muss Isobel alles infrage stellen, was sie bisher so gern als großes Glück verkauft hat – aber liegt vielleicht genau darin die Chance für den Zauber eines neuen Anfangs? »Zugleich anrührend und weise und äußerst humorvoll.« The Times Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der schottische Familienroman »Der Himmel über Glendrochatt« von Mary Sheepshanks. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 541

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Über dieses Buch:

Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten … Während Lorna wild und rebellisch ihren Träumen nachjagte, verlief Isobels Leben stets nach Vorschrift: Mit Giles Grant hat sie den perfekten Mann geheiratet, Zwilling großgezogen, dem alten Anwesen Glendrochatt zu neuem Glanz verholfen. Nun soll dort sogar eine Kunstgalerie eröffnet werden, kein Wölkchen scheint den weiten blauen Himmel zu trüben … bis plötzlich Lorna vor der Tür steht und alles durcheinanderwirbelt. Schließlich war sie damals Giles’ erste große Liebe – und hatte schon immer ein Gespür dafür, Geheimnisse ans Tagelicht zu bringen. Mit einem Mal muss Isobel alles infrage stellen, was sie bisher so gern als großes Glück verkauft hat – aber liegt vielleicht genau darin die Chance für den Zauber eines neuen Anfangs?

»Zugleich anrührend und weise und äußerst humorvoll.« The Times

Über die Autorin:

Mary Sheepshanks wurde 1931 geboren und wuchs am Eton College auf, wo ihr Vater arbeitete. Ihre Ferien verbrachte sie jedoch oft im Haus ihrer Großeltern in Wales, wo sie ihre Liebe für das ruhige Landleben und ungezähmte Landstriche entdeckte, die später in ihre Romane einfloss. Ebenfalls Einfluss fanden ihre Jahre in Eton sowie Unterrichtsstunden in Windsor Castle. Mary Sheepshanks lebt und schreibt heute in Schottland. Ihre zahlreichen Enkelkinder nennen sie gern »wild writing granny« – unter diesem Titel erschienen daher ihre Memoiren.

Bei dotbooks veröffentlichte Mary Sheepshanks auch ihre Romane »Die Sterne über Boynton Park«, »Die Frauen von Longthorpe« und »Ein Sommer in Duntan Hall«

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eBook-Neuausgabe Juni 2022

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel »Off Balance«. Die deutsche Erstausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Stürmischer Sommer« bei Bastei Lübbe.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2000 by Mary Sheepshanks

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98690-174-5

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Mary Sheepshanks

Der Himmel über Glendrochatt

Aus dem Englischen von Ulrike Moreno

dotbooks.

Für Belinda und Charlie mit Liebe und Bewunderung. Sie haben mich ermutigt den Charakter von Edward in diesen Roman aufzunehmen, dessen eigene Geschichte dies jedoch nicht ist.

Eine tolerante Ansicht

»Wenn ein Mann nicht Frieden hält mit seinen Kameraden, so vielleicht deshalb, weil er einen anderen Trommler hört, laßt ihn marschieren zu der Musik, die er hört, ganz gleich, wie leise oder weit entfernt sie ist.«

Henry David Thoreau, 1817–1862

Kapitel 1

Glendrochatt lag hoch auf einem Hügel, ein Haus mit Vergangenheit, das für seine Bewohner sehr unterschiedliche Bedeutung hatte.

Giles sah darin Vergangenheit und Zukunft: Schrecken und Herausforderung. Für Isobel war es ein Ort voller Wärme und Lachen – das Zuhause ihrer Kinder. Für Lorna stellte es das unerreichte Ziel ihrer Wünsche dar. Auf Daniel wirkte es faszinierend und bedrohlich. Und Edward und Amy? Durch Amys Musik wurde das Haus lebendig – aber wer hätte sagen können, was Edward je darüber dachte?

Als Isobel Grant hörte, daß ihre Schwester aus Südafrika heimkehren wolle, fiel zunächst ein Schatten über ihr sonst so heiteres Gemüt.

Lorna hatte geschrieben, sie wolle jetzt, wo sie geschieden sei, einen neuen Anfang wagen und ihr altes Leben hinter sich zurücklassen. Ob sie kommen und bei Isobel und Giles wohnen könne, bis sie ihr Leben wieder neu geordnet habe – mindestens also bis zum Sommerende? Ob sie vielleicht auch eine Arbeit für sie hätten – natürlich ganz ohne Bezahlung? Als Isobel die vertraute ordentliche Handschrift las, wußte sie mit jener intuitiven Gewißheit, die selten trügt, daß Lorna in Wirklichkeit kein neues Leben anstrebte, sondern die Fäden ihres alten wiederaufnehmen wollte, um sie anders zu verflechten.

Ein unangenehmes Gefühl, wie von einer quersitzenden Gräte, machte sich in ihrer Kehle breit.

Sie fragte sich, wie ihre kinderlose Schwester zu Amy und Edward stehen würde. Und vor allem, wie die Kinder ihre Tante aufnehmen würden. Die Vorstellung, welche Wirkung Edward und Lorna aufeinander haben könnten, ließ Isobel in Schweiß ausbrechen. Zudem standen so viele Veränderungen im Alltag der Grants bevor, daß Isobel es vielleicht schwerfallen würde, einen weiteren schwierigen Menschen in das ohnehin schon komplizierte Gefüge einzubinden.

Am meisten beunruhigte sie aber, wie Giles auf seine Schwägerin reagieren würde.

Sie hatten Lorna nicht mehr gesehen, seit sie zu einem Urlaub in Kapstadt in Südafrika gewesen waren und bei Lorna und ihrem Mann gewohnt hatten. Trotz der herrlichen Umgebung und Lornas luxuriöser Lebensweise war es der Spannungen wegen, die dicht unter der Oberfläche schwelten, kein angenehmer Aufenthalt gewesen. Es hatte unverkennbare Anzeichen von Problemen in der Ehe der Cartwrights gegeben. John Cartwright, ein brillanter Augenarzt, war ein nervöser, anspruchsvoller Mann, der zu häufigen Wutausbrüchen neigte, die alle, die ihm nahestanden, erzittern ließen.

Isobel dachte damals im Stillen, daß Lorna, die bereits seine zweite Frau war, ihn oft absichtlich reizte und es dann genoß, die Leidende zu spielen, wenn er sie anbrüllte. Giles’ Mitgefühl und Parteinahme für Lorna hatten ihrem schwierigen Ehemann nicht behagt, und Isobel war froh gewesen, als der Urlaub endete. Das lag nun drei Jahre zurück.

Giles’ erste Reaktion, als Isobel ihm Lornas Brief zuschob, war ihr spontan und aufrichtig erschienen – aber sie war lange genug mit Giles verheiratet, um zu wissen, daß die Gefühlsregungen, die er erkennen ließ, nicht immer dem entsprachen, was er wirklich fühlte.

»Na großartig. Gut, daß sie den Bastard endlich losgeworden ist«, sagte er, während er in den dünnen Luftpostseiten blätterte und gleichzeitig mit seinem Mobiltelefon herumhantierte.

Isobel starrte aus dem Fenster in den strömenden schottischen Regen, ein dichter grauer Wasserschleier, durch den die Berge nicht mehr zu erkennen waren. »Ich denke, sie wird wohl kommen müssen«, murmelte sie nach einer Weile widerwillig, »obwohl es wirklich kein besonders guter Zeitpunkt ist.«

»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht ist es ja sogar genau der richtige Moment. Du wirst alle Hilfe brauchen, die du kriegen kannst, wenn das neue Projekt beginnt – und du kennst ja meine Meinung, daß du ohnehin schon viel zu viel zu tun hast. Lorna könnte ausgesprochen nützlich sein.«

»Es ist gerade ihre Nützlichkeit, die mich am meisten schreckt«, sagte Isobel und zog ein Gesicht.

»Ich könnte genug für sie zu tun finden.«

»Wie schön. Sie könnte geradezu unentbehrlich werden«, entgegnete Isobel und zog spöttisch eine Augenbraue hoch.

»Das könnte sie tatsächlich.« Giles ließ seine Worte fallen wie sorgfältig dosierte Tropfen Medizin.

»Na schön.« Isobel tat, als beschäftigte sie sich damit, die Lotteriescheine und die Notizen einzusammeln, die sie sich bei der Treuhänder-Versammlung von Glendrochatt Estates gemacht hatte.

Es wäre wohl zuviel des Guten gewesen, wenn man Isobel auch nach ihrer Heirat über Giles’ frühere Beziehung zu ihrer Schwester im Dunkeln gelassen hätte. Denn zu viele Leute fanden Vergnügen daran, unliebsame Informationen unter dem fadenscheinigen Vorwand weiterzugeben, sie hielten es für ihre Pflicht, den anderen ›aufzuklären‹. Giles hatte versucht, sie davon zu überzeugen, daß die Beziehung niemals ernst gewesen war – Kinderkram, hatte er sie genannt –, und ihr versichert, sie sei schon längst vorbei gewesen, als er und Isobel sich kennenlernten. Sie hatte ihm geglaubt und seine Version akzeptiert, obwohl sie bei allem sehr bestürzt gewesen war; aber wie ihre undurchschaubare Schwester darüber dachte, war eine andere Frage.

