Der Hund des Nordens - Elizabeth McKenzie - E-Book

Der Hund des Nordens E-Book

Elizabeth McKenzie

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Beschreibung

Penny Rush hat diverse Probleme: Ihre Ehe ist gescheitert, sie hat ihren Job gekündigt, ihre Mutter und ihr Stiefvater sind vor fünf Jahren im australischen Outback verschollen und ihre Großmutter verliert langsam, aber sicher den Verstand. Ihr bleibt keine Wahl: Sie macht sich auf den Weg, sich um sämtliche Notfälle in ihrer Familie zu kümmern. Wir begleiten Penny auf einem Roadtrip quer durch Kalifornien in einem alten meeresgrünen Van namens ›Hund des Nordens‹ und auf einer Reise bis nach Australien. Sie freundet sich auf ihrer Tour nicht nur mit zwei Brüdern an, die sich vielleicht ein Toupet teilen, sondern kriegt auch nach und nach den Wahnsinn, der ihr Leben ist, in den Griff. Zumindest ein bisschen. Treu an ihrer Seite: ein verhaltensauffälliger Spitz. Und dann verliebt sich Penny sogar – ein paar zusätzliche Irrungen und Wirrungen machen schließlich auch keinen Unterschied mehr. Dieser exzentrische, detailverliebte und empathische Roman mit seiner durch und durch sympathischen Heldin lässt sich kaum aus der Hand legen und zeigt, dass nicht nur alle Familien auf ihre Art unglücklich sind – sondern vor allem auf ihre Art verrückt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Hals über Kopf reist Penny Rush nach Santa Barbara. Sie muss sich um ihre Großmutter kümmern, die fröhlich die Menschen um sich herum in den Wahnsinn treibt. Aber das ist längst nicht alles, was ihre Familie, geschweige denn ihr eigenes Leben, an Katastrophen zu bieten hat: Pennys Ehe ist gescheitert, ihre Mutter und ihr Stiefvater sind vor fünf Jahren im australischen Outback verschollen und die manipulative zweite Frau ihres Großvaters will ihn am liebsten im Seniorenheim sehen.

Wir begleiten Penny auf einem Roadtrip in einem alten Van namens »Hund des Nordens« quer durch Amerika und auf eine Reise nach Down Under. Sie freundet sich dabei nicht nur mit zwei Brüdern an, die sich vielleicht ein Toupet teilen, sondern kriegt auch nach und nach den Wahnsinn, der ihr Leben ist, in den Griff. Zumindest ein bisschen. Treu an ihrer Seite: ein verhaltensauffälliger Spitz. Und dann verliebt sich Penny sogar – aber auch das ist kompliziert.

Dieser exzentrische, fantasievolle und schlaue Roman mit seiner durch und durch sympathischen Heldin lässt sich kaum aus der Hand legen und zeigt, dass nicht nur alle Familien auf ihre Art unglücklich sind, sondern vor allem auf ihre Art verrückt.

© Donna Farkas

Elizabeth McKenzie stand mit ihrem dritten Roman ›Im Kern eine Liebesgeschichte‹ (DuMont 2018) auf der Longlist für den National Book Award und der Shortlist für den Bailey’s Prize. Ihre Texte erschienen im New Yorker und in The Atlantic. ›Der Hund des Nordens‹ stand 2023 auf der Longlist für den Women’s Prize for Fiction.

Stefanie Ochel hat Linguistik, Germanistik und Anglistik studiert und unterrichtete Deutsch als Fremdsprache an der Universität Oxford. Sie übersetzt aus dem Englischen und Niederländischen, zuletzt u.a. Tomi Obaro, Nina Polak und Valentijn Hoogenkamp.

Elizabeth McKenzie

DER HUNDDES NORDENS

Roman

Aus dem Englischenvon Stefanie Ochel

Von Elizabeth McKenzie ist bei DuMont außerdem erschienen:

Im Kern eine Liebesgeschichte

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel ›The Dog of the North‹ bei Penguin Press, New York.

THE DOG OF THE NORTH by Elizabeth McKenzie.

Copyright © 2023 by Elizabeth McKenzie.

By arrangement with the author.

All rights reserved.

E-Book 2024

© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Stefanie Ochel

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Vivid Pixels/AdobeStock

Satz: Fagott, Ffm

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-8321-6804-9

www.dumont-buchverlag.de

Für C.E.

Eine Weile drehte ich völlig frei

und hoffte, es ginge nie mehr vorbei.

Teil I

1

Mein Plan sah so aus: Da ich kein Auto mehr und in Santa Barbara ein paar Probleme zu lösen hatte, würde ich mit dem Zehn-Uhr-Zug von Salinas dorthin fahren. Kalifornien ohne Auto ist nie ein Vergnügen, aber bestimmt würde Großvater mir den Honda Kombi leihen, wenn ich erst mal angekommen war. Und Burt Lampey wollte mich vom Bahnhof abholen. So überstürzt ich hatte aufbrechen müssen, konnte das Timing kaum besser sein, nachdem ich die letzten drei Wochen im Motel verbracht und nur nach dem passenden Vorwand gesucht hatte, um meinen Job zu kündigen. Insofern kamen die Santa-Barbara-Krisen wie gerufen. Die Trennung von Santa Cruz, Schauplatz meines letzten Scheiterns, war mehr als willkommen, buchstäblich eine Befreiung. Ich nahm also den Bus nach Watsonville, stieg dort um in den nächsten, der mich über Castroville zum Bahnhof in Salinas bringen würde, und angesichts der chaotischen letzten Wochen erfüllte mich der Gedanke an einen Tag lang nur Rumsitzen und Chauffiertwerden mit Vorfreude.

Trotzdem fand ich keine Ruhe. Immerhin standen mir gleich zwei unschöne Situationen bevor, und in beiden Fällen würde ich eine geballte Ladung Wut abbekommen. Dass das in letzter Zeit öfter passierte, machte es nicht unbedingt leichter. In dieses allgemeine Unbehagen mischten sich Gedanken an die Brücken, die ich hinter mir abgebrochen hatte. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich meinen Job gekündigt und meinen Mann Sherman zur Rede gestellt: Ich weiß Bescheid über Bebe Sinatra und das Koks.

Gut, ich war feige und tat beides per E-Mail, dafür waren meine E-Mails Meisterwerke der Verschleierung. An keiner Stelle offenbarten sie das wahre Ausmaß meiner Empörung über das, was den jeweiligen Bruch herbeigeführt hatte. So endete meine Welt mit einem Winseln statt mit einem großen Knall, aber wenn ich wirklich einen Neuanfang wollte, musste ich meine Gefühle in Schach halten.

Kurz vor Salinas wurde mein Atem gleichmäßiger. Ein langes Haar glitzerte auf meinem Ärmel; ich zupfte es ab und ließ es durch den schmalen Fensterspalt fliegen, hinaus auf die Felder voll Rosenkohl und Artischocken, die den Highway säumten. Ein fauliger Geruch wehte hinein, ähnlich dem im verwaisten Gemüsefach in unserem alten Kühlschrank. Obwohl es mit uns aus war, fragte ich mich, wo Sherman gerade war, was er wohl machte und ob ich mich das bis in alle Ewigkeit fragen würde, so demütigend das Ende auch gewesen war. Zum Beispiel letzten Monat, als ich Shermans Schmutzwäsche in die Waschmaschine packte und einen halb ausgeleierten rosa Tanga entdeckte. »Irgs, was ist das denn?«, fragte ich.

»Oh. Da stand so eine Tasche mit Kleidern an der Bushaltestelle. Ich dachte, der gefällt dir vielleicht.«

Angewidert hielt ich den Fetzen hoch. »Aber der hat schon in einer Gesäßspalte gesteckt.«

»Kannst du nicht Arschritze sagen wie jeder normale Mensch?«, sagte Sherman voll Abscheu, womit er wieder eine Schicht seiner wahren Gefühle für mich freilegte.

»Klar. Und wessen Arschritze war es?« Nur schiere Verzweiflung konnte mich dazu bringen, so etwas zu sagen.

Kurze Zeit später stieg ich in den Zug und machte es mir auf einem freien Platz bequem. Der Zephyr war gerade aus dem Bahnhof gerollt, als die Tür aufging und der Wagen von einer Patschuliwolke und metallischem Klingeling erfüllt wurde. Eine Frau kam durch den Gang und ließ sich entschlossen auf den Platz neben mir fallen. An ihrem wogenden Flickenrock waren Blechglöckchen und Münzen festgenäht. Sie nahm Blickkontakt auf und fragte, ob sie mir für zwanzig Dollar die Hand lesen dürfe.

