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Reise ins Ich Nach mehreren Jahrzehnten Vollgas im Berufsleben, merkt Christian Blanck irgendwann, dass sein Akku leer ist. Er braucht eine Auszeit, Tapetenwechsel, muss sich neu sortieren. Aber wo? Und wie? Da erinnert er sich an einen lang gehegten Traum: Einen alten Cinquecento kaufen – in Italien. Und dann auf eigener Achse zurück nach Deutschland fahren: Das wärs! Gesagt, getan. Mithilfe eines Freundes organisiert er den Kauf, bucht ein Flugticket und macht sich auf den Weg. Aber natürlich läuft nicht alles wie geplant: Der Fiat ist eine alte Dame und zickt, Blanck verliert sein Portemonnaie, manchmal auch den Glauben an den Erfolg seines Plans. Wie er am Ende doch noch sein Ziel erreicht, was er für die Zukunft mitgenommen hat und was jeder daraus für seine persönliche Lebens- und Sinnkrise lernen kann, beschreibt er in diesem Buch – ein Ratgeber und Reisebericht der besonderen Art. • Charmante Mischung aus Reisebericht und Ratgeber • Mit Kommentar und Nachwort eines Psychologen • Reich bebildert mit Fotos, die Lust auf Italien machen
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Seitenzahl: 412
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für meinen Lieblingsmensch Nele
Christian Blanck
Auszeit statt Burnout – Im alten Cinquecento durch Italien
Delius Klasing Verlag
Kapitel 1 Heute weiß ich …
Kapitel 2 Ich musste weg
Kapitel 3 Rückschritt
Kapitel 4 Tiefschlag
Kapitel 5 Tiefpunkt
Kapitel 6 Freunde bleiben
Kapitel 7 Mission impossible
Kapitel 8 Kribbeln im Bauch
Kapitel 9 Start ins Abenteuer
Kapitel 10 Carlos Werkstatt
Kapitel 11 Er fährt …
Kapitel 12 Bari is calling
Kapitel 13 Alberobello oder Schlumpfhausen
Kapitel 14 Reise am Ende?
Kapitel 15 Hin und zurück
Kapitel 16 Planänderung
Kapitel 17 Zurück auf Los
Kapitel 18 Tag der Arbeit
Kapitel 19 Vorerst gestrandet
Kapitel 20 Diegos Stadt
Kapitel 21 Dolce Vita
Kapitel 22 Unbekanntes Ziel
Kapitel 23 Auf der letzten Rille
Kapitel 24 Wieder allein
Kapitel 25 Schlossgespenst
Kapitel 26 Zu Besuch bei Schumi
Kapitel 27 Ciao Italia!
Kapitel 28 Grüezi Schwiiz!
Kapitel 29 Vino. Pasta. Und Schnitzel.
Kapitel 30 Home (really) sweet home – back to family
Kapitel 31 The time after – der ganz normale Wahnsinn
Epilog von Diplom-Psychologe Andreas H. Abel
… dass unsere Jobs, unsere Belastung und vor allem unser Tempo auf Dauer nicht gesund sein können.
Ich denke immer häufiger an die Zeit zurück, als ich meinen Vater in den 80er-Jahren am Silvestertag ins Büro begleiten durfte. Es war fast schon Tradition. Jedes Jahr gingen wir gemeinsam zur Bushaltestelle, fuhren an den Lüneburger Bahnhof, um nach Hamburg zu kommen. Er hat als Kaufmann an der Binnenalster gearbeitet. Die damalige Hamburger Schiffspedition hat die ganz großen Pötte über die Weltmeere geschickt, um Futter und Getreide zu transportieren. Das fand ich schon als Kind beeindruckend. Zu Weihnachten bekam mein Vater immer großartige Modelle der Containerschiffe oder der Lkw der Partnerfirmen als kleine Aufmerksamkeit nach Hause geschickt. Heute undenkbar in der Welt von kleinlicher Compliance …
Aber es waren immer besonders schöne und aufregende Tage für mich als kleiner Junge. Bei der Zugfahrt aus dem Fenster schauen, den Hamburger Containerhafen bewundern. Mein Vater erklärte mir geduldig, wenn ich etwas genauer wissen wollte. Seine Tageszeitung für die Zugfahrt war zwar Ritual, aber an diesen Tagen legte er sie auch mal zur Seite.
Hamburg war riesig. Der Weg Richtung Büro mit Blick auf die Alster, die breiten Straßen, gewaltig große Häuser. Einfach alles war für mich unfassbar riesig. Ich kannte ja nur unser kleines Dorf und Lüneburg als Kleinstadt. Papas Büro war geräumig. Bestimmt 12 bis 15 Menschen saßen da in diesem schlauchförmigen Großbüro, auf dessen Flur ich sogar sprinten konnte. Heute würden in diesem Raum wohl 30 Mitarbeiter an 20 Tischen untergebracht …
Ich durfte immer alle Kollegen begrüßen, sie kannten mich ja meist schon, und Personal-Fluktuation war in den 80er-Jahren noch ein Fremdwort. Meine Tagesaufgabe war wichtig: Head of Rohrpost! Das Geräusch, wenn so eine Rohrpost in der Abteilung ankam, höre ich heute noch. Ich sprintete zur Öffnung, musste auf eine Trittleiter steigen und holte das große Plastikrohr mit Schraubverschluss heraus. Wahrscheinlich war die Hauspost nie schneller auf den Tischen. Ich habe das geliebt. Post verteilen. Post verschicken. Die Bürotage vergingen im Sprint. Mittags aß man zusammen in der Kantine. Der Tag fühlte sich gut an, die Work-Life-Balance stimmte.
Schreibmaschinen klapperten, Telefone klingelten, Computer gab es nicht und man hatte den Eindruck, hier wird zwar konzentriert gearbeitet, aber eben nicht nur … Über die Tische hinweg unterhielt man sich. Etwa über den HSV, Horst Hrubesch, Magath und Co. – in den 80er-Jahren noch ein Spitzenteam mit Nationalspielern. Meetings? Gab es nicht, glaube ich jedenfalls. Ich erinnere mich, dass mein Vater, oft am Telefon sagte: „Ich mache Ihnen das Angebot fertig und schicke es. Wir sprechen dann Ende nächster Woche dazu, ok?“
Genau das kommt mir heute immer häufiger in den Sinn. „Wir sprechen Ende nächster Woche dazu!“ Wenn man über diesen Satz genauer nachdenkt, wird einem schnell klar, wie sehr sich das Leben im Vergleich zu damals verändert hat. Natürlich ist es toll, was es heute alles gibt, welche Mittel uns zur Verfügung stehen. Das möchte ich alles nicht missen. Und ja, in der damaligen Zeit war sicher auch nicht alles perfekt. Aber dieses „Wir sprechen Ende nächster Woche dazu“, das ist doch ein Satz mit Museumspotential. Heute undenkbar.
Post wurde verschickt, wurde in eine andere Stadt oder sogar ein anderes Land transportiert und man konnte sich sicher sein: Frühestens nach drei oder vier Tagen landete das Schreiben auf dem Tisch des Adressaten – und lag da auch erst einmal …
Und heute? Ich schreibe eine Mail und mit dem Klick auf Senden ahne ich schon: Die Antwort wird nicht lange auf sich warten lassen. Vor dem Betreff ein AW: – ohne Anrede oder ein vertrauliches „wie läuft’s, geht’s gut?“ Mein Kaffee dampft noch und die Rückfrage ist schon da. Es fühlt sich eher wie ein Chat an, weniger wie Korrespondenz.