Isobel hatte nicht die Absicht, Giles zu sagen, wie bedrohlich sie die neue Situation empfand. Aber das brauchte sie gar nicht, denn Giles hörte gemeinhin jede Nuance heraus.

»Ich weiß, ich weiß. Wir können uns nicht weigern«, sagte Isobel und hob in einer Geste spöttischer Ergebenheit die Hände. »Ich werde ihr schreiben, daß wir uns freuen, wenn sie kommt, und daß wir sie eine Zeitlang hier beschäftigen können, um ihr den Anfang zu erleichtern und uns aus einer Notlage zu helfen – aber ich mache zur Bedingung, daß wir ihr ein anständiges Gehalt zahlen. Und es darf wirklich nur vorübergehend sein.«

»Klar«, sagte Giles und bedachte seine Frau mit einem Lächeln, das ihr früher, als sie sich gerade kannten, weiche Knie beschert hatte und diese Wirkung auch heute noch oft hervorrief.

»Wer von uns wird Amy am Nachmittag zu ihrem Unterricht bringen können?« fragte er und schaute auf die Uhr.

»Du weißt genau, daß ich mit Edward zur Untersuchung gehen muß, o du, der du so gern in meinen Terminkalender schaust«, erwiderte Isobel und lachte. »Manchmal verhältst du dich wirklich unmöglich, Giles. Du bist doch unglücklich, wenn du Amy nicht begleiten kannst. Was für ein alter Schwindler du doch bist – und wage nur nicht, das abzustreiten!«

Giles rümpfte die Nase. Es war eine rein rhetorische Frage gewesen, mit der er auf seine ganz spezielle Art nur noch einmal unterstreichen wollte, wie gut sie zusätzliche Hilfe gebrauchen konnten. Er bedachte seine Frau mit einem liebevollen Blick. Die meisten Leute ließen sich von seinem Charisma und seinem organisatorischen Schwung mitreißen wie von einer Flutwelle, aber Isobel gehörte nicht zu diesen Leuten. An ihr schätzte er gerade die geistige Unabhängigkeit, und daß sie die Komik des Absurden in den Menschen und ihren Handlungen erkennen konnte – ihn selbst nicht ausgenommen – war etwas Kostbares für ihn.

Als der Tag von Lornas Ankunft näherrückte, traf Isobel besondere Vorbereitungen für die Bequemlichkeit ihrer Schwester. Es war wie ihre ganz private Art, auf Holz zu klopfen, ein Handel, den sie mit dem Schicksal abschloß: Wenn ich mich anständig benehme, sagte sie sich, und ihr das Gefühl gebe, daß sie uns willkommen ist, dann geht ja vielleicht alles glatt. Vielleicht gewinnen wir sogar ein wenig von der Nähe wieder, von der ich einmal glaubte, daß wir sie besäßen, ohne die damit verbundenen Probleme – aber sie glaubte es nicht wirklich. Die Vorstellung, daß Lorna auf Glendrochatt leben würde, bedrückte sie; Lorna mit ihrer Empfindlichkeit und ihren geheimen Plänen, die sie immer so geschickt verbarg, daß kaum jemand etwas ahnte; Lorna, die so hilfsbereit und so sympathisch wirkte, daß es gefährlich leicht erschien, ihr zu vertrauen, während sie in Wirklichkeit unzuverlässig war und intrigant.

Die Bauarbeiten, die das Leben der Grants monatelang in ein Chaos verwandelt hatten, waren fast beendet, und die feierliche Eröffnung des Glendrochatter Kunstzentrums stand kurz bevor. Wie Giles gesagt hatte, würde Lornas Ankunft es ihnen ersparen, weitere Inserate für eine Verwaltungsassistentin aufzugeben. Viele Interessenten hatten auf die erste Anzeige geantwortet, aber die Bewerbungen waren enttäuschend gewesen, und der Gedanke, kostbare Vorbereitungszeit mit vermutlich fruchtlosen Vorstellungsgesprächen zu verschwenden, war entmutigend. Zu Isobels Erleichterung stimmte Giles ihr zu, daß Lorna ein angemessenes Gehalt bekommen sollte. Sie wußten zwar, daß Lorna das Geld nicht brauchte, weil sie einen ansehnlichen Unterhalt von ihrem Mann erhielt, aber statt dessen in ihrer Schuld zu stehen – eine Situation, die ihre Schwester zu ihrem Vorteil nutzen könnte – war Isobel schlicht unerträglich. Wenn das Verhältnis hingegen eine professionelle Grundlage erhielt und wie ein Arrangement betrachtet werden konnte, das beiden Seiten nützt, hoffte sie damit fertigzuwerden.

Isobel beschloß, Lorna das Apartment in den ehemaligen Stallungen zu geben, das von Anfang an für die neue Assistentin vorgesehen war. Im Hinblick auf die Vorlieben ihrer Schwester wählte sie für Vorhänge und Bettdecke einen pinkfarbenen Chintz mit Maiglöckchenmuster und Schweizer Spitzendeckchen für den Tisch und die Kommode. Nichts, was sie für sich selbst gewählt hätte, aber Rosa war immer Lornas Lieblingsfarbe gewesen, und das Zimmer sah tatsächlich sehr nett und gemütlich aus, als es fertig eingerichtet war. Jedes Apartment hatte ein Bad und eine bequeme Sitzecke mit einer Frühstücksbar, die den Wohnraum von der kleinen Küche trennte. Es gab auch einen Keller, in dem die Bewohner der Apartments ihre Wintersachen und Gummistiefel aufbewahren konnten – beides unabdingbar für das Leben hier in Perthshire – und einen Gemeinschaftsraum mit Waschmaschine und Trockner. Isobel wußte, daß die meisten Leute die Apartments recht komfortabel fanden, aber sie fragte sich auch, ob Lorna nicht lieber en famille leben würde, bei ihr, Giles und den Kindern, und bereitete sich im Stillen schon auf eine Auseinandersetzung vor.

Als Isobel draußen am Südeingang stand, bevor sie aufbrach, um Lorna am Edinburgher Flugplatz abzuholen, sah sie Amy und Edward durch das Tor gehen, das von der Terrasse in den verwilderten Teil des Gartens führte. Dort lag eine große Wiese, die von Birken und Farnen umgeben war, und dort standen die Azaleensträucher, die Giles’ Großvater aus dem Himalaya mitgebracht hatte und für die das Anwesen berühmt war. Eine Zeder, die so alt war wie das Haus, spreizte ihre mächtigen Äste, zwischen denen, seit Giles’ Kindertagen, die Schaukel hing. Die Seile waren über die Jahre erneuert worden, aber der hölzerne Sitz war noch derselbe, der vor fünfunddreißig Jahren für ihn angefertigt worden war. Dort stand auch die Wippe, auf der ein einsamer kleiner Giles seine besonderen Spiele hatte erfinden müssen, weil er selten einen Spielkameraden hatte. Er hatte Amy gezeigt, wie man mit gespreizten Beinen in der Mitte stehen und die Wippe gefährlich nahe zur einen oder anderen Seite neigen kann oder wie man reglos dasteht wie ein Habicht über warmen Luftströmungen und den Punkt des vollkommenen Gleichgewichts findet. Manchmal spielte Amy Geige, während sie auf der Wippe stand, und genoß die doppelte Anstrengung, den unteren Teil ihres Körpers still zu halten, während sie oberhalb der Taille bedrohlich schwankte und temperamentvoll den Bogen führte – was Giles dann allerdings wütend machte. Vor ein paar Monaten hatte sie eine neue, fünfhundert Pfund teure Geige zerbrochen, weil sie den Halt verloren hatte und von der Wippe gestürzt war. Zum Glück hatte man die Geige reparieren können, und sie war ja ohnehin versichert, aber Giles hatte Amy verboten, je wieder etwas so Dummes und Verantwortungsloses zu tun. Isobel hatte ihm beigepflichtet, vermutete aber, daß mehr hinter seinem Ärger steckte: wenn seine Tochter im Spiel musizierte, als wäre sie ein wilder Vogel, der hoch in der Krone eines Baumes singt, dann entzog sie sich seiner Kontrolle.

Welch eine Ironie, dachte Isobel – als sie ihre Tochter mit braungebrannten Beinen auf der Wippe stehen und trotz des starken Winds mühelos das Gleichgewicht halten sah – daß gerade Giles Amy gelehrt hat, die Balance zu halten, der er selbst in seinem Leben so schwer das Gleichgewicht findet. Und Edward ... würde er überhaupt je eine Art innere Balance erreichen, oder wenigstens eine, die für andere sichtbar wäre? Denn Edward war natürlich nicht mit normalen Maßstäben zu messen.

Am Rand der Wiese stand die hölzerne Burg – ein weiteres Relikt aus Giles’ Kindheit –, die Amy und Edward zu ihrem Hauptquartier erklärt hatten. Edward saß auf der Zugbrücke mit einem Beutel voller Spielzeugschlangen und Dinosaurier, die er immer mit sich herumschleppte und die als furchteinflößende Ungeheuer blutige Schlachten unter sich austrugen und unter seinem Kommando bis zum letzten Atemzug kämpften.