Es war ein stolzer Preis, aber ich befand mich immerhin auf einer Reise ins Ungewisse. Sobald sich die Dinge in Santa Barbara geklärt hatten, war meine Zukunft ein weißes Blatt. Ich war wie das Haar, das aus dem Fenster entschwebt war, entwurzelt, allein. Wahrscheinlich gab es keinen besseren Zeitpunkt zum Handlesen. Ich stimmte also zu, woraufhin sie meine rechte Hand nahm und als Erstes die fleischige Seite untersuchte. Während sie mit dem Finger die Linien entlangfuhr, sagte sie: »Ich sehe in ihren früheren Leben viel Aggression. Hier …«, sie zeigte auf eine Stelle, an der sich zwei Linien kreuzten, »zum Beispiel sehe ich, dass Sie mal geköpft wurden und auch einmal erwürgt.« Sie blickte auf, um meine Reaktion zu sehen. Weil ich meine Gefühle immer gut kaschiere, fuhr sie ungerührt fort. »Und Sie lassen sich leicht ausnutzen.«

Den Rest kann ich nicht wiedergeben, da mich diese Erkenntnisse bereits voll in Beschlag nahmen. Vielleicht verspottete sie mich, weil ich ihre Dienste in Anspruch genommen hatte, aber ich wollte auch nicht ausschließen, dass es sich um wertvolle Einsichten handelte. Das Hauptproblem war, dass die Leute vor mir sich so laut unterhielten, dass ich alles mithörte. Auf zwei Gespräche gleichzeitig kann ich mich nicht konzentrieren, und mir war schnell klar, dass ich viel lieber den beiden lauschen würde als dieser düsteren Chronik der Körperqualen. Ich drückte ihr die zwanzig Dollar in die Hand und sagte Danke, das reiche schon.

Das Paar vor mir redete über Alltagsdinge, aber ich hörte ihnen gerne zu. Sie mussten sich einen neuen Abfallzerkleinerer anschaffen, weil ihr Teenie-Sohn den alten mit Avocadokernen gefüttert hatte. Am Abend hatten sie einen Tisch in ihrem Lieblingsrestaurant in L.A. reserviert. Morgen hatten sie einen Termin wegen einer Steuersache, schienen aber nicht weiter besorgt. Zwischendurch Lachen.

Auf einmal fühlte ich mich zurückkatapultiert auf den Rücksitz unserer Familienkutsche, die Eltern vorne ins Gespräch vertieft. Autoreisen brachten die besten Seiten an meiner Mutter zum Vorschein, die Geologin von Beruf war und zu Hause oft rastlos und launisch. Diese Fahrten, die ich neben meiner Schwester auf dem Rücksitz verbrachte, gehören zu den schönsten Erinnerungen an meine Eltern, immer wieder überschattet von der grausamen Ironie, dass die beiden Jahre später auf eben so einer Autofahrt spurlos vom Erdboden verschwanden.

Im ersten Schritt hatten meine Eltern die Nordhalbkugel geräumt und sich in Australien ein neues Leben aufgebaut, angeblich weil ihnen dort Klima und Geomorphologie mehr zusagten, weil sie Lust auf ein Abenteuer hatten und der Wechselkurs günstig stand. Genau so wahr ist aber wohl, dass sie den amerikanischen Traum aufkündigten und bestimmten Menschen aus dem Weg gehen wollten, die ihnen das Leben ruiniert hatten. Wir – meine Schwester und ich – hatten die Auswanderung gut weggesteckt. Meine Schwester war sogar mitgegangen. Doch dann mussten sie noch einen draufsetzen und vollends verschollen gehen. Mein Vater, auch bekannt als mein Stiefvater, auch bekannt als Hugh, war ein überaus fürsorglicher und sorgfältiger Mann. Meine Eltern überließen nichts dem Zufall, hatten jeden Tag ihrer Reise minutiös geplant und uns vorher sogar die genaue Route durchgegeben, samt Telefonnummern und Adressen aller Zwischenstationen. Zuletzt lebend gesehen wurden sie an einer Tankstelle in Mount Isa, wobei den Zeugen nichts Ungewöhnliches aufgefallen war. Bloß ein Pärchen mittleren Alters, das tankte und den Luftdruck in den Reifen überprüfte. Meine Schwester und ich erfuhren erst ein paar Tage später, dass sie an ihrem nächsten Zielort nie angekommen waren. Auch das Auto wurde nie gefunden. Suchteams durchkämmten wochenlang die Gegend, ohne Erfolg.

Das Ganze war jetzt fast fünf Jahre her, aber ich konnte mich immer noch nicht damit abfinden, und schon der Gedanke daran war schwer erträglich.

Am späten Nachmittag stand ich mit meinem Koffer vor dem Bahnhof Santa Barbara und wartete auf Burt Lampey. Er wollte mich nicht nur abholen, sondern hatte mir auch einen Schlafplatz angeboten, außerdem wollten wir beim gemeinsamen Abendessen unseren Plan für den kommenden Tag bezüglich meiner Großmutter Dr.Pincer durchsprechen. Burt und ich kannten uns nicht persönlich, hatten aber schon öfter telefoniert. Als Pincers Steuerberater war er einer der wenigen Menschen, denen sie über den Weg traute. Was sie nicht ahnte: Nach jedem Besuch bei ihr rief Burt mich heimlich an, um mich über ihre Verfassung auf dem Laufenden zu halten.

Die Sonne schien immer noch hell und warm. Als Kind hatte ich hier Wochen am Stück mit meinen Großeltern verbracht und verband trotz allem schöne Erinnerungen mit diesem Ort. Ich hatte ihn unzählige Male besucht, aber nie zuvor mit dem Zug. Jetzt lief ich vor dem Bahnhof auf und ab, hielt Ausschau nach Burt und hoffte, er hatte mich nicht vergessen. Schließlich rollte ein alter meeresgrüner Kleintransporter auf den Parkplatz und kam vor mir zum Stehen. Er war voller Kratzer und Beulen und hatte etwas leicht Finsteres an sich. Der Fahrer lehnte sich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster runter. »Penny?«

Das war Burt. Am Telefon hatte seine Stimme mir Zuversicht gegeben.

Er schaltete in Parkstellung, sprang raus und umrundete die verbeulte Schnauze des Vans, um mich zu begrüßen. Ein heißer Schreck durchfuhr mich. Das passierte manchmal, wenn mir klar wurde, dass ich mich mit jemandem unterhalten musste, dem etwas Unangenehmes an mir auffallen könnte.

Burt nahm meine Hand. Er war ein großer, schwerer Mann mit einer beachtlichen braunen Mähne und einem lieben Gesicht, in weiten grünen Shorts, einem weißen T-Shirt mit einem Brauerei-Logo und hohen weißen Nikes mit schwarzen Socken.

»Wie war die Fahrt?«, fragte er.

Ich beschloss, das mit der Handleserin unter den Tisch fallen zu lassen. Burt sollte nicht den Eindruck bekommen, ich würde Geld zum Fenster rauswerfen. In Wahrheit war ich mit Geld sehr umsichtig, wo ich schon so wenig davon hatte. Das Handlesen war eine kleine Extravaganz gewesen, ein Impulskauf, um meine erfolgreiche Flucht aus Santa Cruz zu feiern, und eine nützliche Erinnerung, dass man Impulskäufe lieber sein ließ.

»Gut«, antwortete ich redegewandt wie immer, überfordert von der Small-Talk-Situation. Weil ich ahnte, dass irgendein normaler Satz von mir erwartet wurde, schob ich angestrengt hinterher: »Ich bin schon seit Jahren nicht mehr Zug gefahren.«

»Rein mit dir«, sagte er und hielt mir die Tür auf.

Mit dieser Geste machte er klar, dass er den beherzt mit Panzerband geflickten Beifahrersitz für mich vorgesehen hatte. Ich nahm meinen Platz ein, und er knallte die Tür mit solcher Wucht zu, dass mir das Trommelfell ploppte. Zwischen uns, unter einer wattierten blauen Plastikhülle, erhob sich ein großer, rumpelnder Höcker. Der Motor, sagte Burt. Ich drehte mich um und entdeckte im Laderaum einen Wust von Gegenständen – einen Gartenschlauch, ein Fahrrad, mehrere Kisten und Koffer, ein altes Bügelbrett, eine verstaubte eselförmige Piñata, einen Autoreifen.