Es ist alles so unglaublich schnell geworden, wir bekommen kaum eine Chance, dem aus dem Weg zu gehen. Auf allen Kanälen prasseln Nachrichten auf uns ein. Hatte man früher nur die klassische Post oder das Fax zum Durchschauen, sind es heute zusätzlich Mails, Chats auf Teams, Confluence oder Google und Co., dazu mindestens zwei Handys. Das Job-Handy sowieso, aber auch das Private, dessen Nummer die lieben Kollegen meist schnell bekommen und dann doch nicht nur privat nutzen, weil es doch wirklich soooo wichtig ist. Mal ehrlich: Wer denkt nicht, sein Anliegen sei besonders wichtig? Früher war man von 9 to 5 erreichbar, dann war Feierabend. Heute gilt: 24/7. Dazu kommen die privaten Social-Kanäle und der WhatsApp-Status muss ja auch noch täglich mit Content gefüllt werden. So sieht das heute aus!
Es ist alles so unglaublich schnell geworden, wir bekommen kaum eine Chance, dem aus dem Weg zu gehen.
Man könnte einwenden: Warum machst du das alles mit? Diese Frage ist ebenso berechtigt wie die Antwort einfach: Die Gesellschaft zwingt dich subtil dazu, in diesem Hamsterrad mitzulaufen. Wenn du dich dem verwehrst, mündet das zwangsläufig in andere Probleme. Es entsteht Druck! Ich mache schon lange nicht mehr jeden Quatsch mit, heute noch deutlich weniger als vor Jahren. Aber der Druck, in diesem Strom mitschwimmen zu müssen, war stets vorhanden.
Vielleicht liegt es daran, dass ich seit über 20 Jahren ein Agenturkind bin. Schule? Na ja, irgendwann war es zum Glück vorbei. Die Eintrittskarte für die Uni durfte ich lösen. Das Studium? Großartig! Eine tolle Zeit, ich habe es geliebt. Menschen. Freiburg. Ausland. Kurz: Ich hatte viel Spaß, habe gelebt, aber auch studiert.
Dann der erste Job in einer Agentur. Hey, ich war 27 und natürlich grün hinter den Ohren – das war jeder, auch wenn viele es abstreiten. Ich hatte wahnsinnig viel Respekt vor meiner ersten Oberchefin, fast schon Angst. Da war immer der Kloß im Hals, wenn es hieß, wir müssten zu ihr. Nicht wegen meiner Person oder meinen Themen, da hatte ich zu Beginn einen gewissen Welpenschutz. Aber der Ton in Richtung meiner direkten Teamleiterin war schon für damalige Verhältnisse wirklich nicht nett.
Meine Team-Chefin, Andrea, eine ehemalige Surfweltmeisterin, war dagegen megacool. Sie konnte perfekt formulieren, immer glasklar im Kopf. Sie gab vor, wie es zu laufen hatte, ich versuchte, es richtig zu machen. Ich war der Assi, der Trainee, das Mädchen für alles. Andrea war der Boss. Ich musste viel machen, um viel zu lernen.
Bei Andrea spürte man aber auch die Sportlerin. Wege gehen, die wehtun können – aber dabei das Team und junge Kollegen wie mich immer mitnehmen. Heute weiß ich, Andrea hatte wahnsinnig viel Druck. Einerseits musste sie funktionieren, wie es die Agenturchefin forderte. Auf der anderen Seite war sie aber eine echte Teamplayerin. Sie trug die Kapitänsbinde in unserer kleinen Gruppe und hat das super gemacht. Es gab zwar auch immer wieder Momente, da holte sie die Peitsche raus, aber ihr nehme ich das überhaupt nicht übel.
Und die Agenturkunden? Reden wir nicht lange über sie. Nur so viel: Wenn man sich heute folgende Worte einer Kundin einer großen Marke noch einmal auf der Zunge zergehen lässt, kann man nur den Kopf schütteln: „Ich bin ihr Auftraggeber, sie gehören quasi mir und müssen es machen, wie ich es will!” Das schüchtert ein, vor allem wenn es sich um einen der monetär wichtigsten Kunden der Agentur handelt.
Dieser Druck ist in der ganzen Company spürbar. Der Körper nimmt diese Form von „psychologischer Prügel“ auf, ohne sich wehren zu können. Ich war seinerzeit noch nicht direkt betroffen, aber es hat mich geprägt. Nicht zuletzt, weil ich meine Kollegen beobachtete, denen es zeitweise auch nicht gut ging oder die gar die Flucht antraten. Ich habe es gespeichert und bis heute nicht formatiert.
Mit der Zeit wird man natürlich routinierter, cooler. Wie der Hase läuft, ist schnell klar. Man wird mutiger, wilder. Ich spürte, jetzt muss man sich seinen Platz, die sogenannte „Sichtbarkeit“ erarbeiten, wie es heute in Konzernen gern genannt wird. Nur so kommst du weiter. Mein Spielfeld dafür war riesig: Markenpartys und die Formel 1. Unzählige Agenturstunden, weit über den Arbeitsschutz hinaus, heute Berlin, morgen Amsterdam, übermorgen Barcelona. Ich war noch keine 30, hatte auch Gefallen an diesem Leben gefunden. Also ohne Rücksicht nur nach vorn, Stillstand ist Rückschritt. Aus dem Welpen entwickelte sich ein halbstarker Berufseinsteiger. Ich spürte, in diesem Tempo kommt man ins nächste Level.
Fiat oder Fußball? Hauptsache Italien!
Das nächste Level? Wie sollte das aussehen? In spürte jedenfalls, hier in Hamburg werde ich es nicht erreichen. Ein Kollege, der nicht viel früher als ich eingestiegen war, hatte immer die Nase vorn. Er war der Liebling der Oberchefin. Eifersüchtig war ich nicht direkt, aber es ärgert dich einfach, wenn du spürst, du könntest das auch alles, darfst aber nicht … Ok, vielleicht war ich doch eifersüchtig – ein wenig zumindest. Ich denke, das ist total menschlich. Zugeben würden es aber nur die Wenigsten. Immerhin gestehe ich es mir nach 20 Jahren ein.
Ich musste also weg. Level Zwei wartete. Damals unterschied ich mich nur wenig von heutigen jungen Kollegen, die oft einen ziemlich genauen Karriereplan im Kopf haben – ob realistisch oder nicht, er liegt definitiv vor. Sie haben eine genaue Vorstellung davon, was sie darstellen wollen und was nicht, sind einerseits reflektiert und extrem zielstrebig, andererseits aber auch auf dem kürzesten Weg in die Fachidiotie. Viel später in der Covidzeit hatte ich einen digitalen Workshop, bei dem es auch darum ging, viele tagtägliche Prozesse zu hinterfragen. Mir ist vor allem ein Zitat der Workshopleiterin im Kopf geblieben: „Umwege erhöhen die Ortskenntnis.“ Ich empfinde diese Worte heute als extrem wertvoll und richtig. Später auf meiner Reise sollte ich mich noch sehr oft an diesen Satz erinnern. Zurück zu Level Zwei. Das konnte ich nur durch einen Wechsel erreichen. Erkannt, getan. Im neuen Job eiferte ich meiner ersten Teamleiterin nach: jungen Mitarbeitern Zeit und Aufmerksamkeit schenken, gleichzeitig zum Wohle der Agentur der Geschäftsführung viel Arbeit abnehmen. Ich war Ende zwanzig, fühlte mich stark und auch gut vorbereitet. Das hatte ich Level 1 zu verdanken. Auch wenn dort die Geschäftsführerin ein echt harter Hund war, ich hatte sehr viel gelernt. Es folgten zwei weitere berufliche Jahre aus dem Koffer und auch am zeitlichen Limit. Signale des Körpers? Fehlanzeige. Im Gegenteil. Sport stand fast täglich auf meinem Programm. Noch vor dem Bürostart trabte ich im Englischen Garten in München meine Runden. Fairerweise muss man dazusagen, dass der Agenturalltag in der Regel eher um 10 Uhr startete als um acht. Dass zudem einer meiner damaligen Hauptkunden ein Sportartikelkonzern aus Herzogenaurach war, trug ebenfalls zu meinem Trainings-Eifer bei.