»Stirb, König der Dinosaurier«, rief Edward, der ein wenig lispelte. »Bumm! Bumm! Du bist tot. Ich hab’ dich mit meinem Schwert getötet.«

Isobel dachte traurig an jene anderen Ungeheuer, die in Edwards Kopf saßen und seinen Verstand verwirrten. Daß die Kinder zusammen in ein Spiel vertieft waren, kam immer seltener vor, seit ihre Entwicklungswege sich allmählich trennten. Als sie schließlich zum Wagen ging, wünschte sie verzweifelt, diesen Augenblick für immer festhalten zu können und nicht in die Zukunft schauen zu müssen.

Kapitel 2

Ein Langstreckenflug ist eine gute Gelegenheit, sich in einen Film zu vertiefen, aber im Gegensatz zu den anderen Passagieren des Flugs von Kapstadt nach Heathrow hing Lorna Cartwrights Blick nicht an dem kleinen Bildschirm vor ihr. Statt dessen klappte sie ihren Sitz zurück, legte die schwarze Augenbinde an und betrachtete die erstaunlich klaren Bilder, die ihr durch den Kopf gingen.

Die schmerzlichen Erinnerungen an ein pummeliges blondes Mädchen mit großen blauen Augen und Locken, in denen die Schleifen immer ordentlich sitzenblieben: ein ernstes Kind, ein ruhiges Kind, vor allem jedoch ein braves Kind, das niemanden ärgerte oder störte; zumindest hatte sie die Erwachsenen das sagen hören. Kein Kind, das unter Wutanfällen leidet, nicht essen will oder gar andere Kinder beißt; kein Kind, das immer noch ein weiteres Glas Wasser will, nachdem es schon längst zu Bett geschickt wurde. Kein Kind, das sich vor Ungeheuern unter dem Bett fürchtet oder imaginäre Spielkameraden vorführt, die für andere nicht zu sehen sind. Es war schön, dieses umgängliche Kind zu sein, das die Erwachsenen lobten, wenn auch vielleicht nicht gerade überschwänglich.

Mit drei kennt Lorna bereits alle Buchstaben und ist sehr gut im Zeichnen. Gut gemacht, Lorna. Ja, das ist sehr hübsch – und nun spiel schön, Liebes.

Als sie vier ist, kann man sich darauf verlassen, daß sie ihren Hamster füttert, ohne erst dazu ermahnt zu werden. Sie ist fürsorglich und geht sehr verantwortungsbewußt mit ihren Puppen um. Sie liegen nicht nackt und vergessen auf dem Boden herum, sie werden angezogen und ausgezogen und schlafen in einer Puppenwiege neben ihrem Bett. Gott segne Mummy und Daddy und laß Lorna ein braves Mädchen werden – aber das hatte er ja schon, so daß diese Bitte also vielleicht überflüssig ist? Gute Nacht, Lorna, schlaf gut. Das Licht wird ausgeschaltet, die Tür geschlossen, und damit hat es sich.

Etwas Aufregendes wird bald geschehen. Bald wird es ein Baby in der Familie geben – ein richtiges – und Lorna darf mithelfen, es zu versorgen. Das hat die Mutter ihr versprochen.

Die Ankunft des Babys bezeichnet einen wichtigen Moment in diesem Film, denn danach wird es für die Heldin des bislang ereignislosen Dramas nie wieder so wie früher sein. Sie ist wie besessen von dem neuen Kind und weiß genau, was es benötigt. Ihr Vater sagt, man könnte meinen, Lorna hätte ein Buch über Säuglingspflege gelesen. Unglücklicherweise hat das Baby nicht die gleichen Anweisungen gelesen und nimmt Lornas Bemühungen nicht immer freundlich auf.

»Laß sie in Ruhe, Liebes«, sagt Lornas Mutter seufzend. »Babys mögen es nicht, ständig angefaßt zu werden«, und Lorna, die das neue Kind als ihren Privatbesitz betrachtet, ist beleidigt. Später schleichen sich noch kompliziertere Gefühle für die kleine Schwester ein, die so ungezogen ist, aber alle zum Lachen bringt. Lorna bringt die Leute nie zum Lachen, aber das Verrückte ist, daß es immer wie ein Lob klingt, wenn die Erwachsenen über die Ungezogenheit, den Eigensinn und die Dreistigkeit der kleinen Isobel reden.

»Isobel ist ein kleines Monster«, sagt ihre Mutter stolz, und alle lächeln.

Lorna ist auch weiterhin sehr wohlerzogen, und ihre schulischen Beurteilungen sind in jeder Hinsicht exzellent – wieso ist sie also nicht beliebter bei den Leuten? Lorna versteht es nicht. Sie verdient sich den Spitznamen »die Aufsicht« bei ihren Altersgenossen, und das ist alles andere als nett gemeint. Später, als Isobels Freundinnen sie »Cat« nennen, als Abkürzung für Katastrophe, ist es ein Kompliment.

Als Lorna fünfzehn ist, hört sie ihre Mutter und eine Freundin über sich und Isobel sprechen. Lorna macht ihre Hausaufgaben am Tisch im Eßzimmer des Hauses am Charlotte Square in Edinburgh, aber die Tür zum angrenzenden Wohnzimmer steht offen. Niemand erinnert sich daran, daß sie dort sitzt.

»So wie die Dinge liegen, kannst du froh sein, daß Lorna so hübsch ist«, sagt die Freundin.

»Ja, das ist sie wohl.« Lornas Mutter klingt erstaunt. »Es ist mir nie so recht bewußt geworden, aber du hast Recht, sie ist hübscher als Isobel. Hübsch kann man Isobel nicht nennen.«

Die junge Lorna lauscht gespannt, obwohl sie sich auch fragt, wieso es ihrer Mutter bisher nie bewußt gewesen war.

»Oh, Lorna wird einmal sehr gut aussehen – sie wird eine großartige Figur und schöne Haut bekommen. Schade, daß sie nicht ein bißchen mehr aus sich herausgeht, aber ich fürchte, Isobel wird immer die Liebenswertere der beiden bleiben. Man muß sie einfach lieben.« Die Freundin und Lornas Mutter lachen nachsichtig.

Lornas Kehle ist wie zugeschnürt. Um sich nicht mehr so schrecklich unsichtbar zu fühlen, nimmt sie einen Zirkel aus ihrem Geometriekasten und bohrt mit der Spitze ein tiefes Loch in den Eßtisch. Als ihre Mutter es später sieht, ist sie entsetzt – und kann an diesem Streich nichts Liebenswertes finden.

»Warum hast du das getan? Ich begreife es nicht. Das paßt doch nicht zu dir, Liebes.« Lorna starrt sie nur schweigend an, erklärt nichts und bittet auch nicht um Verzeihung. Ihre aufgebrachte und besorgte Mutter schließt daraus mit Recht, daß Lorna gerade in einer schwierigen Phase ist. Es kann nur ihr Alter sein.

Lorna scheint ihre jüngere Schwester gern zu haben, wünscht sich jedoch immer mehr, die Einzige zu sein. Sie ist stets bemüht, Isobel vor unüberlegten Handlungen zu bewahren – vor allem, sie vor übermäßig viel Sonne zu beschützen, indem sie sie in den Schatten zieht. Wenn Lorna ihre Schwester von Kopf bis Fuß vor der Sonne verstecken könnte, würde sie es tun. Isobel ist nicht begeistert über die Bevormundung, aber sie nimmt es nicht zu schwer, weil sie trotzdem in der Sonne spielt und unbekümmert ihrer Wege geht. Dafür gibt sie ihrer Schwester die spontane, für alle sichtbare Zuneigung, die niemand anderer ihr gibt, und hält es für selbstverständlich, daß Lorna zu ihrer Rettung eilen wird, wann immer sie den Beistand ihrer Schwester braucht. Später lernt Isobel, daß diese Hilfe einen Preis hat, aber soweit ist es jetzt noch nicht. Allgemein wird angenommen, daß die Schwestern sich sehr nahestehen – wirklich nett von Lorna, sich so gut um Isobel zu kümmern.

Der Film wird vorgespult bis zu der Zeit, als Lorna ihrem ersten Freund begegnet. Sie lernen sich auf einer Party in Edinburgh kennen. Giles Grant, der der bestaussehende Junge auf der Party ist, fordert sie zum Tanzen auf, und danach setzt er sich zu ihr. Giles hat Liebeskummer – oder redet jedenfalls über nichts anderes, in allen Einzelheiten und den ganzen Abend lang. Lorna ist erbost über die Herzlosigkeit seiner früheren Freundin und hört ihm mit einer Teilnahme zu, die wie Balsam für seine Gefühle ist. Die Empörung verleiht ihren sonst ziemlich ausdruckslosen blauen Augen ungewohnten Glanz. Sie erfährt, daß Giles’ Kindheit von Tragödien überschattet war; er hat keine Mutter und lebt bei einem schwierigen, anspruchsvollen Vater, der ihn nicht versteht. Lorna erinnert sich vage, ihre Mutter über den tragischen Tod von Giles schöner, berühmter Mutter reden gehört zu haben, Atalanta Grant, die früher Schauspielerin gewesen war. Sie ist tief bewegt über dieses Drama, das Giles ihr jetzt so spannend schildert. Giles hat eine schmachtende Sklavin gefunden, und Lorna jemanden, den sie vergöttern kann, was beiden sehr gelegen kommt.