Burt setzte sich ans Steuer. »Entschuldige das Chaos«, sagte er, »bin gerade in einer Übergangsphase.«

Da ich nichts über Burts Privatleben wusste, sagte ich nur: »Ah, verstehe. Leuchtet ein.«

»Wollte keine radikalen Entscheidungen treffen, bevor das mit deiner Großmutter geklärt ist.«

Radikal? Mir war nicht klar, was er damit meinte. Oder was meine Großmutter damit zu tun haben sollte.

In dem quietschenden Van bogen wir auf die State Street ein. Unwillkürlich musste ich an meine Kindertage in Santa Barbara denken, als wir hierherkamen, um die alljährliche Fiesta zu bestaunen, bei der prächtige weiße Pferde mit wunderschönen Reiterinnen die gesperrte State Street entlangtrabten. Die Frauen hatten Blüten im Haar, und die weißen Kruppen der Pferde glänzten in der Sonne. Meine Großeltern waren noch verheiratet, hassten einander aber wahrscheinlich schon. So etwas überstieg damals meine Vorstellungskraft. Die Fiesta verpuffte, als wir auf den Parkplatz eines modernen Bürohauses einbogen und Burt den Transporter parkte.

»Hier?«

»Ja, wir sind da. Aussteigen bitte.«

Ich nahm meinen Koffer und folgte ihm ins Gebäude. In der Mitte der Lobby stand eine Freitreppe aus Betonplatten, an Stahlträgern befestigt, unter der ein Garten aus Farnen und anderen tapferen Zimmerpflanzen die Aufgabe hatte, eine Grotte vorzutäuschen. Ich folgte Burt in den zweiten Stock und durch einen langen Flur bis zu einer Tür, an der sein Namensschild hing: Burton Lampey, CPA.

Als er die Tür aufschloss und ich den Raum sah, begriff ich zu meinem Entsetzen, dass er darin wohnte. »Oh Gott, Burt«, stammelte ich. »Das kann ich dir nicht zumuten. Ich gehe besser ins Motel.«

»Überhaupt keine Zumutung«, sagte er.

Es war stickig, in der Luft hing eine reife Melange aus maskulinen Aromen. Das Zimmer hatte etwas von Studentenwohnheim – Schlafsack auf dem Sofa, ein Stapel Pizzakartons auf dem Schreibtisch, Kleiderbügel mit Hemden an Regalbrettern, auf denen Deoroller und Mundwasser standen.

»Du kannst die Couch nehmen«, sagte er großzügig. Aber ich konnte wohl schlecht mit Burt Lampey in einem Zimmer schlafen? Bei dem Gedanken wurde mir mulmig. Gut, er war ein langjähriger Vertrauter der Familie. Aber wie sollte ich mich hier entspannen? Und ging das Fenster überhaupt auf, gab es irgendwo frische Luft?

»Aber was ist mit dir?«, brachte ich hervor.

»Ich schlaf hier«, sagte er und zeigte hinter seinen Schreibtisch. »Das ist richtig gemütlich.«

Ich reckte den Hals und sah, dass er vorgesorgt hatte: Auf dem Boden lagen ein zweiter Schlafsack und ein Kissen.

»Wir brauchen uns nicht hier aufzuhalten, wollen wir mal etwas essen gehen?«, fragte er.

Damit war es wohl besiegelt. Derzeit verfügte ich über knapp achthundertfünfzig Dollar aus dem Verkauf meiner 1987er Chevette und keinerlei Ersparnisse, da sich Shermans Firma als gefräßige Geldschluckmaschine entpuppt hatte. Je weniger Ausgaben ich hatte, desto besser.

Wir schlenderten die State Street entlang zu Burts Lieblingsmexikaner, wo uns netterweise eine große Sitznische zugewiesen wurde. Meine Laune besserte sich schlagartig. Das Restaurant war voll und die Stimmung festlich, und die Düfte von den Nebentischen lösten Heißhunger bei mir aus. Bevor ich etwas sagen konnte, bestellte Burt einen Pitcher Margarita. Ich sah keinen Grund, ihn davon abzuhalten.

»Dann lernen wir uns also endlich kennen«, sagte Burt. »Wie lange geht das jetzt schon, zwei Jahre?«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar wir dir sind, dass du sie so unterstützt.«

»Ich hab eine Schwäche für störrische alte Esel.«

Ich nickte und lachte, um ihm zu signalisieren, dass er meine Großmutter gerne einen alten Esel nennen durfte.

»Und du hast sie noch nicht gegen dich aufgebracht?«, fragte ich und musste an die verhängnisvolle Reise denken, die ich mit ihr vor ein paar Jahren unternommen hatte.

»Nur einmal«, sagte Burt mit einem Anflug von Stolz und erzählte. Eines Tages, als er sie zum Mittagessen abgeholt hatte, fiel ihr während der Fahrt plötzlich ein Brief ein, den sie vergessen hatte und dringend aufgeben musste, woraufhin sie ihm befahl umzukehren. Burt sagte, das gehe leider nicht, da er nach dem Mittagessen noch einen Termin hätte; er würde den Brief aber auf dem Rückweg für sie mitnehmen. Daraufhin drohte sie, ihn wegen Entführung bei der Polizei anzuzeigen, sollte er nicht unverzüglich kehrtmachen. Alle Beschwichtigungsversuche schlugen fehl, und sie drehte richtig auf: Sie hätte ihn sowieso nie ausstehen können, seinen Kleidungsstil nicht, sein ganzes Äußeres. Weiter beschuldigte sie ihn der Veruntreuung und bezeichnete ihn als den hässlichsten Mann, den sie je gesehen hatte. Sowieso hätte sie es nur mit ihm ausgehalten, weil er ein nützlicher Idiot war.

»Meine Fähigkeiten als Steuerberater seien auch nicht berauschend, sie selbst könne meine Arbeit notfalls im Schlaf erledigen. Und dass ich nicht nur unfähig und unattraktiv sei, sondern der langweiligste Mann, den sie je kennengelernt habe. Die hat vielleicht vom Leder gezogen. So was hatte ich noch nie erlebt, nicht mal von meiner Ex-Frau.«

»Wie habt ihr euch dann wieder zusammengerauft?«

»Beim nächsten Treffen war es, als wäre nichts geschehen. Mir tut der alte Stinkstiefel leid«, sagte Burt. »Ich glaube jedenfalls nicht, dass ein Tag ausreichen wird, um da irgendwas zu reißen. Wahrscheinlich müssten wir sie mit Gewalt rausholen lassen und das Haus mit dem Bulldozer räumen.«

Das wollte ich auf keinen Fall. »Das Haus bedeutet ihr alles.«

»Als Erstes müssen wir die Waffe rausschaffen«, sagte Burt, »sonst geht gar nichts. Solange wir die nicht haben, kann niemand da drin was ausrichten.«

Ich nickte grimmig. Was die Situation so brenzlig machte, war der Vorfall mit dem Team von Essen auf Rädern. Vorletzte Woche hatte ich den Menüservice in Pincers Namen beauftragt, aber als sie dann bei ihr vor der Tür standen, drohte sie zu schießen, sollten sie das Grundstück nicht auf der Stelle verlassen. Einem Zeugen zufolge schwenkte sie dabei ein bazookaähnliches Objekt, was erst die Polizei, dann den Sozialpsychiatrischen Dienst und dann eine gewisse Ruth Perry auf den Plan rief, die mich vor ernsten Konsequenzen warnte, sollten wir Pincer nicht umgehend entwaffnen und uns um sie kümmern.

Jetzt wurde der Pitcher gebracht, dazu zwei Gläser mit Salzkruste. Burt schenkte ein, und schon stießen wir an und prosteten uns kameradschaftlich zu wie zwei Soldaten am Vorabend einer Schlacht. Die Margarita war köstlich und dringend notwendig. Ein Glück, dass Burt das erkannt hatte. Er hatte außerdem Nachos mit Guacamole als Vorspeise bestellt und langte genüsslich zu.

Angeschickert fing Burt bald an, das Loblied meiner Großmutter zu singen. »Eine große Frau, trotz allem«, sagte er. »Eine ganz große Frau. Ich habe viel von ihr gelernt. Eine große Persönlichkeit, so jemanden trifft man nicht oft«, fügte er zu meiner Überraschung hinzu.

»Was magst du an ihr?«

»Dass sie nicht in vorgegebenen Bahnen denkt. Sie hat ihre eigene Meinung und geht Dummschwätzern nicht auf den Leim. Nimmt kein Blatt vor den Mund. Und die hat Power, sag ich dir. Du solltest mal sehen, wie sie in den Nordhund hopst.«

Ich hatte Fragen.