In dieser Zeit existierte das Wort Work-Life-Balance noch nicht. Mein Job war mein Leben. Dazu: Freunde. Sport. Nightlife. Alles unter einem Dach. Das klingt eigentlich ziemlich gut. Und ja, es war auch eine super Zeit. München ist zudem nicht die schlechteste Stadt zum Leben. Diese Kombination nimmt dein Körper auf, sprüht vor Energie. Es kostet zwar auch Kraft, man merkt es nur nicht.
Das Tempo war ab sofort also noch höher. Der Wunsch nach Erfolg und Bestätigung wuchs. Jedes Agenturkind möchte zudem irgendwann auch den nächsten Schritt machen: der Wechsel von der Agentur zum Kunden. Das hat bei mir nicht ganz geklappt. Dennoch verlief mein Weg ziemlich stromlinienförmig … Agentur Eins: zwei Jahre. Agentur Zwei: zwei Jahre. Der Sprung auf die Kundenseite war die logische Folge. Ich heuerte in der Modeindustrie an. Aus heutiger Perspektive kann ich sagen: Natürlich war der Schritt gut. Vor allem wirtschaftlich. Bis dahin hatte ich oftmals bis spät in die Nacht viel zu viel gearbeitet – für viel zu wenig Geld. Nun stimmte auch die monetäre Wertschätzung.
Zeitweise fühlte ich mich unverwüstlich und doch nutzte ich mich ab. Sehr sogar. In meinem neuen Job habe ich das erstmals gespürt. Klingt doch seltsam. Da malocht man über Jahre weit mehr als im Arbeitsvertrag steht und kaum kommt man in der vermeintlich ruhigeren 40-Stundenwochen-Industrie an, ändert sich das Bild. Man sollte doch meinen, jetzt arbeite man wirklich deutlich geregelter, der Körper könne sich wieder regulieren.
Nicht ganz. Aber auch das musste ich erst einmal lernen. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Arbeitstag bei dem Textilunternehmen aus dem Fränkischen, wohin es mich gezogen hatte. Bis dato war ich nur meinen Agenturtag gewohnt. Statt um 10 ging es hier um 9 Uhr los. Kein Problem, dann musste ich meine tägliche Joggingrunde halt schon um 7 Uhr starten. An diesem ersten Tag habe ich sogar ganz darauf verzichtet. Im Büro wirkte vieles erstmal fremd. Großer Eingang. Mitarbeiterausweis, um die Zeiten festzuhalten – das kannte ich nicht. Glücklicherweise hatten am gleichen Tag noch zwei Kolleginnen aus meinem Team Premiere und wir konnten uns gleich verbünden. Ich war zwar ihr Chef, aber die Situation war für uns alle dieselbe. Der Vormittag begann mit Tempo, die Kreativagentur lief als erstes ein – natürlich erst um 11. Eine kleine Gruppe meines neuen Teams überraschte mich, als sie plötzlich vor mir stand und mich mit erwartungsvollen Augen anblickte. Ich dachte, ich hätte etwas falsch gemacht oder einen wichtigen Termin vergessen … Ich schaute fragend zurück. „Es ist 9:30! Frühstückspause!“ Gut … Ich hatte mit allem gerechnet, aber damit nun wirklich nicht. Heute denke ich: Klar, im Mittelstand werden Traditionen sehr hoch gehängt. Das Frühstück gehört definitiv zu den Fixpunkten des Tages. Wer um 7 Uhr startet, sollte um 9:30 Uhr kurz eine Frühstückspause machen. Damals habe ich wahrscheinlich geschaut wie ein Auto. Ich muss an die Zeit bei meinem Vater im Büro zurückdenken. Die Frühstückspause war auch da klar geregelt und zwischen halb 9.30 und 10 waren die großen Büros menschenleer.
Es hat ein wenig gedauert, bis ich es als eine Selbstverständlichkeit erkannt habe, eine solche Pause für mich einzufordern. Sogar unser Abteilungschef musste mich nicht nur einmal aktiv auffordern, jetzt kurz den Rechner ruhen zu lassen und mitzukommen. Er ist in der Industrie groß geworden, er kannte das System.
Gearbeitet wurde dennoch viel. Meistens haben eine Handvoll Kollegen das Tempo noch einmal erhöht, wenn ab 17 Uhr die meisten Angestellten ausgestochen hatten. Nicht selten erinnerte mich der Wachdienst, ich solle jetzt mal Schluss machen und an den Arbeitsschutz denken. Erst ein klärendes Gespräch mit meinem damaligen Chef sensibilisierte mich für das Thema. Ich habe dann Arbeit mit nach Hause genommen …
Was will ich damit sagen? Wir hatten Druck! Auf dem Papier zwar nur von 9 to 5, aber eben heftigen Druck!
Selbst schuld, werden einige denken, warum machst du das auch? Ich kann es ziemlich einfach erklären. Keiner hat mich dazu gezwungen. Aber wir waren eine junge Truppe, die gerade versuchte, Vollgas zu geben und laut zu sein, damit es die vielen H&Ms, Esprits, Tom Tailors, Hugo Boss und Co. auch mitbekommen. Und wir waren richtig laut und wirklich gut. Wir launchten in diesem Jahr eine der größten Celebrity-Fashionkampagnen mit der Sängerin Anastacia und konkurrierten zeitgleich mit Madonna bei Hennes & Mauritz. Wir durften kurz ein verrücktes Jetset-Leben führen. Heute Hamburg und Köln, weiter mit Privatflieger und Celebrity nach München und Wien, später dann noch Richtung Moskau und die große Fashionshow in Berlin war auch schon auf dem Zettel. Kurz gesagt – wild.
Unsere Chefetage sah das eher kritisch. Auch damals waren die Jungs schon knallharte Zahlenmänner. Frauen? Fehlanzeige. Viel gelacht wurde da auch nicht. Am Tag nach dem Launch konnte ich allerdings das erste Mal entspannte und fröhliche Gesichter in der Küche der Chefetage sehen. Eigentlich war dieser Ort für uns tabu. Dort stand die mit Abstand beste Kaffeemaschine und unsere Abteilung lag direkt nebenan. Immer wieder schlichen wir uns dennoch hinein, wurden oft erwischt und dann gab es von den Vorzimmerdamen einen Einlauf. Aber heute nicht. Den lachenden Vertriebschef sehe ich immer noch vor mir. Sonst hatte man immer das Gefühl, er könne einen gleich auffressen.
Der Grund? In der Fashion-Branche ist das Blatt „Textilwirtschaft“ quasi die Bibel. Wer was sagen will, muss da rein. An diesem Tag waren wir als Marke nicht nur in der Zeitung, sondern unsere Kampagne glänzte auf der Titelseite als Covermotiv. Von Madonna war weit und breit nichts zu sehen. Das nennt man den Lucky Punch, den man benötigt, wenn man plant, viel Marketinggeld des Inhabers auszugeben und er der ganzen Abteilung signalisiert, dass man sich gleich vom Acker machen kann, wenn das nichts wird – und das ist sehr höflich und politisch korrekt formuliert.
Was will ich damit sagen? Wir hatten Druck! Auf dem Papier zwar nur von 9 to 5, aber eben heftigen Druck! Der Körper? Der kann viel ab, dachte ich jedenfalls. Kurz nach dieser Phase spürte ich das Gegenteil: Ich habe mir meinen ersten, bis heute treuen Tinnitus abgeholt. Plötzlich inmitten eines Führungskräfte-Workshops begann dieses Piepen im Ohr. In dem Moment, ich erinnere mich noch sehr gut, war ich ziemlich verunsichert. Es piepte ziemlich laut. Man denkt: Kann das bitte aufhören! Man greift sich ans Ohr, zieht, massiert, drückt. Nichts. Man versucht den Druckausgleich. Nichts. In dem Moment spürte ich: Das ist gerade nicht gut, Herr Blanck!