Lorna schafft es, den neuen Freund vor der Familie geheimzuhalten. Es war ihr im Lauf der Jahre oft genug passiert, daß sie Freunde, die sie mit nach Hause nahm und eigentlich doch selbst behalten wollte, an ihre Familie verlor, an ihre schöne Mutter, für die alle schwärmten, an ihren klugen, schlagfertigen Vater und – was noch viel schlimmer war – an Isobel, die sie vergötterten. Sie denkt gar nicht daran, Giles dem Zauber ihrer kleinen Schwester auszusetzen. Ihre Eltern beklagen sich, daß sie keinen ihrer Freunde mehr kennenlernen.

Später, als sie und Giles an der Universität in Bristol studieren, in sicherer Entfernung von Edinburgh, bewegen sie sich im gleichen Freundeskreis, dessen Interessen und Unternehmungen hauptsächlich Giles bestimmt, und alle nehmen an, besonders Lorna, daß er und sie sich eines Tages verloben und heiraten werden. Es ist zwar so, daß Giles mit vielen anderen Mädchen flirtet, aber niemand nimmt das ernst; Lorna weiß, daß er sie gern hat – und ohne sie wahrscheinlich gar nicht leben könnte, redet sie sich ein –, weshalb die Tatsache, daß er einen Kennerblick für das andere Geschlecht besitzt, sein Interesse für sie nur noch schmeichelhafter macht. Denn wenn er keine Vergleiche hätte und nie eine andere ansähe, wäre es doch kein solches Kompliment für sie? Das Argument mag zwar Schwächen haben, doch Lorna erforscht sie nicht. In den Ferien fährt sie mit Giles zu ihm nach Hause nach Glendrochatt, das ihr maßlos imponiert, und ist bald verliebt bis über beide Ohren, nicht nur in Giles, sondern auch in den Familiensitz. Sie gibt sich Phantasien hin, wie sie auf den bogenförmigen Stufen vor der Eingangstür steht und Gäste empfängt, an ihrer Seite Giles, der einen Kilt trägt und von einer ganzen Schar hübscher, wohlerzogener Kinder umringt ist. Sie ist noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen. Giles einschüchternder alter Vater, Hector Grant – mit dem sich Giles gar nicht so schlecht versteht – findet Lorna schrecklich langweilig, sagt sich aber, daß er froh sein sollte, daß sie wenigstens recht harmlos wirkt. Worin er sich gewaltig irrt.

An dieser Stelle des Films umklammert Lorna Cartwright, die inzwischen siebenunddreißig ist, die Armlehnen ihres Sitzes. Die Bilder würden nun immer qualvoller werden, aber Lorna ist wie hypnotisiert und kann sie nicht verdrängen.

Lorna macht ihren Universitätsabschluß mit einem unverhofften 2,1. Giles, der zwar sehr viel klüger als sie selbst ist, aber den größten Teil seiner Zeit dort entweder geschauspielert oder gefeiert hat, bekommt nur eine Drei. Sein Vater ist sehr aufgebracht darüber, aber Lorna gibt ihm zu verstehen, daß Giles nur ungewöhnlich großes Pech gehabt hat – obwohl es nicht leicht ist, diese ausgesprochen tendenziöse Ansicht zu begründen. Sie rechnet fest damit, daß Giles ihr einen Antrag machen wird, obwohl nichts in seinem Verhalten auf eine derartige Absicht schließen läßt. Eigentlich wirkt er sogar unerklärlich undankbar, was ihre Loyalität und ihr ungebrochenes Vertrauen in ihn betrifft. Um Giles endlich zu einer festen Bindung zu bewegen, und entgegen ihrer Neigung, an ihm zu kleben wie eine Klette, nimmt Lorna den Rat von Freunden an und geht für sechs Monate auf Reisen.

»Geh auf Distanz. Riskier etwas, um ihn zu kriegen. Er wird verloren sein ohne dich, wenn du ihm nicht ständig zur Verfügung stehst, du wirst schon sehen«, bedrängen die Freunde sie.

Lorna schreibt Giles ermüdend ausführliche Briefe über ihre Reiseeindrücke. Diese ellenlangen Ergüsse, die akkurat sind bis zum letzten Kriegerdenkmal, Standbild oder Datum einer Schlacht – denn Lorna führt ein Reisetagebuch – vermögen weder die Atmosphäre der Orte einzufangen, noch geben sie die wirkliche Fülle ihrer neuen Erfahrungen wieder. Sie erhält gelegentliche Postkarten von Giles, die ihn ihr auf beunruhigende Weise wieder zu Bewußtsein bringen und eine schmerzliche Sehnsucht nach ihm wecken. Was diese enttäuschend kurzen Mitteilungen verschweigen, ist, daß etwas Unvorhergesehenes während Lornas Abwesenheit geschehen ist: Giles hat Isobel getroffen.

Isobel ist neunzehn und absolviert auf Drängen ihrer Eltern einen Sekretärinnenkurs in Edinburgh, bevor sie auf die Schauspielschule geht. In einem ihrer kurzen, aber liebevollen Briefe an Lorna schreibt Isobel, es gebe aufregende neue Entwicklungen in ihrem Leben und sie könne es kaum erwarten, Lorna alles zu erzählen, müsse sich jetzt aber beeilen – keine Zeit, um mehr zu schreiben – und alles Liebe und tausend Küsse.

Lorna spürt einen vertrauten kleinen Stich des Neids, hat aber keine bösen Vorahnungen.

An dem Abend, als Lorna in London eintrifft, wo sie bei einer alten Schulfreundin, die in Battersea lebt, ein paar Tage bleiben will, ruft Giles an, um sich für den nächsten Tag mit ihr zu verabreden. Er sei extra hergeflogen, um sie zu sehen, sagt er, weil er etwas Dringendes mit ihr persönlich zu besprechen habe, bevor sie nach Edinburgh zurückkehre. Lorna ist überglücklich und der festen Überzeugung, daß ihre Taktik sich als gut erwiesen hat. Doch anstatt ihr einen Ring zu geben, läßt Giles eine Bombe fallen. Er hat sie zum Dinner ausgeführt, um ihr zu sagen, daß er in der Tat beabsichtigt, schon bald zu heiraten – aber nicht sie, nicht einmal irgendein gesichtsloses, hassenswertes Mädchen, sondern ihre eigene Schwester! Er hofft, daß Lorna sich für ihn und ihre Schwester freuen kann und sagt, er habe ihre Freundschaft immer sehr geschätzt.

Freundschaft! Lorna fröstelt. In eisigem Ton fragt sie Giles, wie Isobel darüber denkt. Giles sagt: »Oh, ich habe ihr erzählt, wie gut wir uns in Bristol verstanden haben«, und fügt dann schlau hinzu: »Sie war sehr überrascht, daß wir uns kennen. Sie sagte, du hättest nie von mir gesprochen – nicht sehr schmeichelhaft von dir, Lorna!«

Lorna empfindet sich als Opfer ihrer eigenen Geheimnistuerei. Giles sagt, er werde sie immer gern haben und er bedaure es sehr, falls die Neuigkeit ein Schock für sie gewesen sei, hoffe aber, daß sie wie er inzwischen eingesehen habe, daß sie einander mit der Zeit entwachsen waren. Es sei richtig von ihr gewesen, fortzugehen, um ihnen beiden eine Chance zu geben, erwachsen zu werden und sich zu verändern.

Lorna möchte ihn anschreien – ihn anflehen, es sich noch einmal zu überlegen, und ihm sagen, daß er einen schlimmen Fehler begeht. Sie denkt verzweifelt, daß sie seinetwegen in den Tod gegangen wäre, wenn sie ihn durch einen Unglücksfall verloren hätte, während sie sich, mit einem bedrückenden Gefühl des Déjà vu, schon damit abfindet, daß sie mal wieder von ihrer jüngeren Schwester ausgestochen wurde.

Irgendwie übersteht sie den Rest des Dinners, bevor sie zu der Wohnung ihrer Freundin zurückschleicht. Kaum fähig, die Beine zu bewegen, schleppt sie sich heim wie eine alte Frau, um dann die ganze Nacht – die schrecklichste Nacht ihres Lebens – wachzuliegen und kein Auge zuzutun.