»Mein Van, der Hund des Nordens. Alles, was mir nach der Scheidung geblieben ist.«

»Echt, mehr nicht?«

»Tja, die Frau war einfach gierig. Fand ich auch gut, als sie noch gierig auf mich war.«

»Wie alt bist du eigentlich, Burt?«, fragte ich, durch den köstlichen Drink enthemmt.

»Rate mal.«

»Fünfundsechzig.«

»Was? Autsch. Ich bin siebenundfünfzig! Danke auch.«

»Ich bin ganz schlecht in so was!«, sagte ich entschuldigend.

»Sogar mit der Matte hier? Ist ein Toupet, allerdings. Ein sehr teures.«

Das war mir nicht aufgefallen, aber tatsächlich wirkte sein Haar ungewöhnlich voll und nerzähnlich.

»Sei froh, dass du mich diesen Monat kennenlernst«, sagte er. »Nächsten Monat würdest du mich auf neunzig schätzen.«

»Was ist denn nächsten Monat?«

»Dann bekommt es mein Bruder. Wir wechseln uns ab.«

Hatte er gerade gesagt, er und sein Bruder teilten sich das Toupet? Wie war das möglich? Ich hasste es, wenn ich nicht verstand, was mir jemand sagen wollte, und hielt es immer für meine Schuld, ein Problem mit der auditiven Informationsverarbeitung. Also sagte ich »cool« und hoffte, dass es die richtige Reaktion war. »Aber ist es nicht unpraktisch – also, wenn du es nicht hast?«

»Doch natürlich. Aber es gibt ja noch Hüte.«

»Klar, die gibt es«, sagte ich, immer noch nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte.

»Und du? Wie alt bist du? Ich rate mal – dreißig«, sagte Burt.

Ich seufzte. »Sehr galant. Fünfunddreißig.«

»Fantastisches Alter. Oh Mann, wenn ich an damals zurückdenke. Nach der Hochzeit haben wir mit dem Van jeden Sommer einen Roadtrip nach Norden gemacht und ein paar Wochen in Washington State und British Columbia gezeltet. Eigentlich wollten wir unseren Ruhestand in Washington auf den San Juan Islands verbringen. Mein ganzes Leben hab ich davon geträumt, ein kleines Stückchen Strand und ein eigenes Kanu zu haben. Panamahut, Cocktail in der Hand, das wärs doch. So oft, wie ich mir das ausgemalt habe, kommt es mir manchmal vor, als wäre es wirklich so gelaufen.«

Warum er seinen Transporter Hund des Nordens getauft hatte, wollte ich wissen, und er sagte, seine Ex habe ihn nach einem ihrer Lieblingsromane benannt, der so ähnlich hieß. Von den literarischen Bezügen abgesehen vereine der Name das, was er am liebsten hatte: Hunde und den Norden.

Dann wurde aufgetischt, heiße Teller unter einem Berg von Bohnen, Reis und Enchiladas. Burt schaufelte das Essen gierig in sich hinein. Es machte mich traurig, über seine geplatzten Träume von der Ehe und der Zukunft nachzudenken, davon konnte ich selbst ein Lied singen.

»Nimm noch eine!«, sagte Burt und füllte mein Glas nach. »Jetzt aber genug von mir. Deine Großmutter hat erzählt, du hättest dich von deinem Mann getrennt, und sie ist schwer enttäuscht.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Sherman war immer sehr nett zu ihr, aber sie hat keine Ahnung, wie er wirklich ist.«

»Wie auch? Wir finden Dinge über unseren Partner heraus, die allen anderen für immer verborgen bleiben. Die Ehe ist ein einziger langer Seelenstriptease.«

»Stimmt.« Ich nahm einen großen Schluck von meiner Margarita. »So wahr. Das trifft es genau.«

»Eher friert die Hölle zu, als dass ich noch mal heirate«, sagte Burt.

»Ich würds mir auch zweimal überlegen«, sagte ich.

Wir stießen wieder an.

»Weißt du, was ich über meine Frau rausgefunden habe?«, fragte Burt und schlang einen Löffel Bohnen runter.

»Was denn?«

»Dass sie den Sex mit mir nicht ausstehen konnte. Kam in der Paartherapie raus. Hätte ja mal vorher was sagen können.«

»Uff, daran kann eine Beziehung kaputtgehen.«

»Und ich hatte viele Freundinnen vor ihr. Da gab es nie Beschwerden.«

Mir war der erotische Unterton der Bemerkung nicht entgangen, und ich fühlte mich außerstande, etwas zu erwidern. Und Burt lehnte sich zurück, stolz wie ein Pfau, der soeben ein Rad geschlagen hatte, als wäre die Prahlerei gleichbedeutend mit einer Eroberung. Wobei nicht klar war, ob es dabei um mich ging oder um die etlichen Ex-Freundinnen, die sich nicht beschwert hatten.

Burt war keine unattraktive Erscheinung. Er hatte breite Schultern und markante Züge. Mit Glatze würde er wahrscheinlich besser aussehen als mit Toupet. Leidlich gepflegt wirkte er auch. Widerstrebend stellte ich mir vor, wie es wäre, mich neben ihn zu setzen und in der Nische mit ihm rumzumachen, was wiederum die Frage aufwarf, ob ich in meinem Begehren flexibler geworden war – oder werden sollte.

»Und was ist bei euch schiefgegangen?«, fragte er gerade.

Nicht mein Lieblingsthema, aber durch die Margarita fühlte ich mich gelöst und unbeschwert.

»Tja.« Verstörende Erinnerungsfetzen flirrten vor meinem inneren Auge vorbei, und ich musste lachen, leise, dann lauter, umgekehrt proportional zum Humorgehalt der Erinnerung. »Hahaha! Hahaha!« Dann zog sich mir der Magen zusammen, und die Tränen fingen an zu kullern. Burt beugte sich näher heran. »Sorry, tut mir leid«, sagte ich und atmete tief durch, wie ich es für solche Momente beigebracht bekommen hatte. Stotternd gab ich einen knappen Abriss der letzten Jahre – Shermans wachsender Frust über den Unibetrieb während der Promotion, dann sein plötzlicher Kauf einer mobilen Messerschleiferei, die immer häufigeren Dienstreisen, meine Blauäugigkeit. »Und nach dem Verschwinden meiner Eltern wurde alles nur schlimmer. Anstatt mich zu unterstützen, war er wütend.«

»Krass«, sagte Burt, »wie Menschen so ticken.«

Zum Glück schien seine Neugier damit befriedigt, und wir konnten uns über andere Dinge überhalten. Burt erzählte, dass er eine Tochter hätte, die aber in Montreal wohnte und die er nur selten zu Gesicht bekam. Sein engster Vertrauter war sein Bruder in San Francisco, ein Anwalt. Um mich für seine Offenheit zu revanchieren, erzählte ich ihm von meinem biologischen Vater Gaspard, der hauptsächlich Probleme machte.

»Das hat dir ja noch gefehlt, mehr Probleme!«, sagte Burt und hielt sich plötzlich den Bauch. »Vielleicht reichts dann für heute. Sollen wir mal los und uns aufs Ohr hauen, vor dem großen Tag?«

Als ich mein Portemonnaie zückte, winkte Burt ab. »Auf keinen Fall, Penny, das geht auf mich.«

»Nein, nein, nein«, protestierte ich schwach.

»Doch, bitte.«

»Na gut. Vielen Dank.«

Bevor die Rechnung kam, gingen wir den Plan für den nächsten Tag noch einmal durch. Burt würde mit Pincer wegfahren, und etwa eine Stunde später würde die von mir bestellte Putzfirma eintreffen. Ich würde die Waffe suchen und die Reinigungsarbeiten koordinieren, also Entrümpeln, Staubsaugen, Wischen, Desinfizieren und was angesichts der vermutlich verheerenden Lage vor Ort sonst noch so anfallen würde. Burt hatte einen Ausflug geplant, der Pincer für mindestens sieben Stunden vom Haus fernhalten sollte. Wie sie bei der Rückkehr reagieren würde, war völlig unberechenbar, aber wir mussten das Risiko eingehen.

Burt wankte beim Aufstehen. War er etwa betrunken? Mit einem betrunkenen Mann wollte ich nicht zurück in sein Büro. Beim Verlassen des Restaurants lief er in die falsche Richtung.

»Hier lang, Burt, oder?«

Er machte auf dem Absatz kehrt, und wir schlurften ein paar Minuten den Bürgersteig entlang. Dabei schnaufte er hörbar durch den Mund.