Stationen eines Berufslebens: Hamburg, Würzburg, Zürich, München
Was tun in so einer Situation, die man in diesem Moment nicht einordnen kann? Ich war gerade mal knapp über 30 und schon Tinnitus? Ich wusste damals noch sehr wenig über dieses Leiden. Heute kann man bei 5 bis 10 Millionen Tinnitus-Patienten in Deutschland schon fast von einer Volkskrankheit sprechen. Das macht es aber nicht besser.
Ich hatte noch keine zehn Jahre Job auf dem Buckel und mir den ersten Tritt vors Schienbein abgeholt. Gute sechs Wochen habe ich mir damals Zeit genommen und versucht, das Geräusch wieder in den Griff zu bekommen. Das Ergebnis war nicht ganz überzeugend, aber ich habe gelernt damit zu leben – bis heute. Ich verstand das damals als Warnsignal. Der Beruf machte etwas mit mir. Mir wurde klar, es muss auch anders gehen … Nur wie, wenn du in einer Gesellschaft lebst, in der Stillstand gleich als Rückschritt gewertet wird?
Noch zu Beginn hatten Kollegen Mitleid, nahmen Rücksicht, schickten Blumen. Das hält allerdings nur kurz. Die Spielchen im Hintergrund gingen weiter. Heute bin ich mir sicher: Meine kurz Schwächephase wurde gnadenlos ausgenutzt. Meine „Sichtbarkeit“ beim Inhaber war verflogen. Ab sofort war ich oft nur der Typ, der (zu) viel Budget raushaut. Gefühlt hat mich der Inhaber von „s.Oliver“ in rund vier Jahren mindestens dreimal gefeuert. Aber das musste man aushalten in diesem Kreis. Wichtig ist in diesen Momenten, mit einem klaren Kopf gegenüberstehen und Haltung zeigen. Das kostet aber Kraft.
Wenn dann noch der wichtigste Fürsprecher ähnliches Leid ertragen muss und das Unternehmen verlässt, während die Mitarbeiter im eigenen Team ebenfalls versuchen, dir Fallen zu stellen, dann spürt man: Meine Zeit hier muss ein Ende haben … Der Laden macht dich sonst krank! Das Schlimme ist, ich bin kein Einzelfall, auch nicht das Unternehmen. Es ist die Arbeitswelt da draußen, die auf diese Weise tickt. Ich erkannte zum Glück damals recht schnell, dass mir diese Firma nicht mehr guttut. Ich hatte viele tolle Momente, aber eben nicht nur. Wenn Mitarbeiter auf deinen Job aus sind, dich schlechtreden, das im Flurfunk teilen, im Hintergrund Politik betreiben, dann kann man sich wehren oder gehen.
Für das Wehren fehlte mir in diesem Moment die Kraft. Ich hatte für diesen Laden Vollgas gegeben. Also ging ich. Auf mich wartete eine komplett neue Welt, eine neue Branche, sogar ein neues Land. Das klang super. Aber es gab einen Haken: Ich war immer noch recht kraftlos und müde vor diesem Schritt. Dann kündigte sich auch noch etwas viel Größeres an, was im Normalfall sowieso alles verändern sollte: Der erste kleine „Scheißer“ war auf dem Weg.
Der neue Job in der Schweiz war gut. Wirtschaftlich wahnsinnig attraktiv. Aber wer schon mal das Land und die Kultur gewechselt hat, der weiß: Es braucht Zeit, um anzukommen. Wer jetzt denkt: „Hallo, ist doch nur die Schweiz!“ Ja, vergleichbar, aber immer noch ein anderes Land und für die Schweizer ist hochdeutsch eine Fremdsprache. Sie sprechen lieber ihren eigenen Slang und mögen es gar nicht, wenn „wir“ Deutschen denken, das ist doch alles dasselbe, nur in klein. Einen Beliebtheitspreis bekommen Deutsche in der Schweiz bestimmt nicht, auch deswegen. Ich kann das verstehen. Zum Glück lebt einer meiner besten Freunde in der Schweiz, ist mittlerweile Schweizer, mit einer Schweizerin verheiratet, die Kinder sind in der Schweiz geboren. In den ersten drei Monaten durfte ich bei ihm unterkommen. Ich habe bei ihm viel über die Schweiz gelernt, mag Zürich, die Leute und das Land sehr.
Trotzdem war mir auch nach dem Wechsel klar, da kommt bald so ein kleiner Mensch auf die Welt und für den möchte ich auch da sein. Das Leben zwischen zwei Städten war daher immer indiskutabel. Wir mussten uns zwischen Stuttgart und Zürich entscheiden. Es wurde Stuttgart. Die Großeltern, das Umfeld, vielleicht die soziale Absicherung, aber vor allem auch der damalige Job meines Lieblingsmenschen waren die Gründe für diesen Schritt zurück. Ein Rückschritt war es jedoch nicht.
Die Spuren der letzten Jahre waren noch da. Das Ohr piepte. Das Gefühl, sich in diesen Mühlen aufzuopfern für den Profit anderer, holte mich immer häufiger ein. Unser Sohn Niklas war geboren, es dauerte aber noch ein paar Monate, bis ich zurück nach Deutschland ging. Zunächst war meine Frau Nele auch viel bei mir in Zürich. Ich hatte für zwei Erwachsene und ein Baby eine viel zu kleine Wohnung mit Dachterrasse und Seeblick im Züricher Kreis 6. Aber sie waren bei mir. Das war schön.
Läuft das Projekt gut? Was kommt danach? Die Angst, noch kein Folgeprojekt zu haben, ist immer präsent.
Zurück in Deutschland erwartete mich die damals größte Frage: Was mache ich? Deutschland hatte kurz zuvor die „Elternzeit“ eingeführt. Auch Väter konnten nun bis zu zwölf Monate bei voller Elterngeldzahlung zu Hause bleiben. Das haben wir gemacht. Kurz gesagt. Es war großartig. Acht Monate sind es bei mir geworden. Wir haben uns die Zeit geteilt. Es gab wenige Väter in unserem Umfeld, die das so lange durchgezogen haben. Wirklich dieses Staffelholz zu übernehmen, mit allem was dazu gehört, da war ich schon eher in der Unterzahl. Ich erinnere mich an einen Mann, der gleichzeitig das erste Mal Papa geworden ist. Er konnte nicht in Elternzeit gehen. Natürlich hätte er das durchsetzen können, aber seine Karriere hätte er dann vergessen können, sagte er … Pekip-Kurse. Schwimmkurse. Auf das Kassenband kotzendes Baby im Supermarkt – habe ich alles erleben dürfen. Ich sage bewusst dürfen, denn diese Monate mit Niklas waren toll. Heute ist er ein pubertierender Teenager und man fragt sich zeitweise, wo die enge Bindung geblieben ist. Na ja, die Zeit nach der Pubertät wird es schon richten … Die Elternzeit war nach meinem Einstieg ins Berufsleben das erste Mal so ein Moment, in dem ich zwar auch wieder fremdbestimmt war, aber spürte, es ergibt Sinn, das so zu machen. Und es gibt Energie. Viel Energie! Bis hierhin ist mein Weg sicher vergleichbar mit vielen anderen Werdegängen Berufstätiger. Über die Jahre lässt man Federn und sucht seine ganz persönliche Chance, neue Federn wachsen zu lassen. Ich muss meinem Sohn danken, dass er mir neue Federn bringen konnte.