Sie sagt sich, daß Isobel ihr nie wissentlich den Freund gestohlen hätte, aber das ist kein Trost, ganz im Gegenteil: ein gerechtfertigter Groll wäre erheblich leichter zu ertragen. Und so wünscht sie sich in einem finsteren Teil ihrer Seele, Isobels Herz eine ebenso tiefe Wunde zuzufügen. Vielleicht ist es ganz gut, daß sie keine Zirkel mehr zur Hand hat, als sie schließlich heimfährt und Isobel begrüßt. In dem unendlich qualvollen Versuch, ihr Gesicht zu bewahren, verhält sie sich, wie es von ihr erwartet wird, und gibt vor, erfreut zu sein. Giles, den Schuldgefühle plagen, wenn auch mehr wegen seiner Unaufrichtigkeit Isobel gegenüber als wegen des Wissens, Lorna enttäuscht zu haben, läßt sich davon nicht täuschen. Doch niemand außer ihm ahnte auch nur im mindesten, daß Lorna hinter ihrer fröhlichen Fassade litt.

Als Giles und Isobel ein Jahr später heiraten, redet Lorna sich ein, daß sie ihr damit das Leben ruinieren. Obwohl sie bei der Hochzeitsfeier eine auffallende Nonchalance zur Schau trägt und sich gegen ihre Gewohnheit stark betrinkt, kann sie Isobel in ihrem Herzen nicht verzeihen.

Als die Maschine über London kreiste, wurde Lorna Cartwright von der Lautsprecherdurchsage aufgeschreckt: »Ladies und Gentlemen, befestigen Sie jetzt bitte Ihre Gurte, stellen Sie Ihren Sitz gerade und bleiben Sie sitzen, bis wir in Heathrow gelandet sind.« Die Besatzung danke den Passagieren, mit ihrer Fluglinie gereist zu sein, und hoffe, es sei ein angenehmer Flug gewesen. »Bevor Sie die Maschine verlassen, schauen Sie bitte in den Fächern über Ihren Sitzen nach und überzeugen Sie sich, daß Sie dort nichts vergessen haben.«

Lornas Handgepäck war praktisch, leicht und wohlgeordnet. Nur ihr emotionaler Ballast wog äußerst schwer. Doch sie hatte nicht die Absicht, irgend etwas zurückzulassen.

Kapitel 3

Isobel traf frühzeitig am Flughafen ein. Um auf keinen Fall zu spät zu kommen und Lorna gleich von vornherein schon zu verstimmen, hatte sie sich für die Fahrt von Glendrochatt nach Edinburgh zwanzig Minuten mehr Zeit genommen, als sie gewöhnlich brauchte. Nach dieser Vorsichtsmaßnahme war der Verkehr natürlich flüssiger als sonst, es gab keine Baustellen, und ein abfahrender Wagen machte praktischerweise den nächstliegenden Parkplatz frei, als sie den Flughafen erreichte. Das mußte ja so kommen, dachte Isobel und beschloß, eine Tasse Kaffee zu trinken und die seltene Gelegenheit zu nutzen, einmal ungestört Zeitung zu lesen. Es war absurd, nervös zu sein.

Sie trug ihren Kaffee zu einem leeren Tisch, wo sie dann jedoch, anstatt die Daily Mail zu lesen, über ihre Kindheit nachsann. Schuldbewußt erinnerte sie sich, daß das Leben meist mehr Spaß gemacht hatte, wenn Lorna nicht dabei war. Lorna hatte Isobel zu oft das unangenehme Gefühl gegeben, ihre ältere Schwester irgendwie enttäuscht zu haben, wobei die Anlässe völlig harmlos waren und nicht das Geringste mit Lorna zu tun hatten. Wie wenn Isobel auf Bäume kletterte oder über irgendeinen Scherz ihrer humorvollen Mutter lachte, die in Lornas Gesellschaft immer ein wenig ernst war. Sie erinnerte sich nur allzu gut, wie Lorna sie beim Spielen unterbrochen und sie an der Hand zu ihrem Kindermädchen gezogen hatte, um zu sagen, daß Isobel sich gleich in die Hose machen werde, ihre Milch verschüttet habe, gefallen sei oder Ruhe brauchte. Lorna drängte sie andauernd in die Rolle einer unselbständigen Gans – die liebe kleine, ungeschickte Izz –, um sich selbst dann unweigerlich als die Güte in Person hinzustellen. »War es nicht ein Glück, daß ich sie gefunden habe?« pflegte Lorna die Erwachsenen zu fragen.

Später hatte sie ihr gute Ratschläge gegeben, was Isobel anziehen solle – oder vielmehr nicht – und wie sie sich auf Partys zu benehmen habe. Diese Empfehlungen – denen Isobel zugegebenermaßen kaum Beachtung schenkte – hatten meist etwas mit Beschränkungen und düsteren Warnungen vor den Konsequenzen ihrer Mißachtung zu tun, obwohl Isobel, die ihrem eigenen guten Stern folgte, erheblich besser zurechtkam als Lorna. Arme Lorna, dachte Isobel jetzt, was muß ich doch für ein Dorn in ihrem Fleisch gewesen sein. Aber ich werde mir ihre ewige Mißbilligung nicht mehr gefallen lassen. Es ist Jahre her, seit wir unter einem Dach gelebt haben oder auch nur längere Zeit zusammen waren, dachte sie. Wir haben uns gewiß beide verändert, aber wie wird sie reagieren, jetzt, wo ich nicht mehr in die Rolle der unbedachten, hilflosen kleinen Schwester passe, die sie mir so gern angedichtet hat? Wir sind beide erwachsene Frauen, und ich zumindest werde mich auch so benehmen, schwor sich Isobel. Niemand wird mich dazu bringen, mich schuldig zu fühlen wegen dem, was mir Freude macht – und all dem, was ich zum Glück besitze.

Sie trank ihren Kaffee aus, als Lornas Flug angekündigt wurde, und ging voll guter Vorsätze in die Halle hinunter.

Als Isobel die Passagiere durch den Ausgang strömen sah, begann sie sich zu fragen, ob Lorna ihren Flug von Heathrow vielleicht verpaßt hatte. Doch etwas Vertrautes am Gang einer Frau veranlaßte sie, sich noch einmal nach der eleganten Gestalt in dem schwarzen Hosenanzug und dem schicken Hut umzusehen, die einen Wagen mit teuer aussehenden Koffern vor sich herschob.

»Lorna!« rief Isobel, winkte lebhaft, um sie auf sich aufmerksam zu machen, und lief auf ihre Schwester zu. »Oh, Lorna, Liebes, wie schön, dich wiederzusehen!« Zu ihrer Erleichterung verspürte Isobel eine Welle aufrichtiger Zuneigung, als sie sich umarmten. Vielleicht waren all ihre Bedenken unnnötig und nichts als pure Einbildung gewesen? Dann lachte sie. »Großer Gott, ich hätte dich fast nicht erkannt – du siehst aus wie ein Filmstar oder so! Ist das das Image der modernen coolen Singlefrauen? Neben dir komm’ ich mir fast schlampig vor.«

»Aber dich hätte ich überall erkannt«, sagte Lorna. »Noch immer dieselbe kleine Schwester, auf die ich früher aufgepaßt habe.«

Es gab soviel zu erzählen, daß sie nicht wußten, wo sie beginnen sollten.

»Wirst du Südafrika vermissen?« fragte Isobel, nachdem sie ihren Wagen geholt, die Hundehaare vom Beifahrersitz abgewischt und Lornas makellose Koffer auf den Rücksitz gestellt hatte. Sie lenkte den Wagen in den zähfließenden Verkehr vor dem Flughafen und beschleunigte geschickt, um einen Lastwagen zu überholen. »Glaubst du, daß es dir schwerfallen wird?«

»Es gibt vieles, was ich vermissen werde. Man hat ein wunderbares Leben dort. Ich habe das Klima und die Landschaft genossen, und natürlich das Personal – man könnte sagen, daß es sehr bequem war, abgesehen davon, daß meine Ehe ein Desaster war. Aber das hast du ja selbst gesehen. John werde ich ganz sicher nicht vermissen.«

»Nein. Es tut uns leid, was du alles durchgemacht hast. Wann hast du gemerkt, daß es nicht klappen würde?« fragte Isobel neugierig. »Wir alle fanden John charmant, als ihr verlobt wart und er herüberkam, um uns kennenzulernen, und später hast du dir nie anmerken lassen, daß etwas nicht stimmte.« Sie erinnerte sich noch gut, wie erleichtert sie gewesen war, als Lorna, die kurz nach Isobels und Giles’ Heirat nach Südafrika gegangen war, angerufen hatte, um ihre Verlobung anzukündigen. Lorna hatte triumphierend geklungen.