»Entschuldige, Penny, ich bin gleich wieder da«, sagte er auf einmal, als wir an eine Tankstelle kamen, rannte los und verschwand im Shop.

Ich blieb neben einem Büschel Sternjasmin am Bürgersteig stehen und wartete. Der Blütenduft vermischte sich mit dem Geruch von Benzin und Motoröl, der mich an meinen Großvater Arlo erinnerte, einer meiner Lieblingsmenschen, den ich sofort nach der Pincer-Aktion besuchen wollte. Er hatte früher einen Jeep aus Kriegszeiten besessen, den er hingebungsvoll pflegte und frisierte, und wenn ich dabei war, drückte er mir manchmal irgendwelche verölten Teile in die Hand und erläuterte ihre Funktionsweise. Alles, was er mir erklärte, erschien mir wertvoll. Jetzt hatte ich vier Nachrichten von seiner Frau Doris auf dem Handy, in denen sie sich über den ambulanten Pflegedienst beschwerte, der seit Arlos Sturz ins Haus kam.

Minuten vergingen. Als Burt nach einer gefühlten Ewigkeit nicht zurückgekehrt war, lief ich an den Zapfsäulen vorbei und in den Tankshop. Drinnen, auf dem Boden neben dem Chipsregal, kauerte Burt. Ein Mitarbeiter mit Wischmopp war gerade in der Herrentoilette zugange, vor der ein Hinweisschild darüber informierte, dass sie außer Betrieb war. Der ganze Laden roch nach Kloake.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich und kniete mich neben ihn.

»Ja, alles gut«, sagte Burt roboterhaft.

»Kannst du aufstehen?«

»Natürlich«, sagte er und blieb auf dem Linoleum sitzen. Von oben war das Toupet gut zu erkennen. Das Haar war an einer Stelle so dicht, dass die Kopfhaut sich darunter nicht mal erahnen ließ. Außerdem saß es schief, wahrscheinlich hatte er es auf dem Klo abgenommen und hastig wieder aufgesetzt.

Der Filialleiter, ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren und dicken Armen, die ihm wie zwei Trophäenfische am Haken von den Schultern herabbaumelten, winkte mich mit nach draußen.

»Sie kennen diesen Mann?«

Ich nickte.

»Er ist nicht ganz gesund.«

»Was ist passiert?«

»Der hat da drin gerade das Klo mit Kacke geflutet, so einen Gestank habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Und das will was heißen. Definitiv nicht normal. Sie müssen ihn zum Arzt bringen.«

»Oh wow«, sagte ich. »Das tut mir leid.«

»Ich kanns gar nicht beschreiben.«

»Danke fürs Bescheidsagen.«

»Es war auch keine normale Farbe.«

»Ist ja gut! Danke.«

Ich folgte ihm zurück in den Shop, wo Burt noch immer auf dem Boden saß. Nachdem ich mehrere Flaschen Wasser, eine Packung Immodium und ein paar Salzcracker gekauft hatte, half ich Burt hoch und führte ihn nach draußen.

»Burt, ich rufe uns jetzt ein Taxi, okay?«

»Ich brauche kein Taxi«, sagte Burt. »Mir geht es gut.«

»Der Mann von der Tankstelle meint, du wärst vielleicht ernsthaft krank. Bist du dir sicher?«

»Der Mann von der Tankstelle sagt was? Was weiß dieser Arsch schon, mit Verlaub?«

»Er hat wohl etwas gesehen, was ihm Sorgen bereitet hat.«

»Mir bereitet auch vieles Sorgen, trotzdem mische ich mich nicht in anderer Leute Angelegenheiten«, sagte Burt. »Herrgott. Ich habe ein bisschen viel gegessen. Asche auf mein Haupt.«

»Schon gut«, sagte ich. »Für den Fall der Fälle habe ich ein paar Hilfsmittel besorgt.«

»Was für Hilfsmittel?«

»Cracker, Immodium, so Zeug.«

»Scheiße.«

Wir zuckelten zum Bürohaus zurück, wo er unter schwerem Schnaufen die Treppe bewältigte. Als wir endlich sein Büro betraten, war er ziemlich außer Atem.

»Burt, sicher, dass ich dich nicht zum Arzt bringen soll?«

»Ich hau mich jetzt aufs Ohr und ruhe mich aus. Bloß eine kleine Magenverstimmung. Kein Grund zur Sorge, ehrlich«, sagte Burt und sackte hinter seinem Schreibtisch in die Knie.

»In Ordnung. Falls du in der Nacht irgendwas brauchst, ich bin hier.«

»Gut zu wissen, danke.«

»Hoffe, es geht dir morgen besser«, sagte ich.

Über die Nacht auf der Couch in Burt Lampeys Büro will ich mich nicht zu sehr auslassen, aber unterschlagen kann ich sie auch nicht. Die Eruptionen begannen fast unmittelbar, nachdem Burt sich hingelegt hatte. Als Erstes kam die rasselnde Atmung, an und für sich nicht so ungewöhnlich, nur dass das Einatmen klang wie ein gigantischer Siphon beim Ansaugen, gefolgt von Auspufflauten. Dabei war ich Schnarchen sogar gewohnt. Sherman, mit seinem fassrunden Oberkörper und seiner Neigung, es mit dem Rauchen und Essen zu übertreiben, zersägte nachts Wälder. In einer Ratgeberkolumne hatte ich mal gelesen, dass man Schnarchen auch als etwas Schönes betrachten konnte. Eine Witwe hatte geschrieben, dass sie jetzt, nach dem Tod ihres Mannes, alles drum geben würde, das geliebte Schnarchen noch einmal zu hören. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob man das, was Burt da machte, überhaupt Schnarchen nennen konnte. Es klang mehr wie ein Überlebenskampf, als müsste er um jeden Atemzug ringen. Sein Körper zuckte hin und her, Krämpfe seiner kapitulierenden Muskeln. Mehr als einmal knallte ein Arm oder Bein gegen den Schreibtisch und ließ ihn erzittern. Jeder Atemzug von ihm schien die Luft zu zerreißen. Das in Verbindung mit dem Tankstellen-Vorfall nährte meine Zweifel, ob mit Burt wirklich alles in Ordnung war. Einmal stieß er einen Rülpser aus, der ihn eigentlich hätte wecken müssen, aber Fehlanzeige. Nach etlichen krachenden Trompetenfürzen vergrub ich mich tief in meinem Schlafsack. Mir war so elend zumute wie schon lange nicht mehr.

Besonders schlimm war, dass ich in einem dieser Mumiensäcke steckte, die unten spitz zulaufen. Das Gefühl, an den Füßen gefesselt zu sein wie ein Tier, kurz bevor es an den Schlachterhaken kommt, reichte aus, um mich in stille Panik zu versetzen. Am liebsten hätte ich mich frei gestrampelt und den Schlafsack nur zum Zudecken benutzt, aber der glatte Stoff würde früher oder später vermutlich runterrutschen und mich entblößen.

Irgendwann überwand ich mich, den Kopf rauszustecken, um zu prüfen, ob die Luft rein war. Selbstverständlich würde ich keine zweite Nacht hier verbringen. Kurz erwog ich sogar, mit dem Schlafsack in die falsche Grotte unter der Treppe umzuziehen und mich zwischen die Pflanzen zu kuscheln.

Burts Höllenritt nach Schlummerland schien fürs Erste vorbei zu sein, das grausame Geröchel hatte einem gleichmäßigen Brummton Platz gemacht. Doch anstatt erleichtert darüber zu sein, wurde mir bewusst, dass es mir hier genauso dreckig ging wie in Santa Cruz, dass mir der Schmerz zumindest auf absehbare Zeit überallhin folgen würde und Sherman nur ein Werkzeug zum Ausloten meiner Untiefen gewesen war, das meine geballte Unzulänglichkeit und Armseligkeit offengelegt hatte. Viel zu lange hatte ich mich an Sherman geklammert; hätten wir es früher beendet, wäre jetzt vielleicht alles nur halb so schlimm.

Mitten in der Nacht wachte ich schweißgebadet auf.

Gott, wo war ich? Ich steckte in einer ranzigen Tasche, halb schwebend an der Kante einer steinharten Platte. Unerträgliches Jucken am ganzen Körper. Seltsame kleine Lichter in Grün und Rot blinkten im Stockdunkel. Auf einmal hörte ich ein Rascheln, kurz darauf krauchte ein gespenstisches vierbeiniges Wesen an mir vorbei. Ich stieß einen spitzen Schrei aus.