Eine starke Zeit, die ich mir da nehmen durfte. Sehr arbeitsintensiv natürlich, aber wertvoll. Natürlich habe ich mir weiterhin die Frage gestellt, was ich nach der Elternzeit machen möchte. In die nächste Position springen? Das wäre ziemlich leicht möglich gewesen. Anfragen waren da, die ich aber damals alle abgeblockt habe. Mein Bauchgefühl sagte mir, das ist nicht dein Weg. Was tun? – Diese Frage beschäftigte mich natürlich. Viele Wegbegleiter haben meine Elternzeit als Auszeit gesehen. Ich nicht, denn ich hatte ja einen anderen Job. Einen sehr wichtigen sogar. Head of Niklas. So steht es seitdem auch in meinem Curriculum Vitae, was der eine oder andere Personalberater auch immer wieder kritisch angemerkt hat. Das war keine Auszeit, sondern eine Aufgabe – für meinen Sohn und mich selbst.
Diese Zeit war ein Prozess, um ein echter Papa zu werden, um mein Tun neu zu erfinden. Ein Prozess, um zu überlegen, wie das Modell Job und Familie für uns funktioniert. Wir wollten immer Eltern sein, die beide für ihre Kinder da sind. Das gleichberechtigt zu verteilen war der logische Schritt. Also traf ich die Entscheidung, ich biete in Zukunft genau das an, was ich in den letzten Jahren für Marken wie PUMA, s.Oliver oder Kuoni aus der Schweiz gemacht habe: Marke machen. Marke entwickeln. Marke umsetzen. Meine bisherigen Aufgaben waren sehr vielfältig und bunt. Also los. Das wird schon …
In Deutschland bekommt man als Gründer auch einige Hilfestellungen, sodass der Druck, sofort Umsatz machen zu müssen, zwar da war, aber es war definitiv erträglich. Ich galt immer als guter Netzwerker. Das hat mir auch direkt zu Beginn sehr geholfen und der erste Job als Freelancer für eine große Buchhandelskette kam rein. Das war meine Startrampe und ich hob ab in die Selbstständigkeit. Rückschläge gehören dazu und es gibt immer wieder die gleichen Gedanken: Läuft das Projekt gut? Was kommt danach? Die Angst, noch kein Folgeprojekt zu haben, ist immer präsent. War ich zu Beginn meiner Zeit als Freelancer oftmals noch ängstlich und hatte Sorgen, ob das alles aufgeht, so wurde ich mit der Zeit ruhiger. Türen schließen sich. Türen öffnen sich. Sie müssen in Bewegung bleiben. Aber das kostet viel Kraft. Auf der einen Seite durfte ich ähnlich tolle und verrückte Projekte umsetzen wie zu meiner Zeit im Angestelltenstatus. Großes Kino. Aber auch die kleinen, feinen Themen hatten allesamt ihren Reiz und ihre Berechtigung. Ist man selbstständig, entwickeln sich auch immer wieder neue, eigene Ideen. Meine Schublade ist inzwischen voll davon!
Eine eigene, nachhaltige Schmucklinie hatte ich direkt zu Beginn entwickelt, die Kollektion dazu liegt immer noch in der Garage. Heute Standard, damals war ich vielleicht zu früh dran. Ich mag den Schmuck noch immer sehr, aber die zeitgleiche Idee, eine eigene kleine Marke mit dem Namen „Kinderzimmerhelden“ zu entwickeln und zu gründen, hat mich dann so gepackt, dass sie mich bis heute nicht wieder losgelassen hat.
So soll es eigentlich sein. Spannende Projekte. Für Kunden. Spannende eigene Projekte. Inspiration finden. Ideen aufschreiben und umsetzen. So finde ich das Job-Leben ziemlich perfekt. Über Jahre konnte ich so meine Stärken ausspielen. Kunden waren happy. Ich war happy. Wir hatten Spaß – sehr oft sogar. Ich zitiere auch immer wieder sehr gern meinen ersten Sohn, der mal mit etwa vier Jahren zu mir meinte: „Papa, das Wichtigste ist: Spaß haben!“ Er hat sowas von recht.
Leider gibt es aber auch immer wieder Situationen, da rutscht man von einem Gipfel wieder tief ins Tal. In der Regel schafft man es wieder nach oben. Aber mit Beginn einer für uns alle noch nie dagewesenen Zeit schien der Weg ins Tal kein Ende nehmen zu wollen: Covid!
Unterhaltung während des Lockdowns: die Cabrio-Konzerte
Covid war ein wirklich einschneidendes Ereignis, wahrscheinlich die mit am meisten Unsicherheit und den größten Verwerfungen behaftete Zeit in der jüngeren Weltgeschichte. Wir kannten einfach nichts Vergleichbares. Es war kein Krieg. Es war keine Naturkatastrophe. Jeden Tag mussten wir uns neu mit Dingen auseinandersetzen, die wir so noch nie erlebt oder beobachtet hatten. Experten wirkten zeitweise ebenfalls ratlos, fand ich. Und die Politik ohnehin …
Schon im Januar 2020 wurde bekannt, dass in China etwas ausgebrochen ist, das man noch nicht richtig einordnen konnte. Noch im Februar besuchte ich die Spielwarenmesse in Nürnberg, machte aber immer einen großen Bogen um die China-Halle. Aus heutiger Sicht natürlich Quatsch. Aber als dann die Ischgl-Bilder durch die Nachrichten flimmerten und zeigten, wie die Touristen vor Ort quasi in Kolonnen flüchteten, da spürte man: Da rollt etwas Bedrohliches auf uns zu.
Zu Beginn fühlte sich das alles noch ein wenig nach Ferien an. Die Entscheidung, dass die Schulen geschlossen werden, kam erst an einem Freitagnachmittag kurz vor den Osterferien. Wir nahmen das ernst, akzeptierten es, gründeten unsere Nachbarschafts-Bubble und gingen davon aus, das Problem werde sich recht schnell wieder lösen. Es kam anders. Das Wetter war zum Glück großartig. Die Kids waren ständig draußen spielen. Fußball. Scooter. Parkour. Wir Eltern hatten alle irgendein Projekt im Garten begonnen. Baumärkte waren ja geöffnet. Ich habe beispielsweise eine neue Terrasse gebaut, die noch heute einwandfrei steht. Drinnen haben wir Zimmer gestrichen, draußen gemalt oder den Grill angeschmissen. Das fühlte sich in diesem Moment eigentlich alles ganz gut an – zumindest für uns, die wir Haus und Garten hatten.
Und der Job? Stimmt, da war ja noch was. Meine Frau wurde sehr schnell in Kurzarbeit geschickt, ich war wie immer zu Beginn des Jahres noch in der Vorbereitung meiner Pläne und Ideen. Ich musste ziemlich schnell erkennen, dass du als Freelancer gleich in der ersten Reihe stehst, wenn es um Budgetkürzungen geht. Noch im März hatte ich spannende Themen in Aussicht, war zwei Tage vor dem ersten Lockdown noch in Hamburg und eigentlich davon ausgegangen, bald geht’s wieder los. Aber es kam ganz anders …
Im April versuchte ich die Situation entspannt zu sehen und zuversichtlich in den kommenden Monat zu schauen. Ende April war klar, so wird es nicht laufen. Neue Projekte? Fehlanzeige. Es gab sie nicht. Ich konnte mich natürlich beschäftigen, das ist nie das Problem. Seit Jahren schon arbeitete ich als Bandmanager für Stuttgarts – in meinen Augen – talentiertestes Musikerduo „Parallel“. Wir standen unmittelbar vor der Veröffentlichung des ersten Studioalbums. In den zurückliegenden beiden Jahren hatten die Jungs es geschafft, erstmals in die Airplay Charts der Radiosender zu kommen. Wir waren im ZDF Fernsehgarten, im Morgenmagazin, durften mit dem „Zweiten“ nach Teneriffa und hatten gerade unser kleines Popstarleben angefangen. Der Song „Eine Sprache“ zusammen mit Cassandra Steen wurde deutschlandweit gespielt. Die Bühnen wurden immer größer … Dann kam Covid. Game over! Schlagartig. Uns wurde der Stecker gezogen.