»Oh, ich wußte es beinahe von Anfang an – und es wurde bald schlimmer, als wir keine Kinder bekamen. Ich hätte alles für ein Kind gegeben. Du weißt nicht, wie glücklich du dich schätzen kannst, Izzy – wir wünschten uns ja beide so sehr Kinder. John wurde immer schwieriger, und er war so sehr der große weiße Häuptling dort am Krankenhaus, daß ich nie hoffen durfte, mit all dieser Verehrung konkurrieren zu können.« Isobel dachte unwillkürlich, daß Verehrung einst Lornas Spezialiät gewesen war. »Dann entdeckte ich, daß er Affären hatte und sich nicht einmal die Mühe gab, sie vor mir oder anderen zu verbergen. Die Situation wurde unerträglich. Aber ich schätze, zum Teil war es natürlich auch meine Schuld«, sagte Lorna, während sie vorsichtig ihren Hut abnahm und ihn auf den Schoß legte, ohne Isobel anzusehen. »Obwohl er ein sehr gutaussehender Mann ist, war ich nie wirklich verliebt in ihn und wußte immer, daß ich ihn aus den verkehrten Gründen geheiratet hatte.«

In diesem Augenblick mußte Isobel sich auf das Fahren konzentrieren, um rechtzeitig auf die Straße abzubiegen, die nach Forth Bridge führte. Sie hatte wenig Interesse, dieses heikle Thema mit Lorna zu bereden, und erst als sie den Brückenzoll gezahlt, die Brücke überquert hatten und über die M90 auf Perth zufuhren, sagte Isobel: »Irgend etwas kommt mir anders vor an dir, Lorna – und nicht nur deine eleganten Kleider – aber ich könnte dir nicht sagen, was es ist.«

Lorna warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich habe meine Nase richten lassen, falls du das meinst. Aber erzähl das bitte niemandem.«

»Du hast deine Nase richten lassen?« fragte Isobel erstaunt. »Für mich sieht sie so aus wie immer – was stimmte eigentlich vorher nicht an ihr? Oder ziehst du mich nur auf?« Jemanden aufzuziehen, war bei Lorna fast genauso unvorstellbar wie eine Nasenoperation.

»Nein, natürlich nicht. Ich habe mich wirklich operieren lassen. Das Komische ist, daß die meisten Leute eine Veränderung an mir bemerkt haben, aber keiner je erraten hat, worin sie besteht.«

»Ich denke, es ist wie bei einem Haus. Nach Hectors Tod haben wir alle Bilder im Eßzimmer in Glendrochatt umgehängt, was Giles schon seit Jahren tun wollte. Aber alle dachten, wir hätten nur die Wände streichen lassen.«

»Ja, so ähnlich. Was natürlich heißt«, sagte Lorna, »daß niemand sich das Eßzimmer – oder mich – je richtig angesehen hat. Die Leute sind erstaunlich unaufmerksam.«

»Nun, ich kann es kaum erwarten, auszusteigen und dich genauer anzusehen. Aber, o Gott, mich schaudert’s, wenn ich bloß an die Operation denke! Ich weiß nicht, wie du das ausgehalten hast – diese Schmerzen!« Isobel legte eine Hand an ihre Nase, als wolle sie sie vor einem unverhofften Angriff schützen. »War es das wert? Du hattest doch schon vorher eine hübsche Nase.«

»Mir war es das wert. Mir gefällt sie jetzt, und das ist das Einzige, was zählt.«

»Aber man sieht die eigene Nase doch kaum. Ich verstehe, wie gut man sich fühlt, wenn sie anderen gefällt«, wandte Isobel ein, um dann rasch hinzuzufügen: »Und so ist es ja auch, nicht?«

»Das Wichtigste ist, sich selbst zu mögen, dann gefällt man anderen auch. Das habe ich inzwischen gelernt.«

»Du liebe Güte«, sagte Isobel und dachte, daß Lorna wie eine Kummerkastentante aus einer Frauenzeitschrift klang. »Nun, vielleicht sollte ich eine Beintransplantation vornehmen lassen, dann könnte ich die hautengen Kleider tragen, die ich insgeheim so liebe, ohne wie eine Roulade in Klarsichtfolie auszusehen. Aber selbst wenn du mir deine langen schlanken Beine für meine stämmigen geben würdest, würde ich mich nicht operieren lassen. Es müßte schon so etwas wie Wundbrand sein, damit ich mich unter das Messer lege. Ich bin viel zu feige – aber gratuliere, wenn es das ist, was du wolltest.«

Isobel warf einen verstohlenen Blick auf das perfekte Profil ihrer Schwester und fragte sich, welche Veränderungen erst noch hinter der Fassade lauern mochten.

»Erzähl mir von den Zwillingen«, bat Lorna. »Es sind Jahre vergangen, seit wir uns besucht haben. Ich werde sie kaum wiedererkennen. Wie geht es ihnen?«

»Gut.« Isobel hatte unglückliche Erinnerungen an den letzten Familienurlaub bei ihren Eltern in Frankreich. Besonders an Edward, der damals zwei gewesen war und noch nicht ohne Hilfe sitzen und erst recht nicht gehen oder sprechen konnte. Der für alle möglichen Infektionen anfällig gewesen war und häufig in die Kinderklinik gebracht werden mußte, so daß die Ferien weit von zu Hause in konstanter Unruhe vergingen. Der auf keinen reagierte, seine Finger anstarrte und merkwürdige Geräusche von sich gab, mit einer Zunge, die viel zu groß für seinen Mund war, dessen Haut immer feucht wirkte und dem beständig die Nase lief. Und vor allem an Lornas kaum verhohlene Abneigung gegen den Jungen.

Isobel hatte zufällig mit angehört, wie ihre Mutter Lorna deshalb Vorhaltungen machte: »Ich finde, du könntest dich wirklich etwas mehr um Edward bemühen – Isobel zuliebe.« Und dann Lornas Antwort: »Tut mir leid, Mum. Ich versuche es ja, aber ich mag ihn kaum berühren.«

»Ich weiß, ich weiß«, hatte ihre Mutter traurig erwidert, »man hat bei Amy das unwiderstehliche Bedürfnis, sie auf die Stirn zu küssen, aber nicht bei Edward. Ich bin trotzdem der Meinung, daß du deine Gefühle besser verbergen könntest. Fingiere einfach – und mit der Zeit wird es dir sicher leichter fallen.«

Isobel war davongeschlichen, um unbeobachtet die kummervollen Tränen zu vergießen, die eine eiserne Hand aus ihr herauszuquetschen schien. Sie verübelte es Lorna nicht; sie verstand ihre Abscheu nur zu gut und war sich schamvoll ihrer eigenen bewußt – sie, die ihren rätselhaften kleinen Sohn zugleich leidenschaftlich liebte und beschützte. Aber es tat weh, wie so viele Dinge, die noch immer schmerzten. Sie fragte sich, ob dies die Strafe dafür war, daß sie in ihren ersten zwanzig Jahren so sorglos und unbekümmert ihrem Leben nachgegangen war. Während meiner gesamten Kindheit, dachte Isobel, habe ich Lorna in den Schatten gestellt, und dann hat sie erleben müssen, wie ich ihr den Freund gestohlen habe. Die Tatsache, daß ich es nicht bewußt tat, hilft keinem von uns beiden.

»Amy macht große Fortschritte beim Musizieren«, fuhr Isobel von sich aus fort. »Giles engagiert sich sehr für diese Suzuki-Geschichte. Er hat seine Geige wieder hervorgeholt und spielt mit Amy. Das verbindet sie miteinander. Es hat alles begonnen, als wir mit Freunden bei einem Vortrag in Edinburgh waren und die Besucher aufgefordert wurden, eine Hand zu heben, falls sie bereuten, nie ein Instrument gespielt oder es in jungen Jahren aufgegeben zu haben. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viele Leute die Hand hoben, einschließlich Giles und mir. Seitdem ist die Musik ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens.«

»Und ... Edward?« fragte Lorna.

Isobel verspürte einen leichten Stich im Herzen und wünschte, die Leute würden nicht immer mit dieser zartfühlenden kleinen Pause nach dem Jungen fragen. Zugleich fand sie sich ungerecht, denn es wäre sicher viel schlimmer, wenn sie ihn gar nicht erwähnen und nie nach ihm fragen würden. »Edward geht es fabelhaft«, sagte sie. »Er leistet Erstaunliches in seiner Schule. Es ist ein großes Glück, daß wir so eine wunderbare Sonderschule in der Gegend haben. Und er bringt uns alle zum Lachen – er kann wahnsinnig komisch sein.«

»Komisch?« Lorna klang erstaunt.

»Ja, komisch«, wiederholte Isobel entschieden. »Bei Edward kann man nur lachen oder weinen. Und ich lache lieber.«

Für eine Weile herrschte Schweigen, währenddessen die beiden Schwestern sich erinnerten, wie unerklärlich sie die Reaktion der anderen stets gefunden hatten. »Ich kann es kaum erwarten, alles über eure neuen Pläne zu erfahren«, sagte Lorna schließlich mit neutraler Stimme. »Ich dachte immer schon, daß Glendrochatt sehr viele Möglichkeiten bietet – dieses zauberhafte Anwesen und das wundervolle kleine Theater. Es erschien mir immer wie Verschwendung, daß es nur im Sommer für vierzehn Tage benutzt wurde. Hast du dir nie gewünscht, selbst wieder auf der Bühne zu stehen, Izz?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich hatte immer nur kleine Rollen und war im Gegensatz zu Atalanta nie besessen von der Bühne. Und wenn ich ehrlich sein will, war ich wohl auch nicht gut genug. Außerdem würde ich es hassen, Giles und die Kinder oft alleinzulassen. Wahrscheinlich fehlt mir der Ehrgeiz. Trotzdem bekomme ich noch immer Lampenfieber, wenn eine Vorstellung in Glendrochatt stattfindet, auch wenn ich nicht mehr selbst auf der Bühne stehe. Ich habe an einigen Aufführungen des Festivals teilgenommen und gelegentlich Gedichte vorgelesen, aber am wichtigsten ist mir die engagierte Vorbereitung, weshalb ich denke, daß mir die Arbeit für das Kunstzentrum großen Spaß bereiten wird.« Mit gewissenhafter Ehrlichkeit schloß sie: »Du wirst uns ungeheuer nützlich sein, wenn du bei der Fertigstellung des Projektes hilfst, Lorna.«

»Wem ist der Einfall gekommen?« Lorna hoffte, daß es nicht Isobel gewesen war.