»Penny, ich bins nur!«, rief Burt. »Muss auf Klo. Wollte dich nicht wecken.«

Im nächsten Moment schwang die Bürotür in den grell erleuchteten Korridor auf, ich war kurz geblendet und sah dann Burts gebückte Gestalt in Shorts und Unterhemd davonhuschen.

Ich schaute auf mein Telefon. 3:30Uhr. Mich grauste bei der Vorstellung, Burt ein zweites Mal beim Einschlafen zuzuhören, doch eine Flucht ins Ungewisse war auch keine Option. Erneut vergrub ich mich im Schlafsack und wälzte mich mit dem Kopf zur Wand, und als Burt schließlich zurückkam, dabei die Tür ungeschickt zuknallte und in sein Nest unterm Schreibtisch stolperte, quittierte ich sein »Gute Nacht« mit Schweigen.

2

Den Rest der Nacht war an Schlaf nicht zu denken. Ich fühlte mich von innen wie von außen malträtiert. Burts Verdauungsapparat gluckste wie die schwefeldampfenden Geysire im Yellowstone Park. Außerdem war ich nervös angesichts des neuen Tags, ich erinnerte mich nur zu gut an das letzte Mal, als ich Pincer helfen wollte, und was daraus wurde.

Vor ein paar Jahren verfolgte Pincer das Vorhaben, in ihre texanische Heimatstadt Tyler zurückzuziehen, wo ihr geliebter Vater einst Bürgermeister und ihre Mutter Stadtdichterin gewesen war, wo die Familie einen Namen hatte, der sich bis zu den ersten europäischen Siedlern und den Anfängen der Republik Texas zurückverfolgen ließ. Als gebürtige Kalifornierin hatte sich mir der Stolz der Texaner nie vollends erschlossen. Denn der Stolz der Texaner saß tief. Den Akzent hatte Pincer immer noch. Ihr Haus stand voll mit den massiven Möbeln ihrer Vorfahren, und zu jedem Stück gab es eine Geschichte. Ihrem Urgroßvater gehörten einst Tausende Hektar Land. Ihr Großvater war Historiker und Landvermesser gewesen. Früher besaß die Familie in den Hügeln vor der Stadt eine Ranch namens Seven Springs. Wer konnte ahnen, dass sie dort Ölvorkommen finden und die ganze Landschaft mit Bohrtürmen vollstellen würden? Wer konnte ahnen, dass Fracking die sieben Quellen für immer verschütten würde?

Zur Planung ihrer Rückkehr baute Pincer auf die Unterstützung einer entfernten Cousine namens Frances und unternahm mehrere Pilgerreisen nach Tyler, um sich vor Ort nach einer Immobilie umzuschauen. Dafür nahm sie die Dienste eines anderen entfernten Cousins namens Tom in Anspruch, der zufällig Makler war und ihr im Handumdrehen ein großes Haus in einer schicken Neubausiedlung verkaufte. Es verfügte über den modernsten Komfort, Whirlpool inbegriffen. Unverzüglich schickte Pincer einen Umzugs-Lkw voll mit antiken Eastlake-Möbeln, die ursprünglich aus ihrem Elternhaus in Tyler stammten, von Santa Barbara zurück nach Tyler. Doch kurz nach diesem Schnellschuss verkrachte sie sich mit Cousine Frances. Die Frau sei eine falsche Schlange, der man nicht über den Weg trauen könne, teilte sie mir am Telefon mit. Dann kam ihr die Idee, Sherman und ich könnten doch mit ihr zusammen nach Tyler ziehen. Als daraus nichts wurde, bat Pincer mich um Hilfe beim Packen und Organisieren des Rückumzugs nach Santa Barbara.

Das klang erst mal vernünftig, und so flogen Pincer und ich gemeinsam über Dallas nach Tyler. An einem Frühlingsabend erreichten wir das prächtige Haus, wo sich mir Pincers gescheiterter Plan mit bitterer Klarheit offenbarte. Ich sah das neue Leben, das sie sich erträumt hatte, die riesigen Zimmer, in denen einzelne ihrer stattlichen Möbelstücke ausgestellt waren. Keine Ratten mehr! Kein Gerümpel! Neue Freunde! Alte Pfründe! In der Küche standen halb ausgepackte Kisten voll Porzellan, Kleiderkartons im Schlafzimmer, prall gefüllt mit Festtagsgarderobe. Nerzstolen, Abendkleider. Ein tragischer Anblick.

Das ganze Haus war mit nagelneuem, weichem Berberteppichboden ausgelegt. Für die Nacht öffneten wir eine Kiste mit Bettwäsche und bauten uns daraus Nester zum Schlafen. Ich war froh, ihr helfen zu können. Trotz allem empfand ich eine schmerzhafte Zuneigung zu meiner Großmutter mitsamt ihren Wahnideen. In ihrer Weltfremdheit gab sie ein Musterbeispiel dafür ab, wie man möglichst nicht leben sollte, wodurch ich sie nur noch inniger liebte.

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf und machte mich ans Packen. Gerade wickelte ich in der Küche Geschirr in Zeitungspapier, als ich bemerkte, dass Pincer im Türrahmen stand und mich anstarrte. »Was zur Hölle tust du da?«, fragte sie.

»Ich packe das Geschirr ein.«

»Das wird dir noch leidtun.«

»Was, wie?«

Zu meiner Erleichterung klingelte es in diesem Moment an der Tür.

Es war Cousin Tom, der Makler, und, wie ich jetzt erkannte, ein Klon von Lyndon B. Johnson. Wir hatten ihn vor der Abreise kontaktiert und ihm die Verkaufsabsicht mitgeteilt, woran Pincer sich aber offenbar nicht mehr erinnern konnte.

»Ich weiß nicht, was ihr beiden da im Schilde führt«, sagte sie, nachdem er reingekommen war, in der Hand seine Aktentasche samt den unterschriftsreifen Papieren.

Noch selig ahnungslos, was Pincers gewandelten Geisteszustand betraf, machten Tom und ich Witze miteinander und übten uns im Small-Talk. Tom bestätigte, der Zeitpunkt zum Verkauf könne günstiger nicht sein, es sei eine heiß begehrte Wohnlage in einem heiß laufenden Markt. Ich sagte, es bleibe auch gar nicht viel zu tun; die Umzugsleute seien für den nächsten Tag bestellt.

»Ihr beiden habt euch also hinter meinem Rücken abgesprochen?«, sagte Pincer.

»Würden wir nie wagen«, scherzte Tom. »Oder, Penny? Louise, ich habe die Dokumente dabei. Sollen wir alles noch mal durchgehen? Dann zeig ich dir die Vergleichsangebote und was ich mir preislich vorstellen würde.«

Pincer blaffte ihn an, nannte ihn einen verdammten Hundesohn, einen skrupellosen Verbrecher, eine Schande für die Menschheit und so manches mehr. Als ich ihr zur Beruhigung die Hand auf die Schulter legte, gab sie mir einen so festen Schubs, dass ich fast zu Boden ging.

In dem Moment dämmerte mir, dass etwas nicht stimmte.

Da war Pincer zweiundachtzig Jahre alt. Sie hatte dicke knorrige Handknöchel von der Arthritis. Sie hatte einen Stent gesetzt bekommen. Doch ansonsten war ihr Körper robust und solide, gebrochen hatte sie sich noch nie etwas.

Ihre Haut strahlte noch und ließ sie jünger aussehen, und ihre Augen waren noch immer leuchtend blau. Als junge Frau eine waschechte texanische Schönheit, war sie einst zur Rosenkönigin von Tyler gekürt worden und hatte Reitturniere für die Universität von Austin bestritten. Später wurde sie Ärztin für Pädiatrie und verbrachte Zeit in Nagasaki, wo sie Strahlenopfer untersuchte. Belesen, wie sie war, konnte sie sich zu allen möglichen Themen eloquent äußern, sei es Geschichte, Wirtschaft oder Anthropologie.

Tom wich zurück und hob beschwichtigend die Hände. »Kein Problem, Louise. Wenn jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, warten wir einfach ab. Meld dich, wenn es passt.« Er verabschiedete sich, drehte sich zur Tür und beging dann einen verhängnisvollen Fehler, indem er zu mir sagte: »Wir hören voneinander.«

Damit brachte er das Fass zum Überlaufen. Pincer schnappte sich das Telefon, wählte den Notruf und bezichtigte Tom des Einbruchs; mir blieb keine Wahl, als rauszulaufen, um ihn zu warnen.