Ende April war klar, so wird es nicht laufen. Neue Projekte? Fehlanzeige. Es gab sie nicht.
Natürlich blieben wir zuversichtlich. Musik wird immer eine Rolle spielen, um positiv zu denken und zu handeln. Aber wenn die Live-Gigs fehlen, ist das für Musiker, die gerade erst durchgestartet sind, eine Vollbremsung.
Wir mussten aus der Not eine Tugend machen. Innerhalb weniger Wochen stand ich ohne Projekt da, meine Musiker Koray und Francesco ohne Auftritte. Was also tun, um nicht den Kopf in den Sand zu stecken? Meine Idee: Wenn die Zuschauer nicht zu uns kommen können, dann müssen wir eben zu den Zuschauern fahren. Also griff ich zum Hörer und versuchte über Kontakte ein tolles Cabrio zu bekommen. Es klappte. Wir bekam von Mercedes Benz ein 300 SE Cabrio aus den 60er-Jahren – strahlend blaumetallic mit roten Ledersitzen. Dazu haben wir auch noch ein nagelneues Cabrio bekommen, man muss ja flexibel bleiben. Das waren unsere Bühnen!
In Stuttgart gibt es eine Wohnanlage mit dem Namen Asemwald. Knapp 2.000 Menschen leben da in drei großen Blöcken und nein, es ist kein sozialer Brennpunkt. Im Gegenteil. Es ist eine kleine Stadt in sich und die Menschen leben dort sehr zufrieden zusammen. Und: Sie mussten ja alle zu Hause bleiben. Also kontaktierte ich den Hausverwalter und erklärte ihm unser Vorhaben, ein Konzert für die Blöcke zu spielen. Er war begeistert und empfand das als großes Geschenk für die Hausgemeinschaften. Wir planten unser erstes Cabrio-Konzert für wenige Tage später. Geprobt werden musste auch noch, also veranstalteten wir ganz spontan einen Gig auf der Wendeplatte vor unserem Haus. Die Nachbarschaft spricht noch heute von diesem tollen Moment, der uns in sehr schwierigen Zeiten kurz abgelenkt hat.
Dann der erste Auftritt! Es war ein Samstag, Ostern war gerade vorbei. Punkt 14:30 Uhr rollten wir mit dem Cabrio an, im Gepäck unsere mobile Anlage, eine Kabeltrommel und die Instrumente. Wir wurden schon erwartet. Unser Besuch hatte sich herumgesprochen. Die Verwaltung musste erst die Menschen unten auf dem Rasen vertreiben oder für Abstand sorgen, damit wir keinen Ärger bekommen. Versammlungen waren ja strikt untersagt. Aber nirgendwo stand geschrieben, dass man keine Live-Musik in einem Auto machen darf.
Also Cabrio geparkt und Stecker rein – die Menschen in rund 400 Wohnungen, verteilt auf 26 Stockwerke, warten. Kurz vergessen wir die bisherigen Live-Highlights mit Namika oder James Blunt. Diese Häuserwände beeindrucken und schüchtern zugleich ein. Ob das wirklich funktioniert? Wie lange dauert es, bis die Polizei kommt? Wir sind immerhin in Deutschland und nicht in Italien.
Schon mit dem ersten Ton über die mobile Anlage spürte man diese Magie, die Energie gibt. Nicht nur Koray und Francesco strahlten, man hatte den Eindruck, alle Menschen auf den Balkonen und unten auf dem Rasen hingen den beiden an den Lippen. Der erste Song war wie immer ein Cover. Straßenmusikertaktik: Die Menschen zuerst mit internationalen Hits anfüttern, dann haut man einen eigenen Song raus. „Valerie“ von Amy Winehouse geht immer. Das feine Arrangement von Koray auf der Akustikgitarre erreichte die Balkonzuschauer bis ins höchste Stockwerk. Nach dem Song wird von oben und unten gejubelt, die Leute trommeln mit Kochlöffeln auf Töpfe, kreischen ihre Freude heraus. Fast drei Wochen dauert der Lockdown nun schon und die Menschen sind ausgehungert nach Unterhaltung. Für mich war das bei den vielen Cabrio-Konzerten, die wir in ganz Baden-Württemberg anschließend noch gespielt haben, einer der bewegendsten Momente. Musik kommt einfach an. In allen Generationen. Anschließend bekamen Koray und Francesco viele Geschenke und Spenden. Von den Balkonen wurde Körbe heruntergelassen, Papierflieger aus 10 Euro Scheinen kamen geflogen, Osterschokolade war im April der Kamellen-Ersatz. Zum Glück sind die vielen Weinflaschen sehr vorsichtig heruntergelassen worden. Von den Vorräten können wir heute noch gesellige Abende bestreiten.
Die Nachricht vom Konzert sprach sich in Stuttgart herum wie ein Lauffeuer. Das „heute journal“ war zu einem weiteren Konzert am Asemwald angereist. „Parallel“ spielten vor Krankenhäusern, vor Behindertenwohnheimen, in den ganz eng besiedelten Stadtteilen und die Menschen dankten es ihnen so sehr.
Die Haus-Konzerte waren echte Energiebringer, zudem konnte man so die Covid-Situation, die überhaupt nicht besser wurde, leichter verdrängen. Im Grunde war es aber sehr ernst. Ein Einkommen hatte ich noch immer nicht. Ich musste also an mein Erspartes ran, wie so viele andere. Die kurzfristige Überbrückungshilfe der Bundesregierung war in diesem Moment eine wichtige Unterstützung. Politiker erzählen nach Umweltkatastrophen oder anderen schlimmen Ereignissen immer gern im Fernsehen, man werde jetzt erst einmal der Bevölkerung schnell, unkompliziert und vor allem unbürokratisch helfen. In diesem Fall stimmte es. Es dauerte wirklich nur wenige Tage, da waren 9.000 Euro als Unterstützung für Solo-Selbständige auf meinem Konto. Klar, das war nicht die Rettung. Aber das Geld kam an und ich war dankbar dafür.
Trotzdem war das Problem riesig, denn die Wochen vergingen und auch Ende Mai hatte sich noch nicht viel an der Situation geändert. Die Gärten waren perfekt, die Joggingstrecke erinnerte an einen morgendlichen Volkslauf, die Schlangen an Geschäften reichten immer noch bis um die Ecke zur nächste Kreuzung und auch beruflich änderte sich bei mir gar nichts. Projekte? Zero! Kaufmännisch ausgedrückt hatte ich im Vergleich zum Vorjahr einen Einbruch um 97 Prozent. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich nachts wach gelegen habe und grübelte. Meine „Sichtbarkeit“ war ausgelöscht, das Netzwerk schwieg. Budgets für Luxusprojekte gab es nicht mehr. Die Marke spielte keine große Rolle mehr, jeder Cent, der eingesetzt wurde, musste Umsatz bringen.
Sowas macht große Sorgen. Ich versuchte an meiner Sichtbarkeit zu arbeiten und habe zusammen mit einem Stuttgarter Kunstmuseum und der Stuttgarter Zeitung eine Initiative gegründet, die Fotos zusammentrug, wie die Stuttgarter Bevölkerung die Zeit zu Hause verbringt. Daraus resultierte eine der ersten Corona-Ausstellungen im Land: „Stuttgart trotz(t) Corona“ beschäftigte sich mit den Fragen: Wie erlebten und erleben die Stuttgarter*innen die Zeit der Pandemie? Und wie haben die Stuttgarter*innen das Erlebte fotografisch festgehalten? Diese Projektidee stammte von mir oder wie die Stuttgarter Zeitung schrieb: vom Stuttgarter Kreativschaffenden Christian Blanck.