»Keine Ahnung. Die Idee ist einfach so gereift. Wir wollten etwas tun, um den finanziellen Aufwand für das Anwesen zu rechtfertigen. Wir müssen irgendwie die Kosten decken, selbst wenn wir keinen eigentlichen Gewinn erzeugen. Von Zeit zu Zeit haben wir Hector Vorschläge gemacht, aber er wollte nichts verändern. Zwar hatte er den gesamten Besitz Giles schon vor Jahren überschrieben, aber wir waren uns immer einig, daß wir so weitermachen sollten, als gehörte er noch Hector. Als er dann plötzlich starb, konnten wir schließlich all die Ideen verwirklichen. Giles ist in seinem Element.« Isobel kicherte. »Du solltest ihn mal sehen, wie er mit den Perthshirer Damen aus dem Komitee umgeht – sie liegen ihm zu Füßen. Er scheint ihr ganzes Leben neu zu organisieren, und einige von ihnen machen keinen Schritt, ohne Giles zu konsultieren. Ich würde ihm sogar zutrauen, daß er entscheidet, was sie anziehen – was vielleicht der einen oder anderen gar nicht so schlecht bekommen würde, wenn ich es genau bedenke. Denn dann hätten wir nicht so viele Strickjacken in Erikarot. Sie rufen ihn fortwährend an.«

»Stört es dich nicht?« fragte Lorna neugierig.

»Überhaupt nicht, ich finde es urkomisch. Und praktisch ist es auch, sie sind mit allem einverstanden, was er will.«

Als sie Perth umgangen hatten und auf der A9 in Richtung Norden fuhren, nahm Isobel die Abzweigung nach Blairalder. Sie schaute ihre Schwester von der Seite an und fragte sich, wie es für sie sein mochte, nach so langer Zeit zurückzukehren.

»Oh, sieh mal«, sagte Lorna. »Da ist das Haus, in dem damals die Carvers wohnten. Wem gehört es jetzt?« Lorna dachte unweigerlich an die Teenagerpartys dort. Ganz besonders an den Tanzabend, wo zum ersten Mal auch ihre jüngere Schwester eingeladen worden war. Sie hatte versucht, ihren Eltern klarzumachen, daß Isobel sich dort fehl am Platz fühlen würde. Aber ihr Vater hatte gelacht und gesagt: »Sei kein Spielverderber, Lorna – Izzy und sich fehl am Platz fühlen? Es wird ihr einen Heidenspaß machen.« Seine Worte hatten weh getan, und er hatte recht behalten, was Lorna von Anfang an befürchtet hatte. Alle waren von Isobel entzückt gewesen. An jenem Abend hatte Lorna keinen Partner für den »Duke of Perth« gefunden und war froh, daß Giles, den sie erst seit kurzem kannte, nicht unter den Gästen war, so daß er nicht Zeuge ihrer Demütigung wurde. Aber dann mußte sie ohnmächtig zusehen, wie einer ihrer eigenen Freunde Isobel über die Tanzfläche wirbelte und wie man applaudierte und nachsichtig lachte, als Isobel und ihr Partner bei dem wilden Tanz so aus dem Gleichgewicht gerieten, daß sie auf dem Boden landeten.

»Das Haus steht wieder zum Verkauf«, antwortete Isobel. »Gott, was hatten wir für einen Spaß dort! Ich ging wahnsinnig gerne zu den Carvers, du nicht auch?«

»Na ja, manchmal schon. Ich mußte gerade an diese entsetzliche Party denken, bei der du dich so unmöglich benommen hast und von Daddy abgeholt werden mußtest. Erinnerst du dich noch daran?«

Isobel lachte. »Allerdings – ich hatte einen Wahnsinnsspaß! Ich war völlig verblüfft, als Dad plötzlich kam und mich nach Hause brachte. Ich konnte mir nicht erklären, warum.«

»Du hattest zuviel getrunken«, sagte Lorna, die ihn angerufen hatte, damit er Isobel abholte. »Ich hätte sterben können, so peinlich war mir das.«

Isobel wußte ganz genau, wie sehr sie damals von der Musik, dem Charme der älteren Tanzpartner und von ihrer eigenen guten Laune beschwingt war, doch nicht vom Alkohol, den sie, wie sie ihren Eltern versprochen hatte, nicht einmal angerührt hatte. Aber sie hielt es für besser, das Thema zu wechseln. »Wir sind fast da. Du hättest zu keiner besseren Zeit eintreffen können. Wir haben gerade wunderbares Wetter, und die Osterglocken werden bald in voller Blüte stehen. Ich liebe diese Jahreszeit, wenn die Buchen noch nicht ganz ausgeschlagen sind, die Primeln in den Beeten entlang der Einfahrt blühen und all dieses Nestgebaue begonnen hat. Wir können es kaum erwarten, dir alles zu zeigen.«

»Ich auch nicht. Was für Veränderungen habt ihr bisher vorgenommen?«

»Nun, die Beleuchtung im Theater ist komplett erneuert. Wir hatten schon befürchtet, daß die Leitungen nicht rechtzeitig verlegt sein würden, aber die Installation ist fertig, Gott sei Dank. Die aufregendste Neuigkeit ist, daß ein junger Künstler, dem Giles eine große Zukunft als Bühnenbildner voraussagt, herkommen und einige Kulissen für uns malen wird. Du wirst dich bestimmt erinnern, daß wir nie so etwas hatten. Einige Pläne für das Haus werden bis zum Winter warten können, weil es sich um Innenarbeiten handelt, aber die Apartments in den Ställen sind schon fertig, und ich bin sehr zufrieden damit. Das erste«, sagte Isobel, »habe ich sogar extra für dich eingerichtet.«

»Oh, du brauchst wirklich kein brandneues Apartment an mich zu vergeuden. Mir ist es egal, wo ich schlafe«, wandte Lorna ein.

»Es wird nicht vergeudet sein. Du kannst es nämlich testen. Und wenn du den ganzen Sommer hierbleiben willst, wirst du vielleicht froh sein, dich ab und zu zurückziehen zu können. Wir sind ein ziemlich chaotischer Haushalt.«

»Du willst mich also schon verbannen, bevor ich überhaupt angekommen bin?« fragte Lorna in einem Ton, der anzudeuten schien, daß sie nur scherzte.

»Natürlich nicht, Dummerchen. Und essen wirst du meistens sowieso bei uns«, sagte Isobel.

Als sie auf die schmale Straße einbog, die nach Glendrochatt führte, kam das Haus auf der Anhöhe in Sicht. Für die Einheimischen war es ein weithin sichtbares Erkennungszeichen: sah man Glendrochatt mit seinem hohen weißen Turm, wußte man, daß man fast zu Hause war. Die Touristen fragten immer begierig nach Geschichten über Gespenster, eingemauerte Erben und andere finstere Taten – obwohl die meisten Legenden an der Theke des »Glendrochatt Arms« entstanden waren.

Lorna hielt den Atem an. »Ich fand schon immer, daß es wie ein Bühnenbild aussieht. Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mich darauf gefreut habe, es wiederzusehen«, sagte sie. Dann war das Haus nicht mehr zu sehen, solange die Straße sich den Berg hinaufzog. Als Isobel in die Einfahrt einbog und der Wagen über den knirschenden Kies rollte, wandte sich Lorna ihrer Schwester zu. »Du sollst wissen, daß ich dir und Giles helfen werde, wo ich kann. Nicht nur im Büro, da ich sehr gut mit Computern umgehen kann, sondern auch mit den Kindern und vor allem ...« Lorna machte eine bedeutungsvolle Pause, »... mit Edward«, schloß sie mit einem selbstzufriedenen Lächeln, als hielt sie sich für besonders großzügig. Sie befingerte ihr tadellos frisiertes Haar, das zu einem französischen Zopf geflochten war, und setzte den Hut dann wieder auf, als wappnete sie sich für eine Schlacht.

Isobel hatte den Eindruck, als wäre sie gerade zu irgendeinem komplizierten rituellen Machtkampf aufgefordert worden, dessen Regeln sie nicht kannte. Das Herz wurde ihr schwer, als sie vor der Eingangstür von Glendrochatt anhielt und auf die Hupe drückte, um Giles wissen zu lassen, daß sie angekommen waren.