»Tut mir leid!«, rief ich.

Er stand kopfschüttelnd neben seinem Auto. »Die Frau ist gemeingefährlich!«

Fast unmittelbar danach fuhr ein Polizeiwagen vor. Als der Beamte näher kam, nickte Tom und grüßte: »Hey, Grady.«

»Hey, Tom.«

Tom gab Grady einen kurzen Lagebericht.

»Das sind die zwei, Kommissar!«, rief Pincer von der Haustür aus. »Die wollen mich über den Tisch ziehen! Mich ausrauben, mich schröpfen! Ich gehe nirgendwohin, niemand kann mich zwingen.«

»Aber es war doch dein Plan!«, rief ich zurück.

Pincer knallte die Tür zu. Tom und Grady unterhielten sich mit gedämpfter Stimme und beschlossen, sich fürs Erste zurückzuziehen. Tom bat mich, ihn auf dem Laufenden zu halten, und nachdem sie weggefahren waren, setzte ich mich auf die Eingangstreppe. Alle paar Minuten hörte ich sie drinnen herumpoltern und irgendwas murmeln, ob zu sich selbst oder einem eingebildeten Feind, war schwer zu sagen. Obwohl ich wusste, dass sich Pincer früher oder später mit allen anlegte, war ich erschrocken, dass es nun mich getroffen hatte.

Nach gut einer Stunde ging die Haustür hinter mir auf. Ich drehte mich um und blickte auf ein zerzaustes Wrack. Die Haare standen ihr in alle Richtungen ab, Augen und Nase waren rot, die Stretchhose saß schief, die Bluse hing halb offen aus dem Bund.

»Was machst du hier draußen?«, krächzte sie heiser.

»Nachdenken«, sagte ich.

»Was essen wir zu Abend?«, fragte sie.

Wir gingen zu ihrem Lieblingsimbiss mit Büfett. Pincer entschied sich für Brathähnchen, Rahmspinat, Maisgrütze, Maisbrot und ein Stück Pekannuss-Kuchen. Ich hatte ein paniertes Schnitzel, Grünkohl, Macaroni and Cheese und ein Stück Kirsch-Pie. Pincer fand zu innerem Gleichgewicht zurück, indem sie mir von allen möglichen Männern erzählte, die vor, während und nach ihrer langen schrecklichen Ehe mit meinem Großvater in sie verliebt gewesen waren. Ein junger Mann von der UC Santa Barbara, nur halb so alt wie sie, hatte ihr sogar einen Antrag gemacht. Das waren noch Zeiten!

Gut, dachte ich, dann würden wir den Hausverkauf eben nicht bei diesem Besuch über die Bühne bringen, das ließe sich auch alles später telefonisch regeln. Drei Jahre war das jetzt her und das Haus noch immer unbewohnt, denn sobald man Pincer auf das Thema ansprach, tat sich ein Höllenschlund auf. Und wenn es um ihre Lebenssituation hier in Santa Barbara ging, das Gleiche. Anscheinend traute sie tief im Innern niemandem. Wie war das passiert, wie kommt ein Mensch dazu, niemandem zu trauen?

Schlag sieben klingelte Burts Wecker. Als er keine Anstalten machte ihn auszuschalten, rief ich: »Burt? Alles in Ordnung?«

Da krächzte es von hinter dem Schreibtisch: »Guten Morgen, Penny. Noch etwas langsam.« Endlich hörte das Klingeln auf.

»Keine gute Nacht?«, sagte ich mitfühlend.

»Hatte schon bessere.«

»Wie geht es dir jetzt?«

»Ich brauch Kaffee.«

»Sollen wir zu diesem richtig guten Donut-Laden gehen?«

»Gebongt.«

Da ich angezogen geschlafen hatte, konnte ich mich einfach aufsetzen und den Schlafsack an meinen Beinen runterrutschen lassen. Wie harmlos er jetzt aussah. Ich warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf das Fenster hinter Burts Schreibtisch. Alles in mir lechzte danach, es aufzureißen, sperrangelweit. Durch die Jalousie sah ich muntere Wölkchen über den Bergen. Ich sagte zu Burt, ich würde draußen warten, damit er sich in Ruhe anziehen konnte.

»Hier, nimm den mit«, sagte er und drückte mir seinen Schlüsselbund in die Hand.

Das Gebäude erwachte gerade zum Leben, Menschen mit Kaffeebechern in der Hand strömten in ihre Büros. Ich polterte die Treppe runter und fand auf dem Parkplatz Burts ramponierten Econoline, der von Rostflecken und Spachtelmasse ganz scheckig war. Ich fragte mich, warum er so ein scheußliches Teil fuhr und was meine Großmutter davon hielt, darin kutschiert zu werden. Nicht dass ich fand, dass Autos Leute machen, im Gegenteil: Ich bewunderte Menschen, die sich nicht darum scherten, wie ihr Wagen aussah. Blieb bloß zu hoffen, dass Burt sich fit genug fühlte, um einen ganzen Tag mit Pincer durchzustehen. Und dass ich die folgende Nacht besser schlafen würde. In meiner Fantasie lag ich schon mit einem guten Buch unter einer guten Leselampe in einem frisch bezogenen Bett. Endlich kam Burt über den Parkplatz angelaufen. Er sah schrecklich aus.

»Donuts also«, sagte Burt.

»Wenn das in Ordnung ist. Ich ess sie immer nur, wenn ich hier bin.« Ich warf einen Blick auf die Uhr – erst halb acht. Mein Bedürfnis, den Tag mit diesen ganz bestimmten Donuts zu beginnen, war übermächtig und in diesem Fall wichtiger als Burts Verfassung.

Als Burt auf dem Weg zum Donut-Laden kein Wort sagte, schnürte mir die Angst die Kehle zu. Ich fürchtete, er könnte unseren gemeinsamen Plan längst bereuen und einen Groll gegen mich hegen. Sooft ich mir ausmalte, ich hätte mein Gegenüber gegen mich aufgebracht, hatte ich immer noch keine vorbeugenden Strategien entwickelt. Stattdessen verließ ich mich auf meinen Fluchtinstinkt. Weshalb ich jetzt in den Donut-Laden stürzte und mir extra viel Zeit beim Befüllen eines XL rosa Kartons ließ, bei dessen Anblick wohl niemand brummig bleiben konnte. Als ich zum Van zurückkam, hing Burt wie ein nasser Sack über dem Lenkrad.

»Burt? Ich hab dir einen Apfeldonut mitgebracht. Burt?«

Er rappelte sich auf. »Danke, Penny.« Als Erstes drückte ich ihm seinen Kaffee in die Hand, den er praktisch runterstürzte.

»Willst du es wirklich durchziehen?«

»Na klar.« Er startete den Wagen. »Bin nur ein bisschen angeschlagen. Aber ich muss gleich ja nicht reden. Pincer quatscht, ich hör zu. So läuft das bei uns.«

»Okay. Aber wir können es auch verschieben. Ernsthaft.«

Burt schüttelte den Kopf. »Bringen wir es hinter uns.«

Wir fuhren nach Westen und überquerten den Freeway in Richtung der ländlichen Gegend, in der Pincer wohnte. Hier waren die Grundstücke groß, auf manchen grasten sogar Pferde. Da wohnt die Pferderia, hatte meine Mutter früher gelästert. Aber was könnte besser sein, als ein Pferd zu besitzen? Meine Mutter vertrat oft verblüffende Standpunkte, meistens kritische. Der Golfplatz am See erinnerte mich an ihren Hass auf Golfer. Der Rest der Gegend war mit Palmen, Kiefern und langen Streifen Kap-Geißblatt zugewuchert, hier gab es nichts auszusetzen. Pincers Haus befand sich in einer Sackgasse, ihre Einfahrt war mit einem hohen Stahltor gesichert. Burt hatte den Schlüssel. Kurz vor dem Tor hielt er an, um mich rauszulassen, und sagte seufzend: »Gott steh uns bei.«

Obwohl Burt wirklich elend aussah, musste ich lachen. »Dinner heute geht auf mich.«

»Kann. Noch nicht. An Essen denken. Später«, sagte Burt in sonoren Rülpsern.