Es war ein gutes Projekt. Es lenkte mich vor allem ab von meinen Gedanken. Koray und Francesco mussten zwischenzeitlich auch einsehen, dass sie sich einen Job neben der Musik suchen sollten. Das haben sie getan und zum Glück in einem Großkonzern eine wirklich gut bezahlte Arbeit bekommen. So weit war ich noch nicht, aber ich spürte, der Moment, meine Selbständigkeit aufgeben zu müssen, rückte näher. Natürlich hatte ich immer noch Hoffnung, dass es wieder besser wird. Doch die Angst, ich kann irgendwann meine Rechnungen nicht mehr bezahlen, war bereits fest in meinem Kopf verankert. Vor den Kindern versuchte ich, mir das nicht anmerken zu lassen. Ich glaube, die meiste Zeit gelang es mir. Ich frage mich heute, warum ich so stark sein wollte. Vor den Kindern. Vor meiner Familie. Man darf auch traurig sein. Man darf auch Angst haben, vor dem was kommt. Diese Angst trug ich täglich mit mir herum und sie trieb mich in die Ecke, aus der ich irgendwann keinen Ausweg mehr wusste. Da halfen auch Musik, Konzerte, Kunst und Ausstellungen als Kraftquellen außerhalb der Familie nicht weiter.
Kreative Zwangspause: Francesco und Koray als Duo „Parallel“ live aus dem Cabrio
Stuttgart trotzte mit Ideen.
Fotoshooting als CMO und Art Director in Berlin
Ein Weg raus aus diesem Dilemma war nicht zu erkennen. Wie viele andere Freie versuchte ich, meine eigenen Themen nicht fallen lassen zu müssen. In der Zwischenzeit war aber auch klar: Dieses Virus hatte die gesamte Welt fest im Griff. Horrormeldungen aus allen Teilen dieser Erde gehörten zum Tagesprogramm. Inzidenzen und Verbreitungen wurden wie Aktienwerte in mittlerweile gelernten Diagrammen vorgestellt. Virologen waren die neuen Popstars in den täglichen Talkrunden. In den sozialen Medien wurden Bilder und Videos geteilt, die versuchten, das Virus mit Charme und Witz zu bekämpfen. Der Vater aus Italien, der täglich mit seiner Tochter verkleidet als Superheld, Tier oder andere Figur den Müll rausbrachte, war wirklich großartig. Er unterhielt nicht nur seine Tochter, sondern auch die Welt. Digital. Er war in dieser Zeit ein echter Popstar. Für mich jedenfalls. Er bewies, dass kreative Ideen nie ausgehen dürfen, egal, wie schlecht es einem geht. Und Italien hat der Virus ja bekanntlich mit voller Breitseite getroffen.
Man hatte sich zwar inzwischen an die „neue Normalität“ gewöhnt, aber normal war das deshalb noch lange nicht. Ich fühlte mich ziemlich hilflos, wollte anfangs aber auch nicht darüber reden. Ich weiß nicht, ob das typisch deutsch ist oder einen anderen Ursprung hat. Wieso muss man nach außen immer stark sein und darf nicht sagen, es gehe einem schlecht? Ist man sofort schwach, wenn es einem schlecht geht? Ich fand mich recht mutig, als ich irgendwann anfing, auch zu sagen, dass mich das alles ziemlich belastet und unter Druck setzt.
Einen Job hatte ich eigentlich nicht mehr. Der tägliche Kampf mit dem Online-Unterricht nagte auch an der Geduld. Die Schulen bemühten sich sicherlich, den Kindern digital ein relativ normales Schuljahr zu bieten, aber mal ehrlich: Wenn selbst Lehrer signalisieren, sie hätten keine Lust auf den Unterricht am Rechner, wie soll man dann Kinder dafür motivieren?
In der Zwischenzeit hatte ich mich bei zig weiteren Job-Plattformen angemeldet, um auf ausgeschriebene Projekte zu stoßen. Auf LinkedIn und Xing schaute ich täglich vorbei. Jobs für Freelancer waren jedoch Mangelware. Natürlich denkt man dann auch an die Möglichkeit, sich wieder fest anstellen zu lassen. Aber die lieben Personalberater, mit denen ich immer wieder mal gesprochen habe, meinten, ich wäre raus aus diesem Kreis. Nicht resozialisierbar, sagte mir einer dieser „Experten“ mal ins Gesicht. Ich dachte immer wieder, das kann nicht sein. Ich kenne Unternehmen von innen und außen. Ich habe fast alles erlebt. Von ganz klein bis in die Champions League. Aber wie macht man das einem Unternehmen schmackhaft, wenn es viel weniger Aufwand bedeutet, einfach einen Kandidaten der Konkurrenz abzuwerben. Ich habe mit so vielen „Headhuntern“ gesprochen, überzeugt haben mich nur sehr wenige. Man merkt oft schon im ersten Gespräch, einen richtigen Plan, abgesehen vom Weiterreichen eines Lebenslaufs, haben die auch nicht.
Zum Glück gibt es aber immer noch diese wenigen Kontakte, die nicht vergessen haben, wo man herkommt. Schon Ende April erreichte mich die Nachricht, dass es da ein Unternehmen gebe, das ganz dringend einen neuen Marketingleiter suche. Man habe zwar schon Kandidaten, aber es passe eben noch nicht. Daher nun der Versuch bei mir … Mit dem Personalberater bin ich schon über Jahre verbunden. Immer wieder tauschen wir uns in unregelmäßigen Abständen aus, mit dem Wissen: Ich bin eigentlich recht zufrieden in meiner Position, aber mit meiner Selbständigkeit auch nicht verheiratet. So auch dieses Mal. Das Exposé klang wirklich spannend. Der Job bot auf dem Papier alles, was das Marketer-Herz erwartet. Mir war schon klar: In der Wirklichkeit ist das schnell ganz anders. Aber selbst wenn etwas übertrieben wurde, klang das nach einer wirklich guten Stelle. Solide. Pionierarbeit. Kreativ. Budget gab es auch. Der Firmensitz lag auch nur zwei Stunden von Stuttgart weg. Ich wollte es versuchen. Und es lief gut. Sehr gut sogar. Ein nettes erstes Interview mit dem Vorstand, damals noch online aus meinem angemieteten Büro. Fachlich absolut ok, menschlich wirkte das auch sehr nett. Die Branche Optik kannte ich zwar nicht, aber sowas motiviert mich eher. Neue Wege. Umwege. Erhöhung der Ortskenntnis. Das mag ich ja. Unser zweites Gespräch führten wir vor Ort und ich spürte: „Die wollen dich!“ Das tat richtig gut. Bad Kreuznach kannte ich nicht, musste sogar kurz schauen, wo es liegt. Ok, das ist nicht Hamburg. Auch nicht Zürich oder München. Aber die Straßen durch die Weinberge erinnern einen fast an die Toskana. Wirklich hübsch. Eine Stunde sollte das Gespräch dauern, es wurden weit über 90 Minuten. Es war klar: Ich sollte mich entscheiden. Während der Pandemie hatte ich also die Wahl: in der Freelancer-Freiheit bleiben oder zurück ins System. Wieder in Stuttgart diskutierten wir die Situation. Ich glaube, Nele hat auch gemerkt, dass ich das wirklich machen wollte. Ich hatte Lust darauf! Der ganzen Laden wurde nach einer Übernahme umgekrempelt. Nach dem Inhaberwechsel wurde alles hinterfragt. Im Nachhinein kann ich sagen: Leider wurden nicht alle Mitarbeiter hinterfragt. Bei der Restrukturierung dabei sein zu können, war ein echter Lucky Punch. Alternativen standen auch nicht gerade Spalier. Das muss man auch ehrlich sagen.
Mein Team? Klein, aber fein? Nicht ganz so fein wie ich zu Beginn dachte. Sie waren freundlich, keine Frage. Wer ist das nicht zum Vorgesetzten?