Kapitel 4

Nachdem Isobel aufgebrochen war, um Lorna abzuholen, verließ Giles Grant das Haus und ging zum Theater hinüber, um sich die Fortschritte bei der Mauer anzusehen, die Mick und Joss aus den Pflastersteinen des alten Hofes bauten. Der Hof wiederum sollte in einen Garten umgewandelt werden, wo die Zuschauer während der Pausen die schönen Sommerabende genießen könnten. Vorausgesetzt, wir haben schöne Sommerabende, dachte Giles ironisch. Das Kopfsteinpflaster, das mit schmalen Absätzen schwer zu begehen war, war durch moderne Fliessen ersetzt worden, die dem rosagrauen Gestein der Gegend erstaunlich ähnlich sahen. Daß die alten Steine eine ansprechende Fassade für die Innenseite der Gartenmauer bilden könnten, war Micks Idee gewesen – der immer großartige Einfälle hatte.

Er und sein Freund Joss waren auf der Suche nach einem Aushilfsjob nach Glendrochatt gekommen, mit dem sie sich eine sechsmonatige Rundreise durch Europa finanzieren wollten. Ein Jahr später waren sie noch immer da, zwei sympathische blonde Hünen, denen man praktisch jede Aufgabe anvertrauen konnte, vom Kinderhüten bis zu Steinmetzarbeiten, von der Gartenpflege bis zur Hausarbeit. Joss vor allem war ein wunderbarer Koch, und er und Isobel saßen oft stundenlang zusammen und besprachen Kochrezepte.

Mick und Joss hatten anfangs das Mißtrauen der Einheimischen erregt, die beleidigende Bemerkungen über »warme Brüder« und »Au-pair-Mädchen« machten. Aber dann stellte sich heraus, daß sie eine deftige Sprache führten, sehr trinkfest waren, unermüdlich hart arbeiteten und mit einem gutmütigen Wesen und imponierenden Bizepsen ausgestattet waren, was ihnen schließlich Respekt einbrachte. Vor allem die Bizepse – seit Angus Johnston, der Handwerker des Anwesens, sich nach extremer Provokation einen kolossalen Fausthieb von Mick eingefangen hatte. Angus war wochenlang mit einem blauen Auge herumgelaufen, und als Mick sich höflich erkundigte, ob sonst noch jemand Bekanntschaft mit der Faust eines »Au-pair-Mädchen« machen wolle, hatte es keine Anwärter gegeben. Ihre sachkundige Hilfe beim Lammen im vergangenen Frühjahr zeigte dann, wie unentbehrlich sie waren, und die beiden »Kiwis« wurden endlich akzeptiert. Nun lebten sie mietfrei in Mains of Glendrochatt, dem alten Farmwohnhaus, das sie in ihrer Freizeit – obwohl niemand wußte, wie sie die noch fanden – renovierten. Manchmal verschwanden sie für ein paar Wochen auf den Kontinent, um Kultur zu atmen, und stärkten sich mit einem Besuch im Louvre, der Sixtinischen Kapelle oder dem Prado für eine weitere Runde Maurerarbeit und Staubsaugen. Giles und Isobel konnten sich nicht mehr vorstellen, ohne sie zurechtzukommen, und fürchteten den Tag, an dem sie nach Neuseeland zurückkehren würden.

Giles sprach kurz mit Mick über die angemessene Höhe der Mauer und ging dann zu Angus, um zu sehen, wie er mit der Installation des Behinderten-WCs vorankam. Es war ein wesentlicher Bestandteil von Giles Perfektionismus, daß er auch die einfachsten Arbeiten persönlich beaufsichtigt, aber meistens äußerte er sich anerkennend, so daß niemand Anstoß daran nahm. »Gute Arbeit, Angus«, sagte er. »Sogar dieser pingelige Inspektor müßte jetzt damit zufrieden sein.« Danach ging er ins Theater und setzte sich hinten in den Saal, um für die Zukunft zu planen und über die Vergangenheit nachzugrübeln.

Das Old Steading Theatre auf Glendrochatt wurde von jedem, der dort einmal aufgetreten war, als kleine Kostbarkeit geschätzt. Es bot hundertfünfzig Zuschauern bequem Platz, wenn sie zusammenrückten, auch erheblich mehr, und besaß dabei eine intime Atmosphäre. Da sich die Sessel verrücken und die Reihen verändern ließen, konnte man auch vor einem Publikum von nur vierzig Zuschauern spielen, ohne ein peinliches Gefühl der Leere zu erzeugen. Die Akustik war hervorragend.

Nicht viele angehende Schauspielerinnen haben einen Ehemann, der ihnen ein eigenes Theater bieten kann, aber es war wirklich typisch für meine Mutter, dachte Giles, daß sie eins zur Verfügung hatte. Jeder, der sie auf der Bühne gesehen hatte, sagte, sie habe ein außergewöhnliches Talent, doch was sie ebenfalls im Übermaß besessen hatte, war Anziehungskraft. Giles erinnerte sich sehr deutlich an ihren Charme, der jeden in seinen Bann zog – ihr melancholischer kleiner Sohn war keine Ausnahme – und hinter dem sie ihre selbstzerstörerischen Neigungen anfangs noch erfolgreich zu verbergen wußte.

Während Giles an sie dachte, mit Sehnsucht und mit Schrecken, befand er sich wieder unter dem Tisch im Kinderzimmer, hatte sich zusammengerollt wie eine Maus im Winterschlaf, um seine Wahrnehmung abzuschalten und jegliches Gefühl zu betäuben, hatte die Finger in die Ohren gesteckt, um die schockierenden Laute zu ersticken, die durch das Haus schallten, unberechenbare Laute wie das Brüllen und Heulen eines Sturms. Jene hysterischen Schreie kehrten selbst heute noch zu ihm zurück, ließen ihn in manchen Nächten schweißüberströmt und zitternd aus dem Schlaf aufschrecken. Dann quälten ihn seine Hilflosigkeit, daß er weder hatte verstehen noch helfen können, und die Unsicherheit, die ihn damals umgeben hatte. Nach solchen Träumen drehte er sich zu Isobel um, zog sie an sich und dankte Gott für ihre heitere Besonnenheit und ihre warmherzige Natur.

Auch am Tage hörte er manchmal die Stimmen aus der Vergangenheit:

»Großer Gott! Versuch, das Kind von ihr fernzuhalten. Sie hängt schon wieder an der Flasche.«

»Wie sie die Pillen dieses Mal gefunden hat, werden wir wohl nie erfahren.«

»Nun, sie haben sie schon wieder mal gerettet, aber – eins sag’ ich dir – irgendwann wird’s ihr gelingen!«

Wieder, wieder, wieder ... die Worte hallten wie schreckliche Trommelschläge durch Giles’ Kopf.

Giles war elf, als es Atalanta schließlich doch gelang.

Sein Vater – den Giles bis dahin sehnsüchtig und aus gemessener Distanz bewundert hatte – erzählte ihm von ihrem Tod und suchte hilflos nach Worten. Aber was sind die richtigen Worte, um einem kleinen Jungen mitzuteilen, daß sich seine Mutter eine Waffe in den Mund gesteckt und sich erschossen hat? Hector Grant trauerte verzweifelt. Trauerte um das gepeinigte Geschöpf, das er vergöttert hatte, um seinen geliebten Vogel mit den gebrochenen Schwingen, und zugleich mußte er einsehen, daß er mit dem Kind schon lange vorher eine Beziehung hätte knüpfen müssen und daß sie statt dessen nun einander fremd waren.

Nach allem, was Giles wußte, hatte es schon sehr früh Anzeichen für Atalantas Labilität gegeben. Ihre Eltern jedoch erklärten sich dies mit künstlerischer Sensibilität und versuchten, ihre Tochter stets vor allem, was sie durcheinanderbringen könnte, zu beschützen. Sie sahen Hector gern als Schwiegersohn: er war reich, besaß Beziehungen und war bedeutend älter als ihr zartes Blumenkind. Und vor allem war er sehr verliebt. Alles schien in bester Ordnung zu sein, als Atalanta 1960 am Arm von Hector Grant in St. Margaret’s Westminster den Kirchengang hinunterschwebte.

Nach Giles’ Geburt erlebte Atalanta ihren ersten ernstzunehmenden Zusammenbruch. Sie erholte sich – bis zum nächsten Anfall –, verzieh ihrem kleinen Sohn jedoch nie die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte, weshalb es für sie nicht in Frage kam, die schmerzhafte Erfahrung der Geburt zu wiederholen. Giles blieb Einzelkind.

Der schwere Tisch mit der Fransendecke aus Samtchenille, unter dem der kleine Giles Zuflucht gesucht hatte, stand nach wie vor im Kinderzimmer, und Amy und Edward benutzten ihn oft als Höhle. Das leuchtende Grün war zu einem unansehnlichen Khakiton verblaßt, aber Amy hatte entdeckt, daß man die ursprüngliche Farbe noch erkennen konnte, wenn man ein Stück des Saums aufhob, wo der Stoff dem Licht nicht ausgesetzt gewesen war. Giles wäre es nicht einmal im Traum eingefallen, die alte Decke durch eine hübschere neue zu ersetzen. Die stickige Geborgenheit, die unter ihrer tröstlichen Dunkelheit zu finden war, hatte eine der wenigen Garantien in seiner unruhigen Kindheit dargestellt.