Burt ging zum Tor, während ich mich ins dichte Gestrüpp entlang des Zauns schlug, wo ich ausharren würde, bis Burt mit Pincer wieder herausfuhr. So lächerlich es mir vorkam, dass ich mich am Haus meiner Großmutter ins Gebüsch verkroch – uns war tatsächlich nichts Besseres eingefallen. Wenigstens hörte ich hier rings um mich herum die Vögel und Insekten, das war schön. Und es duftete nach Kiefernharz. Wenn ich das Gewicht verlagerte, knurspelte das trockene Laub behaglich unter den Füßen. Zum Schutz vor Kratzern hatte ich wohlweislich etwas Langärmliges angezogen, an eine Kappe aber hatte ich nicht gedacht, wie mir jetzt auffiel, als sich Zweige in meine Kopfhaut bohrten. Wenn ich mich weiter vorkämpfte, immer auf der Hut, die stachligen Arme der Agaven zu meiden, die durch den Zaun nach mir stocherten, konnte ich das hintere Ende von Pincers Garten ausmachen. In den fünfundzwanzig Jahren, seit mein Großvater ausgezogen war, hatte sie alles überwuchern lassen. Von meinem Beobachtungsposten aus war das Haus komplett verdeckt.

Eine Wespe landete auf meiner Hand. Ich schnipste sie weg und klemmte die Hände in die Achselhöhlen, aber nicht, ohne einen Blick auf die Uhr zu werfen – noch eine Stunde bis zum Eintreffen der Putzfirma. In Gedanken ging ich noch einmal die Schritte durch: Schlafzimmer durchkämmen, Waffe suchen, Flächen freiräumen, alles auf einen Haufen werfen, damit die Putzleute durchkommen, waschen, entrümpeln, Müll wegbringen.

Je länger ich wartete, desto klarer wurde mir: Falls etwas schiefgehen sollte, hatten Burt und ich keinen Plan B. War etwas schiefgegangen? Pincer war ein ungeduldiger Mensch, und halb hatte ich erwartet, sie würde gleich bei Burts Ankunft in den Van springen. Verschiedene Szenarien kamen mir in den Sinn. Dass sie ihre Sonnenbrille nicht finden konnte. Dass ein Anruf sie aufgehalten hatte. Oder Burt bei irgendwas im Haus helfen musste.

In diesem Moment hörte ich, wie sich jemand von der Straßenseite näherte – durch die Blätter konnte ich ein Mädchen ausmachen, mit einem tiefergelegten Jagdhund an der Leine. Ich fragte mich, wie gut ich zu sehen war und ob ich mich lieber zeigen sollte, um ihr keinen Schreck einzujagen. Andererseits konnten Burt und Pincer wirklich jeden Moment die Einfahrt runterkommen. Das Mädchen kam immer näher, und der Hund zerrte wild schnüffelnd in meine Richtung. Auf einmal durchzuckte es den wurstförmigen Körper, er hatte mich bemerkt. Unter Knurren und Bellen stürzte er sich ins Gebüsch, mit jedem Satz kam die verkniffene Schnauze bedrohlich näher.

»Ich kann dich sehen«, sagte das Mädchen.

Ich trat aus dem Gebüsch auf die Straße.

»Casper! Aus!« Sie riss Casper zurück, und im selben Moment fuhr mir ein stechender Schmerz in die Hand. Als ich runterschaute, sah ich gerade noch, wie sich der schlanke schwarze Unterleib einer Wespe aus meinem Fleisch löste. Ich schnippte die Wespe zu Boden, wo ich mehrmals drauf stampfte, bis nichts mehr von ihr übrig war.

»Die hat mich gestochen«, wimmerte ich.

»Warum verstecken Sie sich?«, fragte das Mädchen verständlicherweise.

Sie war etwa zwölf Jahre alt und trug unmodische knielange erbsengrüne Shorts mit einem weiten T-Shirt darüber und kurze weiße Socken zu altmodischen blauen Keds-Sneakers, mit denen ich in dem Alter auch rumgelaufen war.

»Seltsam, ich weiß«, sagte ich. »Also, es ist eine Überraschung für meine Großmutter. Sie wohnt hier.« Ich horchte aufmerksam auf mögliche Geräusche aus der Einfahrt.

»Sind Sie mit Dr. Pincer verwandt?«

Ich nickte. »Du kennst sie?«

»Eigentlich nicht«, sagte sie, »aber alle reden über sie. Ich wusste gar nicht, dass sie Familie hat.«

»Sie wird immer älter, also wollen wir sie unterstützen«, sagte ich und pustete zur Kühlung auf meinen Stich.

»Was für eine Überraschung?«, fragte sie.

»Wir machen ihr heute das Haus sauber, während sie unterwegs ist.«

»Ach so. Ich dachte, du meinst eine Party mit Kuchen und so.«

Casper hatte mich inzwischen akzeptiert und leckte sich ausgelassen den langen Bauch.

»Also dann, hat mich gefreut«, sagte ich. »Ich geh jetzt mal besser zurück in mein Versteck.«

»Da drüben wohne ich, drei Häuser weiter«, sagte sie. »Alle finden sie komisch, aber als sie mal mit mir geredet hat, war sie gar nicht so komisch. Sie meinte: Du bist ein Mädchen, und du kannst alles schaffen, lass dir bloß von keinem Mann in die Quere kommen! Fand ich ziemlich cool. Tschüss dann!«

Genau das hatte sie mir auch immer gesagt, als ich klein gewesen war.

Zurück im Buschversteck wurde mir bald klar, dass ich der Sache auf den Grund gehen musste. Das Ganze dauerte schon viel zu lange. Ich also wieder raus und durchs Tor. Mit gespitzten Ohren schlich ich seitlich an den Sträuchern entlang, die Hand angewinkelt wie eine verletzte Pfote. Wenn man das Grundstück betrat, war das Erste, was man vom Haus sah, das Garagentor, von dem die Farbe in tellergroßen Fetzen abblätterte. Ein mit Backsteinen gepflasterter Weg führte um die Garage herum und entlang Pincers früherer Arztpraxis. Es war verdächtig still. Burt hätte mich doch geholt, falls irgendwas nicht stimmte, oder?

Während ich in der Hocke vor dem Praxisfenster lauerte, bemerkte ich, dass sich drinnen etwas tat. Ich richtete mich vorsichtig auf und lugte hinein.

Im Vordergrund türmten sich Kartons, Werkzeuge und Wäschestapel. Dahinter sah ich das alte Untersuchungszimmer. Ich kniff die Augen zusammen, um mich des Anblicks zu vergewissern. Dem Anschein nach lag dort Burt Lampey ausgestreckt und in Unterhose auf dem Untersuchungstisch. Pincer stand über seinen fast nackten Körper gebeugt, ein silbernes Instrument in der Hand.

»Großmutter! Hallo! Ich bins! Mach auf!«

Pincer drehte sich um und erkannte mich durch das Fenster. »Penny? Komm rein!« Ich watete durch das Buschwerk zur Tür. Drinnen bahnte ich mir einen Weg zwischen Kisten und Gerümpel in die Praxis.

»Was machst du mit ihm?«, brüllte ich, als ich vor ihr stand. Burt war offenbar ohnmächtig. Sein Oberkörper war überraschend blass und behaart.

»Die Vitalfunktionen prüfen. Ein Glück, dass ich ihn auf dem Tisch hatte, bevor er bewusstlos geworden ist. Blutdruck im Keller, abdominale Schwellung, ich vermute eine Blutung irgendwo. Habe den Rettungswagen gerufen.«

Meine Großmutter sprach mit Autorität. Sie trug eine petrolgrüne Bluse mit einer edelsteinbesetzten Brosche am Kragen, darüber einen weichen grauen Pullover, und einen karierten Wollrock. Sie hatte ein Stethoskop um den Hals, unter den Latexhandschuhen zeichneten sich ihre knorrigen Finger ab.

»Ich dachte, du kommst erst Ende der Woche«, sagte Pincer. »Wenn Burt nicht kollabiert wäre, hätten wir uns verpasst.«

»Tja, mein Glück.«

»Wir hatten einen Ausflug geplant. Aber als er hier reinkam, war mir sofort klar, das ist ein Notfall. Ich habe ja meine Approbation noch, wusstest du das?«

»Du hast es erwähnt.«

Ein Sirenenheulen kam näher. »Geh raus und zeig denen, wo lang«, wies Pincer mich an.

Kaum war ich wieder auf dem Backsteinweg, preschte auch schon der Rettungswagen durchs Tor. Drei Sanitäter sprangen raus, und ich führte sie in die Praxis.

Wahrscheinlich stand ich unter Schock. Hätte ich Burt am Abend noch in die Notaufnahme gebracht, wäre er jetzt nicht bewusstlos. Und Pincer könnte nicht ihr Comeback inszenieren.