Ich entschied mich für den Sprung zurück ins Unternehmen, unter der Bedingung, sowohl meine Musiker-Jungs als auch meine eigenen Themen rund um „Kinderzimmerhelden“ nicht im Stich lassen zu müssen. Das wurde mir gestattet. Das fühlte sich wirklich prima an. Ich berichtete direkt an den CEO. Guter Typ. Zwar Werder-Bremen-Fan, aber eine Leiche hat halt jeder im Keller. Mich störte es auch nicht, schon im Vorfeld meines Einstiegs temporär bei Workshops oder bei meiner neuen Abteilung vorbeizuschauen. Im Gegenteil. Ich hatte richtig Bock.
Vor dem Start planten wir noch einen kleinen Sommerurlaub mit der Familie an der Nordsee. Immerhin durfte man endlich wieder innerhalb des Landes verreisen, wenn auch mit Abstand. Dann ging es los – mit dem Fuß voll auf dem Gaspedal. Ich habe mir vor Ort eine kleine Einliegerwohnung auf einem alten, umgebauten Bauernhof genommen. Traumhaft. Das sogenannte „Onboarding“, die Einarbeitung, fiel aus. Die Masse an zu erledigenden Aufgaben reduzierte die Phase zum Reinkommen auf quasi null. Zu Beginn war ich noch viel im Büro vor Ort, das änderte sich aber auch sehr schnell wieder. Corona war natürlich noch immer da, die Zahlen rauschten mit der kalten Jahreszeit wieder nach oben, wir mussten also alle zurück ins Homeoffice.
Dabei hatte ich mir in Bad Kreuznach ein schönes Büro eingerichtet, sogar mein Office-Sofa aus Stuttgart hatte ich mitgenommen. Die Kollegen grinsten, es war definitiv das schönste Büro im ganzen Unternehmen. Vielleicht haben sie auch die Augen verdreht und im Flur getuschelt, was denn jetzt für ein Typ kommt, der sogar sein eigenes Sofa mitbringt. Typisch Marketing! Ich werde es nie erfahren. Sofa. Pflanzen. Bilder an der Wand. Deko. Alles für die Inspiration. In meiner Abwesenheit wurde es auch gern als inoffizieller Meetingraum genutzt. So schlecht kann es nicht gewesen sein.
Mein Team? Klein, aber fein? Nicht ganz so fein wie ich zu Beginn dachte. Sie waren freundlich, keine Frage. Wer ist das nicht zum Vorgesetzten? Zu Beginn lief alles wirklich gut. Ich stattete die Mannschaft direkt mit einer komplett neuen Computerausrüstung aus, die alten Rechner waren längst abgeschrieben. Wir sprachen viel. Über die Zeiten vor der Übernahme, über Dinge, die nicht zu Ende gebracht wurden. Natürlich aber auch über neue Ziele und Wünsche – meine Ziele und ihre eigenen. Ich wollte das Gefühl vermitteln, meine Tür ist immer auf, obwohl wir zwischen Tagesgeschäft und Zukunftsplanung noch zusätzlich reichlich Aufgaben zu bewältigen hatten.
Sensationellen ersten sechs Monaten folgte eine arbeitsreiche, nicht immer leichte Zeit mit schwierigen Aufgaben. Die Welt spielte immer noch verrückt, das merkte man unter den Kollegen. Mit jedem Monat spürte man allerdings mehr, hier gab es nur eine relativ kleine Gruppe, die wirklich mitzog und spürte, die Ideen haben Potential. Wir gaben Gas, wir veränderten etwas. Die „Vogue“ zeigt unsere neue Brillen-Kampagne – erstmals in der Unternehmensgeschichte. Das löste einen Ruck und Motivation aus. In mir und in einigen Kollegen, die mit am Strang zogen.
Der Rest der Mannschaft machte einfach weiter wie bisher. Ich möchte jetzt nicht die Worte seelenlos und gelangweilt in den Mund nehmen. Aber man hatte schon den Eindruck, es wird Job nach Vorschrift gemacht, möglichst richtig, aber kein Fingerstreich mehr. Und dann geht’s heim aufs Sofa …
Genau das ist das Gefährliche in so einer Umbruchsituation. Es erscheint fast unmöglich, diese Kollegen einzufangen. Es ist überhaupt nichts Verwerfliches, wenn Mitarbeiter pünktlich in den Feierabend gehen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass innerhalb der Transformation eines Unternehmens, bei der jeder Stein umgedreht wird, auch die Mannschaft auf den Prüfstand muss. Wer zeigt Bereitschaft, an der Veränderung mitzuwirken? Wer zeigt vor allem auch Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten? Es ist schwierig, wenn mehr als die halbe Mannschaft zwar auf dem Flurfunk klar zu verstehen gibt, es müsse sich etwas ändern – aber bitte nicht sie selbst. Die eigenen Gewohnheiten, die Komfortzone gehören nicht zum Transformationsinhalt. So entstehen Blockaden, die es konsequent aufzuweichen gilt. Und das sorgt nicht immer nur für Applaus. Es führt zu Frust, zu neuen Problemen. Ich hätte einfach sehr viel früher realisieren müssen, dass die Gefahr nicht nur bei meinen Vorgesetzten, sondern auch im eigenen Büro lauerte. Meine Bereichskollegen und ich steckten quasi in einem Sandwich. Wir wurden von oben und von unten gequetscht. Und dieser Druck löste ein ungutes Gefühl aus. Streitereien nahmen zu, man lieferte nur noch ab: Jeder schaute am Ende nur auf sich, um möglichst ohne blaues Auge durch diese komische Zeit zu kommen. Ich hatte das eigentlich ganz gut im Griff, gab ein Pensum vor, erfüllte den Plan. Aber es rumorte fast täglich im Flurfunk. Verabschiedungen waren auch keine Seltenheit mehr. Die hausgemachte Krise war da, ausgelöst von oben und unten.
Wie gut, dass in solchen Situationen immer wieder Licht am Horizont aufschien. Im Sommer 2021 durfte man endlich wieder ohne Einschränkungen verreisen. Italien sollte das Ziel sein. Wie so oft führte uns die Planung vor Reisen in den Buchladen unseres Vertrauens. Ziel war die italienische Westküste. Wir hatten eine nette Unterkunft in Castiglione Della Pescaia, einem wirklich schönen Küstenort. Direkt gegenüber konnte man Elba erkennen. Also suchten wir im Buchladen Reisetipps für die Toskana, die besagte Küstenregion und Elba. Wenn man in Reiseführern schmökert beginnen die Ferien fast schon ein wenig, finde ich. Dabei stolperte ich über ein Buch, dessen Cover mich sofort ansprach: „Meine italienische Reise“ von Marco Maurer. Sein Fiat 500 Giardiniera, quasi der Kombi des Fiat 500, glänzte toll auf dem Buchcover. Ich nahm es und zeigte es meiner Frau mit den Worten: „Das müsste man mal machen. Einfach irgendwo ein Auto kaufen und ohne Plan nach Hause fahren.“ Meine Frau Nele meinte, dass sie das schon während ihrer Abifahrt nach Rom gedacht hatte. Das war nun auch schon über 25 Jahre her. Ich sah es ähnlich, die Erinnerungen an eine Tour mit einem alten VW T3 durch Südfrankreich ploppten in meinem Gedächtnis auf. Das waren Zeiten! Auch damals sind ein paar Kumpels und ich einfach ohne großen Plan losgefahren. Also beschloss ich, neben dem Reiseführer auch dieses Buch von Marco Maurer zu kaufen und Nele zu schenken. Wir machen das auch. Irgendwann mal! Die Ferien waren fest gebucht, wieder lernten wir ein Fleckchen Erde kennen, wo es sich gut leben ließ.